Über Irmtraud Gutschke

Irmtraud Gutschke, 1950 in Chemnitz geboren, ist verantwortliche Redakteurin für Literatur beim »Neuen Deutschland« und hat unzählige Texte über Autoren und ihre Werke publiziert. Im Aufbau Taschenbuch sind von ihr »Hermann Kant. Die Sache und die Sachen« und »Eva Strittmatter. Leib und Leben« lieferbar.

Informationen zum Buch

Ein erzählter Lebensroman

Gerade weil Eva Strittmatter in ihren Gedichten bekennt, was andere in sich vergraben, erreicht sie ein Millionenpublikum. Mit der gleichen Offenheit erzählt sie hier im Dialog mit Irmtraud Gutschke von ihren persönlichen Erschütterungen, ihren Erfahrungen in der DDR, vom Entstehen ihrer Gedichte und natürlich immer wieder von ihrer Ehe mit Erwin Strittmatter.

»Was für eine Offenheit, was für eine Selbstbefragung!« Thüringer Allgemeine

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Irmtraud Gutschke

Eva Strittmatter

Leib und Leben

Inhaltsübersicht

Über Irmtraud Gutschke

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Vorab

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Personenregister

Bildnachweis

Bildteil

Impressum

Vorab

Das Du in diesem Buch stammt aus dem Jahre 1974. Da durfte ich als vierundzwanzigjährige Journalistin, die gerade dabei war, über Tschingis Aitmatow zu promovieren, an den Internationalen Puschkin-Tagen in der Sowjetunion teilnehmen. Mit Dichtern aus vielen Ländern – von der Türkei bis Sierra Leone – war ich auf der Reise, die stationsweise von Leningrad über Pskow, Nowgorod, Michailowskoje nach Moskau führte. Und neben mir im Bus saß als Delegierte aus der DDR Eva Strittmatter. Mir ist nicht mehr in Erinnerung, worüber wir uns im Einzelnen auf dieser Fahrt unterhalten haben, nur dass für mich daraus eine Nähe zu ihr entstand, die über all die Zeit aus der Ferne erhalten blieb. Es gab zwischen uns noch einen kurzen Briefwechsel, einmal besuchte sie mich sogar, aber auch später verlor ich nicht das Gefühl, mit ihr in Verbindung zu sein. Vor allem über ihre Gedichte. Als ich sie dann im April 2008 das erste Mal in Schulzenhof besuchte, hatte ich ihr Bild von damals in mir und fand sie im Bett liegend vor. Eine erschöpfte Frau, wie es auf den ersten Blick schien. Doch eine erstaunliche Kraft ging von ihr aus.

Würde sie meinem Vorschlag zustimmen, mit mir ein Buch zu machen? Wir ahnten beide nicht, wie lange das dauern und wie schwierig das am Ende werden würde. Wiederholt habe ich mehrere Tage in Schulzenhof gewohnt. Zwei Mal traf ich auch Sohn Ilja an. Bei schönem Wetter konnte Eva Strittmatter draußen im Rollstuhl sitzen, das Vogelgezwitscher übertönte manchmal fast unsere Stimmen auf dem Tonband. Ich genoss es, wenn während unserer Gespräche in ihrem Lächeln mitunter jene Mädchenhaftigkeit aufblitzte, die ich kannte. »Seele seltsames Gewächs. Gegenblüte zum welkenden Leib«, so beginnt eines ihrer Gedichte. Im Menschen ist etwas – kann etwas sein –, das nicht altert. Das habe ich gesehen.

»Die Räume haben Frieden./ Die Tage gehn ein und aus./ Für eine friedliche Seele / Wär das ein friedliches Haus.« So formulierte Eva Strittmatter in ihrem ersten Gedichtband. – Wenn die Vögel verstummen, liegt eine Stille über Schulzenhof, die mich zu Anfang sogar verstörte. Ich kam aus dem Takt meiner Dauerkonzentration, weil die Zeit hier völlig anders verlief. Mit Eile war an diesem Ort gar nichts zu machen. Zwar konnte ich es nicht lassen, seitenweise Fragen vorzubereiten, doch wie sich unser Gespräch dann entwickelte, war immer wieder überraschend.

So detailliert und farbig sind Eva Strittmatters Erinnerungen, so kraftvoll ihre Formulierungen, dass man mitgerissen wird auf ihren Gedankenweg. Bald verstand ich, welcher Erfahrungsgewinn mir zuwuchs, wenn ich mich auf sie einstellte. Die Ruhe in Schulzenhof umhüllt dramatisches Geschehen. Was Menschen widerfahren kann, scheint sich hier zusammenzuballen. Als ob dieses dörfliche Anwesen eine Bühne sei, auf der reales Leben poetische Verdichtung erfährt.

Wer Gedichte schreibt, sagt Eva Strittmatter in »Poesie und andre Nebendinge«, habe »wohl ein besonders ausgeprägtes Harmoniebedürfnis. Er versucht, durch Poesie, Kräfte und Gegenkräfte ins Gleichgewicht zu bringen. Auch Kräfte und Gegenkräfte, die in ihm selber sind.« Diese Kräfte und Gegenkräfte sind in ihrem Leben besonders stark zur Wirkung gekommen. Anfechtungen immer wieder und immer wieder das Ringen um das Werk.

Der Band hat ein Register um der vielen Personen willen, die oft nur sporadisch, zufällig in ihm auftauchen. Der Mann, mit dem Eva Strittmatter so eng verbunden war, brauchte darin nicht vermerkt zu werden. Genannt oder ungenannt, auf jeder Seite dieses Buches ist Erwin Strittmatter anwesend. Wir glaubten unser Gespräch schon fast beendet, ich sah mich in der Phase des Schreibens, als am 8. Juni 2008 in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« Werner Lierschs Artikel »Erwin Strittmatters unbekannter Krieg« erschien, der in den Medien für Aufregung sorgte. Die Mutmaßungen um ihren Mann haben Eva Strittmatter getroffen – bis ins Körperliche hinein. Sie meinte zunächst, dass wir die Passagen zu diesem Thema als Anhang beifügen sollten. Ich fand, dass jene Erwägungen, die ihr momentan wie ein Fremdkörper erscheinen mögen, doch integriert sein sollten in ihre Lebensgeschichte. Wie eben doch alles zusammengehört: das Gewusste und das Nicht-Gewusste, das Erstaunliche und das Erschreckende, das Glück und das Leid. Erwin Strittmatters Leben – eine Jahrhundertbiografie, die sich unsereins vielleicht nur einfacher, weniger widersprüchlich gedacht hatte. Und Eva Strittmatters Leben auf andere Weise ebenfalls: eine Frau im Zwiespalt zwischen liebevoller Aufopferungsbereitschaft und eigenem Entfaltungswillen. Sie hat daraus Kunst gemacht.

Zur distanzierten Interviewerin eigne ich mich nicht. Das habe ich schon bei der Arbeit am Buch »Hermann Kant. Die Sache und die Sachen« gesehen, das im August 2007 in der Buchreihe von »Neues Deutschland« und dem Verlag Das Neue Berlin erschien. Ich will auf größere Nähe hinaus, eine andere Biografie durchdenken und dadurch das Leben überhaupt – auch meines – tiefer verstehen. Niemand möge glauben, dass dies in Gänze möglich sei. »Alles« kann man von einem Menschen nie erfahren, das weiß er nicht mal von sich selbst. »Meine Träume kennst du nicht./ Meinen Namen nennst du nicht./ Zwar du glaubst, daß du sie kennst./ Daß du meinen Namen nennst./ Doch ich träume mancherlei./ Und der Namen hab ich drei.« – »Rätsel II« nannte Eva Strittmatter dieses Gedicht, das, wie so oft bei ihr, aus dem Persönlichsten heraus ins Allgemeingültige wächst.

»Ich muss etwas tun, ich muss eine Schale sprengen. Ich kann mich nur befreien durch Sprache, nur durch Worte kann ich mich befreien.« Das sagte Eva Strittmatter, als wir über die Entstehung eines ihrer schönsten Gedichte sprachen. Und ich wusste sofort: Genau das ist es. Das betrifft unser ganzes Gespräch, das hoffentlich auf die Leserin, auf den Leser eine ebenso befreiende Wirkung hat.

I

»Wir haben vier Söhne, eine Unmenge Arbeit und häufig riesige Schwierigkeiten. Da ist von idealer Mann und ideale Frau keine Rede, sondern nur von Durchkommen, Fertigwerden. Und so sind auch die Verhältnisse aller guten Menschen, die wir kennen, und so sind die Verhältnisse, die mein Mann in seinen Büchern schildert.«

(»Briefe aus Schulzenhof«, 11. Februar 1966)

Das also ist Schulzenhof, ich bin ja zum ersten Mal hier …

Was hast du dir denn vorgestellt?

Etwas Imposantes, ein großes Anwesen …

Zwei Häuser sind es ja. Das, in dem wir jetzt sitzen, haben wir von 1971 bis 1972 gebaut. Nur das kleine Haus an der Straße haben wir gekauft und eine alte Stallung, die inzwischen abgerissen ist. Das war alles nicht groß, ein Büdnerhof eben.

Schulzenhof – da denkt man an den Hof eines Schultheiß, der sozusagen Vertreter des Gutsherrn war.

Schulzenhof heißt dieses Vorwerk von sieben Häusern. Hier haben Kleinkätner oder Büdner gewohnt. Das waren Leute, die nur Hund und Ziege hatten, nicht mal eine Kuh, die zum Beispiel im Wald gearbeitet haben für den Gutsbesitzer von Arnim. Wir sitzen hier sozusagen mitten im gräflichen Forst.

Und wer hat das alte Haus vor euch besessen?

Das hat Erwin ja beschrieben in seiner Geschichte »Ein Grundstück bei Rheinsberg kaufen«. Es waren Umsiedler oder Flüchtlinge von irgendwo aus dem Norden. Vor ihnen hauste hier so ein Hexenkünstler aus Berlin. Der hat in dem Haus als Wundertäter gearbeitet mit Futterkalk als Zaubermittel. Die Umsiedler haben reichlich zwei Jahre hier gewohnt. Dann war es ihnen zu einsam, sie wollten näher an Berlin ran, weil die Frau immer krank war und zum Arzt musste. Also haben sie auf eine Annonce geantwortet, die Erwin im Winter 1953 in die »Berliner Zeitung« gesetzt hat. Damals war es noch selten, dass jemand ein Haus auf dem Land suchte. Über vierzig Zuschriften haben wir bekommen und Stück für Stück abgearbeitet.

Ihr seid also zusammen über Land gezogen, um ein gemeinsames Zuhause zu suchen …

Wir zwei und der Schriftsteller Boris Djacenko, mit dem wir befreundet waren. Wir sind in jenem Winter in Nauen gewesen und in allen möglichen Vororten von Berlin, aber es war alles nicht das Richtige. Hier hatten wir zwei Angebote, wollten erst gar nicht hin, weil es uns zu weit war. Aber als ich eines Tages heimkam, saß ein alter Herr mit Krückstock bei Erwin und hat in uns hineingeredet, dass wir doch sein Haus in Burow nehmen sollten, wenigstens ansehen. Und weil er so gebarmt hat – wie billig, wie schön –, haben wir uns mit ihm verabredet. Burow liegt zwischen Gransee und Fürstenberg; bis Drögen fuhr ein Zug um sechs in der Früh ab Oranienburg. Da mussten wir vom Strausberger Platz zum Alexanderplatz laufen, weil noch keine U-Bahn ging. Vom Bahnhof Drögen hinter Gransee hat uns der alte Herr dann durch die Wälder geführt – über Altglobsow nach Burow, ungefähr acht Kilometer. In jenem Winter war schon im Januar Frühling. Aber in der Nacht war dicker Schnee gefallen. Ich hatte nagelneue finnische Schuhe an in dunklem Grün, Rindleder mit Steppnähten und dicken Specksohlen, doch in kürzester Zeit schwamm ich geradezu darin. In Burow führte uns der Mann in ein ururaltes, ganz kleines Haus mit einem Riss in der Wand. Man konnte von draußen durchgucken. Der Herd hatte einen offenen Kamin, es war eiskalt, und der ganze Hof stand voller Gerümpel. Erwin hat ihn erstmal in den Konsum geschickt, eine Flasche Wodka holen. Klar, hier konnten wir nicht wohnen. Aber da wir nun schon mal in der Gegend waren, haben wir gesagt, sollten wir auch das andere Haus besichtigen, das in Schulzenhof. Also ging es über Menz weiter zu Fuß. Als wir aus dem Wald kamen, konnten wir das Haus sehen. Es war gelb getüncht und hatte blaue Fensterläden. Es erinnerte uns an die Försterei Schmalenberg hinter Fangschleuse, wo Erwin den Sommer 1952 verbracht hat, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Das eine Zimmer oben hatte Boris Djacenko gemietet, das zweite Erwin. Ich bin immer von Erkner mit der Bahn nach Fangschleuse gefahren und von dort aus durch den Wald gegangen.

Gedanken also an glückliche Zeiten?

Wir haben das Haus gesehen und gesagt: Das ist es.

Warum wollte Erwin unbedingt aufs Land? Kam das aus seiner kleinbäuerlichen Herkunft, dass er sich Feld und Tiere wünschte?

Genau so. Er war als Ältester prädestiniert, den Hof in Bohsdorf zu übernehmen. Aber von Kindheit an war klar: Er wird es nicht sein. Er war ja derjenige, der gelesen und geschrieben hat, also etwas aus der Art geschlagen war. Sein Bruder Heinrich dagegen konnte vor Kraft kaum laufen. So war es für die Familie ausgemacht, dass Heinrich der Bauer war. Erwin sollte lieber studieren und was Besseres werden, Lehrer oder Pastor. Aber irgendwie hat es ihn doch gewurmt, von vornherein ausgeschlossen zu sein. Immer hatte er Verlangen nach häuslicher Atmosphäre auf einem Bauernhof.

Was für dich auch Bauernarbeit bedeutete?

Alles war konzentriert auf die Gewinnung von Heu. Es war doch im Sozialismus nicht vorgesehen, dass ein Schriftsteller sich als Pferdezüchter etabliert und Futtermittel beansprucht. Um diese Zuteilung war jedes Jahr neu ein Kampf auszufechten, bei dem auch der Verband helfen musste.

Hattest du überhaupt Lust, hierher zu ziehen?

Überhaupt nicht!

Aber du hast Erwin so sehr geliebt, dass du Ja gesagt hast?

Es war auch eine Zwangslage. Zunächst hieß es: Er sucht einen Ort, wo er in Ruhe arbeiten kann. Das Haus hat er mit dem Geld von seinem ersten Nationalpreis gekauft. Wir wohnten damals mit unseren Söhnen und mit dem Umsiedlermädchen Christa, das uns meine Mutter geschickt hatte, in der 4-Zimmer-Wohnung am Strausberger Platz. Dort habe ich mich absolut wohl gefühlt und keinen Moment daran gedacht, aufs Land zu gehen. Als er aber dann hier draußen war, meinte er, er wolle nun hier leben und brauche die Wohnung nicht mehr. Wenn ich sie behalten wolle, müsse ich sie selber finanzieren. Hundertsieben Mark Miete – so viel konnte ich nie verdienen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mit nach Schulzenhof zu gehen und die große Wohnung gegen eine 2-Zimmer-Wohnung in den damals letzten neuen Häusern der alten Stalinallee zu tauschen.

Da hat er dich ganz schön unter Druck gesetzt?

Absolut. Zudem war das Haus noch nicht mal ganz frei. Auf der linken Seite wohnte die Familie eines Volkspolizisten mit einem Säugling. Die vier größeren Kinder aus einer ersten Ehe hatten sie ins Heim gegeben. Diese Frau war ein nachlässiges junges Weib, kochte nicht, ging Erwin immer um Essen an, wenn er alleine draußen war. Mit kaltem Wasser aus der Pumpe hat sie dem Säugling die Flasche gegeben. Ich war froh, dass diese Leute auszogen.

Und wo sind die Leute dann hin?

Die haben woanders eine Wohnung bekommen. Und dann musste renoviert werden. Am 15. Juni ’54 hat Erwin das Haus übernommen, ab Oktober war die Berliner Wohnung aufgegeben, und wir waren hier draußen. Die Kinder hatten den Keuchhusten, der kleine Erwin war anderthalb, Ilja war dreieinhalb. Ich sehe noch, wie in diesem kalten Haus der Maler auf der Leiter stand und hustete – ein Verwandter unserer Nachbarn, der Tuberkulose hatte. Ich wollte das Haus hellblau getüncht haben, aber dann sah es waschblau aus, geradezu niederschmetternd. Später bleichte es aus. Die Möbel mussten von Berlin geholt und irgendwie untergebracht werden, wir hatten ja so wenig Platz. Also stand im vorderen Zimmer eine Couch, die wir von Berlin mitgebracht hatten, ein altes eisernes Bettgestell von hier und ein weiß lackiertes Kinderbett. In der Mitte ein großer Ausziehtisch aus der Berliner Wohnung, an dem zwölf Personen sitzen konnten. So viele waren in den ersten Jahren auch oft da. Erwin hat wie besinnungslos Besucher eingeladen. Es spielte für ihn eine große Rolle, dass er als Hausherr Gastgeber sein konnte. Denn er hatte doch, wie er immer sagte, in den Slums der großen Städte als armer Kerl gehaust, der kaum das Brot zum Essen hatte. Nach seiner Schichtarbeit in der Fabrik hat er abends und sonntags noch in der Gärtnerei dazu verdient, um seine Familie zu versorgen. Und hier fing er sofort an, alles zu beackern. Mir gegenüber tat er so, als hätte es ihn überrumpelt, dass die vorherigen Besitzer ihm eine Glucke mit Küken hinterlassen haben und eine Ziege, die gemolken werden musste. Erst bei der Herausgabe seiner nachgelassenen Erzählungen, »Geschichten ohne Heimat«, wo der Text »Ein Grundstück bei Rheinsberg kaufen« drinsteht, habe ich begriffen, dass alles hinter meinem Rücken so verabredet war. Er hat dann auch sofort losgelegt, hat ein Pferd angeschafft und Heu gemacht. Dazwischen lief der kleine Ilja rum. Hier war auch eine große Sauerkirschhecke. Die hat er ausreißen lassen. Warum, kann ich eigentlich nicht sagen.

Du hießt nicht Eva Strittmatter, als du hier ankamst, ihr wart noch gar nicht verheiratet?

Ich hatte den Namen schon längst angenommen, habe schon unter Eva Strittmatter-Braun geschrieben.

Einfach von dir aus?

Habe ich so beschlossen.

Weil du nicht mehr Eva Braun heißen wolltest wie Hitlers Geliebte? Der Name muss dir doch Probleme gemacht haben.

Erst nach 1945. Vorher hat in meiner Welt kein Mensch von der Existenz dieser Frau gewusst, das war doch ganz geheim. Aber als ich 1947 im November ganz hinten im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität saß, und der Dekan rief die zu Immatrikulierenden auf, ging bei meinem Namen ein riesiges Gejohle los. Unter Geraune und Gelächter musste ich nach vorn durch den ganzen Gang. Und so ist es geblieben. Wenn der Name laut wurde irgendwo, hieß es: Ach, leben Sie denn noch, Sie sind doch schon längst tot? Auf allen Behörden, wo ich auch hinkam, war das so.

Also wolltest du den Namen auf jeden Fall los sein?

Nun, ja. Ich habe im Juni 1950 das erste Mal geheiratet, da hieß ich Wernitz. Am 1. Juli ’51 ist Ilja geboren, ich habe also nicht mal geheiratet, weil ich schwanger war. Ich habe nur geheiratet, weil der Mann mich unter Druck gesetzt hat, weil er gesagt hat, er muss sich sonst umbringen. Und er hat mich beinahe erwürgt, ist mir hinterhergelaufen in ein Schulgebäude in der Auguststraße. Ich habe ihn keineswegs aufregend geliebt, ich habe nachgegeben. Schon vor Iljas Geburt war klar, dass wir nicht zusammenbleiben. Erwin habe ich kennengelernt, als ich ein halbes Jahr von Wernitz getrennt war. Ich habe mich dann Strittmatter-Braun genannt, bis wir geheiratet haben.

Warum habt ihr das Heiraten so lange vor euch hergeschoben?

Wir waren seit Februar 1952, schon über vier Jahre, zusammen, als wir im Juni ’56 geheiratet haben. Da war der kleine Erwin schon drei. Geheiratet haben wir nur, weil wir in Bulgarien Urlaub machen wollten und sonst nicht hätten zusammen wohnen dürfen. Man gab uns ja immer nur getrennte Zimmer, obwohl unsere Pässe zeigten, dass wir dieselbe Adresse hatten.

Ansonsten hätte es dir nichts ausgemacht, auf Dauer ohne Trauschein mit Erwin zusammenzuleben?

Ich war unverheiratet, als wir ’54 hierher gekommen sind. Ich war seine Frau, obwohl er damals noch verheiratet war. Erst 1954 wurde er geschieden. Nein, für mich war nur entscheidend, dass er nicht noch die Beziehung zu Maria aufrechterhalten hat. Doppelbeziehungen waren ihm ja nicht fremd. Bevor wir uns trafen, hatte er mindestens drei Jahre ein Verhältnis mit einer jungen Frau meines Jahrgangs, die im »Wundertäter« als Volontärin Wetterzeube auftaucht. Inzwischen ist sie verstorben. Sie hatte in Moskau oder Leningrad Philosophie studiert, promoviert und war beim Rundfunk. Unsere Beziehung hat sie heftigst bekämpft. Hier unten im Archiv liegen alle ihre Briefe und dann noch die Briefe von Erwins zweiter Frau. Hunderte Seiten mit Beschimpfungen und Beschuldigungen, mit Liebesbeteuerungen und Schmähungen. Diese Beziehung hat er beendet, als »Der Ochsenkutscher« erschien und er bei der Zeitung aufhörte. Da ging er erstmal wieder zur Familie nach Spremberg zurück.

Zur zweiten Frau also?

Ja, wobei die erste, Waltraud, auch immer noch auftauchte, sogar zu unserer Zeit. Sie kam angerauscht aus Wittenberge, wo sie mit ihrem zweiten Mann lebte, und hat Erwin in den Presseklub am Bahnhof Friedrichstraße zitiert. Weil Ulf, der älteste Sohn, in der Schule schlecht war und es nicht zum Abitur schaffte, sollte Erwin seinen Einfluss geltend machen. Wenn sie gewusst hätte, dass er tatsächlich ein bekannter Schriftsteller wird, hat sie gesagt, hätte sie sich nie scheiden lassen. Die hat sich ja mit der Begründung von ihm getrennt, dass er verrückt sei, weil er in einer Bude ohne Heizung am Brettertisch saß und schrieb. Das ist ihr absolut als Wahn erschienen.

Die Scheidung ist also von ihr ausgegangen?

Nein, von ihm. Aber selbst als sie geschieden waren, hat er sich eingebildet, sie könnten wieder zusammenkommen. Sie war der Typ Zirkusprinzessin, der ihm immer schon gefiel. Eine sechzehnjährige Schauspielerin bei so einer Schmierenbühne in Spremberg – in die hat er sich verliebt. Von Anfang an hatte sie andere Männer. Sie ist schuldig geschieden worden; die Kinder wurden ihm zugesprochen. Aber sie ist immer mal wieder aufgetaucht und hat ein Kind abgeholt. Das waren dramatische Geschichten. Die zweite Frau, Maria, hatte er in Berlin getroffen. Sie hat dann an Erwins Mutter geschrieben, dass sie ihn sucht und ein Kind von ihm hat. Du bist doch geschieden, hat die Mutter da zu Erwin gesagt, du kannst sie doch heiraten. Diese Maria war streng katholisch und hat sich dann zur Parteifunktionärin gewandelt. Als wir uns kennenlernten, war sie gerade Kreissekretärin des Kulturbunds in Spremberg. Nachher war sie beim FDGB, Gewerkschaft Kunst, und hat die Theaterleute in Senftenberg und Cottbus kommandiert. Auch später noch hat es diesbezüglich Beschwerden bei Erwin gegeben.

Wie viele Kinder hatte er eigentlich vor dir?

Vier, zwei aus jeder Ehe. Und wir haben drei.

Aber seine früheren Frauen sollten dir ja nicht ins Haus kommen?

Nein. Die zweite Frau habe ich mal gesehen. Sie wusste von meiner Existenz, aber nicht, dass ich hochschwanger war. Ich bin immer mittags vom Schriftstellerverband rüber ins Deutsche Theater, wo »Katzgraben« einstudiert wurde. Da sah ich einmal hinten im Zuschauerraum eine Frau sitzen. Sie war mir von Fotos in Erinnerung, es musste Maria sein. Erwin kam dann zu mir mit einem Schreckensgesicht: Die Maria ist da, ich muss mit ihr jetzt essen gehen. In der Gaststätte hat sie ihn madig gemacht, weil sie meinen Bauch gesehen hat. Und hat ihm immer noch Briefe geschrieben.

Sie glaubte nicht an eure Verbindung?

Sie wusste nicht, dass wir schon längst zusammenlebten am Strausberger Platz. Alle Welt ging schon bei uns ein und aus. Da war sie noch der Meinung, er wohne in der »Möwe«, wo ihm Helene Weigel eine Zeit lang ein Zimmer abgetreten hatte. Polizeilich angemeldet war er in Kleinmachnow bei Konrad und Marianne Schmidt. Dort habe ich immer seine Lebensmittelkarten abgeholt, er musste ja irgendwo eingetragen sein. Dann ist er bei der Schwester des Verbandssekretärs Werner Baum untergekommen, solange ihre Familie die große Wohnung hatte. Dann war er bei Brecht in Weißensee, und ich habe dauernd nach einer Wohnung für uns gesucht. Bis zu dem Tag, als in Berlin die große Demonstration zu Stalins Tod stattfand: Wir gingen alle die Treppe runter, ich hochschwanger, da rief mir KuBa, damals Sekretär im Verband, hinterher: Wollt ihr eine Wohnung in der Stalinallee? Jedem Künstlerverband waren fünf Wohnungen zugeteilt worden. Peter Edel erhielt eine, Franz Fühmann …, fünf Kollegen waren wir rund um den Strausberger Platz. Die 4-Zimmer-Wohnung dort hat uns überhaupt die gemeinsame Existenz ermöglicht. Anders wäre Erwin nicht reingekommen nach Berlin. Weil er keine feste Anstellung hatte, konnte er keine Wohngenehmigung kriegen. Doch eine Arbeit bekam er nicht, weil er keine Wohnung hatte und kein Berliner Bürger war. Ich bin zum Wohnungsamt gegangen, habe den Einweisungsschein geholt; den habe ich heute noch. 106,75 Mark Miete kostete die Wohnung.

Sie war auf dich eingetragen?

Nein, sie war auf uns beide geschrieben.

Obwohl ihr nicht verheiratet wart?

Danach hat niemand gefragt. Jedenfalls wohnten wir dort bis Oktober ’54. Im Mai ’53 habe ich die Wohnung bezogen, und er ist dann gekommen. Ich hatte ihm eingeprägt: Linie E von Alexanderplatz in Richtung Friedrichsfelde. Er: Das kann ich mir merken, Linie E, Linie Eva. Der Lift funktionierte noch nicht, die Wohnung war im 6. Stock. Als ich die Treppe hoch kam mit meinen Taschen, stand er da mit fünf Gerbera in der Hand. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Gerbera gesehen. Wie er durch die Zimmer ging, hat er sich vom ersten Moment an zu Hause gefühlt. Er fuhr nach Weißensee, holte seine Sachen von Brecht und wohnte fortan bei mir. Dabei hatte er mir zunächst nur gestattet, die Wohnung sozusagen in seinem Windschatten zu mieten. Ich sollte dort mit den Kindern leben; er wollte sich eine Gartenlaube nehmen und da schreiben.

Also solltest du ihn mal besuchen kommen oder er dich. Und die übrige Zeit wollte er dich tatsächlich mit Ilja und Erwin alleine lassen?

Inzwischen ist mir klar: Er war damals noch nicht sicher, ob ihm die Trennung von der zweiten Frau gelingt. Sie hat, wie üblich in solchen Situationen, mit Selbstmord gedroht. Das war für ihn so belastend, dass er zeitweilig selbst nur noch diesen Ausweg sah. Das ganze erste Jahr, auch in der Schwangerschaft, hat es mich gequält, wie er sagte, sein Großvater väterlicherseits – der nach Kanada Ausgewanderte, von dem er sicher viele Talente geerbt hat (er findet sich ja im »Laden« wieder) – habe sich mit neununddreißig Jahren erschossen, und er würde das vielleicht auch müssen. Er käme nicht raus aus dieser Lage. Es sei ein riesiges Glück, dass er mich gefunden hat, aber er habe nicht die Kraft, sich zu befreien. In meinen Briefen an ihn, es sind ja Hunderte Seiten, ein ganzes Konvolut, habe ich deutlich gemacht: Wenn du das nicht kannst, wird es mit uns nichts. Eine Doppelbeziehung kommt für mich nicht infrage. Aber so was war er gewohnt, das hat er über Jahre erlebt. Diese junge Frau, mit der Erwin ein Verhältnis hatte, hat ihn bedrängt und verflucht, umso mehr, als sie von seiner Scheidung hörte. Ist sogar ins Büro des Schriftstellerverbands gekommen, weil sie dachte, sie wird mich da sehen. Aber ich war verreist, wahrscheinlich mit ihm, dachte sie.

So viel Kampf um einen Mann …

Was da im Hintergrund alles los war, du glaubst es nicht: Ans ZK hat die Maria geschrieben – flammende Briefe, in denen sie verlangte, die Partei solle uns auseinander bringen. Auch Edith Müller-Beeck hat sich dahin gewandt, weil sie vernarrt in ihn war. Eine Kinderbuchautorin, du wirst sie unter dem Namen Edith Bergner kennen.

Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, Strittmatter und du?

Gesehen haben wir uns das erste Mal im Büro des Schriftstellerverbandes in der Taubenstraße, wo ich zunächst einen Vertrag als freie Mitarbeiterin hatte. Ich hatte ein Preisausschreiben zu den Weltfestspielen 1951 auszuwerten, sollte jedem, der einen Text dazu eingesandt hatte, eine Beurteilung schicken. Damit habe ich ein paar Monate lang mein Geld verdient. Ich saß also an der Schreibmaschine, zu Hause hatte ich keine, da ging hinter mir die Tür auf und jemand kam herein, dessen Konterfei ich kannte. Ich hatte ihn kurz zuvor im »Sonntag« abgebildet gesehen.

Also schon eine Art Berühmtheit für dich?

Das wäre übertrieben. Den Romantitel »Ochsenkutscher« hatte ich mir gemerkt. Jemand hatte bei einem Gespräch in der Humboldt-Universität (Kantorowicz wollte mich zeitweilig als seine Assistentin haben) mir gegenüber den Autor Strittmatter gelobt. Im »Sonntag« waren mir seine riesengroßen Augen aufgefallen, aber die dazugehörige Erzählung fand ich nicht gut. »Manchmal muss man drei Mal klingeln« – eine Propagandageschichte. Sie steht auch in Strittmatters Band »Eine Mauer fällt«, den ich verhindern wollte, den er aber doch unter der Ägide von Max Schroeder, damals Cheflektor des Aufbau-Verlags, veröffentlicht hat. Schroeder wird wohl mehr von Literatur verstehen als du, sagte er.

Du wolltest eine Strittmatter-Veröffentlichung verhindern?

Das war schon im November ’52. Er hatte mir die Druckfahnen gegeben, und ich habe gesagt: Lass das sein, diese Texte fallen dermaßen hinter »Ochsenkutscher« zurück, Agitationstexte eben. Später hat er bereut, dass er nicht auf mich gehört hat. Der Band ist nie wieder aufgelegt worden. Aber erstmal ist er ziemlich wütend mit mir gewesen.

Weil er sich deinerseits nur Zuspruch vorstellen konnte?

Es kam eines zum anderen. Ich war schwanger, und er hat mir vorgeworfen, ich wolle ihn nur fesseln mit dem Kind. An diesem Novemberabend hatten wir im Bahnhof Mahlsdorf in der »Mitropa« gegessen, und ich hatte ihm dort schon gesagt, er solle die Geschichten nicht veröffentlichen.

So schlecht waren sie?

Sprachlich ausgearbeitet, aber ganz auf politische Aussage gestellt. Zum Beispiel die Titelgeschichte: Einer geht rum, um für den Stockholmer Friedensappell zu werben, die Leute wenden sich ab. Aber dann wird eine Mauer gesprengt, sie kriegen einen Schreck und unterschreiben. Fazit: Manchmal braucht es eine Mauer, die einstürzt, damit so eine Erkenntnis reift. Also wirklich, es hatte keinen Wert. Und wir – aus dem Bahnhof raus, durch Gartenstraßen – wir stritten. Ich gerade zweiundzwanzig und er so verloren, so unbehaust. Aus der Försterei musste er weg und wusste schlechterdings nicht, wo er bleiben sollte. Der einzige Ort für ihn wäre dieses Haus in Spremberg gewesen, wo er seine Stube, seine Bücher, die Familie hatte. Da steht er nun mit mir in der Landschaft rum, und es regnet. Ich bin ja sogar bereit gewesen, das Kind abtreiben zu lassen. Eine Ärztin hatte mir zu einem Medikament geraten. Aber es hat nicht funktioniert. Ach, ich habe alles Mögliche versucht, weil seine Verzweiflung so ungeheuer war. Na ja, und nachher hat sich alles binnen Jahresfrist reguliert.

Hat er dich so fasziniert, als du ihn kennenlerntest, dass du dir sagtest »Komme, was wolle«? Wenn man ihn auf Fotos sieht aus dieser Zeit …

Er war von mir so fasziniert, das war es. Ich hatte von ihm zunächst noch nichts gelesen außer dieser mäßigen Geschichte. Später hat er mir erzählt, dass er sich schon auf mich kapriziert hatte, als er mich zum ersten Mal sah. Bei einer Abendveranstaltung in der Bibliothek in der Otto-Nuschke-Straße haben wir uns wieder getroffen. Für Walther Victor, der sie leitete, hatte ich die Vorbereitungen übernommen. Erwin saß neben Paul Wiens, mir gegenüber. Später erzählte er mir, dass er Paul Wiens gefragt hat: Wer ist denn das, kennst du die? Er hatte sich vorgenommen, mich nach der Sitzung anzusprechen. Aber ich habe mich im Vorraum mit meinem Noch-Mann getroffen wegen der Scheidung. Und er sagte sich: Die hat ja schon einen anderen, es hat keinen Zweck. In Potsdam sind wir uns dann wieder begegnet bei einer Wochenendtagung der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren, deren Leiter er war. Dort hat er sich an mich gehängt, und die Entscheidung fiel schon in jener Nacht. Seitdem waren wir zusammen. Wir hatten jeder anderswo Quartier, doch wir sind im Büro des Kulturbundchefs geblieben. Bis die Vögel anfingen zu singen, bis das Licht heraufkam. Er hat mich ausgefragt: Stimmt das, du warst schon verheiratet, du hast schon ein Kind? Er hatte sich aber auch über mich geärgert an jenem Abend. Es war Februar, Faschingszeit. Mit den jungen Autoren sind wir in eine HO-Gaststätte gezogen, ich habe getanzt wie verrückt. Hermann Werner Kubsch hatte ebenso ein Auge auf mich geworfen. Zu dem hat Erwin gesagt: Lass die, siehst doch, was die wert ist.

Hat dir der Altersunterschied zwischen euch keine Sorgen gemacht?

Natürlich, es gab immer wieder solche Situationen, als wir schon zusammen waren. Da sehe ich seine nackten Füße und denke: Mein Gott, was machst du mit dem alten Mann! Du musst dir vorstellen, er hatte rechts oben keine Zähne, dachte immer, er kaschiert das irgendwie. Erst in der Folgezeit hat er angefangen, zum Zahnarzt zu gehen. Und er hat sich Haarsträhnen über die Glatze gelegt, was er später zutiefst verabscheute. Achtzehn Jahre Altersunterschied. Aber gleichzeitig hat er mich beeindruckt, weil er so viel wusste. Und er hat mich auch sofort literarisch eingenommen, nachdem ich ihn in Potsdam getroffen hatte. Wir haben uns Sonntagabend getrennt auf dem Ostbahnhof, er ist nach Spremberg runter, ich bin zu mir nach Mahlsdorf gefahren. Am Montag habe ich mir sofort aus der Bibliothek den »Ochsenkutscher« geholt, den Band »Neue Deutsche Erzähler« mit seinem Text »Der entminte Acker« und die »Neue Deutsche Lyrik« mit seinem berühmten Gedicht »Du«. Das Gedicht habe ich natürlich zuerst gelesen, dann die Erzählung, schließlich den Roman über Nacht und am nächsten Tag. Das war ein Dienstag, und es war schon ein Brief von ihm da: »Eva! Ob ich Dir wirklich schreiben soll? Deine Zustimmung beim Abschied war nicht sehr ermunternd … Freilich hast Du in jener eigenartigen Morgenstunde gehaucht: ›Ich mag dich‹ …«

Diesen Brief habe ich in dem Band »Erwin Strittmatter. Eine Biographie in Bildern« gelesen, ebenso wie deine Antwort, in der du von deiner Suche nach Güte, Verstehenwollen sprichst, von deinem Bedürfnis nach Wärme, »die alle Spannungen zu lösen weiß«.

Von da an jedenfalls ist unsere Verbindung nicht abgerissen. Er war zwar in Spremberg, es war schwierig mit dem Telefonieren. Doch er hat mich immer im Verband angerufen. Na ja, es war alles höchst verdreht.

War es also eine große, bebende Liebe für dich?

Eine große Liebe.

Doch du musstest immer warten, dass er sich meldet …

Da brauchte ich nicht zu warten, er hat sich immer gemeldet. Und er hat jede Gelegenheit genutzt, um nach Berlin zu kommen oder nach Potsdam, um in Berlin Station zu machen. Ab Mai war er dann sowieso da. Seine Firma war quasi das »Berliner Ensemble«: Mit Brecht zusammen hat er »Katzgraben« inszeniert. Nach Spremberg ist er nur noch selten gefahren, um nach den Kindern zu sehen. Dabei hatte er Angst, dass die Frau mitbekommt, was los ist. Um Ruhe zu haben, hat er die absurdesten Sachen gemacht. Weil sie alles durchstöberte, hat er zum Beispiel einen Brief an sich selber fabriziert, quasi mit meiner Adresse und Unterschrift, und hat darin vorgegeben, ich sei eine Studentin, die über »Ochsenkutscher« arbeiten will. Das hat er mir später erzählt.

Hat es ihm gefallen, dass du euer Kind Erwin genannt hast?

Danach habe ich ihn nicht gefragt. Das Kind bekam unsere beiden Namen: Braun von mir, Erwin von ihm.

Das heißt also, der kleine Erwin hieß zunächst gar nicht Strittmatter?

Erst seitdem wir geheiratet haben. Und der Kleine wollte den Namen Strittmatter nicht. Ich heiße Erwin Braun, hat er immer gesagt. Er hatte eine heikle Beziehung zu seinem Vater. Sie sind auch im Unfrieden auseinandergegangen ein paar Wochen vor Erwins Tod. Der Auslöser war eine Dokumentation über Inge Keller. Uns hatte sie sehr beeindruckt. Doch Erwin junior mäkelte schon an der Formulierung »große alte Dame des Deutschen Theaters« herum. Daraufhin hat Erwin – der Vater – gesagt: Ihr jungen Leute könnt überhaupt nichts gelten lassen, gar nichts. Und ist empört vom Tisch aufgestanden, das war schrecklich. Und hat geweint. Er sagte: Ich gehe nach oben. Obwohl er schon gar nicht mehr allein die Treppe schaffte; ich habe ihn hochgeschoben. Nach einer Weile kam er runter und wollte mit dem Jungen Frieden schließen, aber der war mit seiner Freundin schon weg. Später hat er in Berlin angerufen und sich entschuldigt – aus Furcht, ich könnte ihm meine Gunst entziehen. Dabei war er so bedürftig in seinem Zustand, das hätte gar nicht passieren können.

Ein ganzes Leben zusammen und immer in Unsicherheit?