Über Jewgeni Wodolaskin

Jewgeni Wodolaskin, geboren 1964 in Kiew, arbeitet nach einem Philologiestudium und der Promotion seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Sein Roman »Laurus«, ein internationaler Bestseller, wurde in 20 Sprachen übersetzt. »Luftgänger« wurde bisher in 14 Sprachen übersetzt und stand auf der Shortlist für den russischen Booker Prize.
Jewgeni Wodolaskin lebt mit seiner Familie in St. Petersburg.

Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland); Lektorin; seit 1991 freiberufliche Übersetzerin. Übertrug Polina Daschkowa, Ljudmila Ulitzkaja, Boris Akunin, Jewgeni Wodolaskin und viele andere ins Deutsche.

Informationen zum Buch

»Eine faszinierende Jahrhundertchronik Russlands.« BBC

Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen?

In der Tradition großer russischer Autoren wie Michail Bulgakow und Fjodor Dostojewski entfaltet Jewgeni Wodolaskin am Schicksal eines Einzelnen ein faszinierendes Panorama Russlands.

»Der bewegende neue Roman des »russischen Umberto Ecco« Financial Times

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Jewgeni Wodolaskin

Luftgänger

Roman

Aus dem Russischen
von Ganna-Maria Braungardt

Inhaltsübersicht

Über Jewgeni Wodolaskin

Informationen zum Buch

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Erster Teil

Zweiter Teil

Anmerkungen

Fußnoten

Impressum

Für meine Tochter

»Was schreiben Sie da dauernd?«

»Ich beschreibe Gegenstände, Eindrücke. Menschen. Ich schreibe jetzt jeden Tag, in der Hoffnung, sie vor dem Vergessen zu retten.«

»Gottes Welt ist zu groß, um dabei auf Erfolg zu hoffen.«

»Wissen Sie, wenn jeder seinen Teil der Welt beschreibt, sei er auch noch so klein … Obwohl, wieso eigentlich klein? Es findet sich immer jemand, dessen Blick weit genug ist.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel ein Aviator.«

Gespräch im Flugzeug

Erster Teil

Ich habe oft zu ihr gesagt: Setz bei Kälte eine Mütze auf, sonst frierst du dir die Ohren ab. Schau nur, wie viele Leute jetzt ohne Ohren rumlaufen. Sie stimmte mir zu, ja, ja, das sollte ich, setzte aber doch nie eine Mütze auf. Sie lachte über den Scherz und lief weiter ohne Mütze herum. Dieses Bild ist aus meiner Erinnerung aufgetaucht, aber um wen es geht – keine Ahnung.

Oder, sagen wir, ich erinnere mich an einen Streit – einen abscheulichen, zermürbenden Streit. Ich weiß nicht, wo er sich zugetragen hat. Das Traurige ist, dass die Unterhaltung erst ganz friedlich war, dann gab ein Wort das andere, und alle zerstritten sich. Hinterher wunderten wir uns alle – warum, wieso?

Irgendwer bemerkte, so etwas passiere oft bei Totenfeiern: Anderthalb Stunden reden alle darüber, was für ein guter Mensch der Tote war. Dann erinnert sich einer der Gäste plötzlich, dass der Tote ja nicht nur gut war. Und sofort, wie auf Kommando, fallen andere ein, fügen noch etwas hinzu, und nach und nach kommen alle zu dem Schluss, dass der Tote eigentlich ein ausgemachter Halunke war.

Oder etwas ganz Phantasmagorisches: Jemand kriegt mit einem Stück Wurst eins über den Kopf gezogen, dann rollt dieser Mann eine Schräge hinunter, rollt immer weiter, kann nicht anhalten, und dieses Rollen erzeugt Schwindel …

Bei mir. Mir ist schwindlig. Ich liege im Bett.

Wo bin ich?

Schritte.

Ein Unbekannter im weißen Kittel kommt herein. Er steht da, die Hand auf den Lippen, und schaut mich an (im Türspalt zeigt sich ein weiterer Kopf). Ich meinerseits schaue ihn an – ohne mich zu verraten. Aus halbgeschlossenen Augen. Er bemerkt das Zittern meiner Lider.

Ich öffne die Augen. Der Unbekannte kommt an mein Bett und streckt die Hand aus.

»Geiger. Ihr Arzt.«

Ich ziehe meine rechte Hand unter der Bettdecke hervor und spüre Geigers behutsamen Händedruck. So berührt man etwas, wenn man fürchtet, es zu zerbrechen. Er dreht sich kurz um, und die Tür klappt zu. Ohne meine Hand loszulassen, beugt sich Geiger zu mir.

»Und Sie sind Innokenti Petrowitsch Platonow, nicht wahr?«

Das kann ich nicht bestätigen. Wenn er es sagt, hat er wohl seine Gründe dafür. Innokenti Petrowitsch … Wortlos schiebe ich die Hand wieder unter die Decke.

»Sie erinnern sich an nichts?«, fragt Geiger.

Ich schüttle den Kopf. Innokenti Petrowitsch Platonow. Respektabel. Vielleicht ein wenig literarisch.

»Erinnern Sie sich, wie ich eben an Ihr Bett kam? Wie ich mich vorgestellt habe?«

Warum redet er so mit mir? Oder geht es mir wirklich sehr schlecht?

Nach einer kurzen Pause sage ich mit kratziger Stimme: »Ja.«

»Und davor?«

Ich fühle Tränen in mir aufsteigen. Sie quellen hervor, und ich schluchze. Geiger nimmt ein Mulltuch vom Nachttisch und wischt mir das Gesicht ab.

»Nicht doch, Innokenti Petrowitsch. Es gibt so wenige Dinge auf der Welt, an die es sich zu erinnern lohnt, seien Sie also nicht traurig.«

»Wird mein Gedächtnis zurückkehren?«

»Das hoffe ich sehr. In Ihrem speziellen Fall lässt sich nichts mit Sicherheit sagen.« Er steckt mir ein Fieberthermometer unter den Arm. »Wissen Sie, rufen Sie sich so viel wie möglich in Erinnerung, aus eigener Kraft, das ist wichtig. Sie müssen sich selbst an alles erinnern.«

Ich sehe Haare in Geigers Nase. An seinem Kinn Kratzer vom Rasieren.

Er schaut mich ruhig an. Hohe Stirn, gerade Nase, Kneifer – als hätte ihn jemand gezeichnet. Manche Gesichter sind so typisch, dass sie wirken wie ausgedacht.

»Hatte ich einen Unfall?«

»So kann man es auch sagen.«

Im offenen Fenster vermischt sich die Luft des Krankenzimmers mit der Winterluft von draußen. Sie wird trüb, flirrt, zerläuft, die vertikale Leiste des Fensterrahmens verschmilzt mit einem Baumstamm, frühe Dämmerung – irgendwo habe ich das schon einmal gesehen. Auch hereinfliegende Schneeflocken habe ich schon einmal gesehen. Wie sie schmelzen, bevor sie das Fensterbrett erreichen … Wo?

»Ich erinnere mich an nichts. Nur an irgendwelche Kleinigkeiten – Schneeflocken in einem Krankenhausfenster, die Kühle der Fensterscheibe, wenn man die Stirn dagegen lehnt. An Ereignisse erinnere ich mich nicht.«

»Ich könnte Sie natürlich an einige Ereignisse erinnern, aber das Leben in seiner ganzen Fülle lässt sich nicht erzählen. Über Ihr Leben weiß ich nur Äußerlichkeiten: Wo Sie gewohnt haben, mit wem Sie Umgang hatten. Die Geschichte Ihrer Gedanken und Gefühle aber ist mir unbekannt, verstehen Sie?« Er zieht das Fieberthermometer heraus. »38,5. Ein bisschen viel.«

Montag

Gestern gab es noch keine Zeit. Aber heute ist Montag. Die Sache war so. Geiger brachte mir einen Stift und ein dickes Heft. Ging weg. Und kehrte mit einem Schreibtablett zurück.

»Alles, was am Tag geschieht, schreiben Sie auf. Und alles, woran Sie sich aus der Vergangenheit erinnern, auch. Dieses Tagebuch ist für mich. Daran werde ich sehen, wie rasch wir in Ihrem Fall vorankommen.«

»Alle meine Erlebnisse bis jetzt haben mit Ihnen zu tun. Ich soll also über Sie schreiben?«

»Abgemacht1. Beschreiben und beurteilen Sie mich von allen Seiten – meine bescheidene Person wird andere Fäden Ihres Bewusstseins nach sich ziehen. Und Schritt für Schritt werden wir Ihren Bezugskreis erweitern.«

Geiger stellte das Tablett auf meinen Bauch. Bei jedem meiner Atemzüge hob es sich traurig, als atmete es selbst. Geiger rückte es zurecht. Er schlug das Heft auf, legte mir den Stift zwischen die Finger – was, ehrlich gesagt, überflüssig war. Ich bin zwar krank (fragt sich, was mir fehlt), aber Arme und Beine kann ich immerhin bewegen. Was soll ich eigentlich aufschreiben – es geschieht doch nichts, und ich erinnere mich auch an nichts.

Das Heft ist riesig – dick genug für einen Roman. Ich drehte den Stift in der Hand. Was fehlt mir eigentlich? Doktor, werde ich leben?

»Doktor, welches Datum ist heute?«

Er schwieg. Ich schwieg auch. Hatte ich etwas Anstößiges gefragt?

»Machen wir es so«, sagte Geiger schließlich. »Notieren Sie nur die Wochentage. So kommen wir mit der Zeit besser zurecht.«

Geiger ist die Rätselhaftigkeit in Person.

Ich antwortete: »Abgemacht

Er lachte.

Und dann fing ich an und schrieb alles auf – von gestern und von heute.

Dienstag

Heute habe ich Schwester Valentina kennengelernt. Sie ist schlank. Wortkarg.

Als sie hereinkam, stellte ich mich schlafend – das wird schon zur Gewohnheit.

Dann öffnete ich ein Auge und fragte: »Wie heißen Sie?«

»Valentina. Der Arzt sagt, Sie brauchen Ruhe.«

Alle weiteren Fragen ließ sie unbeantwortet. Sie stand mit dem Rücken zu mir und bearbeitete den Boden mit einem Schrubber. Ein Triumph des Rhythmus. Wenn sie sich bückte, um den Lappen im Eimer auszuspülen, schaute unter ihrem Kittel ihre Wäsche hervor. Von wegen Ruhe …

Ein Scherz. Ich bin völlig kraftlos. Am Morgen habe ich meine Temperatur gemessen, 38,7, das beunruhigt Geiger.

Mich beunruhigt, dass es mir nicht gelingt, Erinnerungen von Träumen zu unterscheiden.

Mehrdeutige Eindrücke von letzter Nacht. Ich liege mit Fieber zu Hause – Influenza. Großmutters Hand ist kühl, das Thermometer ist kühl. Schneetreiben vorm Fenster – es verweht den Weg zum Gymnasium, dem ich heute fernbleibe. Dort werden sie beim Aufrufen zum »P« kommen (ein Finger, voller Kreide, gleitet durchs Klassenbuch) und bei Platonow innehalten.

Platonow fehlt, meldet der Klassenälteste, er ist wegen Influenza zu Hause, bestimmt wird ihm »Robinson Crusoe« vorgelesen. In der Wohnung tickt vielleicht eine Standuhr. Die Großmutter, fährt der Klassenälteste fort, drückt sich den Kneifer auf die Nase, und ihre Augen wirken durch die Gläser groß und vorquellend. Ein eindrucksvolles Bild, stimmt ihm der Lehrer zu, nennen wir es Apotheose des Lesens (Heiterkeit in der Klasse).

Das Wesentliche der Geschichte, sagt der Klassenälteste, ist, kurz gefasst, Folgendes. Ein leichtsinniger junger Mann unternimmt eine Seereise und erleidet Schiffbruch. Er strandet auf einer einsamen Insel, wo er ohne Nahrungsmittel ist und vor allem ohne Menschen. Ohne einen einzigen Menschen. Hätte er sich von Anfang an vernünftig verhalten … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne dass es belehrend klingt. Eine Art Gleichnis vom verlorenen Sohn.

An der Tafel im Klassenraum (gestern war Arithmetik) eine Gleichung, die Fußbodendielen sind noch feucht vom morgendlichen Putzen. Der Lehrer stellt sich lebhaft vor, wie Robinson hilflos herumpaddelt, sich müht, Land zu erreichen. Die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß zu sehen hilft ihm Aiwasowskis Gemälde »Die neunte Woge«. Das erschütterte Schweigen des Lehrers wird von keinem einzigen Ausruf gestört. Durch die Doppelfenster dringt schwaches Räderrattern von Kutschen herein.

Ich habe »Robinson Crusoe« schon oft selbst gelesen, doch wenn man krank ist, fällt das Lesen schwer. Die Augen brennen, die Zeilen verschwimmen. Ich schaue auf Großmutters Lippen. Bevor sie eine Seite umblättert, führt sie einen Finger an die Lippen. Manchmal nippt sie am abgekühlten Tee, dann fliegen kaum sichtbare Spritzer auf »Robinson Crusoe«. Manchmal auch Krümel von einem zwischen den Kapiteln gegessenen Zwieback. Wenn ich wieder gesund bin, blättere ich aufmerksam alles Vorgelesene durch und schüttele die vertrockneten und plattgedrückten Krümel heraus.

»Ich erinnere mich an viele verschiedene Orte und Menschen«, teile ich Geiger aufgeregt mit, »ich erinnere mich an bestimmte Äußerungen. Aber schlagen Sie mich tot, ich erinnere mich nicht, wer welche Worte gesagt hat. Und wo.«

Geiger ist gelassen. Er hofft, dass das vorübergehen wird. Er hält es nicht für wesentlich.

Vielleicht ist das ja wirklich unwesentlich? Vielleicht ist nur von Bedeutung, dass die Worte gesagt wurden und erhalten blieben, von wem und wo ist dagegen zweitrangig? Ich muss Geiger danach fragen – mir scheint, er weiß alles.

Mittwoch

Manchmal ist es auch so: Die Worte sind weg, aber das Bild ist noch vollständig. Da sitzt zum Beispiel ein Mann in der Dämmerung. Im Zimmer herrscht schon Halbdunkel, doch er schaltet das Licht nicht ein – aus Sparsamkeit? Traurige Reglosigkeit. Der Ellbogen ist auf den Tisch gestützt, die Stirn ruht auf der Hand, der kleine Finger ist abgespreizt. Selbst im Dunkeln ist erkennbar, dass die Kleidung zerknittert ist, graubraun, fast farblos, Gesicht und Hand sind ein einziger weißer Fleck. Der Mann scheint in Nachdenken versunken, obwohl er in Wirklichkeit an gar nichts denkt, sondern einfach nur ausruht. Vielleicht sagt er sogar etwas, aber die Worte sind nicht zu hören. Seine Worte sind mir im Grunde egal, mit wem sollte er auch reden – mit sich selbst? Er weiß ja nicht, dass ich ihn beobachte, und wenn er etwas sagt, dann nicht zu mir. Er bewegt die Lippen, sieht aus dem Fenster. Die Tropfen auf der Fensterscheibe spiegeln das Licht der Straße, schillern von den Lichtern der Kutschen. Das Fenster knarrt.

Bislang habe ich in meinem Krankenzimmer nur zwei Personen gesehen, Geiger und Valentina. Arzt und Krankenschwester – was braucht man mehr? Ich habe meine Kräfte zusammengenommen und bin ans Fenster gegangen – der Hof ist menschenleer, kniehoch Schnee. Einmal verließ ich das Zimmer, mich an der Wand festhaltend, und ging in den Flur – sofort erschien Valentina: Ihnen wurde Bettruhe verordnet, gehen Sie wieder in Ihr Zimmer. Verordnet …

Apropos: Die beiden sehen altmodisch aus. Wenn Geiger keinen weißen Kittel anhat, trägt er einen Dreiteiler. Er erinnert mich an Tschechow … Ich habe dauernd überlegt: An wen erinnert er mich bloß? An Tschechow! Er trägt sogar einen Kneifer. Einen Kneifer habe ich in unserer Zeit wohl nur bei Stanislawski gesehen, aber der ist schließlich beim Theater … Übrigens finde ich, das Pärchen, das mich behandelt, hat etwas Theatralisches. Valentina ist ganz barmherzige Schwester der Kriegszeit. 1914. Wer weiß, was sie von meinem Eindruck halten – Geiger wird das ja lesen, das haben wir ausgemacht. Schließlich hat er selbst mich gebeten, rückhaltlos alles aufzuschreiben, was ich bemerke, denke, woran ich mich erinnere – bitte sehr, genau das tue ich.

Heute ist meine Mine abgebrochen, und ich sagte es Valentina. Sie zog eine Art Bleistift aus der Tasche und reichte ihn mir.

»Amüsant«, sagte ich, »eine Mine aus Metall, das habe ich noch nie gesehen.«

Valentina wurde rot und nahm mir das Ding rasch wieder weg. Dann brachte sie mir einen anderen Bleistift. Warum ist sie errötet? Wenn sie mich zur Toilette bringt oder mir die Unterhose herunterzieht, bevor sie mir eine Spritze gibt, wird sie nicht rot, aber bei diesem Stift – merkwürdig. In meinem Leben gibt es jetzt eine Menge kleiner Rätsel, die ich nicht lösen kann. Aber Valentina errötet bezaubernd, bis zu den Ohrenspitzen. Ihre Ohren sind zart und fein. Als sich gestern ihr weißes Kopftuch löste, habe ich sie bewundert. Das heißt, nur eines. Valentina beugte sich über die Lampe, mit dem Rücken zu mir, ihr Ohr schimmerte durchsichtig rosig, und ich hätte es gern berührt. Ich wagte es nicht. Und hatte auch nicht die Kraft.

Ich habe das seltsame Gefühl, schon eine Ewigkeit in diesem Bett zu liegen. Wenn ich einen Arm oder ein Bein bewege, schmerzen meine Muskeln, und wenn ich ohne fremde Hilfe aufstehe, sind meine Beine wie aus Watte. Dafür ist meine Temperatur etwas gesunken – 38,3.

Ich frage Geiger: »Was ist denn eigentlich mit mir passiert?«

»Daran«, antwortet er, »müssen Sie sich selbst erinnern, sonst wird Ihr Bewusstsein durch meines ersetzt. Wollen Sie das etwa?«

Ich weiß selbst nicht, ob ich das will. Vielleicht entpuppt sich mein Bewusstsein als eines, das lieber ersetzt werden sollte?

Freitag

Apropos Bewusstsein: Gestern habe ich es verloren. Geiger und Valentina sind furchtbar erschrocken. Als ich wieder zu mir kam, sah ich ihre Gesichter umgedreht über mir – anscheinend würden sie es bedauern, mich zu verlieren. Es ist schön, wenn du aus irgendeinem Grund gebraucht wirst – selbst wenn dieser Grund nichts Persönliches ist, sondern sozusagen reine Menschenliebe. Gestern hat Geiger meine Blätter den ganzen Tag behalten. Offenbar befürchtete er, ich hätte mich vorgestern beim Schreiben überanstrengt. Ich lag da und beobachtete die fallenden Schneeflocken draußen. Dabei schlief ich ein. Als ich aufwachte, fielen sie noch immer.

Auf einem Stuhl an meinem Bett saß Valentina. Sie wischte mir mit einem feuchten Schwamm die Stirn ab. Küss mich, wollte ich sagen, küss mich auf die Stirn. Ich tat es nicht. Weil es ausgesehen hätte, als wischte sie mir die Stirn ab, bevor sie sie küsste. Überhaupt – jeder weiß, wen man auf die Stirn küsst … Dafür nahm ich ihre Hand, und sie zog sie nicht weg. Legte nur unser beider Hände auf meinen Bauch, damit sie nicht in der Luft hingen. Ihre Hand bedeckte meine wie ein Zelt – diese Handhaltung lernt man beim Klavierunterricht. Hatte ich früher auch Klavierunterricht? Ich drehte meine Hand um, fuhr mit dem Zeigefinger über das Innere des Zeltdachs, es zuckte, fiel zusammen und sank auf meine Handfläche. Ich spürte seine Wärme.

»Legen Sie sich zu mir, Valentina«, bat ich. »Ich hege keine üblen Absichten, und ich bin vollkommen harmlos, das wissen Sie. Ich möchte nur, dass jemand bei mir ist. Dicht bei mir, sonst werde ich niemals warm. Ich kann das nicht erklären, aber so ist es.«

Mit einiger Mühe rückte ich in dem breiten Bett ein Stück zur Seite, und Valentina legte sich neben mich, auf die Decke. Ich war sicher gewesen, dass sie meine Bitte erfüllen würde, ich weiß selbst nicht, warum. Sie neigte ihren Kopf zu meinem. Ich atmete ihren Geruch ein – eine Essenz aus Gebügeltem, Gestärktem, Schneeweißem, vermischt mit dem Duft eines Parfüms und eines jungen Körpers. Sie ließ mich daran teilhaben, und ich konnte nicht genug davon bekommen. Die Tür ging auf, Geiger erschien, doch Valentina blieb liegen. Sie verkrampfte sich ein wenig (das spürte ich), stand aber nicht auf. Wahrscheinlich errötete sie – musste einfach erröten.

»Sehr schön«, sagte Geiger, ohne hereinzukommen. »Ruhen Sie sich aus.«

Eine eigenartige, bemerkenswerte Reaktion.

Eigentlich wollte ich das nicht aufschreiben, weil es ja nicht nur mich allein betrifft, aber da er ohnehin alles gesehen hat … Geiger soll richtig verstehen, was da geschehen ist (das tut er natürlich sowieso). Ich wünsche mir, dass sich das wiederholt, wenigstens für ein paar Minuten am Tag.

Sonntag

Nach dem Aufwachen sprach ich in Gedanken das Vaterunser. Ich entdeckte, dass ich das Gebet ohne Stocken hersagte. Wenn ich sonntags mal nicht in die Kirche gehen konnte, sprach ich wenigstens für mich das Vaterunser. Bewegte die Lippen im feuchten Wind. Ich lebte auf einer Insel, wo der Besuch des Gottesdienstes nicht selbstverständlich war. Es war zwar keine richtig einsame Insel, und es gab auch Kirchen, aber sie zu besuchen war irgendwie dennoch schwierig. An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern.

Die Kirche ist eine große Freude, besonders in der Kindheit. Ich bin noch klein, klammere mich an den Rock meiner Mutter. Der Rock unter ihrem kurzen Pelzmantel ist lang und schleift raschelnd über den Boden. Mutter stellt vor einer Ikone eine Kerze auf, ihr Rock hebt sich ein wenig und mit ihm meine Hand im Fäustling. Mutter nimmt mich vorsichtig hoch und hebt mich zur Ikone. Ich spüre ihre Hände an meinem Rücken, meine Filzstiefel und Fäustlinge gleiten durch die Luft, ich schwebe gewissermaßen auf die Ikone zu. Unter mir brennen Dutzende Kerzen, feierlich, zitternd, ich schaue sie an und kann den Blick nicht von diesem Leuchten abwenden. Sie knistern, Wachs tropft von ihnen herunter und erstarrt sogleich zu bizarren Stalaktiten. Die Muttergottes kommt mir entgegen, die Arme ausgestreckt, und ich küsse Ihre Hand, linkisch, weil mein Flug nicht von mir gesteuert wird, und nach dem Kuss berühre ich Sie, wie es sich gehört, mit der Stirn. Einen Augenblick lang spüre ich die Kühle Ihrer Hand. Und so schwebe ich durch die Kirche, über dem Priester, der das Weihrauchfass schwingt, durch wohlriechenden Rauch. Über dem Chor, durch seinen Gesang hindurch (langsame Armbewegungen des Kantors und Grimassen bei hohen Tönen). Über der alten Kerzenverkäuferin und dem Volk, das die Kirche füllt (die Säulen umfließend), an den Fenstern entlang, hinter denen das verschneite Land liegt. Russland? Vor der nicht ganz geschlossenen Tür ballt sich sichtbar die Kälte, auf dem Griff liegt Raureif. Der Spalt wird plötzlich breiter, in dem entstandenen Rechteck steht Geiger.

»Doktor, wir sind doch in Russland?«, frage ich.

»Ja, gewissermaßen.«

Er bereitet meinen Arm für eine Infusion vor.

»Warum heißen Sie dann Geiger?«

Er sieht mich erstaunt an.

»Weil ich ein russischer Deutscher bin. Deutschrusse. Haben Sie befürchtet, wir seien in Deutschland?«

Nein, das habe ich nicht befürchtet. Aber nun kann ich davon ausgehen, dass ich genau weiß, wo ich mich befinde. Bis heute war mir das im Grunde nicht ganz klar.

»Und wo ist Schwester Valentina?«

»Sie hat heute frei.«

Nachdem Geiger den Tropf angehängt hat, misst er meine Temperatur. 38,1.

»Und«, erkundige ich mich, »gibt es keine anderen Schwestern?«

»Sie sind unersättlich.«

Aber ich brauche gar keine andere Schwester. Ich verstehe nur nicht, was das für eine Einrichtung ist, wo es nur einen Arzt, eine Schwester und einen Patienten gibt. Nun, in Russland ist alles möglich. In Russland … Vermutlich eine verbreitete Phrase, wenn sogar mein zerstörtes Gedächtnis sie bewahrt hat. Sie hat ihren eigenen Rhythmus. Ich weiß nicht, was sich dahinter verbirgt, aber an diese Phrase erinnere ich mich.

Derartige Phrasen sind in meinem Kopf bereits mehrfach unvermittelt aufgetaucht. Sie haben wahrscheinlich ihre Geschichte, doch ich spreche sie aus wie zum ersten Mal. Ich fühle mich wie Adam. Oder wie ein Kind: Kinder wiederholen ja oft Phrasen, ohne ihren Sinn zu kennen. In Russland ist alles möglich, hm, tja. Darin liegt ein Vorwurf, vielleicht sogar ein Urteil. Es klingt nach einer unguten Grenzenlosigkeit, danach, dass alles in eine ganz bestimmte Richtung läuft. Inwieweit betrifft diese Phrase auch mich?

Nach kurzem Überlegen teile ich Geiger als Deutschem diese Phrase mit und bitte ihn, sie zu bewerten. Ich beobachte, wie er Lippen und Augenbrauen bewegt – so verkostet man Wein. Er atmet laut ein, als wollte er antworten, doch nach einer Pause atmet er ebenso geräuschvoll wieder aus. Als Deutscher hat er sich entschieden, zu schweigen, womöglich, um mich nicht zu verletzen. Stattdessen bittet er mich, ihm meine Zunge zu zeigen, was meiner Ansicht nach durchaus gerechtfertigt ist. Meine Zunge handelt noch in erheblichem Maße selbstständig: Sie spricht, woran sie gewöhnt ist, wie bei einem sprechenden Vogel. Geiger weiß offenbar Bescheid über meine Zunge und will sie deshalb sehen. Als ich sie ihm zeige, schüttelt er den Kopf. Er ist nicht erfreut über meine Zunge.

Auf dem Weg zur Tür dreht sich Geiger noch einmal um.

»Ach ja, noch etwas … Wenn Sie möchten, dass sich Valentina zu Ihnen legt, meinetwegen auch unter Ihre Decke, sagen Sie es ruhig, genieren Sie sich nicht. Das ist normal.«

»Sie wissen selbst, dass ihr keinerlei Gefahr droht.«

»Ich weiß. Obwohl«, er schnippt mit den Fingern, »in Russland ist ja alles möglich, nicht?«

Im Augenblick – nicht alles … Das spüre ich wie niemand sonst.

Freitag

Alle diese Tage hatte ich keine Kraft. Auch heute habe ich keine. In meinem Kopf rumort etwas Seltsames: »Aviator Platonow«. Auch eine Phrase?

Ich frage Geiger: »Doktor, war ich ein Aviator?«

»Soweit ich weiß, nein.«

Wo wurde ich denn Aviator genannt? Vielleicht in Kuokkala? Genau, in Kuokkala!

Ich rufe Geiger zu: »Der Name hat etwas mit Kuokkala zu tun, wo ich … Wo wir … Waren Sie mal in Kuokkala, Doktor?«

»Das heißt jetzt irgendwie anders.«

»Wie?«

»Nun, zum Beispiel Repino … Egal, Hauptsache, Sie schreiben Ihre Erinnerung auf.«

Das werde ich – morgen. Ich bin müde.

Sonnabend

Ich bin mit meinem Cousin Sewa am Finnischen Meerbusen. Sewa ist der Sohn des Bruders meiner Mutter. Als Kind fand ich diese Erklärung unserer Verwandtschaft furchtbar kompliziert. Noch heute sage ich das nicht ohne Stocken. Cousin ist natürlich leichter, aber am besten ist – Sewa. Sewas Eltern haben ein Haus in Kuokkala.

Wir beide lassen einen Drachen steigen. Wir laufen dicht am Wasser den abendlichen Strand entlang. Manchmal treten wir mit den nackten Füßen ins Wasser, und die Spritzer glitzern in der untergehenden Sonne. In unserer Phantasie sind wir Aviatoren. Wir fliegen zu zweit: Auf dem Vordersitz ich, hinten Sewa. Dort am kalten Himmel ist es leer und einsam, doch uns wärmt unsere Freundschaft. Sollten wir sterben, dann zusammen – das verbindet. Wir versuchen uns zu verständigen, dort oben, doch der Wind trägt unsere Worte davon.

»Aviator Platonow«, ruft Sewa von hinten. »Aviator Platonow, Kurs voraus die Ortschaft Kuokkala!«

Ich verstehe nicht, warum Sewa seinen Kollegen so formell anspricht. Vielleicht, damit Platonow nicht vergisst, dass er ein Aviator ist. Sewas hohe Stimme (die auch später so blieb) schallt durch den gesamten Ort, den wir überfliegen. Bisweilen vermischt sie sich mit den Schreien der Möwen und ist kaum noch davon zu unterscheiden. Sewas Geschrei stört mich, ehrlich gesagt, sehr. Doch ich sehe sein glückliches Gesicht und bringe es nicht fertig, ihn zu bitten, er solle still sein. Im Grunde habe ich seine Stimme eben wegen ihres seltsamen Vogeltimbres in Erinnerung behalten.

Vor dem Schlafengehen bekommen wir heiße Milch mit Honig. Eigentlich mag ich keine heiße Milch, doch nach dem Flug über der Bucht, nach dem Seewind im Gesicht erhebe ich keinen Protest. Sewa und ich trinken, obwohl die Milch noch kaum abgekühlt ist, in großen Schlucken. Gebracht wird sie täglich von einer finnischen Milchfrau, und wenn sie nicht heiß ist, schmeckt sie tatsächlich sehr gut. Die Finnin, die sich in den russischen Wörtern verheddert, preist ihre Kuh. Die stelle ich mir so ähnlich vor wie die Milchfrau selbst: groß, bedächtig, mit weit auseinanderliegenden Augen und prallem Euter.

Sewa und ich teilen uns das Turmzimmer. Es bietet einen Rundumblick (hinten der Wald, vorn das Meer), was für erfahrene Aviatoren nicht unwichtig ist. Man kann jederzeit das Wetter vorhersagen: Nebel über dem Meer verheißt Regen; gekräuselte Wellenkämme und schwankende Kiefernwipfel bedeuten Sturm. Kiefern und Wellen verändern ihre Gestalt im Dämmerlicht der weißen Nächte. Nicht, dass sie plötzlich bedrohlich wirken, nein, aber sie verlieren ihre Tagessanftheit. Das ist beunruhigend, wie ein stets lächelnder Mensch, der plötzlich nachdenklich aussieht.

»Schläfst du schon?«, fragt Sewa flüsternd.

»Nein«, antworte ich, »aber gleich.«

»Ich habe am Fenster einen Riesen gesehen.« Sewa zeigt auf das Fenster auf der meerabgewandten Seite.

»Das ist eine Kiefer. Schlaf.«

Einige Minuten später höre ich Sewa schniefen. Ich schaue zu dem Fenster, auf das Sewa gezeigt hat. Und sehe den Riesen.

Montag

Der Montag ist ein schwerer Tag. Noch eine Phrase aus meinem armen Kopf. Ob wohl noch viele darin stecken? Die Menschen und die Ereignisse existieren nicht mehr, aber die Worte sind geblieben – da sind sie. Wahrscheinlich verschwinden die Worte als Letztes, besonders, wenn sie aufgeschrieben wurden. Geiger ist vielleicht selbst nicht ganz klar, was für eine sinnvolle Idee das ist – das Schreiben. Vielleicht erweisen sich die Worte als der Faden, an dem sich alles hervorziehen lässt, was einmal war? Nicht nur mit mir – alles, was überhaupt einmal war. Ein schwerer Tag … Ich dagegen verspüre Leichtigkeit, sogar eine gewisse Freude. Vermutlich, weil ich auf die Begegnung mit Valentina warte. Ich habe versucht aufzustehen, mir wurde schwindlig, und die Leichtigkeit war dahin. Doch die Freude blieb.

Als Valentina kam, tätschelte sie meine Wange – das tat gut. Sie strömte erstaunliche Düfte aus, die mir ganz fremd sind. Parfüm, Seife? Ein Teil von Valentinas Natur? Fragen wäre peinlich und auch unnötig. Alles muss ein Geheimnis haben, besonders eine Frau … Das ist doch auch eine Phrase. Ich fühle, dass es eine Phrase ist!

Und noch eine: »Metall ist ein guter Wärmeleiter« – die gefällt mir besonders. Sie ist vielleicht nicht sehr verbreitet, für mich aber eine der ersten, die ich gehört habe. Ich sitze irgendwo, zusammen mit irgendwem, wir rühren mit Löffeln im Tee. Ich bin etwa fünf, denke ich, nicht älter, auf meinem Stuhl liegt ein besticktes Kissen (ich reiche noch nicht an den Tisch heran), ich rühre in meinem Tee wie ein Erwachsener. Das Glas steckt in einem Untersatz. Der Löffel ist heiß. Ich lasse ihn klirrend ins Glas fallen und puste mir auf die Finger. »Metall ist ein guter Wärmeleiter«, sagt eine angenehme Stimme. Das klingt schön, wissenschaftlich. Bis ich etwa zwölf war, habe ich es in ähnlichen Fällen immer wiederholt.

Nein, das ist nicht das Früheste. »Geh ohne Bangen« – das ist das Früheste. Wir betreten Weihnachten ein fremdes Haus. An der Treppe steht ein Bär auf den Hinterbeinen, in den Vorderpfoten hält er ein Tablett.

»Wofür ist das Tablett?«, frage ich.

»Für Visitenkarten«, antwortet mein Vater.

Ich versenke die Finger für einen Moment in das dichte Bärenfell. Was soll ein Bär mit Visitenkarten (wir steigen die Marmorstufen hinauf), und was sind Visitenkarten? Ich wiederhole das Wort mehrmals, rutsche aus, hänge aber an Vaters Hand. Schwankend betrachte ich den Teppichläufer auf dem Marmor – er ist mit vergoldeten Halterungen befestigt, an den Seiten leicht gekrümmt, und schwankt ebenfalls. Vaters lachendes Gesicht. Wir betreten einen hellerleuchteten Saal. Ein Tannenbaum, ein Reigen. Meine Hände sind klebrig von fremdem Schweiß, aber ich kann sie nicht lösen und nicht aus dem Reigen ausbrechen. Jemand sagt, ich sei von allen Anwesenden der Kleinste (da sitzen wir schon auf Stühlen um den Baum herum). Er weiß von irgendwoher, dass ich Gedichte aufsagen kann, und bittet mich, etwas vorzutragen. Laut wiederholen alle die Bitte. Neben mir ein Greis in einer altertümlichen Uniformjacke, mit Orden unter dem zweischwänzigen Bart.

»Das«, heißt es, »ist Terenti Ossipowitsch Dobrosklonow.«

Um uns herum bildet sich ein freier Raum. Ich blicke wortlos zu Terenti Ossipowitsch. Er steht da, auf einen Stock gestützt und leicht zur Seite geneigt, so dass ich sogar flüchtig denke, er könnte hinfallen. Er fällt nicht.

»Geh ohne Bangen«, rät mir Terenti Ossipowitsch.

Ich fliehe vor der Aufforderung – durch Zimmerfluchten – den Kopf gesenkt, die Arme weit abgewinkelt, sehe mein Abbild in Spiegeln vorbeihuschen und höre das Geschirr in den Schränken klirren. Im letzten Zimmer fängt mich eine dicke Köchin. An ihre Schürze gepresst (übelkeitserregender Küchengeruch), trägt sie mich feierlich in den Saal. Stellt mich auf den Boden.

»Geh ohne Bangen«, wiederholt Terenti Ossipowitsch seine Aufforderung.

Ich gehe nicht, ich fliege, von fremder Kraft auf einen Thonet-Stuhl gehoben, und trage den Versammelten ein Gedicht vor. Ein sehr kurzes, wie ich mich erinnere … Donnernder Applaus plus ein Teddybär als Geschenk. Was habe ich damals nur aufgesagt? Glücklich zwänge ich mich durch die Menge der Bewunderer und danke mit Blicken den Urhebern meines Erfolgs – der Köchin und Terenti Ossipowitsch, der mich mit einem Wort gestärkt hat.

»Ich hab’s doch gesagt«, seine Hand streicht über die beiden Bartenden, »geh ohne Bangen.«

Das ist mir im Leben nicht immer gelungen.

Dienstag

Geiger gefallen meine Beschreibungen. Er sagt, der allmächtige Gott der Details führe meine Hand. Ein schönes Bild. Geiger kann poetisch sein.

»Vielleicht war ich ja vor meinem Gedächtnisverlust Schriftsteller?«, frage ich. »Oder Zeitungsreporter?«

Er zuckt die Achseln.

»Oder was anderes – Maler zum Beispiel. Ihre Beschreibungen sind sehr bildlich, finde ich.«

»Also Maler oder Schriftsteller?«

»Lebensbeschreiber. Wir haben doch abgemacht, dass ich Ihnen zum Wesentlichen keine Hinweise geben werde.«

»Und darum haben Sie das Personal auf zwei Leute reduziert?«

»Ja, damit sich niemand verplappert. Blieben also nur die beiden Zuverlässigsten.«

Er lacht.

Nach dem Mittagessen geht Geiger. Ich sehe ihn im Flur, als Valentina hereinkommt – im Mantel, die Mütze in der Hand. Ich höre seine verklingenden Schritte, erst auf unserer Etage, dann auf der Treppe. Zwei Tage habe ich Valentina nicht gebeten, sich neben mich zu legen, obwohl ich davon geträumt habe. Trotz Geigers Erlaubnis (oder gerade deshalb?). Doch jetzt bitte ich sie darum.

Und da liegt sie schon neben mir, ihre Hand in meiner. Eine Strähne ihres Haars kitzelt mein Ohr. Der Gedanke, wir könnten dabei erwischt werden, würde mich belasten. Bei etwas anderem erwischt zu werden, etwas Verurteilungswürdigem, ja Anstößigem, das wäre nicht schlimm, denn Anstößiges wäre das Erste, was man erwartet, aber dabei … Das ist alles so subtil, so aufwühlend und unerklärlich, und ich werde das Gefühl nicht los, das schon einmal erlebt zu haben. Ich frage Valentina, ob sie so etwas schon mal erlebt hat, ob sie vielleicht verschwommene Erinnerungen daran hat oder auch nur eine Ahnung. Nein, antwortet sie, so etwas habe ich noch nie erlebt, überhaupt nichts in der Art, wie sollte ich mich also daran erinnern?

Aber ich habe es erlebt, das habe ich mir doch wirklich nicht ausgedacht. Wir lagen genauso bewegungslos auf einem Bett, Hand in Hand, Schläfe an Schläfe. Ich wagte nicht zu schlucken, aus Angst, sie könnte es hören, und hustete künstlich, um das Geräusch zu rechtfertigen – so immateriell war unsere Beziehung. Oder dass ein Gelenk knackte – auch das befürchtete ich, denn das hätte sofort das Schwebende, die Zartheit unserer Beziehung zerstört. Daran war nichts Körperliches. Mir genügte ihr Handgelenk, ihr kleiner Finger, der Nagel ihres kleinen Fingers, klein wie eine Perlmuttschuppe, glatt und rosa. Ich schreibe es hin, und meine Hand zittert. Ja, vor Schwäche, wegen meines Fiebers, doch auch wegen der großen emotionalen Spannung. Und weil mein Gedächtnis alles andere vor mir verbirgt. Was war das?

»Was war das?«, rufe ich tränenüberströmt Schwester Valentina zu. »Warum erinnere ich mich an das Glück meines Lebens nur in Bruchstücken?«

Valentina drückt ihre kühlen Lippen auf meine Stirn.

»Vielleicht wäre es dann kein Glück mehr. Vielleicht. Aber um das zu erfahren, müssen Sie sich an alles erinnern.«

Mittwoch

Ich erinnere mich. Straßenbahnschienen auf einem vereisten Fluss. Eine elektrische Straßenbahn, die sich von einem Ufer ans andere schleppt, Bänke längs der Fenster. Der Blick des Fahrers bohrt sich in Schneetreiben und Dämmerung, doch das andere Ufer ist noch immer nicht zu sehen. Der Weg wird von den Scheinwerfern nur schwach beleuchtet, in ihrem flackernden Licht erscheint den Fahrgästen jede Unebenheit wie ein Spalt oder ein tiefes Loch. Der Fahrer ist konzentriert, er ist der Letzte, der die Hoffnung verliert. Auch der Schaffner hält sich gut, nimmt jedoch hin und wieder zur Aufmunterung einen Schluck aus einer Feldflasche, denn der Frost und diese Mondlandschaft können jeden entmutigen, der Schaffner aber muss energisch bleiben. Er verkauft Fahrkarten zu fünf Kopeken und reißt sie mit steifen Fingern ab. Unter ihm zehn Sashen2 Wasser, von allen Seiten Schneesturm, doch seine schwache Arche, ein gelbes Licht auf dem Eis, strebt ihrem Ziel zu – einer riesigen, in der Dunkelheit verschwindenden Turmspitze. Ich erkenne die Spitze und den Fluss. Jetzt weiß ich, in welcher Stadt ich gelebt habe.

Donnerstag

Ich habe Petersburg unendlich geliebt. Wenn ich von woanders zurückkehrte, empfand ich immer ein unbändiges Glücksgefühl. Die Harmonie der Stadt stand in meinen Augen gegen das Chaos, das mich von Kindheit an störte und erschreckte. Ich kann im Moment die Ereignisse meines Lebens nicht richtig rekonstruieren, ich erinnere mich nur: Wenn die Wellen des Chaos über mich hereinbrachen, rettete mich der Gedanke an Petersburg – an die Insel, an der sie zerschellten …

Valentina hat mir eben eine Spritze in meine Weichteile verpasst. Irgendein Vitamin. Vitamine sind schmerzhaft, diese Spritzen sind merkwürdigerweise viel unangenehmer als Spritzen mit Medikamenten. Ich habe meinen Gedanken verloren …

Ach ja, Harmonie. Strenge. Ich gehe mit Vater und Mutter – ich in der Mitte, sie halten mich rechts und links an der Hand – die Theatralnaja-Straße entlang, von der Fontanka bis zum Alexandra-Theater, mitten auf der Straße. Auch wir sind eine Verkörperung von Symmetrie, wenn man so will, von Harmonie. Wir laufen also, und Vater erklärt mir, der Abstand zwischen den Häusern entspreche genau der Höhe der Häuser, und die Länge der Straße einem Zehnfachen ihrer Höhe. Das Theater wird größer, kommt näher, wirkt furchteinflößend. Die Wolken am Himmel ziehen schneller. Ach ja: Die Straße wurde später umbenannt, bekam einen hässlichen Namen. Warum?

Außerdem erinnere ich mich an ein Feuer. Nicht an das Feuer selbst, sondern an das Anrücken der Löschwagen – auf dem Newski, im Frühherbst, gegen Abend. Voran ein Reiter auf einem Rappen. Mit einem Horn an den Lippen, wie ein Engel der Apokalypse. Der Reiter bläst in sein Horn, um dem Löschwagen den Weg frei zu machen, und alle sprengen auseinander. Die Droschkenkutscher peitschen ihre Pferde, drängen sie an den Straßenrand und halten an, halb den Feuerwehrleuten zugewandt. Und dann jagt durch die entstandene Gasse, den brodelnden Newski entlang, der Wagen mit den Feuerwehrleuten. Rücken an Rücken sitzen sie auf einer langen Bank, auf dem Kopf Messinghelme, über ihnen weht die Fahne der Feuerwache. Daneben der Brandmeister, er läutet die Glocke. Die Feuerwehrleute in ihrer Gelassenheit sind tragisch, auf ihren Gesichtern leuchtet der Widerschein der Flammen, die irgendwo auf sie warten, die irgendwo bereits lodern, vorerst noch unsichtbar.

Auf die Fahrenden fliegen flammengelbe Blätter aus dem Jekaterina-Garten, in dem ein eigenes Feuer loht. Mama und ich stehen an die gusseiserne Umfriedung gelehnt und beobachten, wie die Schwerelosigkeit der Blätter sich auf den Wagen überträgt: Er löst sich langsam vom Pflaster und fliegt in geringer Höhe über dem Newski. Hinter dem Wagen mit den Feuerwehrleuten gleitet ein Zweispänner mit Brechstangen, Schlauchrollen und Feuerleitern vorbei, dahinter ein weiterer Wagen mit einer Dampfpumpe (aus dem Kessel steigt Dampf, aus einem Rohr Rauch), dahinter ein Sanitätswagen, für die Rettung der Brandopfer. Ich weine, und Mama sagt, ich solle keine Angst haben, aber ich weine gar nicht aus Angst, sondern überwältigt von meinen Gefühlen. Aus Begeisterung für den Mut und den großen Ruhm dieser Männer, darum, weil sie unter Glockengeläut so majestätisch an der erstarrten Menge vorbeigleiten.

Ich wollte sehr gern Brandmeister werden, und jedes Mal, wenn ich Feuerwehrleute sah, richtete ich an sie die lautlose Bitte, mich in ihre Reihen aufzunehmen. Wenn ich auf dem Oberdeck eines Omnibusses den Newski entlangfuhr, stellte ich mir stets vor, ich führe zu einem Brand. Ich gab mich feierlich und ein wenig traurig, denn ich wusste ja nicht, wie es dort inmitten der lodernden Flammen sein würde, ich haschte nach bewundernden Blicken, und auf die Zurufe der Menge reagierte ich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, nur mit den Augen. Offenbar bin ich doch kein Feuerwehrmann geworden, doch nun, viel später, tut mir das nicht leid.

Sonnabend

Gestern wurde ich den ganzen Tag untersucht. Ein sonderbares Erlebnis … Es tat nicht weh, nein, war nicht einmal unangenehm. Erstaunt haben mich die Geräte, solche hatte ich noch nie gesehen. Ich verstehe natürlich nichts davon, ich kann nur ein Gefühl äußern, aber es ist ein ungewöhnliches Gefühl.

»War ich lange Zeit ohne Bewusstsein?«, fragte ich später Schwester Valentina. »So lange, dass es inzwischen neue Geräte gibt?«

Anstelle einer Antwort legte sich Valentina neben mich. Strich mir übers Haar.

So hatte mich Anastassija einst gestreichelt. Na so was, plötzlich ist ein Name aufgetaucht. Ich weiß nicht, wer sie ist, warum sie mich streichelte, aber ich weiß, sie hieß Anastassija. Ihre Finger wanderten durch meine Haare, verharrten manchmal nachdenklich. Sie glitten über die Wange zum Ohr, betasteten sanft das Relief meiner Ohrmuschel, und ich hörte ein unwirklich lautes Schaben. Manchmal presste Anastassija ihre Stirn gegen meine und verflocht zwei Strähnen unserer Haare ineinander. Eine helle und eine dunkle. Das erregte uns sehr, wir waren so verschieden.

»Woran denken Sie?«, fragte mich Valentina.

»Sag du zu mir, ja?«

»Woran denkst du?«

An nichts. Ich kann einfach an nichts denken, ich erinnere mich an nichts. Auch von Anastassija ist ja nur der Name geblieben. Der Name und der Geruch ihrer weizenblonden Haare – den habe ich ebenso wenig vergessen. Aber vielleicht halte ich den Geruch von Valentinas Haar für einen Eindruck, der mir im Gedächtnis geblieben ist. Oder so: Der Geruch von Valentinas (ebenfalls weizenblondem) Haar erinnert mich an etwas, das mich einmal glücklich machte.

Sonntag

Geiger hat mir »Robinson Crusoe« mitgebracht. Keine neue Ausgabe mit vereinfachter Orthographie, sondern eine Ausgabe von vor der Revolution, von 1906. Genau dieses Buch habe ich als Kind gelesen – wusste er das etwa? Ich hätte es mit geschlossenen Augen erkannt, am Gefühl in der Hand, am Gewicht. Am Geruch – wie Anastassijas Haar. Der Geruch von Druckerschwärze, den die glänzenden Seiten dieses Buches ausströmten, haftet für immer in meiner Nase. Für mich war es der Geruch nach Reisen. Das Rascheln dieser Blätter war das Rascheln der riesigen grellgrünen, fast reglosen Blätter, die Robinson auf der Insel vor der Sonne schützten. Auf denen am Morgen kristallklare Tropfen lagen. Ich blätterte in dem Buch und erkannte Seite für Seite. Mit jeder Zeile erstand wieder, was es in meiner Vergangenheit begleitet hatte – Großmutters Husten, der Klang eines in der Küche zu Boden gefallenen Messers und (auch von dort) der Geruch nach Gebratenem, der Rauch von Vaters Zigarette. All das habe ich, nach den Erscheinungsdaten des Buches zu urteilen, nicht vor 1906 erlebt.

Montag

Ein Mann sitzt an einem Tisch. Ein Blick durch den Türspalt: Zusammengekrümmt schneidet er Wurst in gleichmäßige Scheiben und schiebt sie sich eine nach der anderen in den Mund. Ein trauriges Mahl. Er atmet tief ein, gießt Wodka in einen Becher, stürzt ihn in einem Zug herunter, schnalzt mit der Zunge. Von Zeit zu Zeit sieht er aus dem Fenster. Draußen stürzen Blätter, als wären sie aus Blei, diagonal zu Boden. Sie sollten sanft hinabschweben, aber der Wind – er reißt sie mit. Ich beobachte das alles vom Flur aus, wo es dunkel ist. Und zwar nicht direkt an der Tür, ich bin ein Stück zurückgetreten, darum sieht mich der Mann nicht. Ich will wissen, was er tut, wenn er nicht weiß, dass er beobachtet wird. Aber er tut nichts, schneidet nur Wurst, Scheibe um Scheibe, und spült sie traurig mit Wodka hinunter. Bevor er eine Scheibe nimmt, wischt er sich an einer Zeitung die Finger ab. Merkwürdig – nichts Besonderes, aber es hat sich ins Gedächtnis eingegraben. Wo und wann war das?

Seit einigen Tagen steigt meine Temperatur nicht über 37,5 Grad. Ich fühle mich besser, die Schwäche lässt allmählich nach. Manchmal sitze ich auf dem Bett, bis ich müde werde, und ich werde noch schnell müde. Es gab so eine Foltermethode: Ein Mensch wurde auf eine Stange oder eine schmale Bank gesetzt, wobei seine Füße nicht bis auf den Boden reichten. Er durfte nicht schlafen, sich nicht einmal zusammenkrümmen. Die Hände auf den Knien. Tag und Nacht musste er so sitzen, bis seine Beine anschwollen. Das hieß »auf die Stange setzen«. Was für ein Durcheinander in meinem Kopf …

Lieber dies: Wir sind in Ligowo, im Poleshajew-Park. Es ist Juni. Dort fließt die Ligowka, ein ganz kleiner Fluss, aber im Park ist er so breit wie ein See. Am Eingang stehen Kutschen, Landauer in großer Zahl, und ich frage meinen Vater, ob hier die ganze Stadt zusammengekommen ist. Ein paar Augenblicke lang überlegt Vater, was hinter meiner Frage steht – Einfalt oder Ironie. Vorsichtig antwortet er: Nein, nicht die ganze. In Wirklichkeit strahlt aus meiner Frage reine Freude – ich liebe große Menschenansammlungen. Damals liebe ich sie noch.

Auf dem Rasen Tischdecken, Samoware, Grammophone. Wir haben kein Grammophon, und ich schaue zu, wie neben uns die Kurbeln gedreht werden. Wer dort sitzt, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe bis heute vor mir, wie sich die Kurbel dreht. Kurz darauf ertönt Musik – heiser, stotternd, aber dennoch Musik. Gesang. Ein Kasten voller kleiner, erkälteter Sänger – wie gern wollte ich ihn damals besitzen! Mich um ihn kümmern, ihn hegen und pflegen, ihn im Winter an den Ofen stellen, aber vor allem: ihn aufziehen, mit der erhabenen Lässigkeit langer Gewohnheit. Das Drehen der Kurbel schien die simple und zugleich verborgene Ursache der erklingenden Töne zu sein, ein universeller Schlüssel zum Schönen. In dieser kreisenden Bewegung der Hand lag etwas Mozartsches, etwas vom Schwingen des Taktstocks eines Dirigenten, das stumme Instrumente zum Klingen bringt, was durch irdische Gesetze ebenfalls schwer zu erklären ist. Manchmal dirigierte ich für mich allein, wobei ich gehörte Melodien summte, und es gelang mir nicht übel. Hätte ich nicht davon geträumt, Brandmeister zu werden, wäre ich natürlich gern Dirigent geworden.

An jenem Junitag sahen wir auch einen Dirigenten. Mit einem Orchester, das seinem Taktstock gehorchte, entfernte er sich langsam vom Ufer. Das war kein Parkorchester, keine Blaskapelle, nein, ein Sinfonieorchester. Es stand auf einem Floß, unbegreiflich, wie es dort Platz fand, und über dem Wasser schwebte seine Musik. Um das Floß herum schwammen Boote, Enten; Ruderdollen knarrten, Enten schnatterten, doch das alles fügte sich mühelos in die Musik und wurde vom Dirigenten insgesamt wohlwollend aufgenommen. Umringt von Musikern, war der Dirigent zugleich auch allein: Dieser Beruf hat etwas unerklärlich Tragisches. Vielleicht nicht so offensichtlich wie der des Brandmeisters, weil er weder mit Feuer zu tun hat noch überhaupt mit irgendwelchen äußeren Umständen, aber seine innere Tragik berührt die Herzen umso stärker.

Dienstag

Vier Kategorien der Empfänger von Lebensmittelkarten: Die erste – Arbeiter. Ein Pfund Brot am Tag. Völlig ausreichend.

Die zweite – sowjetische Angestellte, ein Viertel Pfund Brot am Tag.

Die dritte – Akademiker ohne Anstellung, nur ein Achtel.

Die vierte – Bourgeois. Ebenfalls ein Achtel, aber für zwei Tage. Ein Leben in Saus und Braus …