ZWISCHEN REVOLUTION UND RESTAURATION

Die Einbandillustration dieses Buchs zeigt Donatas Banionis, wie aus der Zeit gefallen als Beethoven im historischen Kostüm auf der Karl-Marx-Allee in Berlin schreitend. Vom Protagonisten unbemerkt, hat sich in den vorherigen Einstellungen die Szenerie vom Wien des 19. Jahrhunderts ins Ost-Berlin der 1960er Jahre gewandelt. Der Komponist Ludwig van Beethoven, der 1813/14 mit »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91« eigens ein Werk anlässlich des Wiener Kongresses schuf und dessen Œuvre von der Französischen Revolution nicht unbeeinflusst blieb, wird im DEFA-Film BEETHOVENTAGE AUS EINEM LEBEN (1975/76, Horst Seemann) zu einer Figur des 20. Jahrhunderts.

Damit stellt er keine Ausnahme dar; auch Leben und Werke anderer Zeitgenossen Beethovens wirken heute noch nach. Die Jahrzehnte zwischen der Französischen Revolution 1789 und der »Wiederherstellung der guten alten Ordnung« 1848/49 waren politisch geprägt von revolutionären wie zugleich auch restaurativen Strömungen. Zeitgenössische Künstler und Gelehrte haben sich in ihren Schriften, ihrer Musik und Forschung darauf bezogen. Zum Teil nahmen sie auch eindeutig Stellung wie z.B. Heinrich Heine, der in Deutschland angefeindet wurde und, als Bewunderer Napoleons, nach Paris ging. Ihre Werke werden bis heute vielfach rezipiert, gedruckt und zitiert.

Auch das Medium Film, das in den Jahrzehnten nach der Revolution 1848/49 stufenweise entwickelt und gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals öffentlich präsentiert wurde, hat sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder mit dem politischen und kulturellen Erbe dieser Epoche auseinandergesetzt. Dabei sind die Gegenwartsbezüge nicht immer so offensichtlich wie in der Schlusssequenz aus BEETHOVENTAGE AUS EINEM LEBEN. Mit den Motiven und unterschiedlichen Ausprägungen der filmischen Rückgriffe auf diese Zeit, den Analogien und Differenzen und den zeitgenössischen Reaktionen, hat sich 2017 das XIV. cinefest »Zwischen Revolution und Restauration. Kultur und Politik 1789–1848 im Spiegel des Films« beschäftigt. Beim 30. Internationalen Filmhistorischen Kongress, der im Rahmen des Festivals stattfand und dessen überarbeitete Vorträge in diesem Band zusammengefasst sind, lag der Fokus auf Verfilmungen literarischer Vorlagen aus dieser Ära.

Sarah Goeth gibt mit ihrem Beitrag »Zwischen Revolutionsetüden und politischer Apathie« einen Einstieg in den Zeitgeist des 18. Jahrhunderts und bietet damit die Projektionsfläche, auf die sich die anderen Beiträge beziehen. Heike Klapdors Aufsatz »Ein Traum, was sonst?« über den auch als »Film der Humanität« beworbenen Lessing-Film NATHAN DER WEISE (1922, Manfred Noa) zeigt das Motiv der »doppelten Brechung«: Ein Stück, im 18. Jahrhundert geschrieben, befasst sich mit einem Ereignis aus dem 12. Jahrhundert und wird im 20. Jahrhundert verfilmt. Dabei nehmen die Bearbeitungen Bezug auf ihre jeweilige Gegenwart, denn die aufklärerischen Impulse des 18. Jahrhunderts wirkten auch in den folgenden Entwicklungen nach. Die stumme Verfilmung des mittels Sprache für den Frieden zwischen den Religionen werbenden dramatischen Gedichts zeigte wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs die – auch heute noch gültige – Aktualität aufklärerischer Ideale.

Leben und Werk deutscher Nationalhelden und -dichter fanden allerdings auch Einzug in nationalistische Strömungen und entsprechende Propaganda. Evelyn Hampickes Beitrag »Vom ›Sänger der Nation‹ zum nationalistischen (Film-)Mythos« beschäftigt sich mit dem Dichter Karl Theodor Körner, der als Mitglied des Freikorps der Lützower Jäger in den »Befreiungskriegen« gegen Frankreich kämpfte. Im Kampf gefallen, wurde er zu einer Identifikationsfigur nationalistisch Gesinnter. Sein Leben und Werk wurde in unterschiedlichen Medien des 19. wie des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und findet sich auch in Filmen wieder.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war es in Deutschland nicht einfach, einen neuen Zugang zu den Klassikern zu finden, denn der Nationalsozialismus hatte die deutschen Denker und Dichter für seine Ideologie vereinnahmt. Daniel Jonah Wolpert beschäftigt sich in seinem Beitrag »Politik. Autorität und Umbruch« mit »Adaptationen deutscher Klassiker im frühen Nachkriegskino« und vergleicht zwei Produktionen aus Ost- und West-Deutschland aus den späten 1940er Jahren.

Eine weitere Entwicklung der filmischen Auseinandersetzungen mit Werken aus der Zeit von 1789–1848 gab es, nachdem »Papas Kino« 1962 in Oberhausen für tot erklärt worden war, um den bewussten Bruch mit der Vätergeneration öffentlich zu erklären. Michael Töteberg untersucht in seinem Beitrag, wie der Neue Deutsche Film neue Wege bei Literaturverfilmungen beschritt und »Büchner, Kleist und E. T. A. Hoffmann zu Zeitgenossen der APO machte«. »Ein Spätromantiker im Deutschen Herbst?« fragt Jan Henschen in seinem Text über Bernhard Sinkels TAUGENICHTS (1977/78). Darin legt er dar, wie die literarische Vorlage von Eichendorff und die filmische Adaptation in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, dessen Kernaussage die Zeitgenossen übersahen, da sie den Film im Kontext von 1968 verorteten.

Wie Filmmacher in der DDR die Klassiker nutzten, um Gegenwärtiges im Kostüm der Vergangenheit zu verhandeln, beschreibt Anett Werner-Burgmann in ihrem Beitrag »Kino ist fast notwendig verbunden mit Gegenwart« und untersucht dabei u.a. den schon erwähnten Film BEETHOVENTAGE AUS EINEM LEBEN.

Die Beschäftigung mit der Epoche der Romantik war im sozialistischen Kontext nicht so selbstverständlich, wie Günter Dammann am Beispiel von Eugen Yorks DAS FRÄULEIN VON SCUDERI (1955) erörtert. Als deutsch-schwedische Co-Produktion der DEFA getarnt, entstand dieser Film auch mit westdeutscher Beteiligung, und E. T. A. Hoffmann geriet in die Kulturpolitik der Deutschen Demokratischen Republik.

Auch in anderen europäischen Staaten hinterließen die revolutionären und restaurativen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts ihre Spuren und faszinierten Filmmacher immer wieder aufs Neue. Milan Klepikov wirft einen Blick auf Böhmen in der Zeit von 1789–1848 und betrachtet dort die Entstehung der tschechischen Sprache und Literatur sowie den filmischen Umgang damit. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei Karel Hynek Mácha, der auch als »tschechischer Byron« bezeichnet wurde und lange als unverfilmbar galt. 1966 haben sich die Filmmacher Jiří Gold und Vladimír Skalský seinem romantischen Hauptwerk »Máj« (1829) mit dem Kurzfilm VIDÍŠ-LI POUTNÍKA … (MÁCHOVSKÉ VARIACE) (Wenn Sie einen Wanderer sehen … (Mácha-Variationen)) angenähert.

Die weitreichenden Auswirkungen der Französischen Revolution und deren Nachwehen in Polen – so begünstigte Napoleons Herrschaft die Entwicklung eines polnischen Staats – untersucht Thomas Brandlmeier in seinem Beitrag »Noch ist Polen nicht verloren… Andrzej Wajdas PAN TADEUSZ«. Das 1834 veröffentlichte nationale Epos von Adam Mickiewicz, das dem Film zugrunde liegt, verweist auf diese Umwälzungen und wurde, obwohl es als schwer verfilmbar galt, mehrfach filmisch adaptiert. Brandlmeier konzentriert sich in seinem Aufsatz auf die Umsetzung Wajdas, der sich mit der Epoche zwischen 1789 und 1848 filmisch mehrfach auseinandergesetzt hat, und stellt die Bezüge zu weiteren Adaptationen her.

Michael Girke verfolgt ausgehend von MARAT/SADE (1966), Peter Brooks’ Adaptation von Peter Weiss' Theaterstück, die »Filmkarriere« des berühmt-berüchtigten Marquis de Sade (1740–1814), der mit seinen Werken spätere Bewegungen in Literatur und bildender Kunst beeinflusste.

Am Anfang unserer Beschäftigung mit dem Thema stand die Frage, wie klassische Texte in den verschiedenen filmischen Verarbeitungen umgesetzt werden und wie eine historische Epoche für die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen genutzt wird. Der vorliegende Band bietet einen Einblick in den vielfältigen filmischen Umgang mit der Zeit zwischen 1789 und 1848. Dabei können die thematischen Schwerpunkte nur eine Auswahl abbilden und vielleicht Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen bieten.

Erika Wottrich, Swenja Schiemann

Hamburg, im Sommer 2018

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Lenz (1969–71, George Moorse): Michael König

Sarah Goeth

ZWISCHEN REVOLUTIONSETÜDEN UND POLITISCHER APATHIE
Höhenflüge, Krisen und Balanceakte in der politischen Literatur zwischen 1789 und 1848

»Seit siebzehn Jahren sind viele Schriftsteller in Europa unablässig bemüht, die Gelehrten Frankreichs von dem Vorwurf zu befreien, als hätten sie den Ausbruch der französischen Revolution ganz besonders verursacht. (…) Ich kann aber nicht umhin, der Wahrheit wegen zu gestehen, daß eben die Gelehrten des vorigen Jahrhunderts den Ausbruch der Revolution am meisten befördert und deren Charakter bestimmt haben. Ich rühme sie deshalb, wie man den Arzt rühmt, der eine schnelle Krisis herbeigeführt und die Natur der Krankheit, die tödlich werden konnte, durch seine Kunst gemildert hat. Ohne das Wort der Gelehrten hätte der hinsiechende Zustand Frankreichs noch unerquicklich länger gedauert; und die Revolution, die doch am Ende ausbrechen mußte, hätte sich minder edel gestaltet; sie wäre gemein und grausam geworden, statt daß sie jetzt nur tragisch und blutig ward; ja, was noch schlimmer ist, sie wäre vielleicht ins Lächerliche und Dumme ausgeartet, wenn nicht die materiellen Nöte einen idealen Ausdruck gewonnen hätten; (…) Voltaire und Rousseau sind zwei Schriftsteller, die mehr als alle andere der Revolution vorgearbeitet, die späteren Bahnen derselben bestimmt haben und noch jetzt das französische Volk geistig leiten und beherrschen.«1

Heinrich Heines seismografische Beobachtungen des Zeitgeschehens in seinen »Französischen Zuständen« von 1832, die ursprünglich als politische Berichte in der Cotta’schen Allgemeinen Zeitung von Augsburg das deutsche Volk über die Zustände im nachrevolutionären Frankreich aufklären sollten, versuchten sich wiederholt in Ursachenforschung. Besonders die vieldiskutierte Frage, inwieweit Gelehrte und Literaten die politischen Umbrüche durch ihre Schriften in einflussreichen Zeitungen mitsteuerten, wurde auch in Deutschland verhandelt. Obwohl Deutschland während der Veränderungen in Europa eine vergleichsweise stille Rolle spielte, nahmen besonders Schriftsteller großen Anteil an der öffentlichen Meinungsbildung. In auflagestarken Zeitungen diskutierten sie das Anliegen des Volkes und kommentierten die politischen Ereignisse, wodurch sie sich dergestalt auch von der Ferne in das revolutionäre Geschehen einschrieben. Heinrich Heine verteidigte deshalb die Arbeit von Gelehrten und Literaten allerorts, da die Sache des Volkes als ideelles Konstrukt ohne die gedankliche Vorarbeit jener nicht möglich gewesen wäre. Sie haben die politische Revolution in ihrer geistigen Struktur mit ihrer Forderung nach einer »Erklärung der Menschenrechte« erst vorbereitet und ihr zu einem epochalen Ausdruck verholfen. Zumindest erkannte Heine darin rückblickend die Rechtfertigung der Umstürze, besonders der initiierenden Revolution von 1789, auch wenn der Ausgang dann »leider blutig und tragisch« war. Jedoch wäre der Verlauf, und dies betont Heine ausdrücklich, nicht aufzuhalten gewesen, litt Frankreich ja, wie auch die anderen Länder Europas, bereits seit langem am »mißbehaglichsten Siechtum«,2 das mit Hilfe der literarisch »herbeigeführten Krise« zum nötigen Ausbruch und zur Abheilung gebracht wurde.

Mit der metaphorischen Umschreibung der Krise, die durch einen kundigen Literatur-Arzt befördert werden sollte, bewegte sich Heine auf Höhe des medizinischen Diskurses seiner Zeit.3 Der medizinische Begriff der Krise, dessen Bedeutung sich aus dem griechischen krinein bzw. dem lateinischen crisis als »trennen« bzw. »entscheidende Wendung« entlehnt, wird nach Reinhart Kosellecks Argumentation zur epochalen Metapher der Moderne, da auf die aufklärerisch-intellektuelle Kritik eine politisch-pathologische Krise in Form eines revolutionären Gestus folgte.4 Dieser Gestus ist durch das Medium der Literatur entscheidend gelenkt und gefördert worden, so dass die Literatur jener Zeit selbst in den Status eines politischen Akteurs rückte.

Indem die Literatur politisch-pathologische Verläufe beeinflussen und deren letalen Ausgang abwenden konnte, oblag ihr aber auch deren verantwortungsvolle Pflege. So erinnerte Friedrich Schiller in seiner Antrittsrede an der Universität Jena vom 26.5.1789, »Was heißt es und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte«, die Intellektuellen an ihre Verantwortung: »Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beytrag zu legen, (…). Wie verschieden auch die Bestimmung sey, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazu steuern können Sie alle!«5

Schillers Auftrag nahm die Literatur in Deutschland in den Jahren zwischen 1789 und 1848 durchaus ernst und steuerte maßgeblich zum turbulenten Verlauf der Zeit bei, mit dem Ziel, dieser auch Herr zu werden, sie zu interpretieren und auch künftig zu verändern.

Literarische Morgenröte in der Revolutionsliteratur

Bevor man den Verlauf der Revolution rückblickend ausschließlich als Pathogenese verstand,6 von deren Schrecken sich Literaten und Intellektuelle abwandten, wurden die politisch motivierten Aktionen als soziale Emanzipation verstanden, die erstmals eine breite Bevölkerung integrierte. In Form von literarischen Beiträgen verschiedenster Parteien ergab sich die Chance einer aktiven Teilnahme am politischen Geschehen, weshalb in Deutschland viele Schriftsteller und Intellektuelle die Französische Revolution von 1789 auch außerhalb von Frankreich gerade als ihre Revolution erlebten. Dass die Ereignisse in Frankreich eine neue Zeit einleiteten, die durch Literatur und Philosophie mit vorbereitet war, war den deutschen Zeitgenossen augenblicklich bewusst. Georg Wilhelm Friedrich Hegel postuliert von der Französischen Revolution an gar einen geschichtlichen Neubeginn: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem baut.«7

Man begriff die Revolution nach Rüdiger Safranski als Urszene des gesellschaftsbegründenden Handelns, das durch die literarischen und philosophischen Ideen getragen wurde.8 Da es die eigenen Gedanken sind, die hier zur Tat werden, konnte man sich noch in der Entfernung als heroischer Mittäter empfinden. Denken und Schreiben, so der allgemeine Tenor, interpretieren nicht nur die Welt, sondern verändern diese. Dergestalt verfolgte die Revolutionsliteratur einen unmittelbar handlungsorientierten Zweck. Sie wollte dazu beitragen, Meinungen zu bilden, wollte spezielle Unrechtmäßigkeiten anprangern und Anleitung zum politischen Handeln sein.

Besonders der einstmals empfindsame Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock erlebte während dieser Zeit nochmals eine neue Blüte und wurde zum unermüdlichen Verfechter des revolutionären Gedankenguts, worin sich sein gesellschaftliches Idealbild zu verwirklichen schien. In seinem Gedicht »Kennet euch selbst« von 1789 beschwört er das deutsche Volk, nach dem Vorbild Frankreichs zu handeln, das sich gleichsam in einem reinigenden Gewitter von der despotischen Last befreite: »Frankreich schuf sich frey. Des Jahrhunderts edelste That hub / Da sich zu dem Olympus empor!«9 Um seine Genossen zu überzeugen, zeichnet Klopstock ein idyllisches Bild der Zukunft, worin das scheinbar bedrohliche Gewitter lediglich ein Durchgangsstadium zu einem neuen Frieden, zu einer bürgerlichen Idylle menschlicher Freiheit wird: »Nach dem Wetter, athmen sie kaum die Lüfte, die Bäche / Rieseln, vom Laube träufelt es sanft, / Frische labet, Gerüch’ umduften, die bläuliche Heitre / Lächelt, das Himmelsgemählde mit ihr; / Alles ist reg’, und ist Leben, und freut sich! die Nachtigall flötet / Hochzeit! Liebender singet die Braut! / Knaben umtanzen den Mann, den kein Despot mehr verachtet! / Mädchen das ruhige, säugende Weib.«10

Im Bild der bürgerlichen Familienidylle, das gleichsam ein irdisches Paradies entwirft, worin das »ruhige säugende Weib« eine Art weltliche Madonna darstellt, lässt Klopstock das Gedicht enden. Die Revolution ist nach Klopstock der Anbruch einer neuen paradiesischen Zeit, die er gleich in mehreren Gedichten besingt, so auch in seiner Ode von 1789 über »Die Etats Generaux«: »Der kühne Reichstag Galliens dämmert schon, / Die Morgenschauer dringen den Wartenden / Durch Mark und Bein: o komm, du neue, / Labende, selbst nicht geträumte Sonne!«11

Es ist das Bild des Tagesanbruchs oder der Morgenröte, das hier wohl zum ersten Mal in der deutschen Literatur auf die sich wandelnden geschichtlichen Ereignisse angewandt und dann später immer wieder in der Dichtung, der Philosophie und der Journalistik verwendet wird.

Auch die jungen Romantiker gehörten zunächst zu den begeisterten Befürwortern der geschichtlichen Morgendämmerung. Die philosophische Wohngemeinschaft, bestehend aus Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel errichtete in Tübingen sogleich einen Freiheitsbaum und der noch junge Gymnasiast Ludwig Tieck dichtete ein Drama mit dem Titel »Lied des Gefangenen« (1790), das eine Volkserhebung aus der Gefangenschaft und damit Freiheit herbeizuschreiben wünscht.12

Dass in Deutschland das Projekt der Freiheit auf sich warten ließ, verleitete Tieck zu einem pathetischen Brief an seinen Dichterkollegen Wilhelm Heinrich Wackenroder, worin er behauptet, er würde am liebsten für die Revolution kämpfen und sterben: »Oh wenn ich izt ein Franzose wäre! Dann wollt’ ich nicht hier sitzen, dann – Doch leider bin ich in einer Monarchie, die gegen die Freiheit kämpft, unter Menschen die noch Barbaren genug sind, die Franzosen zu verachten. (…) Oh, in Frankreich zu sein, es muß doch ein groß Gefühl sein, (…) Sklaven in die Flucht zu schlagen und auch zu fallen, was ist ein Leben ohne Freiheit?«13

Die Revolution hatte eine so beeindruckende Wirkkraft, weil man sich von ihr nicht nur die Veränderung des gängigen Herrschaftssystems erhoffte, sondern ein generelles Ende von Herrschaft herbeisehnte. Dieses in der Aufklärung angekündigte Versprechen, wonach der Mensch nicht mehr einer vorgeordneten Autorität, sondern lediglich seiner eigenen Vernunft verpflichtet sei, antizipierte demnach geistig das Freiheitsideal, dessen Einlösung man sich nun politisch von der Französischen Revolution erhoffte.

Insofern äußerte sich auch Immanuel Kant, obwohl er allgemein Revolutionen als moralisch verwerflichen Widerstand gegen die Obrigkeit verurteilte, gegenüber der Französischen Revolution stets sympathisch und erkannte allein in einer republikanischen Verfassung die Zukunft aller Staatsverfassungen. Grundlegendes Prinzip sei, wie er in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795 darstellte, die Freiheit des Menschen. Die Freiheit ist dabei definiert als das Vermögen, im eigenen Handeln nur der eigenen Vernunft zu folgen, wobei diese gemäß des kategorischen Imperativs ihre Grenzen hinsichtlich der allgemein geltenden Maximen erreicht.14

Diese Art von vernünftiger Freiheit wurde zunächst von vielen Seiten befürwortet und unterstützt, jedoch erwies sich ihr Prinzip, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 rückblickend analysierten, als dialektisch. Die aufgeklärte Vernunft führe nach ihrer Sicht nicht zu einer befreiten moralischen Menschheit, sondern zu einer tyrannischen Unterwerfung, die sich am Ende als amoralisch zeige.15

Auch schon Zeitgenossen erkannten jene Schattenseite der Vernunft, so schreibt der anfänglich revolutionsbegeisterte Naturforscher Georg Forster 1792: »Die Tyrannei der Vernunft, vielleicht die eisernste von allen, steht der Welt noch bevor. (…) Je edler das Ding und je vortrefflicher, desto teuflischer der Mißbrauch.«16 Die Tyrannei der Vernunft hat demnach das befreite Volk in einer dialektischen Verkehrung gegen sich selbst aufgebracht.

Erziehung zur Freiheit. Das Balanceprojekt der Klassik

Schiller, der der Revolution zunächst positiv gegenüberstand, auch wenn er sie nie (wie beispielsweise Klopstock) öffentlich verteidigte, war von ihrem weiteren Verlauf regelrecht abgestoßen. Als begeisterter Kant-Leser sah er zwar auch in der vernünftigen Freiheit des Menschen das höchste Ziel, jedoch befand er nach den Septembermorden von 1792, als fast zweitausend Menschen vom pariser Mob niedergemetzelt wurden, die Menschheit für dieses Projekt der Freiheit noch nicht reif. In einer Diagnose des Zeitgeschehens hält er in seiner Schrift »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1793) fest: »In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt! In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar (…). Auf der andern Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist.«17

Schillers Befund ergibt, die Revolution sei nicht auf freie Menschen gestoßen, sondern auf verwilderte Tiere einerseits und entfremdete Subjekte andererseits. Als Therapieangebot bietet er daher ein präventives Konzept mittels Erziehung an. Erst in einer geistig-ästhetischen Erziehung der Menschheit könne diese auf das Projekt der Freiheit vorbereitet werden. »Alle Verbesserung im Politischen soll von der Veredelung des Charakters ausgehen.«18 Kunst soll nach Schiller als Moment zwischen Naturtrieben und Vernunftideen den Menschen in einen harmonischen Ausgleich bringen. »Es ist nicht schon die Kunst« allein bei Schiller, konstatiert Walter Müller-Seidel, »der solches zugetraut wird, sondern die Erziehung zur Kunst, die ästhetische Erziehung des Menschen.«19

Diese Bildungsidee ist das Konzept der Klassik, das sich der theoretischen Kultur der Aufklärung entgegensetzt und nicht mehr die Vernunft allein ausbilden, sondern zwischen Sinnlichkeit (Triebe) und Verstand (Kultur) vermitteln möchte. Auf die Bildung des Individuums wird deshalb so viel Wert gelegt, weil erst durch sie die Bildung der gesamten Gemeinschaft gelingen kann. Durch eine Verbindung von Poesie und Politik soll eine solche Bildung erzielt werden. So schreibt Schiller 1795: »Die höchste Philosophie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, so die höchste Politik.«20

Die Poesie beinhaltet demnach zwei Momente: sinnliche Darstellung (als Darstellung von Leidenschaften und Gefühlen) einerseits und vernünftige Idee andererseits. Der Kunst und speziell der Poesie kommt demnach die Aufgabe zu, die spannungsvolle menschliche Doppelnatur zu versöhnen und Heilung für die verschiedenen Verfalls- und Entfremdungsformen der Zeit zu finden, um eine moralische und damit freie Selbstbestimmung des Individuums zu ermöglichen. Großen Wert legt Schiller dabei auf die Erziehung der ungehemmten sinnlichen Leidenschaften, denn diese seien schließlich für jene verwilderte Kultur der Revolutionszeit verantwortlich.

Diesem Konzept der Erziehung und Bildung, das Formen der Affektabwehr zum Ziel hat, fühlte sich auch Johann Wolfgang von Goethe verpflichtet. Im Gegensatz zu Heines Konzept eines Literatur-Arztes erarbeiteten Schiller und Goethe nach Cornelia Zumbusch und Britta Herrmann in ihrer weimarer Zeit, unmittelbar nach der Französischen Revolution, ein ästhetisches Programm, das sich nicht mehr dem Ausbruch, sondern der Vorbeugung der Krise durch ein medizinisches »Immunisierungsprogramm« bzw. durch eine »Schwärmerkur« verpflichtet sieht.21 Damit zielten die Formwerte von »edler Einfalt und stiller Größe« der Klassik nicht nur ästhetisch und ethisch, sondern auch medizinisch auf ein »Gleichgewicht der entgegengesetzten Kräfte«22 im Menschen, die für eine »hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes«23 und damit für das Projekt der Menschheit Voraussetzung ist. Im klassischen Balanceprojekt versuchten sich Schiller und Goethe in einer Engführung von Ästhetik-, Erziehungs- und Politikprogramm, das im Kern um eine stabilisierende Ordnung der Menschheit ringt.

So gesehen bot das Programm der Klassik ästhetisch eine Nachsorge für das eruptive Affektrepertoire der vorangegangenen Strömungen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, die sich beide gerade durch die Mitteilung und die Erregung von Gefühlen auszeichneten. Besonders die ansteckende Wirkung der Sturm und Drang-Dramen, die eine auf dem Gefühlsrecht basierte Rebellion gegen die Vätergeneration vorführten, musste vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen nun abschrecken. Problematisch an diesem Schwärmerkult ist nach Goethe rückblickend die Gefahr seiner epidemischen Ausbreitung24 und seines revolutionären Potenzials (Schillers Drama »Die Räuber« wurde gerade in Frankreich als Revolutionsdrama avant la lettre gefeiert und brachte ihm 1792 sogar die Ehrenbürgerwürde Frankreichs ein).

Goethe und Schiller erscheinen im Nachhinein Reiz, Rührung und Leidenschaft als problematische Affekte, die auch nach Kant das »reine Geschmacksurteil« verderben und damit den Menschen seinen sinnlichen Trieben ausliefern.25 Im Gefühlszustand könne der Mensch aber nicht rational und damit nicht politisch informiert handeln. Schiller und Goethe arbeiteten daher in ihrer weimarer Zeit an einer ästhetischen Erziehungskur, um von »Gemüthskrankheiten zu curiren«26 und einen gereinigten Geschmack zu entwickeln, der schließlich »Humanität«27 ergibt

Neben der therapeutischen Überwindung der rohen Gefühle versuchte sich die ästhetische Erziehung aber zugleich auch an einer Heilmethode für die Dekadenz- und Entfremdungserscheinungen der modernen Kultur. Diese seien das Ergebnis der bloß philosophischen Aufklärung mit ihren Vernunftidealen, die nach Schiller wenig zur Charakterbildung beitrügen und die Kultur nicht in Hinblick auf die Gemeinschaft förderten.28 Die Maximen der Kultur führen dann letztlich zu einem egoistischen Verhalten der Bedürfnissteigerung: »Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und Drangsale der Gesellschaft.«29 Dergestalt muss auch die Vernunft erst erzogen werden, da »der Weg zu dem Kopf durch das Herz (…) geöffnet werden« müsse.30 Das »gesellige Herz« mit seiner Fähigkeit zu Anteilnahme und Mitteilung veredle erst den »geselligen Charakter« des Menschen und bilde zusammen mit den Maximen der Vernunft die Grundlage einer sozialen Gesellschaft.31

Eine Harmonie beider gesellschaftsbildenden Parameter (Mitgefühl und Moral) könne jedoch nur durch eine Harmonie im Individuum erreicht werden, weshalb Schiller im Konzept des »geläuterten Geschmacks« und der »poetischen Idee des Erhabenen« einen Mittelweg zu finden sucht, auf dem sich »in dem Menschen das Naturwesen mit der Intelligenz« vereinigt.32 Im Theater könne diese Form der individuellen Balance erprobt werden, indem sich der Zuschauer einerseits in einer Affektbeherrschung versucht, denn »das Gemüth des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten«,33 und andererseits die Wirkung der »selbsttätigen Vernunftkraft« erfährt.34 Als »Naturwesen« wird der Zuschauer so zwar Opfer der Gewalt der Affekte, indem er emotional Anteil am Bühnengeschehen nimmt, aber als »Geisteswesen« kann er »seine Freiheit behalten« und distanziert über dem Geschehen »schweben«.35 In Auseinandersetzung mit der Kunst gelinge dem Menschen demnach eine fein abgestimmte Balance zwischen seinen sinnlich verfeinerten Gefühlen und seiner Erkenntnis der moralischen Verantwortung: Beides ist Voraussetzung für die Freiheit des Menschen, die für Schiller als Konsequenz der politischen Ereignisse in Frankreich erst durch eine ästhetische Erziehung erreicht werden könne.

In seinem Drama »Don Carlos, Infant von Spanien« (1787), das Schiller in den Jahren 1783–1787 verfasste – mehr oder weniger parallel zu den revolutionären Entwicklungen – und das als sein erstes klassisches Stück gilt, führt er sein Freiheitskonzept mittels heroischer Tugendideen bereits vor. Der spanische Infant Carlos liebt im 16. Jahrhundert die zweite Ehefrau seines Vaters, Philipps II., die zunächst ihm selbst als Verlobte versprochen wurde, jetzt aber seine Stiefmutter ist. Die Liebe des Prinzen wird im Kontext der Heiratspolitik des Hofes problematisch, so dass hier die Staatsinteressen einer absoluten Macht mit denen des Privatmanns kollidieren. Damit ist bereits die Kritik am absolutistischen Machtapparat formuliert, worin die Zeitgenossen unschwer auch eine Missbilligung der realpolitischen Umstände erkennen.

Eigentlicher tragischer Held des Stücks ist jedoch nicht Carlos, sondern sein vertrauter Freund Marquis de Posa, der in die Machtspiele des Hofes eingreift und sich schließlich aufopfert, damit Carlos die Regierungsgeschäfte im religiös unterdrückten Flandern übernehmen kann. Marquis de Posa definiert sich selbst als »Abgeordneter der ganzen Menschheit«36 und konfrontiert Carlos immer wieder mit der politischen Realität. Vor dieser verschließt sich Carlos mit dem Hinweis auf seine privaten Liebes-Schwierigkeiten. Carlos wird als weinerlicher empfindsamer Schwärmer charakterisiert und repräsentiert damit eine überkommene Form der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts, die angesichts der politischen Belange völlig unangebracht wirkt. Nur in den Gesprächen mit Posa wird sich Carlos seiner politischen Verantwortung bewusst und sie träumen dann beide von einem befreiten Flandern, worin einzig die Menschenrechte an erster Stelle stehen. Selbstbewusst vertritt Posa diese Werte sogar offen gegenüber dem Monarchen Philipp II.: »Das Jahrhundert / Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe / Ein Bürger derer, welche kommen werden.«

Am Höhepunkt dieser Szene im dritten Akt, die auch als Höhepunkt des gesamten Stücks gilt, möchte Posa den Monarchen schließlich für eine neue Form der Politik gewinnen: »Geben Sie / Die unnatürliche Vergöttrung auf, / Die uns vernichtet. Werden Sie uns Muster / Des Ewigen und Wahren (…) / Geben Sie / Gedankenfreiheit. –«37

»Gedankenfreiheit« als Ideal einer republikanischen Staatsform, die Schiller auch noch unmittelbar mit dem Gedanken der »Revolution« verbindet,38 passt jedoch nicht in das Herrschaftskonzept eines absolutistischen Monarchen. Deshalb findet Posa als Vertreter der neuen Form auch keinen Platz mehr im politisch veralteten Apparat und stirbt schließlich einen heldenhaften und damit erhabenen Tod. Selbst der absolutistische König Philipp II. erkennt in Posas Tod den idealischen Symbolgehalt, wonach das »Opfer« der »ganzen Menschheit« und allen »kommenden Geschlechtern« gewidmet war.39

Durch den Tod seines Freundes wird Carlos schließlich von seiner Liebeskrankheit befreit, er kann sich nun ganz seiner politischen Verantwortung stellen und die Realisierung der Idee der Freiheit voranbringen. Gedankenfreiheit und damit politische Freiheit gelingt nach Schiller nur, wenn der Mensch im Stande ist, den »Konflikt mit der Leidenschaft« und den »Begierden« zu meistern, um den »glücklichsten Zustand hervorzubringen, der der menschlichen Gesellschaft erreichbar ist«.40

Am Ende siegen jedoch nicht die republikanischen Ideen der brüderlichen Freundschaftsliebe und der (Gedanken-)Freiheit: Posa ist tot (und hat im Laufe des Stücks immer wieder die Freundschaft zugunsten seiner Vernunftideale verraten), und Carlos wird der Inquisition überantwortet, so dass die Drastik des Stücks für den Zuschauer als wenig erfolgreiches Modell politischen Handelns gelten kann.

War Gotthold Ephraim Lessing in seiner »Hamburgischen Dramaturgie« noch 1768 davon überzeugt, dass eine Reinigung der Leidenschaften zur Basis einer neuen Sozialität führt, stellt Schiller diese Fertigkeit der Menschen in seiner Ästhetik am Ende des Jahrhunderts in Frage: »Das Zeitalter ist aufgeklärt (…) woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?«41 Die ästhetische Erziehung des Dramas besteht demnach darin, dass die Aufgabe der Freiheit und der menschlichen Gesellschaft, am Ende eine ist, die dem Zuschauer als eine zu realisierende erst aufgegeben wird.42

Während Schiller im Balanceakt zwischen Gefühl und Vernunft die Leidenschaften des Subjekts zu zähmen suchte, um Ausnahmezustände zu vermeiden,43 arbeitete sein Kollege Goethe ebenfalls an einem Postulat der Entsagung der subjektiven Willkür, das rückblickend zur Bewältigung der Revolution dienen bzw. zukunftsgerichtet den langfristigen Nutzen der Unverletzbarkeit erreichen sollte.

Für Goethe war die Französische Revolution zwar ein epochales Ereignis, jedoch eines, das er keinesfalls befürwortete. Eine Eruption dieser Art widersprach seiner Ansicht nach jeglichen Naturgesetzen: »Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge.«44 Er habe deshalb, so notiert er rückblickend in den »Morphologischen Heften«, »viele Jahre« gebraucht, »dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu bewältigen. Die Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstande«, habe sein »poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt«.45

Schrecklich war für Goethe die Tatsache, dass sich die Revolutionäre in die Politik einmischen, ohne dabei eine rechte Kenntnis des politischen Geschehens zu haben, was zur gefühlsaufgeladenen Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen führe. Insofern waren ihm auch Zeitungen ein Dorn im Auge: »Leider kommen die Zeitungen überall hin, das sind jetzt meine gefährlichsten Feinde.«46

Goethe lehnt die Revolution deshalb ab, da die Politik des beginnenden Massenzeitalters kein Verständnis für den Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem habe. Das einzelne Individuum stelle seine Bedürfnisse egoistisch über die anderer, ohne die Gesellschaft im Blick zu haben: »Der Mensch«, heißt es in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, »ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen, und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder was er will, noch was er soll, (…). Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.«47 Die Verwirrung der Revolution besteht nach Goethe darin, dass »hinter dem falschen Schilde des öffentlichen Wohles nur die gemeinsten egoistischsten Zwecke« verfolgt würden.48

Gegen diese egozentrischen Handlungen setzt Goethe die Möglichkeit der Persönlichkeitsbildung durch Entsagung. Goethe entwickelt in unterschiedlichen Schriften sein Kunstprogramm, worin er diese Form der Entsagung als Schutz für die Gemeinschaft durch eine Einschränkung der individuellen Bedürfnisse darlegt.49 In der Erweiterung der Lehrjahre, in »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden« erhält jenes Programm gar Titelfunktion. Entsagung wird nach Monika Schmaus hier zu einem Therapeutikum, das auf die krisenhaft-ökonomische Umbruchssituation um 1800 reagiert.50 So entsagt der Protagonist Wilhelm auf seinem Bildungsweg in den Lehrjahren seiner ersten Liebe, seiner »theatralischen Sendung« und sogar seinem individuellen Willen. Stattdessen vertraut er sich der Führung der »geheimen Turmgesellschaft« an, die seinen Schicksalsweg schon die ganze Zeit begleitet hat: »Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und ihrer Führung, sagte Wilhelm; es ist vergebens in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben.«51

Die Überantwortung des individuellen Willens an eine strukturierte Form eines institutionalisierten Gemeinschaftswillens kann hier vor der zeitpolitischen Ausbildung der modernen Gesellschaft gelesen werden, wobei sich nach Goethe die »menschliche Gesellschaft« als vermittelndes und ausgleichendes Drittes zwischen den einzelnen Individuen erst auszubilden habe.52 Im Gegensatz zum unreflektierten Stand des einzelnen Individuums in einer stratifikatorisch-hierarchischen Ordnung ist jedoch für eine »menschliche Gesellschaft« in einer nachaufklärerischen Zeit die Bildung des Einzelnen, verstanden als Selbstbestimmung, entscheidend. Wie Schiller, erkennt auch Goethe hierfür in der Kunst und vornehmlich im Theater den Ort zur »Aus-Bildung« der Persönlichkeit.53 So ist auch das Theater in den »Lehrjahren« für Wilhelm das geeignete Medium, seine Bildungsidee zu verwirklichen, um sie schließlich mit der Entsagung des eigenen Willens abzuschließen. Erst dann kann er in den allgemeinen Schutz eines intersubjektiven Gemeinschaftswillens eintreten.

In diesem klassischen Ideal einer entsagenden und sich ausbildenden Selbstbestimmung des Einzelnen suchten Goethe und Schiller ein erzieherisches Kunstprogramm der Vorsorge zu entwickeln, das im Medium der Kunst eine politisch stabilisierende Wirkung des Gleichgewichts entfalten sollte.

Ästhetische Gemeinschaftsverhandlungen in der Romantik

Im Zentrum der klassischen Fragen von Schiller und Goethe standen zunächst, nach den unmittelbaren Eindrücken der politischen Ereignisse, vor allem erzieherische und prophylaktische Fragen des Schutzes, die das Individuum betreffen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückten dann zusehends Fragen nach einer neu zu gestaltenden Gemeinschaft und Kultur in den Fokus. Besonders die Schriftsteller der Romantik versuchten nach Dietrich Harth einen »hochkarätigen theoretischen und ästhetischen Diskurs über die Frage zu entwickeln, wie die Kultur beschaffen sein sollte, mit der diejenigen sich identifizieren konnten, die einer politischen und sozialen Integration – vergleichbar der in Frankreich sich anbahnenden – entbehrten. Die Suche nach dieser Kultur war zugleich ihre Produktion und wurde von einer unablässigen Reflexion über die Bedingungen ihrer möglichen Gestalt begleitet.«54

Die romantische Suche nach einer neuen Kultur zeigte sich als besonders fruchtbar, und man muss den Vorwurf einer lediglich romantischen Passivität, einer politischen Apathie, revidieren. Carl Schmitt hat diese Kritik in seinem Buch »Politische Romantik« von 1919 formuliert, wonach er die Zeit zwar als politische Romantik bezeichnet, ihr aber eigentlich jegliche politische Tätigkeit abspricht. Schmitt macht der politischen Romantik den Vorwurf eines »subjektiven Occasionalismus«, also einer individuell-willkürlichen Haltung, und kritisiert damit an den Romantikern, sich vor politischen und pragmatischen Entscheidungen zu drücken und stattdessen die Welt lediglich »als Anlaß und Gelegenheit ihrer romantischen Produktivität« zu behandeln.55 Das »Ästhetische« wird bei ihm zum Synonym einer apathischen Haltung von Personen, die vor den Herausforderungen des Politischen versagen, weshalb er die poetischen Entwürfe der Romantik als eine »Entwirklichung der Welt in eine phantastische Konstruktion« verurteilt. So lautet sein Fazit schließlich: »Wo die politische Aktivität beginnt, hört die politische Romantik auf.«56 Schmitt radikalisiert an dieser Stelle Hegels Analyse eines alltagsweltlichen privaten Verendens romantischer Impulse, worin sich politisches und ästhetisches Interesse nicht mehr begegnen können, da die Räume der subjektiven Innerlichkeit mit denen der sozialen Aktivität unvereinbar erscheinen. Politische Aktivität und ästhetische Reflexion scheinen in diesem Urteil einander ausschließende Alternativen zu sein.57

Nimmt man dabei die romantischen Werke zur Hand, die diesen ästhetischen Diskurs widerspiegeln und weiterführen, scheint bei oberflächiger Betrachtung Schmitts bzw. auch Hegels Urteil zutreffend. In Joseph von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« (1826) durchfährt der Titelheld schlafend und unbekümmert die Lande, um am Ende dank vielerlei Zufälle und Glück in konjunktiver Verschiebung seine geliebte Frau und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Ähnlich verhält es sich in Novalis’ »Heinrich von Ofterdingen« (1802), wo am Ende in einem fulminanten Märchen die Wirklichkeit, und dabei auch die intradiegetische Festgemeinde, ins Transzendente überschritten wird. Und Friedrich Schlegels damals als skandalös empfundener Roman »Lucinde« (1799) katapultiert das vertrauliche Zwiegespräch zweier Liebender in die Öffentlichkeit, wodurch der intim diffundierende Raum den öffentlichen in einem Akt der Tyrannei verdrängt.58 Somit scheint das Interesse der ästhetischen Darstellung völlig auf die idealisierte und intellektualisierte Individualwelt abzuzielen, die sich jeglicher sozialen und politischen Auseinandersetzung verwehrt.

Gleichzeitig gab es um 1800 jedoch Bestrebungen, gegen die sich in einer Auflösung befindlichen Gemeinschaft Verfahren zu finden, die auf der neuentdeckten Basis subjektiv-innerlicher Emotionalität eine soziale Bindungsfähigkeit begründen. Somit sind Lesarten zurückzuweisen, die das ästhetische Programm der Romantik generell von politischen Impulsen abzulösen suchen. Gerade in Projekten wie Schlegels »Neue Mythologie« (1800) und Novalis’ »Die Christenheit oder Europa« (1802) sowie »Glauben und Liebe oder Der König und die Königin« (1798) wird deutlich, dass sich die Romantik nicht in einem ästhetischen Okkasionalismus verlor, sondern sich die poetischen Auseinandersetzungen gerade als Möglichkeit für neue Gemeinschaftsentwürfe herausstellten.59

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