Über das Buch

Ein Leben mit der Sonne statt nach der Uhr, faire partnerschaftliche Beziehungen, Gewaltverzicht und klimaneutrale Mobilität — was können wir von Vögeln lernen? »Nestwärme« ist ein überraschendes Buch über das Sozialverhalten unserer gefiederten Nachbarn, ein Plädoyer für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur — und eine augenzwinkernde Aufforderung, das eigene Leben hin und wieder aus einer neuen Perspektive zu betrachten.
Der vielfach ausgezeichnete Naturschützer Ernst Paul Dörfler hat ein berührendes Buch über das geheime Leben der Vögel geschrieben, die oft friedvoller und achtsamer miteinander umgehen als wir Menschen.

Ernst Paul Dörfler

Nestwärme

Was wir von Vögeln lernen können

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Mensch und Vogel — eine Liebesbeziehung

Was Vögel können (und wir nicht)

Intelligenz und Persönlichkeit

Das Sozialleben der Vögel

Aufs Marketing kommt’s an

Partnersuche

Ein Hoch auf den Rollentausch

Nestwärme

Nachrichten durch die Eierschale

Fit, schön und gesund

Im Reich der Träume

Fernweh

Kampf ums Überleben

Vögel mit Jungbrunnen-Enzym

Vögel für unsere Seele

Dank

Für meine Mutter Frieda

und meine Enkelin Frieda

Mensch und Vogel —
eine Liebesbeziehung

Menschen sind Menschen und Vögel sind Vögel. Der Klassenunterschied ist nicht zu bestreiten. Dennoch: In uns Menschen steckt erstaunlich viel Vogel. Andererseits verhalten sich Vögel in vielerlei Beziehung verdächtig menschlich. Das ist auch kein Wunder, beide teilen eine gemeinsame, 400 Millionen Jahre währende Entwicklungsgeschichte, die Geschichte der Wirbeltiere. So ist es folgerichtig, dass Erbanlagen, Merkmale und Verhaltensweisen von Mensch und Vogel so verblüffend ähnlich sind.

Die Flügel der Vögel und die Gliedmaßen von Säugern werden durch die gleichen Gene kontrolliert. Für die Produktion von Eierschalen sind genau jene Erbanlagen verantwortlich, die beim Menschen über den Knochenaufbau entscheiden. Erbfaktoren, die die Gefiederfarbe bei Vögeln festlegen, entsprechen jenen, die für die Pigmentierung unserer Haut zuständig sind.

Die Säugetiere, zu denen biologisch der Mensch zählt, stellen keineswegs eine Höherentwicklung der Vögel dar, vielmehr stammen beide von den Reptilien, also von den Kriechtieren ab, genauer gesagt von den Dinosauriern. Das mag uns, den am höchsten entwickelten Säugern und vermeintlichen Trägern der Krone der Schöpfung, nicht gerade gefallen, doch so ist die Entwicklungsgeschichte auf unserem Heimatplaneten nun einmal verlaufen.

Im Erdmittelalter nach einer langen, gemeinsamen Wegstrecke schlugen Vögel und Säuger getrennte Pfade ein. Die heutigen Vögel sind also nichts anderes als kleine befiederte Dinosaurier mit kurzem Schwanz. Aus den Schuppen der Echsen entwickelte sich im Laufe der Zeit das Federkleid der Vögel. Erst kletterten sie auf Bäume, dann eroberten sie auf trickreiche Weise die Hoheit über den Luftraum. Die Säuger blieben am Boden zurück. Erst nach weiteren 100 Millionen Jahren ging aus ihnen der Mensch hervor. Und ausgerechnet dieses jüngste Lebewesen in der Entwicklungsgeschichte des Planeten Erde hat dann die Rolle des Herrschers übernommen. Doch bei aller Überlegenheit hat der Mensch die Vögel schon immer bewundert, beneidet und besungen. In unzähligen Gedichten und Volksliedern haben Vögel ihren Platz gefunden, vor allem in Liebesgedichten und Liebesliedern treten sie auf, allen voran die Lerchen und die Nachtigallen. Auch in Märchen und Fabeln beflügeln Vögel als Hauptdarsteller die Fantasie der Leser. Aber sind diese Geschichten, ist dieses kulturelle Erbe in unserer Gegenwart noch verständlich und emotional zugänglich, wenn Eltern wie Kinder weder Lerchen noch Nachtigallen, weder Zaunkönige noch Adler je erlebt und kennengelernt haben?

Um dem Abhilfe zu schaffen und wieder eine engere Beziehung zur Natur aufzubauen, ihre Mannigfaltigkeit zu erleben, müssen wir keineswegs nach Kanada oder Kamtschatka reisen, denn das Gute »fliegt« so nah! Wer Vögel beobachtet, ist zudem in einer etwa im Vergleich zum Feldhamster-Fan glücklichen Lage: Sie sind bunt, fallen gerne auf, sind mit wenigen Ausnahmen tagaktiv, fast immer in Action und betören unsere Sinne.

Dafür, dass die Freude an der wiederentdeckten Natur auch währt, sorgt das wachsende Wissen über die Vögel, das sich mit der Lust des Beobachtens gegenseitig bedingt. Je mehr ich weiß, umso mehr sehe, umso mehr verstehe ich und umso mehr Freude habe ich an neuem Wissen. Die lebendige Welt um mich herum gewinnt an Bedeutung. Und je mehr wir die Vögel in unser Blickfeld nehmen, umso eher werden wir auch begreifen, warum sie uns so sympathisch — und warum sie in mancher Beziehung sogar die besseren Menschen sind.

Es braucht schon einige Übung, Vögel zu erkennen, vor allem dann, wenn man sie nur sehr kurz oder gar nicht zu Gesicht bekommt. Ihre ganz und gar eigenen Rufe und Gesänge verraten den Absender, die Art des Vogels und damit seinen Namen. Es gibt unzählige Hilfsmittel, um Vögel zu bestimmen — und dennoch ist es, auch mit Bestimmbuch und Hörbeispiel ausgestattet, für viele Menschen schwer zu deuten: Amsel oder Star? Haussperling oder Feldsperling? Türkentaube oder Turteltaube? Am Ende unserer Recherche glauben wir, es zu wissen: Es war eine Amsel, ein Haussperling, eine Türkentaube. Doch war’s das schon? Ist das alles, was wir über diesen Vogel wissen wollten?

Für mich bedeutet das Kennenlernen der Vögel mehr, als ihren Namen parat zu haben. Wenn ich die Artzugehörigkeit eines Vogels kenne, weiß ich noch längst nichts über seine Lebensweise: wie er seinen Tag verbringt und wo er schläft. Ich habe keine Ahnung, ob das flötende Amselmännchen das gleiche ist, das mich schon im letzten Jahr erfreute. Ich kenne weder sein Alter noch seine Herkunft. Noch weniger Einblick habe ich in das Familienleben und in die Gefühlswelt des Vogels. Könnte es zum Beispiel sein, dass er ein feinfühliger und seinen Kindern gegenüber ein fürsorglicher Vater ist?

Wann hatten Sie Ihre letzte bewusste Begegnung mit einem frei lebenden Vogel? Wann haben Sie zum letzten Mal einen Kuckuck rufen hören, einer zwitschernden Schwalbe gelauscht oder einen klappernden Storch erlebt? Lange her?

Ehrlicherweise müssen wir feststellen, dass sich eine große Distanz zwischen uns Menschen und den frei lebenden Vögeln aufgetan hat, von jenen Arten einmal abgesehen, die unsere Städte erobert haben. Vögel sind weit weg, gefühlte Welten entfernt. Die Mensch-Vogel-Beziehungsform fällt klar in die Kategorie »Getrennt lebend«. Am häufigsten begegnen wir Vögeln noch auf unseren Tellern in Form von Hähnchen mit unglücklicher Vergangenheit.

Das war beileibe nicht immer so. Noch vor gut 100 Jahren lebten unsere Urgroßeltern zum großen Teil in ländlichen Räumen. Sie waren Bauern, Fischer, Hirten und verbrachten ihren Arbeitstag unter freiem Himmel. Auch ich durfte diese auslaufende Epoche noch in einem abgelegenen Dorf an der Mittelelbe erleben. In einer Umwelt frei von technischen Geräuschen achtete man damals genauer auf die Signale der Natur. Die Lieder der Lerche, der Regenruf des Buchfinken, der Zug der Kiebitze, der Gänse und Kraniche waren wichtige Quellen der Information und Inspiration.

Aus der Ankunft der ersten Zugvögel leiteten unsere Vorfahren ab, dass es an der Zeit ist, die Saat in den Boden zu bringen. Auch um für die Ernte das passende Wetter vorherzusehen, bedienten sie sich der Vögel, die so etwas wie die Wetterpropheten unserer Vorväter waren. Vögel schienen nach damaliger Ansicht den besseren Überblick und Vorausblick zu haben. Sehr genau haben unsere Vorfahren ihr Verhalten studiert, um von ihrem Wissen zu profitieren.

Heute müssen wir die Welt der Vögel neu entdecken. Ohne Vögel vermenschlichen zu wollen, sollte es daher erlaubt sein, ihre Fähigkeiten und Verhaltensweisen so zu beschreiben, dass jeder sie versteht — in einer Sprache, die Emotionen und Fantasien anspricht, neugierig macht und dennoch das wissenschaftliche Denken einschließt. Diesen Versuch habe ich in meinem Buch unternommen; und so hoffe ich, dass es Ihnen ein wenig dabei hilft, die Natur in Ihr Leben zu lassen, ihre Stimmen zu hören und zu deuten und sich im besten Fall für das Leben der Vögel zu begeistern. Denn wer sich von der Natur berühren lassen will, tatsächlich und mit allen Sinnen, wird spüren, dass in ihm eine tiefe Sehnsucht heranwächst, die vielen von uns verloren gegangen scheint, die aber unbedingt zu unserem Leben gehört. Es ist die Sehnsucht nach Resonanz, nach einem Verbundenfühlen und einem Mitschwingen mit unseren natürlichen Ursprüngen. Eine Sehnsucht, die uns bewegt, verwandelt und letztlich innere Zufriedenheit stiftet.

Immer mehr Menschen merken, dass ihnen im Leben etwas fehlt. Sie wollen sich nicht mehr mit den Imitaten abfinden, sie suchen nach den Originalen. Sie schalten zunehmend um von online auf offline, in die Echtwelt. Sich an den wundersamen Wesen der Natur zu erfreuen, verführt auch zu mehr Achtsamkeit mit unserer Welt.

Die Zahl der Vogelbeobachter wächst zusehends. Von Großbritannien und den USA, wo das Birdwatching zu einer Art Volkssport geworden ist, schwappt diese Bewegung auf das europäische Festland über. Sich für Vögel zu interessieren, darüber zu reden, ist nun auch bei uns salonfähig. »Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?«, fragte mich eine Frau, die die Faszination der Vogelbeobachtung kürzlich für sich entdeckt hatte. Vögel sind ideale und pflegeleichte Begleiter auf Spaziergängen und gedanklichen Ausflügen, ganz ohne Leine folgen sie uns. Sie sind einfach da, als würden sie uns Gesellschaft leisten wollen.

Mein Suchflug zu den Vögeln

Ich wurde in der Mitte des letzten Jahrhunderts geboren und verbrachte meine ersten 18 Lebensjahre in einer Welt, die es nicht mehr gibt. Meine Wurzeln liegen in einem kleinen Dorf mit großem Kirchturm zwischen Elbe und Dübener Heide südlich der Lutherstadt Wittenberg. Die Zeiten der Kindheit und Jugend prägen einen Menschen ganz besonders, so war es auch bei mir: der alltägliche Aufenthalt im Freien bis zum Sonnenuntergang, das hautnahe Erleben der Jahreszeiten, der Umgang mit allen möglichen Tieren, die schicksalhafte Abhängigkeit von der Natur, vom Wachsen und Gedeihen allen Lebens.

Jahre später war ich verhaltensauffällig — zumindest in den Augen der Staatssicherheit. Erkundungen wurden eingezogen. Wie im »Eröffnungsbericht zur Bearbeitung der Operativen Personenkontrolle« (1982) zu lesen ist, »wuchs der D. in einer politisch rückständigen Kleinbauernfamilie auf und wurde altmodisch erzogen. Aus diesem Grund war er während seiner Schulzeit sehr schüchtern. Dieses änderte sich mit dem Verlassen des Elternhauses.«

In der Tat lebten wir damals traditionell in archaischer Selbstversorgung. Mein Vater bezeichnete sich nicht ohne Stolz als »freier Bauer«. Meine Mutter hatte einen festen Plan im Kopf, was wann zu tun ist, um die Versorgung rund ums Jahr zu sichern. Wir ernährten uns von dem, was Garten, Feld und Stall hergaben. Für den Winter wurden Vorräte angelegt. Das Leben bestand aus harter Arbeit ohne Maschinen, dafür war es selbstbestimmt und befriedigend. »Urlaub« gab es am Sonntagnachmittag, ein Fahrradausflug ins Nachbardorf. Pferde und Kühe, Schweine und Schafe, Hühner, Enten und Gänse mussten tagein, tagaus versorgt werden. Die Tiere gehörten zur Familie. Erst wenn sie ihr Futter bekommen hatten, gab es unsere Mahlzeit. Wo auch immer etwas geschah, ich war immer dabei: beim Pflügen, Eggen und Säen, beim Mähen des Getreides mit der Sense, beim Rübenhacken und Distelstechen, beim Heueinbringen, beim Kartoffellesen und selbst beim Schlachten. Diese Tätigkeiten waren für mich damals so selbstverständlich wie heute Kindern das Spielen am Smartphone. Im Wald sammelten wir Heidelbeeren im Sommer, Pilze im Herbst und Holz im Winter — zum Heizen, Kochen und Backen. Schon im Alter von sechs Jahren brachte ich die Pferde selbstständig auf die Koppel oder half beim Einspannen. Die Enten begleitete ich zum Dorfteich, und auf der Obstwiese hütete ich die Gänse. Sie kommunizierten ständig miteinander und ich mit ihnen. Niemals verspürte ich Langeweile, mir war viel Zeit als stiller Beobachter geschenkt.

In der Schule lernte ich eifrig. Es war eine Minischule in familiärer Atmosphäre mit sehr kleinen Klassen. Meine wohlgesonnenen Lehrerinnen und Lehrer verehrte ich geradezu. Mit 18 Jahren hatte ich als Arbeiter- und Bauernkind die Möglichkeit zu einem Hochschulstudium. Da Chemie »Wohlstand, Brot und Schönheit« versprach, wählte ich dieses Studienfach. Keine glückliche Wahl, wie ich später feststellte. Ich hielt zwar durch, aber den vorgezeichneten Weg in eines der großen Chemiekombinate habe ich nicht einschlagen wollen.

Der Drang nach einem freieren Leben war es, der meinen weiteren Weg entscheidend mitbestimmte und mich letztlich den Vögeln näherbrachte. Nach über zehn Jahren in Hörsälen, Werkhallen, Laboren, Clean Rooms und Büros dämmerte es in mir: »Ich muss hier raus!« Das Draußensein, die Bewegung, das Leben unter Bäumen und Tieren fehlten mir. Doch wie folgt man seinen inneren Bedürfnissen, ohne in Gesetzeskonflikte zu geraten? Es gab in der DDR das Recht auf Arbeit, aber ebenso die Pflicht dazu.

Im Alter von 32 Jahren traf ich die Entscheidung, die wohl wichtigste in meinem Leben: Selbstständigkeit und Eigenverantwortung statt Fremdbestimmung. Als promovierter Ökochemiker kündigte ich meine Anstellung im Ost-Berliner Umweltinstitut. Ein ungeheurer Vorgang, denn im DDR-Sozialismus waren freie Naturwissenschaftler nicht vorgesehen. Statt weiter fleißig Umweltdaten zu ermitteln und darüber strengstes Stillschweigen wahren zu müssen, wollte ich an der misslichen Umweltsituation ganz real etwas verbessern — durch öffentliche Aufklärung, durch Wissensvermittlung. Ich wollte auf die Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen aufmerksam machen und Menschen die Natur nahebringen.

Schon drei Jahre vor meinem Ausstieg aus dem geregelten Berufsleben unterlag ich der »operativen Personenkontrolle« durch das Ministerium für Staatssicherheit. Meine Vorträge in kirchlichen Kreisen über die Gefährdung unserer Umwelt blieben dem allgegenwärtigen Schnüffelstaat nicht unbemerkt. Die später zugänglichen Protokolle der »Sicherheitsorgane« zeigen, dass ich mich als »Umweltschützer« verdächtig gemacht hatte. Es bestanden, so der verbriefte Wortlaut, der Verdacht des »Zusammenschlusses zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele gem. § 218 StGB« sowie der Verdacht der »ungesetzlichen Kontaktaufnahme zu Einrichtungen des westlichen Auslandes gem. § 219 StGB«. Über mein Tun wurde penibel Tagebuch geführt: Von »5.30 Uhr: In der Wohnung noch keine Bewegung« bis »22.30 Uhr hat noch Licht in der Wohnung gebrannt«. Der Notizen wert waren den aufmerksamen Genossen auch Informationen wie: »Küchenfenster spaltbreit geöffnet, Briefkasten leer.« Fand sich hingegen Briefpost, wurde sie vorübergehend eingezogen, um eine Kopie der Korrespondenz anzufertigen, alles klammheimlich.

Auch wenn ich die Überwachung nicht direkt bemerkte, die Angst vor Repression und Freiheitsentzug war doch mein täglicher Begleiter. Ich überlegte zwar immer sehr genau, was ich wann und zu wem sagte und was ich verschwieg. Nach so mancher heißen Diskussion befürchtete ich das Klicken der Handschellen draußen vor der Tür. Im Knast zu landen, das war für mich eine unerträgliche Vorstellung. In der Tat galt in der DDR das Sammeln und Verbreiten von Umweltinformationen als Straftatbestand. Das Strafmaß war nach oben offen, das Gesetz selbst unterlag der Geheimhaltung, es wurde aber durch Gerüchte gezielt gestreut. Dabei war es auch ohne Kenntnis irgendwelcher Daten für jede Nase spürbar, für jedes Auge sichtbar, dass etwas faul war zwischen Buna und Bitterfeld. Doch die Medien schwiegen beharrlich.

Wie sollte man unter diesen Bedingungen öffentliche Umweltaufklärung betreiben? Ich bevorzugte zunächst die mündliche Variante. Auch Märchen wurden bekanntlich mündlich überliefert und blieben in den Köpfen hängen. Naturexkursionen erschienen mir eine gute Methode, Menschen zu erreichen und mitzunehmen. Ich lud im Juni 1982 über die Presse zur »Ökologischen Sonntagswanderung« ein. Es kamen über 80 Personen, um durch die Magdeburger Elbauen zu streifen. Wir trafen östlich der Elbe auf futtersuchende Störche und Reiher, auf kreisende Milane sowie auf eine Kuh, die gerade ihr Kälbchen geboren hatte. Vögel und Kälbchen sind politisch unverdächtig, doch auf der anderen Elbseite rauchten die Schlote der Pestizid-Fabrik von VEB Fahlberg-List, einem Hersteller von Insektiziden. Ein brisantes Thema, waren doch gerade diverse Vogelarten durch das berüchtigte DDT an den Rand des Aussterbens geraten. Auch darüber wurde gesprochen. Unter den Teilnehmern befanden sich mehrere Berichterstatter, allerdings nicht von Tageszeitungen, wie ich es mir gewünscht hätte, vielmehr waren es drei Inoffizielle Mitarbeiter (IM) mit den Decknamen Peter Paul, Ernst und Richard Wagner. Diese wussten voneinander nichts, und ich wusste nichts von ihrer Mission. Die gesammelten Berichte über die zweistündige Führung umfassen zwölf Seiten.

Nach dieser überraschend großen Resonanz plante ich weitere Naturführungen. Doch die lokale Zeitung, in der ich dazu eingeladen hatte, spielte nicht mehr mit. Die Einladungen wurden entweder gar nicht oder mit falschen oder fehlenden Zeit- und Ortsangaben angekündigt. Reiner Zufall? Ein Aktenvermerk der Staatssicherheit sagt aus, dass »Presseartikel des D. unter Kontrolle zu halten« sind. Sollte ein Journalist diese Vorschrift umgehen, drohte ihm die »fristlose Entlassung«. Mein Experiment war zum Scheitern verurteilt.

Alle diese Hintergründe blieben für mich damals im Nebel. Ich rechnete zwar mit der Möglichkeit des Überwachtwerdens, aber den Umfang ahnte ich nicht. Für jeden Lebensbereich standen »Wächter« in Bereitschaft. So gelang es einem IM, mir meinen Terminkalender vorübergehend zu entwenden, um alle Namen, Adressen, Telefonnummern und Termine abzuschreiben. Egal, wo ich auftauchte, wartete schon ein verdeckter Ermittler auf mich. Trotz aller Anstrengungen — die gesammelten Informationen genügten den Organen der Staatssicherheit nicht, um meine Person umfassend »aufzuklären«. Dann folgte etwas, was ich kaum für möglich hielt: Sowohl in meiner Hauptwohnung als auch in meiner Nebenwohnung wurden Abhöranlagen eingebaut. Private Gespräche wurden abgehört und seitenweise schriftlich zu Protokoll gebracht.

Der Einbau der Abhörtechnik, der einem staatlichen Wohnungseinbruch gleichkam, erforderte ein generalstabsmäßiges Vorgehen. Am 14.12.1982 mussten acht Familien unseres Wohnblockes evakuiert werden, ohne dass es irgendjemandem auffiel, selbst den Betroffenen nicht! Alle Bewohner waren an diesem Tag andernorts »zu binden«. Ich selbst wurde zusammen mit meiner Frau zum Chef des Urania Verlages nach Leipzig zitiert, um über das eingereichte Buchmanuskript Zurück zur Natur? zu sprechen. Die Staatssicherheit war bereits im Besitz der Textfassung. Auf konspirativem Wege wurde der Verlagsleiter aufgefordert, »dem Dr. D. die Absage zu seinem Buch« mitzuteilen. Selbst der Termin der Absage — eben der 14.12.1982 —wurde mit den Sicherheitsorganen abgestimmt, um »die Reaktion des D. festzustellen«. Doch Stunden vorher meldete sich der Verlagschef krank. Sein Stellvertreter war nicht eingeweiht, so fand ein Gespräch ohne Inhalt statt.

Der Verlag hatte ein Gutachten zum geplanten Buch erstellen lassen. Dies fiel derart positiv aus, dass die Verlagsleitung misstrauisch wurde und ein zweites Gutachten in Auftrag gab. Unterdessen hatte auch die Staatssicherheit ein Geheimgutachten erstellen lassen. Die zwölfseitige Beurteilung ist vernichtend: Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sei »subjektivistisch«, »polemisch« und »gefährlich« dargestellt, die konkreten Erfolge der DDR und der UdSSR fehlten, der Text nähre Zweifel und Angstgefühle und stelle »als Buch keine Bereicherung« dar. Ohne Ansage wurde das Buchprojekt eingefroren. Es folgten drei Jahre der Ungewissheit.

In der Zeit zog ich mit meiner jungen Familie aus der Großstadt in ein altes, leer stehendes Haus in einem 300-Seelen-Dorf mitten in einem der ältesten und inzwischen auch größten Schutzgebiete Deutschlands an der Mittelelbe. Dort pflanzte ich als Erstes Obstbäume, Weinstöcke, Beerensträucher, gefolgt vom Anbau von Gemüse und Kartoffeln. Alles ohne Chemie, dafür mit viel Handarbeit und Kreativität. Nicht nur Ökologie predigen, sondern auch leben, genau das verschaffte mir eine tiefe innere Zufriedenheit, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ich wurde zum Aussteiger, aber nur scheinbar, denn ich wollte mich weiter einmischen, nur eben als unabhängige Institution. So gut ich konnte, verdrängte ich die Risiken, vermied offene Provokationen und Reizworte, gab mich vielmehr freundlich-optimistisch und versuchte, Lösungswege und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um der ökologischen Misere, die es offiziell ja nicht geben durfte, entgegenzutreten. Feinfühlige Satire und subversiver Humor erlebten eine Blütezeit. Botschaften wurden zwischen den Zeilen transportiert — und sie kamen mit einem Schmunzeln an, wo sie ankommen sollten.

Ende 1986 erschien dann doch noch das Buch Zurück zur Natur?. Das Erscheinen war ein Glücksfall und ist dem Lektor des Urania Verlags Leipzig zu verdanken. Er hatte es mit seiner Kreativität, mit Risikobereitschaft und Ausdauer im Laufe von drei Jahren geschafft, alle für die Druckgenehmigung zuständigen Ministerien zu überlisten — drei Jahre vor der politischen Wende. Sein raffinierter Plan: »Wir brauchen zwei Manuskriptfassungen: eine genehme und damit genehmigungsfähige und eine exportfähige Variante.« Ein neues offizielles Gutachten wurde eingeholt. Nach der Erteilung der Druckgenehmigung riskierte der Lektor Kopf und Kragen und tauschte die Fassungen kurzerhand aus. So wurde nach langem Anlauf Zurück zur Natur? zu einer Art Kultbuch der ostdeutschen Umweltbewegung, die neben der Friedens- und Menschenrechtsbewegung eine entscheidende Triebkraft zur friedlichen Revolution 1989 war.

Nachdem der Überwachungsstaat zusammengebrochen war, waren meine Ideen plötzlich gefragt. Ich wurde 1990 Abgeordneter in der erstmals frei gewählten Volkskammer und leitete den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Noch in den letzten Tagen der DDR gelang es, einmalige Naturlandschaften durch ein Nationalparkprogramm unter dauerhaften Schutz zu stellen, darunter Teile der Ostseeküste, der Seenplatte in Mecklenburg, der Elbe und der Oder. Diese neuen Großschutzgebiete wurden als »Tafelsilber der Deutschen Einheit« gefeiert.

Doch sehr bald wurde mir klar: Zwar gab es jede Menge Stilllegungen in Industrie und Landwirtschaft, doch eine konsequente Energie- und Agrarwende, eine nachhaltige Wirtschaftspolitik, ein sparsamer Umgang mit den Naturressourcen und ein ökologisch bewusstes Verbraucherverhalten störten bei der Gewinnmaximierung. Ich stieß an neue Grenzen. Alte wie neue ökologische Probleme wurden mehrheitlich in Politik und Gesellschaft verdrängt. Das Leben als eine Abfolge von »bewegungslosen Sitzungen« frustrierte mich. Ich fühlte mich wie ein Vogel im Käfig, vermisste das Erleben der Jahreszeiten. Nach einem Jahr Parlamentarismus schaffte ich den Absprung. Nun hatte ich sie wieder — meine geliebte Natur.

Und die atmete gerade auf. Die schlimmsten Verschmutzer waren innerhalb weniger Monate außer Betrieb. Das Wasser der Elbe erreichte einen Gütezustand, von dem ich vorher nicht zu träumen gewagt hatte. Auch die Schornsteine rauchten nicht mehr. In den Kaufhäusern duftete es verführerisch. Doch woher kamen all die vielen, bunt verpackten Produkte? Vieles stammte aus exotischer Ferne. Es fühlte sich an wie ein warmer Regen. Im Paradies angekommen? Nicht wirklich! Arbeit und Umweltverschmutzung wurden lediglich verlagert, exportiert: aus den Augen, aus dem Sinn.

Die fortgesetzte Plünderung des Planeten Erde erreicht inzwischen neue Höchstwerte und hinterlässt tiefe Spuren. Die Produktion von schnelllebigen Gütern nimmt Ausmaße an, die noch vor 30 Jahren unvorstellbar gewesen wären. Mit dem ständig wachsenden Verbrauch wächst auch unser ökologischer Fußabdruck. Leben wir auf zu großem Fuß?

Das Zeitalter des menschlichen Wirkens gräbt sich immer tiefer in die Geschichte des Planeten ein. Kaum vorstellbar: Im Umfeld meiner Kindheit gab es nicht einmal eine Mülltonne, womit hätte man sie füllen sollen? Inzwischen findet man in den Weltmeeren bald mehr Müll als Fische. Die Mägen von Fischen und Vögeln werden zu Sammelstellen von Plastik. Selbst entfernteste Inseln im Pazifik werden zu Abfalldeponien. Die natürlichen Lebensräume schrumpfen, Tier- und Pflanzenarten verlassen uns. Die Vögel verstummen auf den Feldern und Wiesen, es wird stiller in den Konzertsälen der Natur. Über die Hälfte unserer Vögel ist in den letzten 30 Jahren verschwunden, so lautet eine Antwort der Bundesregierung zum Zustand der Vogelwelt im Jahr 2017.

Gleichzeitig wächst unsere Selbstausbeutung, der Leistungsdruck holt das Letzte aus uns heraus. Wir machen nicht nur die Natur, wir machen auch uns selbst kaputt. Es wird höchste Zeit aufzuhorchen, unsere äußere wie innere Welt wieder wahrzunehmen. Alles haben und mitmachen zu wollen, macht nicht glücklicher und nicht gesünder. Produktion und Verbrauch können nicht endlos wachsen. Das Leben in seiner faszinierenden Vielfalt droht unter die Räder zu geraten, immer mehr Zwänge engen auch uns ein. Wir verlieren im doppelten Sinne den Boden unter unseren Füßen. Eine neue Wende ist fällig. Aber von wem können wir lernen, das nötige Rüstzeug zu erwerben?

Warum Vögel die besseren Menschen sind

Es war so schön einfach, klar zwischen Menschen und Tieren trennen zu können. Menschen sind intelligent, sie können denken und haben ein Bewusstsein, betreiben Kultur, Wissenschaft und Forschung, sie sind Träger des Fortschritts. Tiere werden hingegen von immer gleichen Instinkten und Trieben gesteuert, ihr Verhalten von simplen Reflexen gelenkt. Menschen stehen oben, Tiere unten, wie Herren und Sklaven. Die einen sind sprachbegabte Persönlichkeiten, haben Gefühle und pflegen Beziehungen, bei den anderen laufen emotionslose, stumme Programme ab, die einen sind Subjekte mit Charakter und Würde, die anderen Objekte und werden juristisch als Sachen behandelt, werden ausgenutzt und ökonomisch verwertet.

Die Forschungen der letzten Jahre haben diese Denkschablone erheblich ins Wanken gebracht. Viele Merkmale teilen wir Menschen nicht nur mit uns nah verwandten Säugern wie Affen, sondern auch mit scheinbar so entfernten Wesen wie den Vögeln. Niemand bestreitet, dass wir Menschen in Fragen der Intelligenz überlegen sind. Aber in manchen anderen Disziplinen stellen uns die Tiere klar in den Schatten.

Ist es nicht bewundernswert, wie sich Vögel auf unserem Planeten ohne weitere Hilfsmittel über Tausende von Kilometern zurechtfinden? Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass Vögel uns Menschen in sensorischen Wahrnehmungen haushoch überlegen sind. Sie verfügen nicht nur über exzellente Seh- und Hörqualitäten, sondern auch über beinahe mystische Sinne. Sie können die Magnetfeldlinien der Erde erkennen und so manche Naturkatastrophen vor ihrem Eintritt erspüren.

Die moderne Verhaltensforschung eröffnet uns neue Einblicke in die geheimnisvollen Seiten der Vögel. Lange waren wir auf mehr oder weniger zufällige Beobachtungen angewiesen. Es war ein ungelöstes Rätsel, was Vögel so alles treiben, wenn wir sie gerade nicht zu Gesicht bekommen. Inzwischen ermöglichen solarbetriebene Minisender, Geolokatoren oder Datenlogger als kleiner Rucksack am Vogelkörper eine tierschutzgerechte Rundumbeobachtung der Vögel und geben detaillierte Auskünfte über ihr Verhalten, über Aufenthaltsorte und Zugwege, ja, selbst über ihre Herzschläge, eine Observation im Dienste der Wissenschaft. So konnte beispielsweise durch die gleichzeitige Messung der Flugkoordinaten und der Bewegungsintensität nachgewiesen werden, dass Jungstörche ganze vier Wochen benötigen, um nutzloses Flattern abzulegen und energetisch ebenso effizient fliegen zu können wie gestandene Altvögel. Auch der Einsatz von Kameras kann Geheimnisse lüften helfen. Sie verschaffen uns nicht nur Einblicke in dunkle Bruthöhlen von Meisen, Spechten und Eulen, sondern auch in Storchen- und Adlerhorste und geben uns Auskunft über das Familienleben. Eine Kamera kann schnell ablaufende Vorgänge entschleunigen und beispielsweise die Rüttelflugtechnik erklären helfen oder Verborgenes sichtbar machen. So betreiben Vögel täglich eine intensive Körperpflege, indem sie sich Feder um Feder vornehmen, diese gründlich einfetten und ihre Verschlüsse reparieren.

Mindestens ebenso spannend ist die Erforschung des »Innenlebens« der Vögel. Durch genetische Analysen erfahren wir Details über Beziehungen, Partnertreue und Verwandtschaften. So werden die Biografien und Lebensweisen der Vögel nach und nach durchschaubar. Was wir inzwischen wissen: Vögel sind unterscheidbare Individuen, Persönlichkeiten wie du und ich. Kein Vogel gleicht dem anderen — nicht nur im Aussehen. Jeder Vogel hat seine eigene Stimme, sein originelles Liedgut, sein typisches Verhalten, seinen besonderen Charakter und sogar seinen ganz persönlichen Körperduft.

Lange Zeit für ausgeschlossen gehalten, ist es inzwischen anerkannt: Vögel können kreativ sein, sie können planvoll handeln und an das Morgen denken. Ihr Erfindungsreichtum zeigt sich ganz besonders in ihren raffinierten Verführungskünsten. Keine andere Tierklasse vermag zudem eine derartige Vielzahl von Beziehungsmodellen einzugehen und erfolgreich zu pflegen wie die Vögel. Es gibt kaum ein denkbares Partnerschaftsmodell, das sie nicht erprobt haben.

Ausgesprochen friedfertig und fürsorglich gehen die Partner miteinander um. Fairness ist in aller Regel oberstes Gebot im Verhalten der Geschlechter zueinander. Arbeitsteilung und Gleichberechtigung sind bewährte Erfolgsrezepte. Verlässliche Beziehungen in Ehe und Familie stehen viel höher im Kurs als üblicherweise bei den Säugetieren. Voller Hingabe kümmern sich oft beide Vogeleltern um ihren Nachwuchs — bis hin zur Selbstaufopferung. Dennoch leben sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit und nicht zuletzt auch ihre Muße — alles zu seiner Zeit.

Ein beispielhafter Lichtblick in unserer gewaltlastigen Welt: Vögel halten nicht viel von Gewaltanwendung. Im Umgang mit ihren Artgenossen kommen zwar immer wieder Zwistigkeiten vor, jedoch gehören Körperverletzung oder gar Tötung nicht zu ihren Verhaltensmustern. Stattdessen singen sie um die Wette, eine bewundernswerte Methode, Dissonanzen auszufechten. Viele Vögel leben in Gesellschaften oder in engen Familienbanden. Dabei sorgen klare Regeln für die Stabilität der Gemeinschaft. Die erfahrenen Mitglieder stehen in der Rangordnung oben, andere haben sich unterzuordnen. Doch hält sich der Unterschied zwischen Oberschicht und Unterschicht sehr in Grenzen. Ja, es gibt sogar so etwas wie Solidarität und Empathie, und nicht selten helfen sie sich untereinander, sei es bei der Körperpflege, bei der Nahrungsbeschaffung oder der Feindabwehr. Ihre Fähigkeit zur Kooperation hat sie erfolgreich gemacht. Die Ökologie als Wissenschaft vom Haushalt der Natur haben wir Menschen erfunden. Dennoch müssen wir uns eingestehen, dass Vögel in praxi offenbar die besseren ökologischen Kompetenzen besitzen. Die Ausbeutung der Natur ist ihnen ebenso fremd wie die Ausrottung von Pflanzen und Tieren. Sie nehmen sich, was sie zum Leben brauchen, mehr nicht. Sie könnten uns zum Vorbild im Umgang mit den natürlichen Ressourcen werden, denn ihr Know-how hat sich über Jahrmillionen bewährt. Als absolut vorbildlich ist etwa der Energieverbrauch der Vögel einzustufen. Ihre enormen Leistungen werden mit geringstem Energieaufwand realisiert, gleichgültig, ob es sich um Fliegen, Bauen oder Wärmen handelt. Vögel fliegen klimaneutral. Sie nutzen ausschließlich erneuerbare Energiequellen und nachwachsende Rohstoffe, sie setzen diese sparsam und höchst effizient ein. Das Prinzip der Wärmedämmung haben sie längst erfunden und perfektioniert. Kälte macht ihnen nichts aus, ihr Gefieder funktioniert als Klimaanlage ohne Stromverbrauch, und in ihrem Nest ist es mollig warm. Die Kreislaufwirtschaft ist Realität, Nachhaltigkeit Normalität; Abfall- und Schadstoffprobleme entstehen erst gar nicht. Anders hätten die Vögel nicht viele Millionen Jahre überleben können.

Haben Sie schon einmal einen übergewichtigen Vogel in freier Natur erlebt? Ganz sicher nicht, er wäre todgeweiht. Vögel können Maß halten — eine aus menschlicher Sicht bewundernswerte Fähigkeit. Selbst Geier, die man im Althochdeutschen »Gῑr« nannte, wovon der Begriff »gierig« abgeleitet ist, sind maßvoll. »Wie die Geier« stürzen sie sich zwar auf ein verendetes Tier, und binnen weniger Stunden ist es entsorgt, restlos verwertet. Nach der Völlerei folgt das Fasten. Sogenannte »Wohlstandskrankheiten« kommen nicht vor.

Unsere vergleichsweise junge menschliche Intelligenz hat uns viele Vorteile verschafft, aber auch enorme Probleme. Der Mensch ist offenbar in der Lage, seine eigene Umwelt, seinen Lebensraum zu ruinieren und unbewohnbar zu machen. Der exorbitante Rohstoffverbrauch und der damit verbundene Abfall der Industrie- und Konsumgesellschaft sind nicht kompatibel mit einem intakten Naturhaushalt und einem überlebensfähigen Planeten. Jeder Bewohner der reichen Industriestaaten besitzt im Durchschnitt 10.000 Dinge, die seine Wohnstätte füllen. Je mehr Besitz wir anhäufen, umso mehr müssen wir uns verausgaben, körperlich wie finanziell. Das reale Leben reduziert sich zunehmend auf Schuften und Shoppen. Nach dem Aneignen und Anhäufen drängen sich das Wegwerfen und das Entrümpeln auf. Die Zyklen zwischen Erwerb und Abstoßen verkürzen sich mehr und mehr. Zunehmend erkennen Menschen: Besitz kann zum Ballast werden — Schwere statt Leichtigkeit zeichnet das Leben aus. Die Last wirkt zunehmend erdrückend — auf Mensch und Natur. Ist dieser Konflikt überhaupt lösbar? Kann ein gutes Leben nicht auch einfach sein? Nach welchen Prinzipien leben Vögel? Haben sie die Leichtigkeit des Seins entdeckt?

Auch Vögel haben Gefühle

Wenn sie im späten Winter über unseren Köpfen nordwärts ziehen und ihre sehnsuchtsvollen Rufe erklingen lassen, blicken wir mit ähnlich sehnsuchtsvollem Blick zu ihnen hinauf: Die Kraniche sind wieder zurück. Sie verheißen uns Menschen den Frühling. Wohl deshalb nennt man sie seit dem Altertum in vielen Kulturen von Europa bis Asien »Vögel des Glücks«.

Zwei dieser Glücksbringer beziehen im März jeden Jahres ihren ausgesuchten Lebensraum, eine sumpfige Wiese unweit meines Dorfes. Schon in einer Entfernung von über einem Kilometer höre ich sie im Duett rufen. Das Weibchen mit hoher Stimme, das Männchen eine Terz tiefer. Wenn ich am frühen Morgen aus sicherer Deckung heraus die Vögel beobachten kann, halte ich inne und wage kaum zu atmen. Flügelschlagend machen sie im Wechsel Luftsprünge, die Trompetenrufe steigern sich. Dann duckt sich das Weibchen ein wenig ab und hebt seine Flügel an. Das ist die Einladung zur Begattung. Das Männchen springt auf dessen Rücken, balanciert gut aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und vollzieht die Kopulation. Nach einigen Sekunden packt das Männchen mit seinem Schnabel kurz das Kopfgefieder seiner Angetrauten und macht den Absprung. Das Paar wendet sich wieder einander zu. Jubelnd trompeten sie erneut im Duett und schließen einen rituellen Tanz mit Verneigungen, Drehungen und Sprüngen an. Es fällt schwer zu glauben, dass diese graziösen Vögel dabei kein Gefühl von Freude empfinden. Man könnte meinen, sie hüpfen vor Euphorie und Beglückung.

Moment mal! Freude? Glück? Können Vögel sich freuen und glücklich sein? Fast sieht es so aus. Dennoch: Es ist eine Streitfrage. Nicht wenige Menschen hüten sich davor, Vögeln Gefühle dieser Art zuzubilligen. Ich selbst habe früher noch gelernt: Tiere handeln nach Instinkten. Diese stecken in ihren Erbanlagen, ein festgelegtes Verhaltensprogramm. Also programmierte, lebende Roboter? Oder haben sie doch Gefühle? Gefühle, wie auch wir sie empfinden, Freude und Leid, Glück und Unglück, Stress und Entspannung?

Das sind Fragen, denen Wissenschaftler lange Zeit aus dem Wege gingen. Wie soll man das subjektive Empfinden nachweisen und die Ergebnisse statistisch absichern? Vögel kann man nicht befragen. Schön wäre es, man schlüpfte in die Haut eines Vogels, tauschte sein Haar- gegen ein Federkleid aus, um investigativ zu recherchieren — wenn es nur so leicht ginge.

Nach einer meiner Buchvorstellungen kam einmal ein Professor auf mich zu und gab mir fast flüsternd, aber eindringlich und besorgt zu verstehen: »Das dürfen Sie nicht tun! Das ist Vermenschlichung!« Ich antwortete, dass es bloß »menschelte«; weder würden die Tiere bei mir sprechen, noch hätten sie Vornamen. Für das Beschreiben des realen Verhaltens würde ich lediglich Alltags- statt Wissenschaftssprache verwenden. Auf die Sprache der Wissenschaft zu verzichten, bedeute aber nicht, das wissenschaftliche Denken aufzugeben.

Diese Begegnung hat mich lange beschäftigt. Zugegeben, wenn ich das Verhalten von Tieren schildere, schmilzt der gefühlte Abstand zwischen Mensch und Tier. Dann bemerkt man sehr bald, dass wir doch ähnlich ticken. Unsere lebensnotwendigen Grundbedürfnisse sind sogar identisch. Ob Mensch oder Tier — wir alle benötigen Luft zum Atmen, brauchen Nahrung und Wasser, Lebensraum und Schutz vor Feinden und Widrigkeiten. Und wir brauchen die sexuelle Fortpflanzung, um unsere Art zu erhalten.

Dennoch, bei all diesen Gemeinsamkeiten: Begriffe wie Bewusstsein, Denken und Charakter, Gefühle wie Angst oder gar Liebe waren lange Zeit ausschließlich für den Menschen reserviert, für Tiere galt diesbezüglich ein rigoroses Tabu. Und wenn sich doch jemand mit diesen heiklen Fragen beschäftigte, bekam er oder sie oft das Etikett der Unwissenschaftlichkeit verpasst. Es ist völlig richtig: Gefühle kann man nicht messen. Es gibt keine Maßeinheit für Freude und Glück, für Zuneigung, für Lust und Liebe. Deshalb ist dieses Terrain für die sogenannten »exakten Wissenschaften« das pure Glatteis, auf dem man nicht nur ausrutschen, sondern auch einbrechen und seinen akademischen Ruf verlieren kann.

Noch im 19. Jahrhundert ging man davon aus, dass Vögel aus Lebensfreude singen, so wie es Menschen tun. Mit der Etablierung der naturwissenschaftlichen Forschung wurde dann die »wahre Bedeutung« des Vogelgesangs aufgedeckt: Es war Bernard Altum, der in seinem Buch Der Vogel und sein Leben (1868) als Erster eine Theorie zur Revierbildung bei Vögeln entwickelte und dabei auch die Rolle des Vogelgesangs erklärte: Vögel singen zur Revierabgrenzung. Im 20. Jahrhundert wurden mehr und mehr Details über das Leben der Vögel erforscht, ein riesiges Datenvolumen sammelte sich an. Ermittelt wurden vor allem äußere Merkmale. Innere Prozesse blieben zumeist unbeachtet. Vor allem die schwierige Frage nach den Gefühlen der Vögel blieb außen vor.

Unterdessen hielt die »Tierproduktion«, die Massentierhaltung Einzug. Hähnchen, Enten und Puten werden auf engstem Raum zusammengepfercht und gemästet, Gänse in manchen Ländern zwangsernährt, damit sie eine übergroße Leber für Pastete liefern. Hühner wurden zu Legemaschinen.

Aus früheren Zeiten kenne ich noch den Spruch: »Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.« Diese Volksweisheit wurde immer dann verdrängt, wenn es um wirtschaftliche Gewinne ging. Von der Außenwelt abgeschirmt, werden Tiere auf qualvolle Art und Weise gehalten, um maximale Leistungen zu erbringen. Was zählt, sind Legeleistung und Fleischzuwachs. Jahrzehntelang wurden diese Missstände weggeschwiegen. Die Annahme, dass Tiere keinen Schmerz kennen, ist schon deshalb abwegig, weil Tierärzte seit Jahrzehnten Schmerzmedikamente verabreichen. Inzwischen wächst das öffentliche Bewusstsein, dass Tiere Angst, Stress, Schmerz und Leid empfinden können. Nicht ohne Grund gibt es eine immer lauter werdende öffentliche Debatte um das Tierwohl.

Die Fragen, wie es Tieren geht, wie sie fühlen und ob sie eine Würde haben, werden im 21. Jahrhundert immer lauter gestellt. Jeder Hunde- und Katzenhalter weiß, dass sein Schützling durchaus Empfindungen hat. Sicher ist auch, dass viele Tiere in freier Natur ohne das Gefühl von Angst, ohne den Impuls zur Feindabwehr oder zur Flucht nicht überlebensfähig wären. Nach und nach scheint man den Tieren Gefühle wie Stress, Angst und Schmerz zuzugestehen. Schwerer tut man sich mit positiven Emotionen wie Freude, Glück oder Liebe. Gönnt der Mensch den Tieren zwar die unangenehmen, nicht aber die guten Gefühle?

Empfindungen zeichnen das Leben aus. Mehr noch: Sie sind seine unabdingbare Voraussetzung. Ohne die Gefühle von Hunger und Durst, von Wärme und Kälte fehlten lebensnotwendige Signale zur Verhaltenssteuerung. Ohne die sexuellen Gefühle gäbe es keinen Nachwuchs. Nach allem, was wir wissen, besitzen Mensch und Vogel gleichermaßen ein limbisches System, ein Gefühlszentrum im Inneren des Gehirns. Es steuert sämtliche Emotionen, seien es Hungergefühl oder sexuelles Verlangen, seien es Angst, Wut oder Aggression, Freude, Frust oder Schmerz. Sowohl die Struktur dieses Systems als auch die Informationsverarbeitung sind bei Vögeln und Säugern sehr ähnlich. Wir wissen noch nicht viel Genaues über das Gefühlsleben der Vögel. Immerhin fand die biochemische Spurensuche heraus, dass im Blut der Vögel die gleichen Hormone wie im Blut der Menschen kreisen. Es sind die gleichen Sexualhormone, die dazu auffordern, einen Partner zu suchen und sich um Nachwuchs zu kümmern. Auch das Bindungs- und Kuschelhormon Oxytocin sowie die für Sehnsucht und Glücksgefühl zuständigen Hormone Dopamin und Serotonin finden sich in Mensch und Vogel gleichermaßen. Damit ist die materielle Basis der Gefühle bei Mensch und Vogel durchaus vergleichbar. Bei so vielen biochemischen Gemeinsamkeiten dürften auch die Verhaltensparallelen nicht verwundern, die sich bei näherer Betrachtung offenbaren, sei es bei der Partnersuche oder bei der Fürsorge für den Nachwuchs. Allerdings wissen wir nicht wirklich, wie sich Glück und Freude für einen Vogel anfühlen. Sicher ist hingegen, dass Vögel Glücksgefühle in uns Menschen auslösen können, allein durch ihre Anwesenheit.

Liegt der Frühling in der Luft, steigen die allzu menschlichen Lustgefühle. Die Hormone sprudeln nur so. Jahr für Jahr bekommen wir diese Geschichte erzählt und glauben sogar daran. Doch ein Faktencheck beweist das Gegenteil: Das wichtige Sexualhormon, das Testosteron, befindet sich in der schönsten Jahreszeit im Keller. Real ist hingegen die Frühjahrsmüdigkeit. Erst im Herbst erreicht das Testosteron seine Höchstwerte, und die geburtenstärksten Monate liegen logischerweise im Sommer — neun Monate später. So sinnvoll hat es die Natur eingerichtet.