Über das Buch

Über Jahre hinweg entwickelt Miki Sakamoto ihre eigene Kunst des Waldspaziergangs. Diese »nach außen gerichtete Meditation« bietet Entspannung für alle Gestressten auf der Suche nach einem achtsameren Leben. Dabei verwebt sie das japanische Waldbaden mit der Lehre des Buddhismus und der genauen Beobachtung des Nature Writing.

Miki Sakamoto

Eintauchen in den Wald

Mit Waldgängen gelassen und glücklich werden

Carl Hanser Verlag

Für Alexandra

»Nicht so schnell doch, geh langsam,

denn Du musst nirgends hin als zu Dir selbst!«

Literaturnobelpreisträger Juan Ramón Jiménez (1916)
in Eternidades

Eine Vorbemerkung

»Du musst nirgends hin als zu Dir selbst!« Dieser Satz von Juan Ramón Jiménez hat mich sehr beeindruckt. Er könnte fernöstlicher Lebensphilosophie entnommen sein, die uns zur Gelassenheit anhält. Und wirklich läuft im täglichen Leben alles viel zu schnell. Wir kommen kaum noch mit. Schon die Kinder sind überlastet. Kaum dass sie lesen können, hängen sie an Handys und an ihren Playstations oder starren auf Bildschirme. Ihre Welt ist virtuell geworden. Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität nehmen stark zu. Nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Man will/muss immer erreichbar sein. Denn wer nicht mindestens so schnell ist wie die große Mehrzahl der Mitläufer, fällt in diesem gnadenlosen Wettrennen unweigerlich zurück. Nur die noch Schnelleren kommen voran. Sie sind die Fitteren. Um noch fitter zu werden, joggen sie. Sie besuchen Fitnessstudios oder strampeln auf dem Fahrrad Kilometer um Kilometer. Puls und Blutdruck kontrollieren sie dabei beständig. Denn nur die Besten erzielen jene Höchstleistungen, die zählen. Gut so! Wirklich? Bewegung ist wichtig. Zweifellos. Wir Menschen sind unserer Natur nach Läufer. Keine Hocker. »Wer rastet, der rostet!«, lernte ich im Deutschunterricht. Daraus schloss ich, dass Japaner nicht rosten können. Weil sie nicht rasten. Ich bin Japanerin und weiß, dass es in Japan unmoralisch sein kann, Urlaub zu nehmen. Urlaub zum Nichtstun. Schier undenkbar! Seltsam anders ist die Einstellung hier in Deutschland: Man arbeitet viel, um Urlaub machen zu können. Ist das die bessere Alternative? Süffisante Anmerkungen bekam ich darüber zu hören: »Wir brauchen Stress im Urlaub, um den Stress in der Arbeit auszuhalten!« Aber auch: »Entschleunigung ist das Gebot der Zeit. Wir sollten innehalten, sonst gehen wir am Stress zugrunde.«

Eines ist gewiss: Um unser Fühlen und Denken, um das Mentale, geht es beim körperlichen Fitnesstraining nicht. Entspannung im Kopf lässt sich weder herbeijoggen noch per Smartphone bestellen. Puls und Herzschlag messen die Leistung des Körpers. Zum mentalen Wohlbefinden sagen sie uns nichts. Meditation ist für mich auch keine Lösung. Wenn sie tief und gut werden soll, erfordert sie zu viel Zeit und zu große Isolation. Bis der Zustand der inneren Ruhe erreicht ist, muss man sich Zwängen aussetzen: Dem Zwang, abzuschalten. Dem Zwang, sich nicht zu bewegen. Dem Zwang, die Gedanken aus dem Kopf zu zwingen. Nicht alle schaffen das, schon gar nicht auf Anhieb und bei akutem Bedarf. So wie man auch nicht plötzlich viele Kilometer am Stück joggen kann. Training muss vorgeschaltet werden. Intensives Training. Ein Ort der Stille muss vorhanden sein oder geschaffen werden. Wer von Stress umgeben bleibt, wird sich schwertun, den eigenen Stress abzubauen.

»Der Weg ist das Ziel«, heißt es im Taoismus. Gewiss, das kann der Weg des Fitnesstrainings sein. Auch der Weg zur Versenkung in tiefe Meditation. Mein Weg ist ein anderer: Der Gang in den Wald, in die Natur. Fitnesstraining ist dieser Waldgang sicher nicht. Auf Waldpfaden suche ich auch nicht nach meditativer Entrückung. Im Wald schalte ich weder in meinen Beinen den Laufmotor an, noch im Kopf das Denken aus. Anstelle des Muskeltrainings pflege ich die erholsame Langsamkeit. Die Meditation ersetze ich mit meiner Öffnung für das, was um mich herum im Wald geschieht. Die Sinne dürfen und sollen im Wald meine Aufmerksamkeit lenken, nicht die Gedanken. Den Rest des Tages hat man ohnehin genug zu denken. Mit dieser Einstellung öffne ich mich und gewinne durch diese andersgeartete Aufmerksamkeit innere Ruhe und Entspannung.

So eine Öffnung ist das Gegenteil der Abschließung, wie sie beim Fitnesstraining und auch bei der Meditation geschieht. Beim Waldgang will ich nicht »ganz Muskel« sein. Auch kein nichts denkendes Selbst. Beides ist egozentrisch. Und isoliert. Körperlich fit zu sein ist notwendig. Aber diese Fitness ist nicht alles. Warum, das werde ich im Einführungsteil näher erläutern. Hier möchte ich nur meine Position klarstellen: Die Position der Mitte zwischen körperlichem Stress und geistig erzwungener Leere durch Meditation. Mit dieser Position nehme ich teil an der Fülle des Lebens, das uns umgibt. Es ist die Position der Lernenden, die aufnimmt, was die Sinne über die Natur vermitteln. Für diese Offenheit gibt es eine Bezeichnung: Shinrinyoku 森林浴. Der Ausdruck ist japanisch, das Prinzip kommt aber halb aus Deutschland. Auch das werde ich im Einführungsteil erläutern. Die Übersetzung klingt höchst kurios: Waldbaden. Das kann zwar herrlich sein, so man einen sauberen, gut temperierten Waldsee in der Nähe hat. Aber mit »Wald-Baden« ist nicht ein Bad im Waldsee gemeint. Das deutsche Wort ›Eintauchen‹ charakterisiert viel besser, worum es geht, nämlich um das Sich-Hineinbegeben in den Wald. Um ihn mit seiner ganzen Atmosphäre aufzunehmen. Um den Wald zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen, zu erahnen. Nur so wird er wirklich Wald. Dann hört er auf, bloße Kulisse zu sein. Eine solche bleibt er für all jene, die durch den Wald joggen, mit Kopfhörern an den Ohren, und Blicken, die nur auf die Strecke gerichtet sind. Kulisse ist er auch für Spaziergänger, die sich intensiv miteinander unterhalten oder unablässig via Handy kommunizieren. Als Kulisse fließt der Wald an den Radfahrern vorbei, die mit Sturzhelm und Schutzbrille hindurchrasen, als müssten sie vor etwas fliehen.

Meine Waldsicht werden Sie in Schilderungen finden, die von bestimmten Tagen, Ereignissen und Jahreszeiten handeln. Darin versuche ich, Eindrücke, Erlebnisse und Beobachtungen wiederzugeben, die mich fasziniert haben. Es sind persönliche Berichte. Alles Geschilderte kann man jedoch selbst erleben in anderen Wäldern, in Forsten oder Auwäldern. Meine Eindrücke kamen zustande, indem ich »im Walde so für mich hinging«. So hat es Goethe in seinem Gedicht »Gefunden« ausgedrückt. Genau auf diese Weise habe ich »gefunden«, wovon ich schreibe. Ähnliches werden auch Sie finden. In Wäldern überall in diesem Land. Wobei Sie hoffentlich Stress abbauen und zu einem entschleunigteren Leben finden.

Im Shinrinyoku bildet das mit allen Sinnen Aufgenommene die Essenz. Diesen zentralen Inhalt möchte ich vermitteln. Shinrinyoku hat mir gutgetan, sehr gut! Das behaupte ich ganz gewiss nicht deshalb, weil ich Japanerin bin und ein japanisches Konzept anpreisen möchte. Waldgänge mache ich seit mehr als zwanzig Jahren. Und die meiste Zeit davon hatte ich keine Ahnung, dass es Shinrinyoku gibt. Als Therapie und einfach zum Wohlfühlen. Aber aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Shinrinyoku auf subtile Weise glücklich macht. So wie es Juan Ramón Jiménez wohl gemeint hat:

»Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks,

alle Vergangenheit vergessend,

niederlassen kann …,

der wird nie wissen, was Glück ist.«

Miki Sakamoto im Herbst 2018

I
Shinrinyoku

Herbstweg.tif

Gänge in den Wald

Waldgänge, wie ich meine Waldspaziergänge lieber nenne, weil ich nicht einfach spazieren gehe, tun mir gut. Deshalb mache ich sie regelmäßig. Möglichst alle paar Tage. Manchmal fast jeden Tag. Für eine Stunde oder zwei nehme ich mir die Zeit dazu. Selten dauern sie länger, gelegentlich werden sie auch etwas kürzer. Wie es die Zeit erlaubt und wie das Wetter ist. Ich mache sie das ganze Jahr über. Auch dann, wenn die Witterung nicht so gut ist. Dass ein Gang in den Wald sogar bei schlechtem Wetter reizvoll werden kann, das brachte mir mein Hund bei. Er hatte andere Vorstellungen als ich und war wetterfest. Nur zu viel Nässe mochte er nicht. Wenn wir in einen kräftigen Regen gerieten, drängte er nach Hause. Nun sind Spaziergänge bei jedem Wetter nichts Besonderes. Auch nicht, wenn man sie im Wald macht. Wodurch wird der Waldspaziergang zu Shinrinyoku? Das muss man erfahren. Verordnen lässt es sich nicht.

Wie Waldgänge am besten gelingen, muss jeder selbst herausfinden. Meine Art wird nicht für alle passen oder gar so etwas wie ideal sein. Wir Menschen sind verschieden, sehr verschieden. Dennoch verhalten wir uns keineswegs so individuell, wie es der Einzigartigkeit eines jeden von uns entspräche. Das Bedürfnis, sich anderen anzugleichen, gemeinsam etwas zu machen, ist sehr ausgeprägt. Bereitwillig werden wir zu Mitläufern. Weil etwas gerade als Trend läuft. Das will ich hier nicht vertiefen. Ich weiß nur zu gut, wie stark der Hang zur Gruppenbildung wirkt und wie er die Beteiligten sich in ihrem Tun angleichen lässt – man denke nur an das Bild von »Japanern auf Europaurlaub«, ein Klischee, sicher, aber auch ein gutes Beispiel für die Macht der Konformität.

Japan ist extrem dicht besiedelt. Es bleibt nicht viel Freiraum zur persönlichen Entfaltung. Daher schätze ich die Möglichkeiten hier in Deutschland, Österreich und überhaupt in Europa, als Individuum zu leben, so sehr. Doch im Wald allzu allein zu sein, ist mitunter auch nicht angenehm. Wie man in den Wald geht, ist ein Problem, das von der Person und den Umständen abhängt. Dafür gibt es kein Patentrezept. Moderne Technik bietet beruhigenden Schutz davor, sich nicht zu verirren, sowie die Möglichkeit, jederzeit Hilfe rufen zu können. Sich zu vergewissern, dass das Handy funktioniert, gehört daher zur wichtigsten Startbedingung für den Waldgang. Allerdings gibt es in Deutschland vielerorts Funklöcher, erstaunlicherweise! Mein Vorschlag, wie Sie die passende Form des Waldspaziergangs finden: Beginnen Sie mit einer kleinen Gruppe, gehen Sie zunächst nicht ganz allein. Und auch nicht auf Pfaden, die sehr einsam sind.

Der Wald sollte jedoch nicht überlaufen sein wie Stadtparks. Wo zu viele Menschen unterwegs sind, verliert er seinen Reiz. Die heil- und erholsame Wirkung geht zurück oder sie kommt erst gar nicht zustande. Um diese aber geht es letztlich. Sonst bleibt der Gang in den Wald ein simpler Spaziergang, ein Wort, das aus dem Lateinischen stammen soll und bedeutet, durch einen Raum zu gehen (spatium ire), was in meinen Ohren etwas zu sehr nach Herumirren klingt. Da ich mich in einem Wald nicht leicht zurechtfinde, will ich ein Herumirren vermeiden. Wo viele Menschen unterwegs sind, kommt man nicht so leicht vom Wege ab. Meine Waldgänge bewegen sich daher möglichst in Zonen, die nicht zu einsam, aber auch nicht zu überlaufen sind. Was das für jemanden persönlich bedeutet, ergibt sich auch aus der Erfahrung. Die Umstände schränken ohnehin meistens stark ein. Wald ist nicht beliebig verfügbar. Wir müssen den Wald besuchen, den unsere Umgebung bietet, wie immer er beschaffen ist.

Die Wälder, in die ich gehe, eignen sich für meine Art von Waldgang besonders gut. Sie sind nicht überlaufen. Die Wege sind übersichtlich genug.

Ich kann Rundwege gehen. Außerdem unterscheiden sich die Wälder meiner Umgebung in Südostbayern sehr stark voneinander. Es gibt Fichtenhochwald, Buchenhochwald und Mischwald im Staatsforst und in Privatwäldern. Hinzu kommen wildwüchsige Hang- und Schluchtwälder und die Auwälder am Fluss. Mit diesen Möglichkeiten kann ich meine Waldgänge abwechslungsreich gestalten. Von Tag zu Tag und im Jahreslauf, ganz nach Belieben. Das ergibt sich aus den nachfolgenden Schilderungen. Sie sollen charakterisieren, wie ich die Wälder und das Leben in ihnen in all den Jahren aufgenommen habe. Vielleicht lässt sich daraus bereits ganz unmittelbar nachvollziehen, warum mir die Waldgänge guttaten.

Die freie Zugänglichkeit der Wälder in Deutschland ist etwas Großartiges. Sie bedeutet aber, dass höchst unterschiedliche Lebensstile und Vorstellungen von Nutzung und Erholung in der Natur – etwa die von Förstern, Jägern oder Radfahrern – mitunter ganz heftig aufeinanderprallen. Das lässt mich manchmal am Individualismus, wie er in Europa herrscht, doch ein wenig zweifeln. Aus diesen Konflikten heraus verstehe ich, warum der Waldgang der Japaner, ihr Shinrinyoku, anders ist als seine Übertragung auf die europäischen Verhältnisse. Am liebsten hätte ich natürlich das Beste von beidem. Doch das ist ein unrealistischer Wunschtraum. Also strebe ich nach so guten Waldgängen, wie es die Umstände gerade zulassen. Vielleicht, so die Hoffnung, wird man dafür bald bessere Bedingungen schaffen, weil Shinrinyoku gesund ist und der Gesellschaft nützt.

Was ist Shinrinyoku?

Shinrinyoku, das häufig unnötigerweise getrennt geschrieben wird, ist Japanisch und bedeutet, wie oben angemerkt, wörtlich übersetzt Waldbaden. Diese Übertragung verwirrt eher, als dass sie klärt. Betrachten wir den japanischen Ursprung genauer, dann wird deutlich, dass Baden im umgangssprachlichen Sinne nicht gemeint ist. Shinrinyoku gibt es in Japan offiziell erst seit 1982. Es handelt sich also keineswegs um ein traditionelles Verfahren, sondern um eine Neuentwicklung.

Die Anregung dazu kam aus Deutschland. Folgendes hat sich zugetragen: Ein japanischer Forstwissenschaftler, Professor Murao Koichi 村尾行一 erkannte bei seinem mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland in den 1970er Jahren neben der forstwirtschaftlichen auch die Bedeutung des Waldes für Gesunderhaltung und Erholung. Nach seiner Rückkehr regte er beim obersten Chef für Wald- und Forstwirtschaft im japanischen Landwirtschaftsministerium Akiyama Tomohide 秋山智英 die Nutzung der japanischen Wälder für Erholung und Rehabilitation an. Im Jahre 1981 veröffentlichte dann der Biometeorologe Professor Kamiyama Keizo 神山恵三 in einer japanischen forstwissenschaftlichen Zeitschrift den Artikel »Rätsel des Waldes«. Darin schrieb er auch über die Phytoncide genannten Wirkstoffe, die von den Bäumen abgegeben werden und sich günstig auswirken sollen auf die Gesundheit der Menschen. Wir nehmen sie als aromatisch riechende Substanzen wahr. Sind ihre Mengen in der Waldluft gering, bemerken wir nichts davon. Aber sie wirken dennoch. Als Phytoncide hatte bereits 1928 der russische Biochemiker Boris P. Tokin diese Stoffe bezeichnet, die gegen Mikroben wirken. Wir empfinden sie als Aromastoffe und schätzen sie entsprechend, ohne uns dabei bewusst zu machen, was sie bewirken (können).

Ob Lavendel oder Fichtennadelöl, Eukalyptus oder Minzduft, all diese Stoffe bilden eine Art chemische Schutzatmosphäre um die Pflanzen, die sie absondern. In diesen Schutzschild hinein begeben wir uns beim Waldgang.

Der Biometeorologe Professor Kamiyama stellte umfangreiche Messungen zu ihrer Wirkung auf die Menschen an. Er hatte bereits im Jahr 1980 mit P. Tokin zusammen ein Buch darüber veröffentlicht. So untersuchte er die Reaktionsfähigkeit von Mäusen in Käfigen ohne oder mit aromatischen Blättern und prüfte die Waldluft mit Aktivkohle. Sein Ziel war es, die Wirkung des Waldes auf den menschlichen Organismus medizinisch genauer zu erforschen. Und zwar nicht nur auf Kranke, sondern speziell auch auf gesunde, aber unter dem Stress des Alltags stehende Menschen. Die mit der sprichwörtlich japanischen Gründlichkeit durchgeführten Untersuchungen zeitigten erstaunliche Erfolge.

Akiyama Tomohide, der oben genannte oberste Forstchef, nahm die Anregung auf, die sich im seltsamen Titel »Das Rätsel des Waldes« des Biometeorologen versteckte, und machte 1982 das »Waldbaden« mit der neu geprägten Bezeichnung 森林浴, Shinrinyoku, in den Medien publik (z.B. über die große Zeitung Asahi).

Yoku bedeutet nicht nur baden, sondern meint auch heilen. Enthalten ist dieser Begriff in den Bezeichnungen für Sonnenbad Nikkoyoku und Sandbad Sunayoku. Bad und baden als Heilmethode findet sich in den ältesten japanischen Schriften als »Kojiki« seit Anfang des 8. Jahrhunderts. In »Fudoki«, den Berichten über Natur und Geologie, sind Heilquellen für sechzig japanische Provinzen angeführt, darunter auch zahlreiche vulkanische Quellen und Aschelager. Baden dient daher generell in Japan nicht nur der Körperreinigung, sondern mehr noch der Entspannung und Gesunderhaltung. Deswegen wurde Shinrinyoku rasch als vorbeugende Therapie gegen Stress und zur Verbesserung von Atmung und Kreislauf offiziell anerkannt und bald auch intensiv von allen Bevölkerungsschichten praktiziert.

Im Februar 1983 erfuhr der Biometeorologe Kamiyama von dem Internisten Yoshinaga Tetsuo 吉永徹夫, der 1958 in Bad Wörishofen gelebt und die Kneippkur kennengelernt hatte, über deren Wirkung. Der Arzt Yoshinaga war gerade dabei, auf seinem Landsitz eine Klinik aufzubauen, in der sodann Shinrinyoku mit Kneippkuren kombiniert wurde. Kamiyama aber fand seine Untersuchungen über die Wirkung der Waldluft in bester Übereinstimmung mit den Kneippkuren. Die Wirkung des Waldes auf den menschlichen Organismus wurde somit nicht nur gefühlsmäßig, sondern mehr und mehr auch wissenschaftlich bestätigt.

Inzwischen hatte der in Japan lehrende chinesische Arzt Dr. Li Qing 李卿 die positiven Wirkungen der von den Bäumen abgegebenen Aromastoffe, den Phytonciden, ebenfalls festgestellt, und ihre Wirksamkeit als Abwehrstoffe genauer untersucht. Ende der 1980er Jahre begann Prof. Miyazaki Yoshifumi 宮崎良文 mit weiteren Experimenten und Messungen mit modernen Analysegeräten, wie die Messung des Stresshormons Cortisol im Speichel und der präfrontalen Gehirnaktivität über Nahinfrarotspektroskopie.

Nachdem »Die Rätsel des Waldes« 1983 auch als Buch erschienen war, stieß der Lehrer Iwao Uehara 上原 巌 auf den Kern des Shinrinyoku-Ansatzes. Das Buch enthält bereits einen Artikel, der für Shinrinyoku in Deutschland Bad Wörishofen mit den Kneippkuren als besonderes Beispiel behandelt. Höchst beeindruckt davon entschloss er sich, seinen Beruf an einer landwirtschaftlichen Fachschule aufzugeben. Denn er war mit seinen Schülern oft in den Wald gegangen, um sie dort in schwierigen Situationen zu beraten, anstatt nur im Klassenzimmer zu sitzen. Die Schüler, so sein Eindruck, wurden dadurch aufgeschlossener. Ihre Aggressivität nahm ab. Doch es gelang ihm nicht, die Waldwirkung konkret zu fassen. Also ließ er sich das zustande gekommene Pensionsgeld auszahlen, fuhr damit nach Europa, abermals nach Bad Wörishofen, und studierte dort intensiv die Kneippkuren, vor allem die Gänge in den Wald. Mit seinen Erfahrungen und umfangreichen Unterlagen begründete er einen neuen Zweig der Umweltwissenschaften an japanischen Universitäten, machte seinen Magister und Doktor in diesem Fach und entwickelte Shinrinyoku systematisch weiter zu Shinrinryohou, der Waldtherapie. Die Forstbehörden hatten großes Interesse daran, weil die gesundheitsfördernde Wirkung den Wald stark aufwertete.

Die Zeit war günstig. In der Hektik des japanischen Lebens war deutlich geworden, dass die westliche, auf spezifische Erkrankungen ausgerichtete Medizin die zunehmenden gesundheitlichen Probleme nicht lösen konnte. Auch Ärzte und Psychologen wiesen darauf hin, dass viele Erkrankungen von Stress ausgelöst wurden. Sie nahmen in den Städten, insbesondere in den Mega-Städten, in beängstigender Weise zu. Tokio, schon im 19. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt, wuchs weiter. Gegenwärtig leben mehr als 38 Millionen Menschen in dieser gigantischen Metropole, in der es weder Slums noch Schmutz gibt. Eine solche Zusammenballung von Menschen war auf Dauer nur möglich durch striktes Befolgen von Regeln, durch höchste Präzision in den tageszeitlichen Abläufen, auch im Verkehr mit besonderer Pünktlichkeit, und durch eine umfassende Rücksichtnahme aller auf alle. »Der Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen«, heißt es in Japan. Diese Haltung drückt treffend den Zwang zur Angleichung aus. Das äußerlich reibungsarme Zusammenleben der Menschen erzeugt aber viel inneren Stress. Dagegen vorzugehen wurde zum Gebot der Zeit, als sich das japanische Wirtschaftswunder seinem Ende zuneigte und die Lebensqualität auf hohem Niveau stabilisiert werden sollte.

Die japanischen Ärzte suchten daher nach ergänzenden Alternativen zur westlichen Medizin, die sie selbst global in eine Spitzenposition gebracht hatten. Das drückte sich auch darin aus, dass es seit 1987 je fünf Medizinnobelpreise für Japaner sowie für Deutsche gab. Alternative Medizin, das beinhaltete auch den Rückgriff auf die alte, traditionell ganzheitliche Behandlung. Die von Professor Kamiyama zusammengefassten Befunde zur gesundheitsfördernden Wirkung der Waldumwelt wurden daher nicht bloß von irgendwelchen Randgruppen beachtet, die ohnehin einen andersartigen Lebensstil anstrebten. Denn Stress betraf und betrifft fast jeden. Auch die jungen Leute. Diese sogar ganz besonders, weil es für sie immer schwerer wurde, in der alternden japanischen Gesellschaft eine angemessene Position zu erlangen. Die Lage war in den 1980er und 1990er Jahren in Japan also derjenigen vergleichbar, die wir gegenwärtig in Deutschland haben. Die Botschaft, die der Forstwissenschaftler Professor Murao und der Biometeorologe Professor Kamiyama über die Forstbehörden höchst erfolgreich verbreitete, und die von Professor Uehara in der Praxis umgesetzt wurde, lautete schlicht: Geht in die Natur hinaus, zur Vorbeugung vor Erkrankungen!

Aber wie effizient ist Shinrinyoku wirklich für Körper und Geist? Wirkt es nur kurzfristig, oder lässt sich eine anhaltende Wirkung erzielen? Inzwischen ist bewiesen, dass die Wirkung längere Zeit anhalten kann. Uehara propagierte, dass nicht erst Erwachsene, sondern möglichst schon die Kinder in den Wald gehen sollten. Die deutsche Erfindung des ›Kindergartens‹, die als Begriff nicht nur direkt ins Englische, sondern sinngemäß in viele Sprachen übernommen worden ist, bot sich dafür geradezu an. Doch die Erfolge blieben bescheiden. Waldkindergärten sind in Japan wie in Deutschland nach wie vor Raritäten. Uehara setzte Waldtherapie zudem für die Behandlung geistig Behinderter ein. Der Bezug zur Natur bildet dabei stets Grundlage und Ausgangsbasis für die Entwicklung ganzheitlicher Konzepte. Dies betonte er erneut bei einem Kongress zur Waldtherapie im September 2017, der in Heringsdorf auf Usedom stattfand.

Der Rückbezug auf die Natur fand aus zwei Gründen leichter Eingang in die japanische Gesellschaft als das westliche Gaia-Konzept, das die Erde als Gesamtorganismus darstellt. Der erste Grund liegt in der traditionellen, wenig bis gar nicht von konfessionell-religiösen Denkweisen beeinträchtigten Verbindung der Japaner zur Natur. Diese wird symbolisch vertreten durch die Sonnengöttin Amaterasu 天照大神, die höchste Gottheit im Shintoismus. Eine kategorische Trennung von Mensch und Natur, wie im westlichen Denken, liegt den Japanern, wie generell den Ostasiaten, fern. Sie tun sich auch schwer mit der christlichen Denkweise, die von vornherein alles in »gut« oder »schlecht« trennt und die Natur, auch die Natur der Menschen, zumeist auf die Seite des Bösen rückt. Japaner betrachten die Natur sehr respektvoll. Sie haben Ehrfurcht vor ihr und ihrem Wirken. In Japan beherrscht seit alten Zeiten ein friedvoller Glaube mit demütiger Haltung und Gesinnung den Umgang mit der Natur. Entstanden ist er im Gebirge. Man nennt ihn Sangaku-Shinkou 山岳信仰. Umgeben von Natur und den Wald als Altar empfunden, wird Wohlgefühl erweckt. Man spürt demütig Dankbarkeit, die sich zu einem tiefen Glücksgefühl steigern kann. Mit der Natur als Quelle allen Lebens fühlen sich die Menschen verbunden, ohne gleich mystisch zu werden. Dieser Andachtsmoment, diese Andachtshaltung, die aus europäischer Sicht meist für Naturreligion gehalten wird, ist in Japan seit je her vorhanden. Im Shinrinyoku fließen daher die körperlichen und die geistigen Wirkungen zu einer Einheit zusammen.

Der zweite Grund ergibt sich aus der Bewaldung der japanischen Inseln. Wald bedeckt rund 70 Prozent der Landfläche, hat also einen mehr als doppelt so hohen Anteil wie in Deutschland. Von zwangsläufig waldlosen Regionen wie im Großraum Tokio abgesehen, ist Wald also fast überall in Japan in der Nähe der Städte und Ortschaften vorhanden. Häufig reicht er bis unmittelbar an den Rand der Orte. Das Land ist dünn besiedelt, die Städte sind dementsprechend dicht bebaut. Das Zusammenleben der Menschen gestaltet sich zwangsläufig viel enger als es den durchschnittlich 336 Menschen pro Quadratkilometer in Japan entspricht. In Deutschland sind es mit 231 Menschen pro Quadratkilometer ein Drittel weniger, rechnen wir die Zahl der Menschen allerdings so um, dass die Waldflächen (und damit auch die nicht direkt besiedelten Berge) ausgenommen werden, steigt die Siedlungsdichte für Japan auf fast 1100 Menschen pro Quadratkilometer. Das sind dann schon Großstadtverhältnisse.

Die Methodik und das Gedankengut der Kneippkuren ließen sich in Japan aus diesen beiden Gründen am besten mit Gängen in die Wälder umsetzen. Atem- und Konzentrationsübungen in der Waldesstille wurden zur Intensivierung der Therapie hinzugefügt. Sie sollten bewirken, dass in der begrenzten Zeit, die den Japanern für Shinrinyoku zur Verfügung steht, eine größtmögliche Wirkung erzielt wird. Wiederum reichen die speziellen Übungen weit zurück. Entwickelt wurden sie von zwei buddhistischen Mönchen namens Saichou 最澄 und Kukai 空海. Nach umfangreichen Studien in China hatten sie im 9. Jahrhundert ein Waldkloster gegründet. Körperliche Betätigungen mit meditativer Konzentration im Wald bildeten einen maßgeblichen Teil ihrer täglichen Übungen. Die aus Deutschland mitgebrachte Kur ließ sich mit dieser historisch-japanischen Wurzel bestens vereinigen.

Shinrinyoku ist eine Präventivmedizin. Sie soll die Anforderungen des täglichen Lebens ausgleichen. Wenn man in den Wald eintaucht, bewegt man sich daher nicht in Eile, sondern in kontemplativer Muße. Unsere Gedanken treten zurück. Die Wahrnehmung richtet sich auf den Wald. Die Sinne öffnen sich für die Außenwelt und nehmen Geschehnisse wahr, die sonst ausgeblendet bleiben. Das damit verbundene, aktive Empfinden der eigenen Sinne, nicht nur des Sehens, sondern auch des Hörens, Riechens und Fühlens, erzeugt ein besonderes Wohlgefühl. Die Wahrnehmung des Waldes im Shinrinyoku kehrt gleichsam die meditative Konzentration nach außen. Sie richtet sich nicht nach innen wie beim Yoga. Beide Formen führen auf ganz unterschiedlichem Wege zu innerer Ruhe. Der Wald kann seine Wirkungen nur entfalten, wenn wir dies zulassen. Shinrinyoku als mentale Ergänzung zum körperlichen Fitnesstraining entwickelte sich in den modernen Hochleistungsgesellschaften rasch zu einem globalen Trend mit Schwerpunkt in Japan, Korea und China. Zahlreiche Varianten entstanden, darunter auch stark esoterisch ausgerichtete. Das japanische Original wie auch meine persönliche Version, die ich in diesem Buch darlege, haben mit Esoterik jedoch nichts zu tun.

Wie Shinrinyoku praktiziert wird

Innerliche Ruhe, Gemächlichkeit in der Bewegung und Stressvermeidung sind die besten Voraussetzungen für das Genesen. Zu Recht gelten sie auch als wichtige Vorbeugung vor Erkrankungen. Bewegung in der frischen Luft ist die beste Medizin! Um welche »frische Luft« es sich dabei handeln soll, davon gleich Genaueres.

Viele Japaner praktizieren Shinrinyoku. Sie tun das zumeist in der Gruppe (wie bei Japanern üblich), nach festgelegtem Zeitplan und unter guter Anleitung, oft auch begleitet von medizinischer Betreuung. Die Ärzte orientieren sich dabei im Grunde seit dem 19. Jahrhundert an deutschen Verhältnissen bzw. an solchen, die sie für diese halten: »Gesundheit ist Pflicht für jeden Bürger!« Deutschland wird als Waldland angesehen und den Deutschen eine besondere Beziehung zum Wald zugeschrieben. Auch die deutsche »Nachhaltige Waldwirtschaft« gilt in Japan als nachahmens- und erstrebenswert.

Wie oben bereits betont, wird Shinrinyoku in Japan nicht als esoterische Übung praktiziert. Vielmehr gilt die aktive Betätigung im Wald schlicht als ein Mittel, die Gesundheit zu erhalten oder zu fördern, und zwar durchaus im Sinne einer ganzheitlichen Medizin über das Zusammenwirken von Geist und Körper. Das entspricht der altgriechischen Auffassung vom »gesunden Geist im gesunden Körper«. Bereits im 5. Jahrhundert vor der Zeitenwende hatte Herodicus von Selymbria die körperliche Bewegung in der Natur zur Gesunderhaltung verordnet. Hippokrates führte das Konzept in die wissenschaftliche Medizin jener Zeit ein. Es gehört also zu den Urerfahrungen der Menschen, nachdem sie das städtische Leben begonnen hatten. Doch wie so viel gutes Wissen musste auch dieses immer wieder neu entdeckt und den Verhältnissen der jeweiligen Zeit angepasst werden.

Die Wirkweisen des Shinrinyoku

1  Die im Wald von den Bäumen und/oder dem Boden (von Pilzen) abgegebenen Stoffe, wie ätherische Öle, Terpene und andere Aromastoffe, werden über Lunge und Haut aufgenommen. Sie verbessern die Wirkung der Atmung, und zwar umso mehr, je größer die Oberfläche ist, über die diese Aromastoffe in den Körper gelangen können. Da dieser beim Schwitzen Wasser, Salze und anderes von innen nach außen verfrachtet, kann die Haut beim sportlichen Waldlauf weit weniger davon aufnehmen als bei ruhigem Gehen. Die größte Wirkung wird im Sommer mit viel freier Haut erzielt. Das beim üblichen Sonnenbaden nötige Einschmieren mit Sonnencreme verschließt jedoch die Hautporen. Im Waldschatten braucht die Haut keinen derartigen Schutz. Die Aufnahme von ätherischen Ölen und anderer Pflanzenstoffe über die Haut entspricht medizinisch der Einnahme sogenannter Spurenstoffe beim Essen und Trinken, also den Spurenelementen in der Nahrung und den Mineralstoffen im Trinkwasser. Wie intensiv unser Körper selbst Stoffe über die Haut abgibt, verrät indirekt der Spürhund, wenn er dank seiner besonders leistungsfähigen Nase dem Weg, den ein bestimmter Mensch genommen hat, noch lange gezielt zu folgen vermag. Auch wenn schon Stunden vergangen sind. Im Wald öffnen sich die Poren der Haut für das Eindringen von Spurenstoffen schneller und leichter als in der Stadt oder draußen auf den (mit Giften behandelten) Fluren, weil die in der Waldluft enthaltenen Aromastoffe anregend wirken. Senkung von Blutdruck, Abbau von Cholesterin im Blut, Kräftigung und Stabilisierung der Herztätigkeit sind Folgen dieser Gesamtwirkung auf den Körper. Die Menge des Stressstoffes Cortisol geht zurück. Das Immunsystem wird gestärkt. Viele Befunde deuten darauf hin, dass Terpene von den (Nadel-)Bäumen die Killerzellen im körpereigenen Abwehrsystem anregen. Dass sie Bakterien töten oder zumindest deren Vermehrung im Körper in Schach halten können, ist schon lange bekannt. Bei der Behandlung von Atemwegsinfektionen werden Aromen genutzt wie in der Sauna mit Latschenkiefer- oder Fichtennadelöl. Solche Stoffe werden Phytoncide genannt. Die Bezeichnung drückt aus, dass es sich um Pflanzenstoffe (Phyto-) handelt, die Krankheitserreger töten (-cide). Ob auch das sogenannte Anti-Krebs-Protein LHPP zunimmt, wie von manchen Richtungen der (esoterischen) Alternativmedizin angenommen wird, bleibt offen (und wird in Japan offenbar auch nicht besonders thematisiert). Schmerzlindernd sind die Terpene für die meisten Menschen jedenfalls. Durch medizinische Messungen nachgewiesen sind die Abnahme des Stressstoffes Cortisol im Speichel und von Adrenalin, die Entspannung der Gehirnaktivität im Bereich des Stirnlappens (präfrontaler Cortex) und damit verbunden die Senkung des Blutdrucks. Offenbar angeregt wird das sogenannte parasympathische Nervensystem, das für die autonomen Regulierungen im Körper verantwortlich ist. Beispielsweise wird verstärkt Cholesterin abgebaut. Ausführlich hat dies alles Prof. Miyazaki in seinem auch auf Deutsch erschienenen Buch über Shinrinyoku zusammengestellt. Auf die umfangreichen Befunde stützt sich die offizielle staatliche Anerkennung von Shinrinyoku als Vorsorgemaßnahme.

2  Diese physischen Wirkungen ergänzt der psychische Bereich. Gelingt es beim Waldgang – was nicht leicht fällt, sondern gelernt und trainiert werden muss – die Gedanken vom Tagesgeschehen und von den bevorstehenden Aufgaben frei zu machen, damit sich das Bewusstsein auf das konzentriert, was die Sinnesorgane vermitteln, dann ist der entscheidende Wechsel vollzogen. Denn nun bestimmt nicht mehr all das unser Denken, was Stress und Belastung verursacht, sondern die Natur um uns herum. Sie kann wirken. Das Ausschalten der inneren Unruhe, die von unseren Gedanken ausgelöst wird, eröffnet erst die vielfältigen Möglichkeiten, das Leben wahrzunehmen, das uns im Wald umgibt. Dazu gehören auch die höchst unterschiedlichen Eigenrhythmen der Lebewesen. Sie reichen von den scheinbar nur ruhig dastehenden Bäumen bis zum Umherflitzen von Insekten, von beruhigend leisen Tönen, die sich kaum zuordnen lassen, bis zu hervorquellendem Gesang von Vögeln. Das Gehör und auch der Tastsinn beim Berühren der Pflanzen gewinnen Einfluss auf uns. Sie drängen das ansonsten dominante Sehen zurück. Über die Benutzung der elektronischen Medien wird in unserer Zeit jedoch gerade das Auge extrem strapaziert (Smartphone, Facebook, PC-Arbeit). So können – überraschenderweise – beim Waldgang die Augen auf angenehme Weise ausruhen, auch wenn weit mehr bewusst gesehen und betrachtet wird als ansonsten üblich. Das geschieht, weil die Konzentration auf das Virtuelle vollkommen wegfällt und ersetzt wird. Den Zustand, der so erreicht wird, nenne ich nach außen gerichtete Meditation. Um diese Alternative zur üblichen Meditation, die sich nach innen richtet und das Abschalten der Einwirkungen von außen zum Ziel hat, geht es (mir) ganz besonders. Wie entspannte Aufmerksamkeit genau funktioniert und welche Früchte sie im Laufe des Jahres tragen kann, darum geht es in Teil II des Buches.

3  Ein idealer Beginn für die heilsamen Waldgänge wäre der Waldkindergarten. Denn so lange der Körper noch stark wächst, nimmt er besonders viel aus der unmittelbaren Umwelt auf. Schadstoffe wie Schutzstoffe. Es gehört zu den Paradoxien unserer Zeit, dass Kinder davon abgehalten werden, sich im Wald aufzuhalten und zu betätigen, weil sie vor seinen Gefahren geschützt werden sollen. Dass man ihnen damit das Gute des Waldes vorenthält und sie für ihr Leben schädigt, will die auf extreme Sicherheit bedachte Gesellschaft nicht wahrhaben. Vermeintlicher Schutz wird so zur nachwirkenden Bedrohung. Dass ich bei meinen vielen Waldgängen so gut wie nie Kinder angetroffen habe, kann ich nur als Irrweg unserer Gesellschaft bezeichnen. Bezeichnenderweise mutierte der Kindergarten zur Kita. Mit welchem Recht wird geklagt, dass die Kinder nur noch am Smartphone hängen und in ihrer virtuellen Parallelwelt leben, wenn man ihnen die echte vorenthält?

Warum in den Wald?

Wer den Duft von Heide, von frischem Heu und von blühenden Wiesen kennt, wird fragen, »muss es denn der Wald sein?« Könnten, ja sollten wir nicht einfach auf die Fluren hinausgehen, wo wir mehr Sonne bekommen als im Wald? Bietet der Stadtpark nicht auch Ähnliches? Ja, Park und Flur haben auch einiges zu bieten, doch unsere Nase zeigt uns an, dass etwas faul ist: Wir riechen die Gülle, die auf Deutschlands Fluren alljährlich in der kaum vorstellbaren Menge von 310 Milliarden Litern verteilt wird. Sie stinkt nicht nur zum Himmel, sondern überall hin bis weit in die Ortschaften hinein. Nur in Großstädten und in entsprechend großen Wäldern bekommen wir kaum noch etwas ab vom Güllegestank und seiner gewiss nicht gesundheitsfördernden Wirkung. Autoabgase, Reifen- und Straßenabrieb belasten wiederum sowohl am Rand von Parks, ähnlich wie auf dem Land die Luft. Die brisante Problematik der vom Autoverkehr verursachten Feinstaubbelastung in den Städten ist gegenwärtig in aller Munde, doch auch auf dem Land ist die sprichwörtliche gute Luft selten geworden.