Über das Buch

Die Welt der Nachkriegsjahre ist eng und spießig. 1960 verschlägt es Wolli Köhler nach Hamburg. Der junge Mann aus dem Nirgendwo sucht nach Abenteuer und Freiheit. Im Lichtermeer von St. Pauli ziehen Nacht für Nacht Huren, Freier, Transvestiten, Schläger und Künstler wie die noch völlig unbekannte Band The Beatles, aufgeputscht von Drogen und Alkohol, durch die heruntergekommenen Straßen. Sie alle treibt die Sehnsucht nach einem grenzenlosen Leben.

Rocko Schamoni

Große
Freiheit

Roman

hanserblau

FÜR WOLLI UND LINDA

DANK Joska Pintschovius und Iris Schoof, Günter Zint und Eva Decker, Ulf Krüger, Gerd Kroske, Peggy Parnass, Chinesen-Babs, Ikke Braun, Jan-Frederik Bandel, Lars Mahnke, Hans Hellner, Carsten Hellberg, Dorle und Lenja Bahlburg – ohne euch hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.

HUBERT FICHTE Können Sie mir sagen, wie Ihre Revolution aussehen soll?

JEAN GENET Nein. Denn wenn ich ehrlich bin, liegt mir gar nichts daran, daß eine Revolution stattfindet. Die aktuelle Situation, die augenblicklichen Regime erlauben mir die Revolte. Die Revolution würde mir wahrscheinlich keine individuelle Revolte gestatten. Ich kann dagegen sein. Wenn eine wirkliche Revolution stattfände, könnte ich nicht dagegen sein. Ich würde ein Anhänger dieser Revolution werden. Ein Mann wie ich ist kein Anhänger von irgendwas. Ich bin ein Mann der Revolte. Mein Standpunkt ist sehr egoistisch. Ich möchte, daß die Welt sich nicht verändert, damit ich mir erlauben kann, gegen die Welt zu sein.

HANDELNDE

Wolfgang »Wolli« Köhler – Junge aus Waldheim

Duke – Kleindealer

Gunda – Studentin

Martina – Studentin

Onkel – Hehler und Kleinkrimineller

Fiesel – Obdachloser

Manfred Weissleder – Gastronom

Karl Meier – Geschäftsführer von Weissleder

Lianne – Karls Frau

Mauli – Hure und Wollis Geliebte

Cartacala – Transvestit

Chinesen-Babs – Barbetreiberin

Hoddel Fascher – Veranstalter

Schweine-Hans – Schläger

Ochsen-Harry – Spieler

Ikke Braun, Astrid Kirchherr, Jürgen Vollmer,
Klaus Voormann – Gang um die Beatles

Amtmann Falck – Leiter des Hamburger Ordnungsamtes

Hubert, der Bärtige – Schreiber

Cäsar – Künstler

Reimar Renaissancefürstchen – Drogenspezialist

Wilhelm Prinz von Homburg aka Norbert Grupe – Boxer

René Durand – Maître de Plaisir

Willi Bartels – Geschäftsmann

Im Jahre 1650 gewährt Friedrich der Dritte, König von Dänemark und neuer Herr über Altona, einer spärlich bebauten Gegend, die im Niemandsland zwischen den Städten Altona und Hamburg liegt, Religionsfreiheit. Zugleich befreit er die dortigen Einwohner vom Zunftzwang und spricht ihnen das Recht zu, vor Ort jedwede Art von Handwerk ausüben zu dürfen. Die zentrale Straße dieser Gegend erhält daher den Namen »Große Freiheit«. Um diese Straße herum siedeln sich in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Menschen an, die in der ansonsten streng protestantischen Stadt Hamburg keine Heimat finden: Angehörige verschiedenster Religionen wie Katholiken, Mennoniten, Calvinisten, Wiedertäufer, Herrnhuter und viele andere teilen sich dieses Areal mit Handwerkern, die frei und nicht nach den Regeln der Zünfte arbeiten wollen. Auch die Betriebe, die aufgrund ihrer Lautstärke oder Geruchsentwicklung außerhalb der Stadtmauern bleiben müssen, finden hier ihre Heimat: Werften, Ölmühlen, Gerbereien, Tranbrennereien, Reepschläger und Seilmacherbetriebe; sogar ein Pesthof, in dem Seuchenkranke und Irre untergebracht sind, wird hier errichtet. Vom regen Treiben dieser nicht bürgerlichen Berufe angezogen, siedeln sich ab dem 18. Jahrhundert immer mehr Schankstuben, Tanzlokale, Speisewirtschaften und Spelunken an. Durch die Ströme der fahrenden Handwerker, der Matrosen und der Schausteller prosperiert die Prostitution.

Zu dieser Zeit wird St. Pauli »Hamburger Berg« genannt, weil es auf den Hügeln vor den Toren der Stadt liegt (Einheimische sagen daher »auf St. Pauli«, nicht »in«). Anfang des 17. Jahrhunderts werden die Hügel abgetragen, um von den Festungswällen ein freies Schussfeld (»Glacis«) zur Abwehr von Angriffen zu haben. Die 1682 erbaute und später zerstörte katholische St.-Pauli-Kirche auf dem Pinnasberg gibt 1833 dem Quartier seinen Namen.

Ende des 19. Jahrhunderts wird Altona, die dänische Stadt, die ihren Namen trägt, weil sie den Hamburgern »All zu nah« erscheint, zur Heimat von über 4000 französischen Emigranten, die vor der französischen Revolution flüchten mussten. Viele von ihnen landen aufgrund ihres katholischen Glaubens in der Großen Freiheit.

In der Großen Freiheit Nummer 11 gibt es ab 1750 ein »königliches Lottohaus«, also den ersten Spielsalon des schnell wachsenden Stadtteils. In jener Nummer 11 eröffnet ein chinesischer Emigrant 1929 das »Varieté Neuchina«, es ist die große Zeit der Ballsäle, und das Publikum strömt in Massen in das exotische Varieté.

Am 13. Mai 1944 wird der gesamten kleinen »Chinatown« in St. Pauli durch die Gestapo ein blutiges Ende gesetzt.

1950 wird in der Nummer 11 das »Klein-Paris« eröffnet, das mit Striptease-Shows eine neue Freizügigkeit auf St. Pauli einführt. In Freierkreisen gilt der Laden als »Bar mit Fickmöglichkeit«.

Im Vorderhaus gibt es über dem Klein-Paris zwei Stockwerke, die ab 1966 von Wolfgang »Wolli« Köhler, dem außergewöhnlichsten Puffboss in der Geschichte St. Paulis, bewohnt wurden. Dies ist seine Geschichte.

1950 haut Wolfgang Köhler von zu Hause ab. Morgens um fünf hat er seine Sachen gepackt, ist über die Hauptstraße vor dem Haus gelaufen und hat den Bus nach Chemnitz genommen. Ist vorbeigefahren an Vaters Schlossereibetrieb, nie wieder in diese verdammte graue Garage. Das nervige Geschrei vom Alten, der Kommisston der Gesellen – los, Wolli, hol ma Bier für die Belegschaft, Wolli, wisch das Schmieröl weg, Wolli, Werkstatt fegen, der Kleinste macht den Dreck weg. Schon lange denkt er über diesen Ausbruch nach.

Vorbei an dem Gefängnis, dem riesigen Knast im Herzen Waldheims, dem größten Zuchthaus Sachsens. Da wo andere Städte das Rathaus und den Marktplatz haben, da hat Waldheim den Knast. So, als ob man sein Leben lang darauf hinarbeiten würde, endlich in den Kern der Stadt vorzudringen, in dem man dann für immer bleiben müsse. Aus dieser Stadt kommst du nicht lebend raus, es sei denn, du machst dich rechtzeitig aus dem Staub.

Als das Stadtschild im letzten Dunkel der Nacht hinter ihm zurückbleibt, wird er ruhiger, bald schon geht die Sonne auf.

Wolli schlägt sich durch. Schläft in Chemnitz in einer alten Schrebergartenhütte. Er teilt Zeitungen aus. Kellnert ein paar Tage in einem Café. Bei den Eltern meldet er sich nicht, er will es allein schaffen. Im Erzgebirge schuftet er unter Tage im Wismut-Bergbau der Sowjets. Sie bauen dort Uran ab, die Rohstoffbasis für die sowjetische Atomindustrie. Wolli weiß nicht, was Uran ist, es interessiert ihn auch nicht sonderlich. Da er unter Tage nur die bereits abgebauten Hohlräume mit taubem Gestein verfüllen darf, kommt er nicht in Kontakt mit dem Wunderzeugs, das die Kumpels Pechblende nennen. Großartiges Wort, klingt wie ein Schutz aus Pech. Vor was bloß? Die Dunkelheit unter Tage, die harte und trostlose Arbeit schlagen Wolli schnell aufs Gemüt. Eines Tages packt er sein Bündel zusammen und flüchtet erneut.

Es verschlägt ihn nach Berlin. Mit achtzehn Jahren arbeitet er ein paar Monate beim Secret Service, transportiert Informationen zwischen den Kontrahenten der unterschiedlichen Nationen, ist eigentlich ein besserer Laufbursche, bezeichnet sich selbst aber lieber als »Agent«. Er ist gut im »Dinge organisieren«. Wenn es was zu besorgen gilt – Alkohol, Zigaretten, Schokolade, auch Huren –, fragen ihn die Engländer. Da er stets zuverlässig liefert, hat er schnell einen guten Ruf. Und Pillen besorgt er, welche, die wach, andere, die wieder müde machen. Selber nimmt er sie auch gerne. Am besten geht Pervitin. Das bekommt er leicht. Das gibt es zwar auch in der Apotheke, aber nur auf Rezept. Die Engländer stehen drauf, es ist die »Blitzkrieg-Droge«, dank ihr war die deutsche Wehrmacht in den ersten drei Kriegsjahren so überlegen in ihrem Sturm über Europa. Als das Pervitin ab 1942 nicht mehr an die Front kam, brach die Kraft der Truppen ein. Ein ganzes Heer auf Drogen, auf Speed. Ausgerechnet die Deutschen, dieses angebliche Naturvolk, stark und hart und rein. Nichts als ein Witz.

Wolli versteht sich gut mit den Engländern, sie sind nett zu ihm, sie sehen lässig aus, hören gute Musik und trinken die besten Getränke. Bei ihnen probiert er das erste Mal schottischen Whisky, der gefällt ihm ausnehmend gut. Eines Tages wird er beim »Organisieren« erwischt und muss schnellstmöglich den britischen Sektor verlassen.

Er wechselt in die Ostzone, in die noch junge DDR. Als man ihm einen Job bei der Volkspolizei anbietet, lässt er sich zögernd darauf ein. Mit seinen Eltern hat er ab und zu telefonischen Kontakt, und als er der Mutter von dieser Möglichkeit berichtet, ist sie stolz auf ihn, es gefällt ihr noch besser als die Schlosserei, auch der Vater lobt den Jungen. Einen Polizisten hat es in der Familie noch nicht gegeben.

Lang aber geht das nicht gut. Bei der Polizei ist es wie in der Schlosserei: Druck, Zucht, Ordnung, Unterdrückung, Gehorsam, Hierarchien. Er ist wieder das letzte Glied der Kette. Der Unterste. Der Laufbursche. Derjenige, der stets für die langweiligsten Aufgaben abgestellt wird. Vor allem unerträglich öde Büroarbeit. Bald beginnt er, sich aufzulehnen und die Arbeitsaufträge infrage zu stellen. Er weigert sich, die Kopie einer Kopie abzutippen, nur, damit er etwas zu tun hat. Er gerät mit seinen Vorgesetzten aneinander, sie brummen ihm Strafen auf und drohen damit, ihn einzusperren, wenn er die Befehle nicht ausführt.

Eines Nachts nach Dienstschluss setzt sich Wolli in den Westen ab. Er fährt mit dem Zug Richtung Ruhrpott in der Hoffnung, als Kumpel Arbeit zu finden. Immer noch besser als der scheußliche Polizeidienst.

Bald findet er einen Job im Kohlebergbau, in Marl in der Zeche Auguste Victoria. Marl ist eine mittelgroße Stadt in der Nähe von Recklinghausen, sie hat nicht viel mehr zu bieten als den Bergbau und die chemischen Werke der Hüls GmbH. Kultur, Unterhaltung, geschweige denn Nachtleben sucht man hier vergebens.

Wolli bewohnt eine kleine Wohnung in einer Werkssiedlung. Ab und an ein Feierabendbier mit den Kollegen ist sein einziges Vergnügen. Die Zeit vergeht eintönig, Wochen, Monate, schließlich Jahre, und Wolli fragt sich, warum er diese Arbeit macht, dort unten in der heißen, stickigen Dunkelheit, warum er an diesem langweiligen Ort im Nichts lebt, mit einem Job, der ihm die Kraft raubt, die Kraft für alles, was ein Leben zum Leben macht.

Wolli schreibt sich mit seiner Mutter Briefe. Sie bietet ihm an, nach Waldheim zurückzukehren, er müsse ja nicht unbedingt in der Schlosserei bei Vater arbeiten. Aber er kann und will nicht. Zumindest nicht, solange er nicht einen wirklichen Schritt weitergekommen ist. Er spürt ganz deutlich: Er muss mehr einsetzen, mehr wagen.

In einem Chemiewerk füllt Wolli Farben ab. Doch seine Hoffnung auf Erfüllung, vielleicht auch auf eine Form von Aufstieg vergeht schnell. Er ist nicht qualifiziert genug für die »höheren Dienste«.

Mit der Damenwelt versteht sich Wolli gut, er hat wechselnde Freundinnen, mit denen er zwar meist nicht länger als ein paar Monate zusammen ist, aber er ist ein hingebungsvoller, ja versierter Liebhaber, und die Mädchen geben sich ihm gerne hin. Es ist der einzige Bereich, in dem er sich als von Natur aus talentiert empfindet, es wäre doch ein Traum, damit sein Auskommen zu verdienen, nur wie?

Nach einigen Jahren verlässt Wolli das Chemiewerk und schlägt sich mit Jobs durch, arbeitet als Tankwart, in einer Kfz-Werkstatt und als Hundeführer. Allmählich geht er in Marl regelrecht ein. Wie ihm alles fehlt, Luft, Licht, Musik, Kunst, kurzum: die Freiheit.

Im Frühjahr 1960 schließt sich Wolli einem Wanderzirkus an, als Requisiteur und Junge für alles. Der Zirkus bleibt nirgendwo länger als ein paar Wochen. Diese Ziellosigkeit gefällt ihm, rumkommen und etwas vom Land sehen, Abenteuer erleben und sich frei fühlen. Da er beherzt zupacken kann und sich nicht zu schade ist gerade auch für die härteren und unbeliebteren Jobs im Tross, genießt er schnell das Vertrauen der Schausteller. Nach Wolfsburg und Celle gastiert man in Lüneburg, baut das Zelt im Mai auf einer Wiese vor der Stadt auf. Wolli kümmert sich um die Fütterung der Tiere. Sie transportieren drei Lamas, fünf Ponys, ein paar Schlangen und zwei kleine Braunbären, die den tristen Käfigalltag phlegmatisch über sich ergehen lassen. Nur wenn Wolli ihnen am Nachmittag das Fleisch vorwirft, das er in den städtischen Schlachtereien abgestaubt hat, erwachen sie für einen Moment zum Leben. Wolli schläft in einem der Anhänger, in denen das Manegengestühl transportiert wird. Ein alter Holzwagen mit nur einem kleinen Fenster am Heck, in den Wolli seine Matratze legt, rundherum verteilt er seine Bücher.

Nachts, wenn es nichts mehr zu tun gibt, wenn er einsam ist, dann liest er. Camus und Kazantzakis, Jean Genet, der schreibt vornehmlich über Verbrecher, Huren, Zuhälter, Schwule, lauter so Gesindel, Marquis de Sade und Das kommunistische Manifest. Das hat er schon dreimal gelesen. Das Kapital ist ihm zu kompliziert, aber der Kommunismus erscheint ihm grundsätzlich attraktiv. Alle könnten gleich sein. Werden eines Tages gleich sein. Spätestens im Jahr 2000. In den Zeitungen, die er sich morgens aus den Vorgärten fischt, liest er über die Pariser Existenzialisten. Sartre ist überzeugter Kommunist. Seine Geliebte Simone de Beauvoir auch. Angeblich praktizieren sie freie Liebe. Sie imponieren Wolli, weil sie sich für die einfachen Leute einsetzen, für die Entrechteten, die Schwachen, die Randfiguren, die Flüchtlinge, auch die Verbrecher.

Am Nachmittag geht Wolli durch die Stadt mit einem Esel, der ein Schild umgehängt hat: »Helfen Sie unserem Zirkus, die Tiere hungern!« Wolli schämt sich, er mag nicht betteln. Deshalb zieht er sich bei solchen Arbeiten immer besonders gut an. Er bevorzugt einen engen roten Lederblouson, darunter ein schwarzes Hemd mit kleinen gelben Lilien drauf, das er weit aufgeknöpft hat, und ein rotes Tuch um den Hals, die Haare zu einer verwegenen Tolle gekämmt. Dazu trägt er Jeans und spitze, glänzende schwarze Schuhe, alles beste Ware. Die Klamotten hat er sich »besorgt«, auf den Reisen. Und immer eine Kippe im Mund, meistens Reval, manchmal aber auch Roth-Händle. Die Mädchen in der Stadt schauen ihn an, schüchtern, aber er registriert ihre Blicke. Er sieht verdammt gut aus, auch ein wenig gefährlich, wild, fast wie ein echter Star. Wenn Wolli genug Kohle in der Dose hat, kauft er sich erst mal einen Drink. Irgendwas Verwegenes, häufig kreiert er auch eigene Mischungen. Eine Cola mit Persico und dazu ’nen Schuss Genever. Die junge hübsche Bedienung in der Eisdiele mischt ihm den Drink und lächelt ihn verlegen an. Er bietet ihr auch einen an, aber sie lehnt ab.

Im Zirkus gibt’s kaum schöne Frauen. Wolli findet die alle nett, doch sie gefallen ihm nicht. Er steht auf Frauen, die ein bisschen was hermachen, die gut angezogen sind und eine schöne Frisur haben. So wie die Frau vom Chef. Sie hat eine tolle Figur und zieht immer scharfe Kleider an. Manchmal schaut sie ihn so komisch an, kalt und durchdringend. Er weiß nicht, ob ihm dieser Blick gefällt.

Einmal kommt sie ins Zelt, als er die Bären füttert. Wortlos geht sie auf ihn zu, umarmt und küsst ihn. Er ist total erstaunt. Sie aber fasst ihm unter das Hemd, schiebt ihre Zunge zwischen seine Lippen, dann öffnet sie seinen Hosenstall und holt sein Gemächt raus. Wolli spürt gleichzeitig Angst und Wildheit. Er schaut sich um, niemand scheint in der Nähe. Die Bären sind hungrig, sie kratzen mit den Tatzen an den Stäben und murren. Die Frau geht auf die Knie nieder und nimmt ihn in den Mund. Wolli gleitet die Forke mit dem Fleisch aus der Hand. Sein Stöhnen vermischt sich mit dem Murren der Bären. Die Frau steht auf, lehnt sich mit dem Rücken zu ihm an ein paar Strohballen und zieht ihr Kleid hoch. Ihr Hintern leuchtet weiß und voll. Wolli reagiert wie ferngelenkt, er stellt sich hinter die Frau und schiebt ihr sein Ding rein. Dann nimmt er sie schnell und hart. Sie gibt keinen Ton von sich, nur einmal ganz kurz atmet sie sehr tief ein, danach gleitet sie von ihm runter und verlässt das Zelt wortlos, ohne ihn anzuschauen. Wolli sieht der Frau konsterniert nach. Er macht es sich selbst, packt sein Ding ein und kümmert sich um die Bären. Warum hat sie ihn gewählt? Und wird sie es wieder wollen? Er ärgert sich darüber, wie sie ihn behandelt hat. Wie kann sie ihn einfach stehen lassen? So benutzt.

Erst zwei Tage später sieht er die Frau wieder. Sie sitzt vor ihrem Wagen, zusammen mit dem Zirkuschef, und trinkt Kaffee.

»Hey, Kleiner, spring mal los und hol mir zwei Packungen Reval, ja, Schätzchen?«

Ihr Mann hebt den Blick von seiner Zeitung und mustert Wolli abschätzig.

»Dann bring mir doch auch gleich welche mit, ja?«

Alles in Wolli sträubt sich.

»Wie heißt du eigentlich, Junge?«, fragt der Direx. Was für eine Heuchelei. Sie hingegen mustert ihn mit ihrem unergründlichen kalten Blick. Dann verlagert sie kaum merklich ihre Position und spreizt ganz leicht die Schenkel. Dem Chef fällt das nicht einmal auf. Im Gesicht seiner Frau liegt ein Lächeln, minimal und spöttisch.

»Hier hast du Geld, Kleiner.«

Sie wirft ihm einen Zehn-Mark-Schein zu, der trudelt zu Boden. Als Wolli sich bückt, sieht er für eine Millisekunde, dass sie keinen Schlüpfer trägt. Er blickt ihren Mann an. Ist das ein Spiel zwischen den beiden? Ohne ein Wort zu sagen, macht sich Wolli auf den Weg zum Zigarettenladen. Innerlich verflucht er die Frau, er mag es nicht, wenn man mit ihm spielt.

Abends nach der Vorstellung zieht er mit ein paar jungen Männern vom Zirkus durch die Stadt. Sie lassen sich treiben und betrinken sich. Man hat Achtung vor ihnen, sie sind lässiger als die anderen jungen Männer hier, schneidiger angezogen, Männer von der Straße.

Vor einem Puff in einer Seitenstraße bleiben sie stehen und schließen Wetten ab, ob sich einer von ihnen reintraut. Wolli war noch nie im Puff. Er betritt mit einem Freund den Laden, stellt sich an die kleine Bar und bestellt Bier. Der Raum ist ziemlich leer, an den Tischen sitzen ein paar Männer und Frauen, scheinbar in Anbahnungsgesprächen. Eine etwas ältere Frau steuert auf Wolli zu, sie muss schon deutlich über dreißig sein, sie mustert ihn.

»Na, mein Freund, was ist, gibst du mir ’nen Drink aus?«

Wolli bestellt ihr einen Sekt, und sie unterhalten sich. Was er so macht, wo er herkommt, wo er hinwill und so weiter. Ihre spröde, etwas abgebrühte Art gefällt ihm. Sie hat ein hartes, aber irgendwie schönes Gesicht und eine sehr weibliche Figur. Wolli stürzt nervös gleich mehrere Biere. Sie hat bald genug vom Reden.

»Und, kommst du mit mir, oder wollen wir hier weiter unsere Zeit verplempern?«

Ist das herablassend gemeint? Normalerweise muss man lange reden, um eine Frau rumzubekommen, mindestens drei Stunden, ist Wollis Erfahrungswert, drei Stunden irgendwas Sinnloses labern und trinken, dann glauben sie einen zu kennen, und man kann sie ins Bett kriegen. Frauen brauchen immer so Rituale, dabei kommt’s am Ende doch auf das Gleiche raus. Warum also nicht direkt zur Sache kommen?

»Was kost’n das bei dir?«

»Fünfzig Mark, mein Schatz. Für fünfzig Mark hörst du die Engelchen singen, das versprech ich dir.«

Auf einmal ist sie wieder freundlicher zu ihm. Wolli hat noch hundert Mark in der Tasche, seinen gesamten Wochenlohn. Er nickt ihr zu. Sein Freund lächelt ihn neidisch an. Wolli folgt der Frau, den Flur entlang, dann eine Treppe hoch. Ihr Hintern in dem Lederrock scheint genau vor seinen Augen zu schweben, hin und her und hin und her, Wolli wird ganz benommen von dem Bild und dem Gesteige, hin und her und hin und her, er möchte diesen Hintern sofort berühren. Im dritten Stock öffnet sie eine Zimmertür. Das Zimmer ist winzig klein, rote Wände, die von elektrischen Kerzen schummerig beleuchtet werden, ein Waschbecken, ein kleiner Tisch mit Standspiegel und ein großes Bett, das mit einem roten Seidenlaken bespannt ist. Am Kopfende liegen ein paar Stofftiere. Wolli ist aufgeregt.

»So, bitte leg ab und dann erst mal waschen, die Körpermitte, wenn du verstehst, was ich meine, mein Freund.«

Ihr Ton hat etwas Bürokratisches, als ob sie in einer Behörde arbeitet. Sie deutet auf das Waschbecken. Wolli lässt seine Hosen runter und wäscht sich das Gemächt. Er schämt sich wie ein Schuljunge. Als er sich umdreht, ist die Frau immer noch angezogen.

»Möchtest du denn gerne was sehen?«

»Ja klar, wenn’s geht.«

»Gut, dann müsstest du aber noch ’n bisschen was rauflegen.«

Ihr Ton hat so einen Behördensingsang, sie leiert es runter, so als ob sie das schon tausendmal gesagt hat.

»Was?«

»Na ja, für fünfzig Mark kriegst du nur den Grundservice, wenn du Extras willst, musst du rauflegen.«

»Und ausziehen ist ein Extra?«

»Ja, natürlich, was glaubst du denn?«

»Hm, aber ich habe, ehrlich gesagt, nicht viel mehr.«

»Wie viel hast du denn?«

»Siebzig Mark. Is mein ganzer Lohn.«

Sie mustert ihn.

»Gib mal her das Geld. Warst du überhaupt schon mal bei einer Dame?«

Wolli weiß nicht genau, was sie mit Dame meint, also antwortet er nicht, überreicht ihr aber die siebzig Mark. Sie merkt ihm seine Naivität an, vielleicht törnt sie das sogar an, auf jeden Fall lässt sie ihre Kleider fallen und behält nur den BH und die Strapse an. Sie kramt in einer kleinen Schatulle, zieht ihm einen Präser über, legt sich vor ihm aufs Bett und spreizt die Beine.

»Komm, Kleiner …«

Er legt sich zwischen ihre Beine, und sie nimmt ihn in sich auf, dabei behält sie aber die eine Hand immer an ihrem Schritt. Er bewegt sich vor und zurück, schaut sie an, ihre herbe Schönheit brennt sich durch sein Gehirn direkt in die Lenden, aber neben ihrem Kopf liegen die Stofftiere, bewegt er sich nach vorne, sieht er immer wieder einen Teddy, der genau in seine Richtung blickt. Der verdammte Teddy soll weggucken. Er versucht, bei der Vorwärtsbewegung mit der Hand an den Teddy zu kommen.

»Komm, ahhh, schön, ja, mach es mir richtig …«

Es wirkt leidenschaftslos und auswendig gelernt, wahrscheinlich will sie, dass er schnell fertig wird. Der Teddy stiert ihn immer noch an, sein Bauch ist aufgeplatzt, das Stroh hängt raus, außerdem schielen die Augen. Wolli kann sich nicht mehr konzentrieren, ihm vergeht die Lust, sein Ding schwillt ab, und als er sich zurückzieht, bleibt der Präser zwischen den Fingern der Frau hängen.

»Na, was ist denn? Schon durch?«

Sie blickt ihn gleichgültig an.

»Ich weiß auch nicht. Ich kann irgendwie nicht.«

Wie jämmerlich wäre das, zuzugeben, dass er wegen dem blöde schielenden Teddy nicht kann? Also zieht er seine Hose hoch und setzt sich auf einen Stuhl neben dem Waschbecken. Das ganze schöne Geld und dann nicht mal zum Schuss kommen!

»Na ja, komm, ist doch nicht so schlimm.«

Ihr Mitgefühl ist das Ehrlichste, was sie in den letzten zwanzig Minuten von sich gegeben hat. Sie fährt ihm mit der Hand durch die Haare.

»Aber vergiss nicht, unten zu bezahlen, das geht ja auch noch auf deine Rechnung, das weißt du ja.«

»Was? Aber ich hab doch nix mehr.«

Sie lacht ihn an.

»Mach mir nichts vor, ich hab’s doch eben gesehen, da is noch was.«

Wolli angelt die dreißig Mark aus der Tasche, sie nimmt sie ihm ab.

»Hör mal, Junge, normalerweise reicht das nicht. Aber ich regel das für dich. Und in Zukunft achte drauf, dass du genug Kohle dabeihast, wenn du Spaß haben willst. Kannst jederzeit gerne wiederkommen, Kleiner. Frag nach Gloria.«

Für eine Sekunde denkt Wolli, dass sie den kaputten Stoffteddy bestimmt extra so hingelegt hat, damit es den Männern vergeht und der Scheiß schneller vorbei ist.

Unten und vor dem Laden stehen seine Freunde und trinken Bier. Natürlich wollen alle sofort wissen, wie es war. Wolli erzählt ’ne große Geschichte, wie er es der Frau besorgt hat, und dass sie, obwohl ’ne Professionelle, trotzdem voll geil geworden sei auf ihn und tierisch gekommen sei, lauter so Sachen. Oben im dritten Stock lehnt Gloria aus dem Fenster, raucht und hört sich den ganzen Blödsinn an. Am Ende schnippt sie die Kippe direkt vor Wollis Füße. Er schaut hoch, sie schließt das Fenster.

Tagsüber geht Wolli durch die Geschäfte und bittet um Spenden für den Zirkus. Ein Bäcker erlaubt ihm, sich aus der Tonne mit dem alten Brot zu bedienen. Wolli lädt das Brot in Tüten und holt es nach und nach ab. Im Zirkus loben sie ihn für seinen Riecher. Auch die Frau vom Direx sieht ihn.

»Hey, Kleiner, komm doch mal her.«

Widerwillig dreht Wolli sich um.

»Sag mal, könntest du mir mal helfen? Ich habe da hinten im Versorgungszelt so einen schweren Korb, den kann ich nicht alleine tragen.«

»Aber ich kann nicht, ich muss das restliche Brot aus der Stadt holen.«

Sie tritt einen Schritt zurück und lässt ihren Blick über ihn wandern.

»Wenn ich dich bitte, mir zu helfen, dann sind andere Arbeiten egal, klar?«

Wolli antwortet nicht.

»Ob das klar ist?«

Wolli nickt. Sie geht Richtung Zelt. Er schaut ihr hinterher. Er hasst sie für ihre Überheblichkeit. Aber gleichzeitig ist er scharf auf sie. Eine merkwürdige Melange. Er stellt die Brottüten ab und folgt ihr. In dem Zelt steht ein Korb voller Äpfel auf dem Boden. Soll er ihr wirklich einfach nur helfen? Sie bückt sich und fummelt an dem Korb rum. Er berührt ihren Hintern mit der Hand, lässt sie darüber wandern, sie hält ein paar Sekunden inne, dann dreht sie sich um und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

»Was fällt dir ein, du Schwein?«

Kalt starrt sie ihn an. Er erschrickt, gleichzeitig aber ist er geil und dann nach einigen Sekunden total sauer. Am liebsten würde er zurückschlagen.

»Fass mich nie wieder an, es sei denn, ich fordere dich dazu auf. Hast du das verstanden? Sonst sag ich’s meinem Mann. Dann bist du dran.«

Wolli dreht sich um und verlässt wortlos das Zelt. Verdammte Schlange. Ab jetzt wird er ihr aus dem Weg gehen, ihr und ihrem Mann.

Die kommenden Tage regnet es viel, Wolli liegt nach der Arbeit in seinem Wagen und liest bei Kerzenschein. Er liest Alexis Sorbas von Kazantzakis, das Buch ist ein Welterfolg und vor Kurzem mit Anthony Quinn in der Hauptrolle verfilmt worden. Den Film möchte Wolli unbedingt sehen, er verehrt Quinn seit Fellinis La Strada, seinem Lieblingsfilm, dem schönsten und traurigsten Zirkusfilm, den er kennt. Wolli sieht sich in derselben Rolle wie Sorbas, unerschrocken, wild, kämpferisch und zugleich lustvoll und zärtlich, so soll sein Leben sein, nur Narben auf der Brust, keine am Rücken, und den Frauen in einsamen Nächten zur Seite stehen mit seiner ganzen Liebeskraft, das möchte er. Als er das Buch nach drei Tagen ausgelesen hat, beginnt er gleich wieder von vorne, er muss es auswendig lernen, muss diese Art, die Welt zu sehen, inhalieren, bloß nichts davon vergessen.

Als das Wetter besser wird, geht Wolli abends nach der Vorstellung wieder in die Stadt, er hängt am Luna-Brunnen rum, da treffen sich die jungen Leute. Er lernt einen interessanten Typen kennen, der nennt sich Duke, trägt ’ne schwarze Lederhose und ’ne Sonnenbrille, auch wenn’s dunkel wird, hat der immer seine schwarze Sonnenbrille auf. Der Duke spricht mit leicht süddeutschem Akzent und dreht Filme mit einer kleinen 8-Millimeter-Kamera. Und er verkauft Hasch und Pillen. Wolli hat schon zweimal Hasch geraucht, auch Gras, Pilze hat er auch schon mal genommen und ’ne Stunde durchgelacht. Der Duke hat das beste Dope – so nennt er das Zeug – von Lüneburg. Wolli kauft bei ihm starkes Zeugs, angeblich schwarzer Afghane, man braucht nur ’n paar Züge zu nehmen und hebt voll ab, es hält lange an, und teuer ist es auch nicht.

Der Duke kommt aus Hamburg, er fährt ab und zu nach Lüneburg, weil er hier eine Freundin hat, eine von mehreren, sagt er. Er hat einen eigenen Wagen, einen alten Borgward, den hat er schwarz gestrichen, aber ziemlich schlecht, überall schaut die grüne Grundlackierung durch. Manchmal trägt er eine schwarze Baskenmütze, seitlich auf dem Kopf, das sieht verwegen aus. Wolli und der Duke freunden sich an, sie reden viel über Musik, über Jazz und über Skiffle, den finden beide gut. Die Amerikaner spielen Rock ’n’ Roll, die Engländer Skiffle. Der wird mit einfachen selbst gebauten Instrumenten gespielt, mit ’nem Waschbrett als Schlagzeug und ’nem Teekistenbass, diese Instrumente kann sich jeder selbst bauen, der Sound ist rau und einfach. Und sie reden über Bücher. Der Duke ist Exi, also eigentlich Existenzialist, aber er sagt nur Exi. Über Kunst reden sie auch, aber da kennt Wolli sich nicht aus. Und von den neuen Regisseuren beim Film kann er beim Duke zumindest mit Fellini punkten.

Der Zirkus will bald weiterziehen, nach Bremerhaven. Was soll man an der Nordsee bloß anfangen? Der Duke bietet Wolli an, ihn mit nach Hamburg zu nehmen, nach St. Pauli, er hätte da ’ne Bude, wo Wolli ein paar Nächte pennen könnte. Das klingt aufregend. Hamburg. St. Pauli. Das glänzt irgendwie geheimnisvoll. Da ist das pralle Leben, sagt der Duke, dagegen ist Lüneburg ein Provinzfriedhof, da kommt man eigentlich nur hin, wenn man sich ’n bisschen erholen will von der ganzen anstrengenden Wildheit auf St. Pauli.

Noch am selben Abend lässt Wolli sich vom Direktor den Restlohn auszahlen. Die Frau des Direx bekommt das mit.

»Aber warum willst du uns denn verlassen, Junge? Das ist keine kluge Entscheidung. Bei uns bist du sicher und hast Kost, Logis und Lohn, was willst du denn mehr?«

Wolli antwortet nicht, schaut sie nur an, so lange, bis sie den Blick abwendet. Ihr Mann schaut ratlos zwischen ihnen hin und her.

»Ich glaube, es ist die richtige Entscheidung, dass du gehst, Kollege, du kannst hier nichts mehr lernen«, raunt er mürrisch.

Wolli steckt das Geld ein, holt die Tasche mit den Büchern aus dem Wagen und verlässt den Zirkus, ohne sich zu verabschieden.

Der Duke wartet am Brunnen im Borgward. Auf der Rückbank sitzen zwei Freundinnen von ihm, Martina und Gunda, auch sie tragen Sonnenbrillen, obwohl es bereits dunkel ist. Wolli setzt sich ebenfalls seine Sonnenbrille auf. Alle rauchen unentwegt bei geschlossenen Scheiben, man kann kaum etwas erkennen, weder im Auto noch draußen. Auch von außen kann keiner in den Wagen reinschauen. Es läuft laute Jazz-Musik aus dem Transistorradio. Wolli hält die Hand an die Seitenscheibe und versucht, etwas von der Gegend zu erkennen. Er kann sehen, dass sie über die Elbe fahren, dann am Freihafen entlang. Sie kommen zu den Landungsbrücken, wo sie kurz aussteigen, um einen Blick auf den Hafen zu werfen.

Aus dem Elbtunnel strömen Hunderte von Hafenarbeitern von ihrer Schicht bei Blohm & Voss nach St. Pauli, Eimsbüttel und Altona in ihre einsamen Wohnungen oder zu ihren Familien. Viele Seeleute sind unterwegs, einige von ihnen schleppen schwere Gegenstände wie afrikanische Masken und ausgestopfte Tiere, die sie an Harry Rosenberg und seinen Hafenbasar verkaufen wollen, um den Erlös anschließend in den Kneipen zu versaufen.

Sie fahren eine lang gezogene Hangstraße hinauf, vor ihnen beginnt es langsam zu strahlen, und der Himmel ist getränkt von dreckigem, verheißungsvollen Licht: St. Liederlich. Wie der Duke sagt. Wie die Paulianer zu ihrem Stadtteil sagen. St. Liederlich. Der Stadtteil der fragwürdigen Existenzen, der Verwerflichen, der Randständigen, der Aussätzigen.

Sie fahren also über eine große Kreuzung am Ende der Hangstraße und biegen ein in die Reeperbahn, oben am Millerntor. Alles ist hell erleuchtet, wirkt fast herausgeputzt wie zu einem großen Fest, überall Lampen, Leuchtreklamen, strahlende Schaufenster und Kneipenschilder, ein unendliches Lichtermeer. Trotz des Glanzes scheint alles gleichzeitig völlig heruntergekommen, die schmucklosen Fassaden der Häuser, die hier nach dem Krieg schnell und billig hochgezogen wurden, damit das Vergnügen endlich weitergehen kann, dazwischen immer noch bröckelnde Kriegsruinen mit hohlen Fenstern, einige Häuser stehen nur noch zur Hälfte, die Türen und Fenster sind mit Brettern vernagelt, der Bürgersteig ist voller Löcher, die Straße geflickt, überall liegt Müll herum, Betrunkene und Penner kauern in den Hauseingängen, von allen Seiten brandet unentwegt Lärm heran, und eine undefinierbare Geruchsfahne von rauer Menschlichkeit durchzieht das gesamte Viertel. In der Mitte der Reeperbahn fahren eng auf eng die Autos die Straße hinauf und hinab, das ewige Spalier der Voyeure aus den Vorstädten.

St. Liederlich. Wolli fühlt sich sofort zu Hause, mehr als an jedem anderen Ort der Welt.

Sie fahren zum Duke in die Seilerstraße. Eine kleine Wohnung, anderthalb Zimmer, ebenerdig, nach hinten raus nur ein kleines Küchenfenster, sehr dunkel alles, Klo auf dem Gang, im vorderen Zimmer liegen Matratzen auf dem Boden, ein paar Bücher, Filmrollen, ein Projektor, Essensreste. Sie rauchen einen Joint und schauen Schwarz-Weiß-Filme des Duke, die er an die dreckige Wand projiziert. Verwackelte Aufnahmen von irgendwelchen Leuten auf der Straße. Das sollen Kunstfilme sein? Wolli sagt nichts. Hier will er ja erst mal wohnen, also lieber freundlich sein. Dann ein paar Aufnahmen von jungen Frauen, halb bekleidet. Findet Wolli schon interessanter. Sie tanzen herum und scheinen zu singen. Der Film hat keinen Ton. Am Ende erscheint der Duke im Bild. Die Frauen tanzen um ihn herum, dabei fesseln sie ihn. Dann hört der Film auf. Wolli blickt den Duke an.

»Interessantes Ende. Hätte ruhig noch etwas länger gehen können, das Ende meine ich. Den Anfang fand ich nicht so interessant, hab ich zumindest nicht verstanden.«

»Mann, das ist Kunst. Da gibt’s nichts zu verstehen. Je größer die Kunst, desto weniger versteht man, das kannst du dir mal als Faustregel merken, Mann. Und bei der richtig großen Kunst, da versteht keiner mehr was. Zum Beispiel Jackson Pollock, was gibt’s ’n da zu verstehen, Mann? Das is nur noch die pure Kunst, vollkommen sinnfrei, aber vom Allerfeinsten!«

Wolli kennt keinen Jackson Pollock, deshalb sagt er lieber nichts.

»Also was is, Leute, habt ihr Lust auf ’n Filmdreh?«

Der Duke schaut in die Runde, Gunda und Martina lachen verschämt, sie ahnen, welche Rolle sie spielen sollen. Keiner traut sich richtig, Wolli auch nicht.

»Okay, wenn ihr keine Kunst machen wollt, kann ich euch nicht zwingen, also gehen wir was trinken, gut?«

Von der Seilerstraße zum Hamburger Berg sind es nur ein paar Meter, aber auf dieser kurzen Strecke geht der Motor des Viertels von null auf hundert. Während in der Seilerstraße noch relative Ruhe und Dunkelheit herrschen, ist der Berg grell ausgeleuchtet, laut und wild, die Straße ist voller Menschen, die in Trauben vor den Kneipen stehen, laut redend, singend, einige prügeln sich, ein Paar tanzt auf der Straße einen trunkenen Tango.

Wolli ist erstaunt, mit einem derartigen Feuer hat er nicht gerechnet, aber er lässt sich nichts anmerken, tut so, als ob er hier schon seit Jahren rumhinge. Sie trinken, rauchen und reden mit anderen Flaneuren und versinken ganz langsam im Strudel der Nacht. Erst spät kehren sie heim zum Duke. Und jetzt haben auch die Mädchen Lust, einen Film zu drehen. Sie stolpern in der Wohnung herum und spielen improvisierte Szenen.

Es existiert keine klare Idee, der Duke filmt und gibt wirre Anweisungen:

»Ja, Gunda, streck dich, ja, wunderbar … und jetzt dreh dich und schrei dabei … ja, Mann, wahnsinnig gut … und Martina, du kommst jetzt von der Seite, aber ganz traurig, ganz einsam, mit leerem Blick … oh ja, toll, und Wolli, du willst die beiden verführen, los, Mann, du bist ihnen verfallen, sie sind deine Nymphen und deine Göttinnen, ja, Mann … und langsam nimmst du ihnen die Klamotten ab … ja und dir selber auch … ja, prima, sagenhaft …«

Kurz danach ziehen sich alle aus, auch der Duke, schließlich stört ihn die ratternde Kamera, er schmeißt sie zur Seite. Dabei klappt das Filmfach auf. Dass kein Film in der Kamera ist, fällt keinem der anderen Darsteller auf.

Wolli verbringt Tage bei seinen neuen Freunden. Sie hängen in der Wohnung rum, schlafen, trinken, reden, hören Musik. Wolli schläft mit Martina auf einer Matratze, der Duke mit Gunda. Ab und zu ergeben sich Zärtlichkeiten, manchmal auch Sexualitäten, aber die Paarungen sind eher zufällig. Gunda ist die lebhaftere der beiden, sie redet selbstbewusst und fordernd, Martina ist eher schüchtern und zurückhaltend. Wolli gefällt Martinas stille Art, er spürt dahinter ihre sanfte Kraft. Einmal wacht er frühmorgens auf, und sie liegt vor ihm auf der Matratze mit geschlossenen Augen. Er mustert lange ihre entspannten und schönen Züge. So jung wirkt sie noch, so unverbraucht, ihre Haut ist so fein wie Seidenpapier. Wolli ist gerührt, er würde sie am liebsten berühren, traut sich aber nicht. Er fragt sich, ob er sie liebt, ob er sie lieben könnte, aber er findet keine eindeutige Antwort in sich.

Man lebt von Wollis Restlohn. Als dieser aufgebraucht ist, will der Duke Dope verticken. Wolli begleitet ihn. Auf einem Hinterhof in der Talstraße muss er draußen warten, während der Duke in einer Wohnung verschwindet und bei einem Typen, den er Onkel nennt, Stoff besorgt.

»So, Mann, hab genug Dope für die nächsten Tage und was ganz Neues: Preludin. Das Zeug soll Bombe sein, besser als Pervitin, wenn du das drin hast, musst du nichts mehr essen, Mann, hast aber ohne Ende Kraft! Is auch noch voll billig dazu! Ich klink mal direkt zwei ein, was ist, bist du dabei?«

Natürlich ist Wolli dabei, ihn interessieren alle Stimulanzien, alles, was ihn die Welt aus einem anderen Blickwinkel sehen lässt.

»Der Expeditionscharakter muss unter allen Umständen erhalten bleiben!« ist sein Spruch dazu.

Der Duke reicht Wolli zwei kleine orangefarbene Tabletten, beide spülen sie mit einem Schluck Bier runter.

Der Duke hat seinen Stammplatz zum Verticken in der Schmuckstraße, hinter der Großen Freiheit, in der heruntergekommenen Gegend, wo die Fummeltanten stehen. Sie setzen sich dort auf einen Mauervorsprung und warten. Nach einer halben Stunde fängt das Preludin an zu wirken.

»Hey, Mann, sag mal, spürst du auch schon was?«

»Ja, irgendwie so ’n gutes Gefühl, so ’n Schub nach oben. Und bei dir?«

»Bei mir isses genauso, Mann, alle Müdigkeit weg, bester Laune, allererste Güte, das Pülverchen, alabonneur!«

Ein Typ haut den Duke auf Dope an. Die beiden verschwinden in einem Hauseingang. Als der Duke zurückkommt, reckt er nur den Daumen – top – und geht dann federnden Schrittes vorbei. Wolli springt hinterher.

»Hey, was ’n los, was machst du?«

»Ich hab eben ’nen guten Deal gemacht, Mann, wir brauchen die nächsten beiden Tage nicht mehr zu arbeiten. Komm, wir gehen nach Hause zu den Mädchen und machen uns ’ne gute Zeit.«

In der Wohnung versorgen sie Martina und Gunda auch erst mal mit Preludin. Danach ist die Stimmung bestens, man unterhält sich über alles Mögliche, über Politik, über den verachtenswerten alten Knacker Adenauer, der ist bereits vierundachtzig Jahre alt und seit elf Jahren an der Macht, er will den Kommunismus ausmerzen, sagt er, und sie reden darüber, wann seine Zeit endlich zu Ende geht. Wie man daran mitwirken könne. Dass man sich politisch engagieren müsse gegen ihn. Aber wie? Man redet über den Vietnamkrieg, verachtet die Amerikaner dafür, über Freiheitsideen, den Existenzialismus und die modernen kulturellen Strömungen in Frankreich, das trotz oder gerade wegen des Algerien-Krieges in allem so viel weiter zu sein scheint als Deutschland. Zumindest gibt es dort eine breite Front aus Kriegsgegnern, aus der sich eine neue Subkultur zu bilden scheint. Um seine These zu belegen, schlägt der Duke vor, am Nachmittag ins Kino zu gehen, dort läuft ein ganz neuer französischer Film von einem gewissen Jean-Luc Godard, angeblich ein Revolutionär, der cineastisch völlig neue Maßstäbe setzen soll. Bestenfalls wollen sie sich von diesem Film inspirieren lassen für eigene zu erschaffende Werke.

Vorfreudig und aufgedreht besuchen die Freunde die Nachmittagsvorstellung von Außer Atem im Oase-Kino auf der Reeperbahn. Mit offenen Mündern und in die Schenkel verkrallten Fingern sitzen sie nebeneinander und können nicht fassen, was sie dort zu sehen bekommen. So einen Film hat es bisher noch nicht gegeben, die beiden Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg sind so jung und schön und unberechenbar und lässig und frei. Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt, Aufruhr liegt in der Luft, die Besucher, überwiegend Studenten, rauchen doppelt so viel wie in anderen Filmen, sie konsumieren mehr alkoholische Getränke, und nach Verlassen des Kinos sind alle ein wenig anders als zuvor, haben sich alle Typen in Belmondos verwandelt und die Frauen in Sebergs, sie gehen nach Hause, schneiden und färben sich die Haare, kleiden sich anders, bewegen sich anders, denken anders als zuvor. Auch dem Duke, Wolli, Gunda und Martina geht es so. Sie stehen vor dem Kino.

»Kriminell müsste man werden!«, platzt es aus Wolli heraus. »Volles Risiko gehen. Dem Leben sein Kostbarstes abtrotzen. Da darf man nicht kleinlich sein oder ängstlich oder moralisch, da muss man wild und konsequent sein, da darf es keine Rücksicht auf Verluste geben, auch wenn man selber dabei draufgeht!«

»Das ist doch widersinnig, für die eigene Befreiung draufgehen zu wollen, das finde ich schwachsinnig.«

Gunda findet Belmondos Tod am Ende des Filmes kontraproduktiv und sentimental. Der Duke ist Wollis Meinung.

»Vielleicht muss einer sterben, damit tausend andere nach ihm frei leben können. Und der, der freiwillig stirbt, dem hat man dann die Freiheit zu verdanken, der ist dann für immer ein Held.«

Nun regt Gunda sich richtig auf.

»Aber es geht doch wohl nicht um Heldentum. Ich dachte, wir wollen alle Helden abschaffen. Von denen hatten wir doch schon genug in der Vergangenheit. Ich brauch nie wieder ’nen Helden.«

Martina nickt schweigend, wenn Gunda spricht. Wolli lenkt ein.

»Das finde ich auch. Helden brauchen wir wirklich nicht mehr. Viel eher brauchen wir Antihelden.«

»Was sind denn Antihelden?«

»Na, das genaue Gegenteil von Helden.«

»Aber das sind dann ja auch wieder Helden, oder etwa nicht?«

»Ja, aber keine herkömmlichen. Das sind Helden, die gegen den Strom schwimmen, die gegen die Gesellschaft sind, auf die sich nicht alle einigen können, die nicht familientauglich sind. Vielleicht sogar Helden, die von den meisten gehasst werden. Vor allem von den ganzen Spießern. So wie die beiden aus dem Film eben.«

»Verstehe. Darauf könnten wir uns, glaub ich, einigen.«

In der Wohnung des Duke schneidet Gunda Martina die Haare ab. Danach werden sie wasserstoffblond gefärbt. Martina sieht umwerfend aus mit der neuen Frisur, finden alle. Der Duke verliebt sich richtiggehend in sie, versucht aber, sich das nicht anmerken zu lassen, da er ja eigentlich eher auf Gunda gebucht ist. Was eine Frisur so alles bewirken kann.

In den nächsten Tagen nimmt der Duke Wolli mit zum Verticken. Wolli müsse erst mal richtig ausgebildet werden. Welches Zeug gibt es grade, was ist angesagt, wie streckt man es, was ist ein guter Kurs gegenüber der Konkurrenz, wo sind die besten Plätze, um es loszuwerden, und welchen Kunden kann man vertrauen? Den Einkauf machen sie immer bei Onkel in der Talstraße. Der ist Wolli gegenüber erst mal skeptisch, Wolli muss ihm seine komplette Geschichte erzählen. Seine Karriere bei der Volkspolizei erwähnt er lieber nicht.