Über das Buch

Liebe, Verlust und ein dunkles Familiengeheimnis — Beatrix Kramlovsky erzählt die Geschichte dreier starker Frauen in den Wirren des 20. Jahrhunderts.
Großmutter, Mutter und Tochter. Dazwischen zwei Kontinente, ein Jahrhundert und ein Geheimnis, das die Familie zerreißt: Marys Großmutter Rosa wird wie eine Heilige verehrt. Wenn Mary nach dem Grund fragt, bleibt ihre strenge Mutter Erika stumm. Wollte sie doch mit der Flucht nach Australien in den 1940er Jahren alles hinter sich lassen. Als alte Frau kehrt Erika in ihre Heimat zurück, und die Erinnerung kommt mit aller Macht wieder. Sie erzählt, und ihre Tochter Mary begreift, warum für die Frauen ihrer Familie Liebe immer nur Verlust bedeutet hat.
Beatrix Kramlovsky erzählt mitreißend die Geschichte dreier starker Frauen, die sich in den Zerwürfnissen des 20. Jahrhunderts behaupten.

Beatrix Kramlovsky

Die Lichtsammlerin

Roman

hanserblau

Für Andrea und Robert, Regina und Paul

Melbourne 1985

Als Mary frisch geschieden 1985 Kangaroo Island erreichte, hatte sie immer noch die Stimme ihrer Mutter im Ohr, diese Mischung aus Betroffenheit und Empörung über das Unvermögen ihrer Tochter, richtige Entscheidungen zu treffen. Aber Mary kümmerte es nicht, zumindest nicht in diesem Augenblick. Auf der Überfahrt von Cape Jervis hatte sie den sachte ansteigenden Erdbuckel vor sich gesehen, die Strände am Nordufer der Insel, Felder dahinter; nun, in Penneshaw die weißen Häuser am Hafen, die betonierte Kaimauer, bunte Boote, eine schmale Kirche. Irgendwo dahinter musste die Landenge sein, die dieses flache Anhängsel mit der eigentlichen Insel verband. Von dort würde Gertrud Melling kommen. Pelikane schrien über dem Wasser, das hinter der Steinmole ruhiger wurde und in blinkende Splitterflächen zerfiel. Mary hielt ihre vor Aufregung zappelnden Söhne an der Hand. Die Fähre drehte sanft bei, glitt der Mauer entgegen.

»Wo werden wir wohnen, Mama?«

»Ich weiß es nicht, wir werden abgeholt.«

Während der letzten Tage hatten sie diese Frage so oft gestellt und waren zufrieden, wenn Mary von der Insel erzählte, von den Stränden der Seelöwen, bunten Federwolken aus Vögeln, dem zerbrechenden Riesenfelsen an der Südküste, den Koalas und Wallabys in den geschützten Senken. Sie stellte Freiheiten in Aussicht, die ihre Söhne in Melbourne nicht gekannt hatten.

Aber jetzt, das spürte Mary, verlangten sie nach Sicherheit, einem vertrauten Rahmen, einem Ersatz für das aufgegebene Zuhause. Du wirst dich wundern, so ganz alleine, hatte Iannis nach der Scheidung gesagt. Du hast keine Ahnung, so ganz alleine, hatte ihre Mutter geklagt. Du wirst dich selbst überraschen, hatte ihr Vater behauptet.

Und dann sah Mary einen roten Pick-up auftauchen und wusste einfach, dass darin Gertrud Melling saß, die Bäuerin, deren verrückte Pläne Arbeit für mindestens ein Jahr versprachen, weit weg von allem, was Mary an ihre Niederlagen und vergeblichen Kämpfe erinnerte.

Ihr Leben lang würde sich Mary an das Bild dieser Frau mit dem dichten Zopfgeflecht erinnern, wie sie neben dem Wagen stand, Mary erspähte und die Hand winkend hob, wie sie lächelte, als sie sich zu den Buben beugte und sie begrüßte, als wären sie ehrbare Erwachsene. Wie sie sofort half, die Taschen und den Koffer auf die Ladefläche zu hieven und den Kindern anbot, neben dem freundlich hechelnden Hund, Platz zu nehmen. In Gertruds Gegenwart schien sich jede Art von Unsicherheit aufzulösen. Mary spürte in sich Ruhe wachsen, lange, oh so lange vermisst, und beantwortete die Fragen nach der Reise, während Gertrud den Pick-up aus dem Ort lenkte, der Asphalt sandigem Schottergemisch wich. Sie querten American River, passierten grüne Felder, streiften die Hauptstadt Kingscote, einen winzigen Ort, der ganz anders aussah, als Mary ihn sich vorgestellt hatte.

Der Wagen folgte einer Splittstraße Richtung Westen, fast unmerklich gewannen sie an Höhe. Zuerst sah Mary noch das Meer hinter den nördlichen, sattgrünen Wiesensäumen, dann erschien der Ozean im Süden, funkelnd unter klarem Licht, bevor der Wagen vom Silberstaub in einem Eukalyptustunnel verschluckt wurde.

In den folgenden Wochen lernte Mary die Organisation des Gutes kennen. Gertrud hatte gerade ihren ersten Weingarten angelegt; zwölf Menschen lebten ständig auf dem Hof, dazu kamen die Erntearbeiter vom Festland. Es gab drei Gästezimmer samt Bädern im Nebentrakt, die in Adelaide beworben werden sollten. Marys Söhne John und Philipp verbrachten ihre Zeit mit den Kindern der Köchin, die sie frühmorgens nach Kingscote brachte; nachmittags sammelte Mary sie wieder ein. Die Ausschreibung für ihren Job hatte aus einer Mischung aus Sekretariat, Ideenbörse und Vermarktung, Mädchen für alles bestanden, in einem geradezu originell formulierten Inserat. Ewig lange hatte Gertrud jemanden gesucht, der ihre Neugier auf die Welt teilte und gleichzeitig verzweifelt genug war, um diese Neugier, hart zupackend, auf einer unwichtigen Insel auszuleben. Gertrud hatte intuitiv gewusst, was die Zukunft bieten konnte, nachdem die Regierung die Pläne für Parndana, die Reißbrettstadt im Zentrum, aufgeben musste. Arme Veteranen, denen es nicht gelungen war, auf dem kargen Land Schafe zu züchten. Aber der Nationalpark im Westen der Insel zog Touristen an, die Strände im Norden waren leicht zugängig und ungefährlich. Es galt, rechtzeitig zu planen. Die junge Frau aus Melbourne würde ihr helfen, wo ihre eigenen Töchter versagten, wenigstens solange, bis ihre Enkelin das Studium in Adelaide abgeschlossen hatte. Mary war also nicht im Outback gelandet, wie ihre Mutter befürchtet hatte, aber der Gegensatz zu Melbourne war groß.

»Die Kinder lernen laufen bis ans Ende der Welt«, schrieb Mary ihrer Freundin Angie.

»Das ist ja nicht weit von dort«, kam es lapidar zurück.

Marys Mutter Erika schrieb lange Briefe in winziger Schrift, in denen sie aus Melbourne berichtete: von ihrer Arbeit in der Schule im definitiv letzten Jahr, das sie als Lehrerin verbringen wollte, dass Daddy die vom Arzt verordneten Spaziergänge gewissenhaft und täglich unternahm, sie allerdings den Verdacht hegte, er würde zu oft in der italienischen Bar auf der Main Street seine alten Kumpel treffen und zu viel Espresso trinken. Sie erzählte von Büchern, die sie las, und von Konzerten, die sie im Radio gehört hatte, und schickte Pakete mit Büchern und Kleidung für die Buben. Sie erwähnte Iannis nie, die Scheidung ebenfalls nicht. Mary freute sich über die mütterliche Post, und das erstaunte sie. Die Auseinandersetzungen und den Eklat, der zu Marys Flucht aus Melbourne geführt hatte, erwähnten sie nicht.

Mary antwortete immer. Nach Wochen erreichte sie der erste Brief ihres Vaters. Er überlegte, ob Marys Übersiedlung die Mutter an ihre eigene Emigration erinnerte, obwohl beides ja nicht vergleichbar wäre, ein Krieg sei natürlich keine Scheidung. Außerdem habe er Iannis getroffen, nein, nicht zufällig. Schließlich hätte er jahrelang zur Familie gehört und vermisste die Buben. Mary kletterte die Klippe hinunter, querte das Dickicht, setzte sich in den pudrigen Sand ans Wasser und fixierte den Horizont. Sie weinte. Nur wenige Meter von ihr spielte ein Seelöwe im Wasser. Mary sah ihm zu, und nach einer Weile versiegten ihre Tränen.

Gertrud sprach sie nie auf die Scheidung an. Mary lernte eine Menge von ihr. Vor allem lernte sie, keine überstürzten Entscheidungen aus Trotz zu fällen. Gertrud fand alles gut an Mary. Das war ungewohnt. Erst Jahre später erfasste Mary, wie sehr ihr Gertrud geholfen hatte, eine Erwachsene zu werden, die sich nicht ständig selbst infrage stellte.

Sie kehrte nie wieder nach Kangaroo Island zurück. Wie ihre Söhne behielt sie den Eindruck von paradiesischer Freiheit an die zwei Jahre nahe der Vivonne Bay. Sie versuchte, ihre Selbstständigkeit zu bewahren, als ihre Mutter wieder begann, Marys Hang zu auffallenden Kleidern, auffallenden Männern, auffallendem Lebensstil zu bemängeln.

»Warum kannst du nicht einfach Durchschnitt sein?«, fragte sie wie früher. »Du riskierst unnötige Verletzungen. Außerdem reden die Leute.«

»Mummy, wir leben in einer Demokratie!«

»Das kümmert die Nachbarn nicht.«

»Hör doch endlich auf, diese spießige Fassade zu pflegen!«

»Nachbarn können Hyänen sein.«

»Du bist aus Europa weg, um Kriege hinter dir zu lassen. Da kann dir doch so etwas egal sein.«

»Tote gibt’s hier auch. Massenhaft.«

»Aber keine KZs!«

An diesem Punkt begann ihre Mutter regelmäßig zu weinen und brach den Streit ab mit »Du hast ja keine Ahnung!«.

»Wovon habe ich keine Ahnung?«, fragte Mary ihren Vater, obwohl sie wusste, dass er ausweichen würde. Die vielen Anekdoten aus der alten Welt, die in anderen Einwandererfamilien blühten, blieben in ihrem Elternhaus seltsam blass.

Ungefähr ein Vierteljahr, bevor ihr Vater starb, die Buben waren in den heftigen Erschütterungen der Pubertät versunken, lernte Mary Jerry kennen. Er arbeitete als Wasserspezialist im Dienste einer Minengesellschaft, und sie interviewte ihn für ein Rundfunk-Feature. Marys Mutter ahnte, dass es ihn gab. Ihre Ablehnung war fundamental, irrational, in den Augen Marys absurd, weil wieder Erikas Strategie des Schweigens aufblühte, als wäre das Leben ein Meer mit unzugänglichen Inseln, isolierten Welten, die sich allen Blicken entzogen.

Ein Dilemma

Es hatte 2011 mit Anrufen zu seltsamen Tageszeiten begonnen, mit einer verzagten Stimme, die irritiert klang, manchmal voller Angst, und mir oft fremd erschien. Es endete ein Jahr später mit Anrufen der besten Freundin meiner Mutter, die mir klarmachte, dass ich in Europa gebraucht wurde, auf einem Kontinent, der mir nichts bedeutete.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich als Journalistin bei einem privaten Radiosender, wo ich Skripts schrieb, aber auch als Sprecherin für Features, die ich mir selbst aussuchen konnte. Es war ein großartiger Job. Ich lebte mit Jerry, den ich seit vielen Jahren liebte. Wir waren erst zusammengezogen und hatten geheiratet, nachdem ich diese Stelle 2009 angenommen hatte. Meine Mutter hatte ich lange nicht mehr gesehen. Ich weiß, wie das klingt, aber es gab Gründe dafür.

Und jetzt das: ein Hilfeschrei, als wäre plötzlich ich die Mutter und sie das bedürftige Kind.

»So läuft es«, sagte Angie ungerührt, als ich sie um Rat bat. »Da müssen wir alle durch.«

»Du meinst uns Töchter«, warf ich ein und erschrak kurz über die Säure in mir.

»Natürlich die Töchter. Kannst du dir vorstellen, unsere Brüder würden ihre Freizeit beschneiden, ihre Karrieren unterbrechen?«

»Joey ist im Norden und beglückt vermutlich Touristinnen. Außerdem hast du leicht reden, deine Mutter wohnt nur eine halbe Stunde entfernt. Meine wohnt auf der anderen Seite der Erdkugel.«

»Du wirst dich trotzdem entscheiden müssen: Entweder du holst Ricky her oder du fliegst zu ihr hin.«

»Sie hasst Australien. Immer noch.«

»Dann bleibt dir nichts anderes übrig. Sie ist deine Mutter.«

»Ich habe ein eigenes Leben.«

»Sie verliert ihres gerade.«

Ähnlich verlief das Gespräch mit meinem Boss. Er sah die Notwendigkeit, die Pflicht des Kindes, es stand für ihn außer Frage, dass ich mich um eine Langzeitversorgung vor Ort kümmern musste. Es würde doch ähnlich wie bei uns funktionieren, sagte er, Europa sei fortschrittlich. Gehörte Österreich nicht zu den reichen Ländern? Es hatte vorbildlich im Balkankrieg den Flüchtlingsstrom versorgt. Oder nicht? Außerdem gab es dort jede Menge Kunst, Kultur, Musik, Schlösser. Was für eine Chance für mich, das alles zu sehen. Wurzelpflege, sagte er. Ganz wichtig für Immigranten. Ob ich nicht den Aufenthalt für eine neue Reihe nutzen könnte. Natürlich halte er mir den Platz frei, eine so ausgezeichnete Journalistin, Rechercheurin, Stimme einer ganzen Generation hier im Südosten. Blablabla.

Es geht um Demenz, nicht um eine Wiederentdeckung, dachte ich. Wieso verstand niemand meinen Schock? Mein wunderbarer Job, mein glückliches Leben mit Jerry. Körper auf Distanz. Mir graute.

Das Verhältnis zu meiner Mutter war von Anfang an schwierig, auch wenn Daddy das selten zugab. Aber Daddy war fünfzehn Jahre tot. Mama hatte sein Grab seit der Beerdigung nie wieder besucht. Manchmal redete sie am Telefon über ihn in ihrem Österreichisch, das breiter geworden war, sich anders anhörte als in meiner Erinnerung. Wenn sie schnell sprach, verstand ich nur Bruchstücke.

Früher wollte meine Mutter immer wissen, wo ich mich gerade aufhielt. Herumtreiben in den Terrarien anderer, nannte sie das. Manchmal reiste sie in Europa, im Gepäck die Bücher, die ihr helfen sollten, das Unbekannte heranzuholen. Meine Mutter hielt wenig von mir, aber sie hielt prinzipiell vom Leben wenig, erwartete sich lieber ein opulentes Feuerwerk danach und einen Himmel voll immerwährender Sicherheit. Überraschungen traute sie nicht. Als die Krankheit sich eingenistet hatte, kam zu ihren vielen Ängsten die Furcht vor dem Vergessen dazu.

Ich war 1955 in Melbourne zur Welt gekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern bereits zwei Jahre an der Grenze zwischen New South Wales und Victoria hinter sich. Mein Vater hatte beim Bau der Wasserkraftwerke am Murray-Fluss mitgeholfen, denn das war sein Passierschein gewesen. Mama arbeitete als Hilfslehrerin für die Kinder der deutschsprachigen Immigranten, die in Massen ins Land geholt wurden. Die australische Regierung bezahlte die Überfahrt, im Gegenzug verpflichteten sich die Neuankömmlinge, mehrere Jahre beim Aufbau öffentlicher Infrastruktur mitzuarbeiten. Es muss hart für sie gewesen sein. Wie hart, erfasste ich erst mit den Jahren. Das, was ich jedoch bald merkte: Daddy liebte seine neue Heimat uneingeschränkt, Mama weinte ihrer aufgegebenen nach.

Als ich mich endlich ankündigte, hatte mein Vater bereits einen neuen Job gefunden: In Heidelberg West in Melbourne wurden die aus Österreich importierten Fertighäuser für das olympische Dorf errichtet, Daddy hatte mit der Buchhaltung zu tun. Mama legte eine Prüfung ab, um an eine englischsprachige Volksschule zu wechseln. 1956, während der Olympischen Spiele, fühlte sie sich das erste Mal, getragen von der Begeisterung ihrer Umgebung, nicht als Fremde. Und doch wurde sie nie heimisch. Als Daddy 1996 starb, erklärte sie mir noch während des Begräbnisses, es hätte ein Ende mit der Fremde, sie würde nach Linz zurückkehren, zu den alten Freundinnen, zu den Plätzen ihrer Jugend, zu den Wurzeln, die sie nie losgelassen hätten. Seitdem hatte sie mich nie und ich sie nur einmal besucht, jede eine Ausländerin in der Heimat der anderen.

Und nun? Mamas Freundin Hanni rief wieder an. Es ginge doch nur um Wochen, so lange, bis Mamas Weigerung, in ein Heim zu gehen, keine Bedeutung mehr hätte. Vielleicht zwei, drei Monate, bis sie, vermutlich gegen ihren Willen, in einer Einrichtung untergebracht werden durfte. Ein Glück, dass Österreichs Sozialnetz das abdecken würde. Aber mir erschien diese Zeit als bleiernes Meer, mein eigentliches Leben würde sich wie eine Küste immer weiter von mir entfernen, je länger ich dortbliebe. In diesen Wochen des Zweifelns wurde ich zur Gefangenen meiner Mutter. So sehr ich ihr Leben in Zukunft vielleicht kontrollieren würde, so sehr dirigierte sie nun das meine.

Jerry explodierte. Er war dagegen, dass ich nach Europa flog.

»Deine Mutter hat sich für ein eigenes Leben entschieden, ohne uns, ohne ihre Enkelkinder. Sie war hier eine Fremde und wollte endlich nach Hause. Das konnte sie erst, als dein Vater tot war. Klar wusste sie, dass sie im Alter alleine sein würde. Trotz der Freundinnen. Sie hat es ignoriert. Dafür kannst du doch nichts.«

Aber meine Söhne bedrückte die Vorstellung, dass ihre Großmutter in einer grauen Welt herumirrte und niemand auf sie achtete. Alle rund um mich schienen derselben Meinung zu sein; Mütter hatten es verdient, nicht alleine gelassen zu werden, vor allem Kriegsmütter, die mitgeholfen hatten, dass ihre Kinder im Frieden groß werden durften. Also beugte ich mich den Erwartungen der Mehrheit. Jerry lenkte knurrend ein. Er würde die Kosten für unser winziges Haus einstweilen alleine tragen. Wir hatten alles vernünftig geplant. Und alles kam anders. Ich hätte es wissen müssen.

Ich landete im Frühsommer 2012, sollte Wochen, vielleicht Monate bleiben, um ihr zu helfen, eine neue Art von Leben für sie vorzubereiten. Ich blieb fast ein Jahr, notgedrungen. Ein ungeplantes Jahr mit einer Mutter, die ich viel zu wenig kannte, die ihrem lückenhaften Erinnern endlich Geheimnisse entrang, in einer Stadt, die mir nicht vertraut war, in einem unbekannten Land, umgeben von einer Sprache, die nicht meine Muttersprache war, mit der mich jedoch Bilder einholten, die ich längst vergessen geglaubt hatte.

An manchen Tagen saßen wir am Ufer der Donau mit Aussicht auf die Linzer Fabrikschlote und den Hafen, sahen Schiffen nach, blieben mit den Blicken an den Alpengipfeln im südlichen Dunst hängen. Mama erzählte aus ihrem Leben, von meinen Großeltern Rosa und Josef, von Nächten, deren Schrecken aufloderten, von Menschen, deren Namen ich zum ersten Mal hörte, von Episoden, die echolos verklingen mussten, weil ich nicht die richtigen Fragen stellte. Wir verbrachten Stunden auf Bänken vor dem Lentium und sahen zu, wie der Fluss gegen seine Ufer schwappte, fühlten uns, als würden wir Gemälde betrachten. Ein stetes Zermahlen von Zeit, die für sie eine Schatulle voll fixierter Bilder war.

Sie redete. Ihre Stimme war noch ein sanfter Sopran, ohne das Zittern, ohne gebrochenes Timbre wie später. Sie erzählte, wie sie mir als junge Mutter Sagen erzählt hatte, weit ausholend im Nirgendwo und das Nichts füllend mit Märchengestalten und Fabelgetier. An guten Tagen war ihre Muttersprache ein verlässliches Geländer, voller Möglichkeiten, die sie freudig nutzte für die neuerdings schrägen Einsichten. An den lichten Tagen war sie verwegen, voll pulsierendem Lachen und ohne die Angst, die ihr das Leben diktiert und mich mit Verboten zu schützen versucht hatte. Da war sie die Frau, von der mir ihre Jugendfreundin Hanni erzählte: Tochter der Heldin Rosa, die ihr Leben für andere riskiert hatte.

Sie war ein Abklatsch der Frau, die ich nie kennenlernen durfte.

Eine Fremde, die ich lieben lernte.

Eine Mutter, die sie selbst mir vorenthalten hatte.

Könnte man wichtige Plätze und Entscheidungsorte mit Seidenfäden verbinden, entstünde ein riesiges Netz mit Kokons und dicht gesponnenen Knoten über ihrem Geburtsort, sagte sie, dort, wo sie zur Schule gegangen, dort, wo sie sich mit ihren Freundinnen getroffen, dort, wo sie gearbeitet, dort, wo Daddy sie um ihre Hand gebeten, dort, weit entfernt, wo sie dann auf der südlichen Halbkugel mit ihm und ihren Kindern gelebt hatte, dort, wo er im Grab auf sie wartete, dort, wo feine Stränge das Netz verließen und hinausführten in die Ferne und Fäden wieder zurückführten in die Mitte, wo alles, was sie ausmachte und verändert hatte, herrührte. Und darüber und darunter unzählige andere Netze, die sichtbar bezeugten, wie sehr sich alle Wege kreuzten.

»Ich bin doch keine Spinne.«

»Aber du bist mein Kind.«

»Ich bin dein Kind, aber keine Spinne.«

»Eine Erde aus Lichtfäden wäre das. Würde einer lachen, ginge ein Zittern durch die Netze.«

Und nach langem Schweigen fügte sie mit einer neuen Stimme hinzu: »Ich sehne mich nach dem Licht, das uns einmal umgab.«

Danach begann ein Verstummen, das viele Wochen fraß.

Im Herbst schlug sie einen Ausflug ins Stadtzentrum vor. Die Straßenbahn brachte uns von ihrer Wohnung zur Brücke, vor der sie unbedingt aussteigen wollte, um zu Fuß hinüberzugehen.

Eine seltsame Aufgeregtheit hatte sie erfasst, und erst, als wir den Fluss schon fast überquert hatten, blieb sie stehen, starrte donauaufwärts und erzählte von einem Tag, der Jahrzehnte zurücklag.

Und ich erfuhr, wie Erika, meine Mutter, diejenige wurde, die ich kannte, von der Furcht in den Schatten gedrückt, und wie sie diejenige aufgab, die sie auch hätte sein können.

Auf Händen tragen, hatte Albert, der sie liebte, versprochen. Auf Händen getragen werden wollte sie gar nicht. Es klang unbequem und wackelig. Er hatte eine schöne Schrift, kantig, aber gut zu lesen. Einer, der in der Welt der Zahlen daheim war, logisch denkend. Seine Haare waren fast weiß, obwohl er noch jung war, fünfundzwanzig. Sein sichtbares Kainsmal aus den Kämpfen. Zähne hatte er auch verloren, Skorbut im letzten Kriegsjahr war daran schuld.

Seine Schwestern hatten für ein ordentliches Gebiss zusammengelegt. Die Schwestern waren ein Kapitel für sich. Aber an diesem Tag ließ Mama die Schwestern links liegen, erzählte sich fest im Jahr 1950, und ich behielt jedes Wort, um es meinen Kindern zu wiederholen:

Erika querte den Linzer Hauptplatz, warf den Brief an den Vater, der ihm von Alberts Antrag erzählte, bei der Post ein, ging weiter zum gerade eröffneten ersten Selbstbedienungsladen, der wie in der modernen amerikanischen Friedenswelt funktionieren sollte. Und angeblich würden auch die Kontrollen auf der Brücke bald gelockert. Wenn sie den Vater besuchen wollte, war es immer noch leichter, am Südufer der Donau aus der Stadt zu fahren und mit einer Fähre ins Mühlviertel überzusetzen. Da kannte man sie. Auf der Nordseite achteten die Russen darauf, dass sie schnell heimkam. Die Geschichte der Familie war nach allem, was vor vier, fünf Jahren passiert war, ein offenes Buch, das von den ehemaligen Mitläufern mit ihren vergifteten Köpfen ignoriert wurde, von den Besatzern und den wenigen Freunden, die überlebt hatten, unterschiedlich gelesen wurde. Und die Zwangsarbeiter, die mittlerweile daheim oder in einer neuen Heimat lebten wie die Ungarin Ilonka, trugen ihre von Rosa überstrahlte Version der Geschichte im Herzen. Ilonka wohnte zu dieser Zeit schon im Norden von Toronto und schrieb zweimal jährlich:

Manchmal träume ich von deinen Eltern, deiner Mutter mit den emsigen Händen, deinem Bett, in dem ich schlafen durfte, den Verboten zum Trotz; und alles vom Duft des Holzes erfüllt, den frischen Stämmen, den Spänen auf den Brettern. Und ich weiß, dass die Wälder hier mich mit ihrer Grenzenlosigkeit erschlügen, wären da nicht der Geruch, die Erinnerungen an deinen Vater Josef, an deine Mutter Rosa, ihr offenes Herz, das vom Wald rund ums Dorf beschützt wurde.

Wir bauen uns ein eigenes Zuhause auf, hatte Albert bei seinem Antrag gesagt. Das war im April 1950 während einer Radtour ins Salzkammergut, gemeinsam mit ihren zwei Freundinnen, die dafür aus der englischen Zone extra angereist kamen. Albert irritierte nicht, dass sie mit von der Partie waren: ein Mann, von Schwestern erzogen. Die Freundinnen fanden das vielversprechend für die Zukunft. Erika war nicht sicher. Der Krieg hatte sie alle auf grausame Art verwundet. Der Liebe wollte sie nicht mehr trauen. Sie hatte nur mit Abschieden zu tun. Abschiede waren ein Vorgeschmack auf die Hölle.

Erikas Vater behauptete, Menschen bestünden aus mehreren Lagen. Je mehr passierte, desto mehr Schichten. Die Liebe wäre dazu da, etwas von diesen Schichten abzutragen, das Schöne zu fördern, aus den Halden einen gemeinsamen Berg zu errichten. Er sagte es immer noch, obwohl er im Steinbruch seiner Ehe alleine kauerte, mit Erinnerungen, die erschlugen anstatt zu trösten.

Als Erika Wochen nach der Katastrophe, Wochen nach dem Begräbnis 1946 zurück ins Haus gekommen war, knochendürr vom gerade überstandenen Typhus, hatte sie das väterliche Notlager im Wohnzimmer weggeräumt und ihn zu dem verwaisten Doppelbett geführt. Du musst lernen, es in Rosas Geruch auszuhalten, hatte sie gesagt. Du kannst dich nicht aus eurem Leben aussperren, schon gar nicht, wenn ich ab Herbst in Wien bin. Keine Rede von ihrem jüngeren Bruder. Der Vater würde Walter nicht im Stich lassen.

Als sie dann im Herbst in die von allen Alliierten besetzte Hauptstadt ging, zerrissen von Trauer und Aufregung über ihr neues Leben, schenkte ihr der Vater das Briefpapier, das er vor langer Zeit für Rosa hatte anfertigen lassen, als sie noch ungefährdet Kontakte in viele Länder pflegte. Unzählige feine, cremefarbene Bögen mit rosa Rändern, rosa Büttenkuverts. Die handgemachte rosenfarbene Schachtel war noch zur Hälfte voll. Auf dem Deckel eingeprägt die Initialen der Mutter mit klaren Lettern im Bauhaus-Stil, den sie Schnörkeln vorgezogen hatte.

Erika hatte dem Vater monatlich geschrieben, von der Universität erzählt, den Schuttbergen, dem Schwarzmarkt, den ersten Seidenstrümpfen ihres Lebens, dem Orgelspiel, mit dem sie regelmäßig ein paar extra Münzen verdiente. Ein Leben mit eisern auf die Zukunft gerichtetem Blick. Von Janos’ Tod hatte sie ihm widerstrebend mündlich berichtet, einmal in den Ferien, als der Vater sie mit in den Wald genommen hatte. Die Bäume sind Heiler, hatte er gesagt. Und er hatte sich gefreut, als sie die Stelle in Linz angenommen hatte. Näher bei ihm. Näher im Vertrauten.

Nun begann ihr neues Lebenskapitel, dachte Erika, während sie sich bei den Regalen im neuen Laden bediente, beobachtete, wie man sich nur für Wurst und Fleisch anstellte, die eigene verbeulte Milchkanne von einem Verkäufer in Weiß mit blau gestreifter Schürze an der großen Pumpe füllen ließ und alles andere selbst auswählen konnte, weil es eine Auswahl gab. Es erfüllte sie mit Staunen. Davon musste sie im nächsten Brief erzählen, jetzt würde sich der Vater über die anstehende Heirat freuen.

Obwohl sie nicht daheim Hochzeit feiern wollte. Nicht in der kleinen Kirche, die sie seit dem Gottesdienst für ihre Mutter nicht mehr besucht hatte, nicht auf dem Amt, wo die russische Fahne hing, trotz des freundlichen Offiziers, der ihr Erzählungen von Tschechow geschenkt hatte. Am liebsten wäre ihr ein Ort ohne Soldaten gewesen, ein Land ohne Besatzung, eine Stadt ohne Geister.

Albert wollte alles hinter sich lassen. Das konnte sie noch nicht, auch wenn sie es sich brennend wünschte. Albert tat, als läge ihm die Welt zu Füßen, dieser geschundene Planet mit seinen Knochenfeldern. Er sah, was werden konnte. Sie sah, was war. Die Stadt war immer noch in eine amerikanische und russische Hälfte geteilt. Jeden Tag unterrichtete sie Kinder, die sich an die Flieger, das Geräusch sich nähernder Bomben erinnerten, die Angst vor den Soldaten auf der Donaubrücke hatten. Jeden Tag konnte sie vom obersten Stockwerk der Schule, deren Dach nun gerichtet war, zum Strom zwischen den Ruinen blicken. Ein Grab, das die Geister zu vieler Toter mit sich schleppte.

Sie hatte Albert wenig von ihrer Mutter Rosa erzählt. Nichts von ihrer Verwegenheit, ihrem Mut, dem Lachen, das einem Raum die Trauerwinkel nahm. Hatte nichts erzählt von den jungen Zwangsarbeiterinnen, die sie zu sich ins Haus holte, obwohl es nicht erlaubt war, dem Unterricht, den sie ihnen bot, den Kleidern, die sie ihnen nähte, den verbotenen Büchern.

Erika hatte nichts erzählt von den zwei Männern im Wald.

Sie hatte Albert nicht vom Abschied erzählt, als ehemalige Gefangene, Helfer und Opfer einander wieder und wieder umarmten in diesem großen, nun so leeren Haus, weil die Ungarn schon in die Auffanglager gebracht worden waren. Ilonkas Matratze war weggeräumt. Janos mit seinen Pianistenhänden arbeitete nicht mehr bei Vater im Büro, sondern war nach Budapest heimgekehrt, um beim Aufbau seiner Heimat mitzuhelfen.

Dann verließen auch die Amerikaner das Tal vor den anrückenden Russen. Geordnete Übergabe hieß das. Rosa stand in ihrem plötzlich stillen Haus und traute der gespenstischen Ruhe im Dorf nicht. »Die Lichtsammlerin« hatten die Zwangsarbeiter sie genannt.

Erika hatte Albert nichts von Janos erzählt. Nie. Sie war früh zu einem Abziehbild ihrer selbst verkommen, die mit einem Lächeln versteckte, was niemand wissen sollte, keine Freundin und der Vater schon gar nicht. Es kostete so viel Kraft.

Die Realität, dachte Erika, hat die Mutter nie wahrgenommen, sie hat sie ignoriert und herausgefordert. Sie hat getan, als könnte sie alle Finsternis unbeschadet bekämpfen, eine verrückte Romantikerin. Vielleicht hätte sie einen sinnlosen Tod noch verschmerzen können, wenn ihr Janos geblieben wäre. Erika brach, selbst Jahrzehnte später, ein Leben später auf der Nibelungenbrücke, wieder die Stimme, ihre Hände flatterten über dem Brückengeländer, als sie versuchte, mir das erste Mal diese Reise nach Budapest zu schildern, diesen Weg durch eine ihr unbekannte Stadt mit Uniformierten, die nichts mit den Russen in ihrem Dorf gemein hatten. Es war eine Reise zu Menschen, deren Angst sie roch.

An jenem Tag kehrten wir auf der Brücke um, und ich brachte sie nach Hause, in die Wohnung, in der die Schatten überhandnahmen.

Sie redete nie wieder von Janos. Manchmal sprach sie von der Lichtsammlerin, und ich wusste oft nicht, ob sie ihre Mutter Rosa meinte, die Hoffnung für so viele war, oder vom Fluss, der über ihren Lichtern wachte.

Ich hütete sie mitsamt ihren vergrabenen Erinnerungen und hoffte auf weitere Enthüllungen, um sie besser zu verstehen, der Mutter, die sie auf dem neuen Kontinent dann wurde, näherzukommen. Ich wollte wissen, warum sie meine toten Brüder so bedingungslos geliebt und sie trotzdem, wie mich, hinter sich gelassen hatte. Ich wollte wissen, warum sie Daddy so wenig erzählt hatte, warum sie meinen Söhnen, ihren Enkeln, so wenig über ihre österreichischen Wurzeln nahegebracht hatte.

In meiner Kindheit fehlten Großeltern, wie sie bei vielen Einwanderern fehlten. Ich konnte mich an die vier Fotos erinnern, die Eltern Daddys, die Eltern Mamas. Daddy erzählte manchmal von ihnen, von seinen Schwestern. Mama selten. Manchmal sprach sie von Rosa. Von ihr allein gab es mehr Fotos, sie zeigten meine Großmutter als elegante junge Frau, als selbstbewusste Frau, den Blick immer geradeaus. Eine Frau, die das Alter nicht kennenlernte. Eine Heldin angeblich. Manchmal forderte sie mich auf, eine Karte an meinen Großvater Josef zu schreiben, von dem ich nur wusste, dass er Förster war und in einem früheren Leben in einer Fabrik gearbeitet hatte, in einem Büro mit Blick auf einen Ziegelturm, Hallen und einen dunklen Bach, der die Mühle antrieb. Als er starb, hörte sie auf, auch über ihn zu reden.

Das war etwas, das uns von den meisten Einwandererfamilien unterschied. Daddy konnte über seine Schwestern Hunderte Anekdoten zum Besten geben, er verstreute sie zu allen passenden und unpassenden Momenten. Er beschönigte nichts. Zu einem Zeitpunkt, als man in Österreich noch den familiären Nazischmutz unter den Teppich kehrte, verschlang er Bücher über den Weltkrieg und die Jahre davor, um zu verstehen, warum es so gekommen war, warum die freundlichen Frauen seiner Familie zu Hetzerinnen und aktiven Mitläuferinnen mutierten, warum sie seinen Horror nicht verstanden und es ihm übel nahmen, als er bereits 1946 Mitglied der Roten wurde, ein Sozialist aus einer Familie von Händlern und Gewerbetreibenden. Mit meinem Großvater muss Daddy später, nach der Hochzeit, viel geredet haben, denn an manches, das Mama nun preisgab, konnte ich mich erinnern, Details, die Daddy mir zu einem frühen Zeitpunkt erzählt haben musste, als es mir noch nicht so viel bedeutete wie jetzt.

Wusste Mama davon? Und was an Rosa hatte sie so unversöhnlich wütend gemacht, dass sie mir, ihrer eigenen Tochter, misstraute, jedes Mal, wenn eine meiner Antworten, eine meiner Reaktionen an die Art meiner Großmutter erinnerte?

Familien scheinen ihre Toten nicht loszuwerden, selbst wenn sie sich das sehnlich wünschen. Ich habe nur Bilder von Großmüttern, papierene Gesichter, die mit ihren Blicken einen längst zu Staub zerfallenen Fotografen fixieren, Großeltern, deren Stimmen ich nicht kenne, deren Geruch mich nicht an Backorgien oder Familiengelage erinnert, so wie das bei meinen Freunden der Fall war. Aufgewachsen mit Kindern aus anderen Migrantengruppen, daheim in provisorisch errichteten Lagern und Siedlungen, die später zu beständigen Orten wurden, umgeben von Ausländern, die behaupteten, Inländer zu sein, konnte ich bald den unbändigen Wunsch Daddys nachvollziehen, anerkannter Teil dieses jungen Staates zu sein. Es war leicht damals. Überall in der Ersten Welt hatte der Aufschwung begonnen, und überall fehlten die Gefallenen. So viele Lücken, die es zu schließen galt.

Wie gerne hätte ich meine Großmutter kennengelernt. Wie gerne hätte ich früher schon den Schmerz verstanden, den die Erinnerung an sie in meiner Mutter auslöste. Für sie hätte sich nichts geändert. Für mich hätte das Licht meines Kontinents Europa nicht so ausblenden können. Denn ich bade in diesem Glanz Australiens, so wie sich vermutlich viele Menschen in Europas altem Strahlen geborgen fühlen. Und Rosa, wie ich nun erfuhr, stellte für viele Menschen eine Quelle dar, die Wärme und Schutz versprach.

Meine Großmutter muss eine Art Heimat gewesen sein. Und sie muss zugleich eine Zerstörerin gewesen sein, voller Liebe, voller Zuversicht, voller Mut. Aus winzigen Bausteinen fügte meine Mutter Erika ein Bild zusammen, soweit es ihre Krankheit zuließ, solange sie den Verfall begrenzen konnte.

Als sie die Sprache endgültig verlor, gewöhnte sie sich an, Lichtstellen aufzusuchen, und stand bewegungslos lange Zeit dort, eine lächelnde Skulptur mit verschlossenen Geschichten.

Melbourne 1968

Dieser Samstag begann so perfekt. Mary wachte zeitig auf und hörte zu, wie draußen die Vögel sangen, hin und wieder ein Auto die Straße entlangfuhr, Fahrradreifen sich in den Sandkies drückten. Im Haus bewegte sich nichts. Mary liebte das Haus, trotz der dünnen Wände, der lauten Klospülung, dem Rattern in den Rohren, wenn Mama das Spülwasser ausschüttete und der dicke Schaum gurgelnd verschwand. Sie dachte an die Holzbaracke, in der sie vorher gelebt hatten, eine staubige Hütte am Rand einer Arbeitersiedlung mit einem Abtritt draußen im Hof, den sie mit zwei anderen Familien teilten. Jetzt freute sie sich jeden Morgen auf das Badezimmer mit dem glänzenden Ölanstrich in Hellblau, in dem es ein Keramikklosett mit weißer Plastikbrille gab, eine Duschtasse aus Kunststoff mit Glaswand und einer Glastür, die Daddy extra in einem Alurahmen eingepasst hatte. Dazu gab es ein Waschbecken mit Handtuchhaltern und ein Spiegelschränkchen. Alles weiß und hellblau und makellos sauber. Heißwasser aus dem Hahn, der aussah wie eine eiserne Blume, bunte Zahnputzbecher auf einem Holzregal aufgereiht, Mamas Parfüm, das sie nicht anrühren durfte, weil es so sündhaft teuer war. Ein Verbot, an das sie sich selten hielt. Auf dem Boden lag ein flauschiger runder Wollteppich, den Mama gehäkelt hatte und der sich meist feucht, aber weich anfühlte. Das winzige Fenster hatte ein Fliegengitter, und die Tür konnte man versperren, um ungestört zu sein. Nur der kleine Bruder durfte das noch nicht. Mary fand, es war ein wunderbares Bad.

Sie hörte im Zimmer der Eltern das Bett knarren, eine Tür öffnete sich. Vermutlich war es Daddy, der als Erster aufstand. Jetzt würde er im Bad verschwinden, sich rasieren, das Gebiss putzen und in seinem Mund verankern, breit sein Spiegelbild angrinsen und mit der Zunge gegen die Gaumenplatte drücken. Dann würde er die weißen Haare kämmen, akkurat den Seitenscheitel ziehen, ein wenig Rasierwasser auf den Handtellern verteilen und die Wangen beklatschen. Dann würde er ins Schlafzimmer zurückkehren, sich anziehen und vors Haus treten und vom dürren Rasen die Zeitung aufheben, die der Bote in der Morgendämmerung dort hingeworfen hatte. Währenddessen würde Mama ins Bad gehen und summen, wie sie immer summte, wenn sie nicht den Unterricht vorbereitete oder las oder Mary für das Leben fit machte. Und sobald sie fertig war, würde das Bad auf Mary warten mit einer Duftmischung aus Irish Moss, Veilchenseife und L’Air du Temps. Nichts konnte einen Tag verführerischer beginnen lassen.

Joey, den Mama beharrlich Josef nannte, schlief noch, als Mary ihr Kleiderbündel packte und an seinem Bett vorbei ins Bad schlich. Joey war süß, lästig und absolut uninteressant als Spielgefährte; ein Kindergartenbruder hatte nichts für eine Dreizehnjährige zu bieten. Nur das Drama seiner Geburt hatte eine Zeit lang als Gesprächsstoff bei den Freundinnen für Furore gesorgt, hatte Mama doch einen zweiten Jungen geboren, Minuten nach Joey. Und der war anscheinend sofort gestorben. Mary hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, es überhaupt erst Tage später erfahren, als sich Daddy verplappert hatte.

»Du und dein Mundwerk«, hatte Mama geschluchzt, und dass es kein Thema für Mary wäre, kein Thema für irgendwen, kein Thema jetzt und in Zukunft, weil niemand über Peter sprechen sollte, sonst bräche ihr noch das Herz, wieder einmal.

Mamas Herz stellte sich Mary als einen von Sprüngen und Rissen überzogenen roten Klumpen vor, nicht zu vergleichen mit den glatten und von Strahlen umrahmten Herzen Jesu in den Kirchen; ein beschädigtes Organ, auf dem, wie Mama manchmal ärgerlich rief, jeder in diesem Haus herumtrampelte, Joey ausgenommen.

Mary war bei der Geburt der Zwillinge neun Jahre alt gewesen. Ein toter Bruder, mit dem sie keine Gefühle verbanden, war ein viel zu aufregendes Thema, um es nicht mit ihren besten Freundinnen zu bereden. Abgesehen davon schienen die Nachbarn sowieso mehr darüber zu wissen als sie. Nur den Namen kannte niemand, daher behielt sie ihn für sich. Das tote Baby war ein Geheimnis, von dem viele wussten, über das jedoch nicht gesprochen werden durfte. Bei Simon, der ein Jahr später auf die Welt kam, war das anders gewesen. Oh, so ein süßes Baby, keines, das Nächte durchbrüllte, eines, das immer zu lächeln schien. Joey war ein lustiger Bruder, aber Simon war ein Engelchen. Zu gut für diese Welt, sagten manche Nachbarinnen, nachdem er eines Tages vom Mittagsschlaf nicht aufgewacht war. Von Simon redeten sie alle noch, obwohl Mama dabei feuchte Augen bekam. Joey soll seinen Bruder nicht vergessen, sagte sie manchmal, und Mary wunderte sich, warum Peter verschwiegen werden sollte.

Sie spürte den Schmerz. Seit Kurzem hatte sie selbst jeden Monat den krampfenden Bauch und das Blut zwischen den Beinen. Und sie hörte immer wieder von Frauen, die die Erinnerung an tote Kinder pflegten. An besonders finsteren Tagen hatte Mary den Eindruck, über jeder Siedlung schwebten diese zu früh Geborenen, diese zu früh Gestorbenen, und das Lachen der spielenden Geschwister stieg zu ihnen empor und umhüllte sie.

Mary schüttelte sich. Sie wusch sich, bediente sich sparsam bei Mamas Parfüm, band ihre Haare zusammen und knüpfte über den Gummi, der den Pferdeschwanz zusammenhielt, eine rote Seidenschleife, die wunderbar zu dem gepunkteten langärmeligen Kleid mit dem Tellerrock passte.

»So schön heute?«, fragte ihre Mutter, als sie in der Küche auftauchte.

Mary lächelte breit und setzte sich an den Tisch. Daddy tauchte hinter der Zeitung auf, betrachtete sie kurz und versank wieder in den Tagesneuigkeiten.

»Ist das nicht ein wenig übertrieben?« Mama band Pyjamajoey die Serviette um und hievte ihn auf seinen Stuhl.

»Nein.«

»Triffst du dich mit deinen Freundinnen?«

»Ja.«

»Was habt ihr vor? Du bist zu fein angezogen, um drüben auf dem Spielplatz zu sitzen.«

»Wir fahren zu dritt ins Zentrum.«

»Das ist zu weit.« Mama nahm ihre Brille ab und rieb die roten Druckstellen an ihrer Nase.

Wieder musste Mary an das Schwarz-Weiß-Foto denken, das ihr Daddy einmal gezeigt hatte, er hatte es in dem Jahr nach der Hochzeit gemacht: ihre Mutter in einem angeblich dunkelroten Kleid mit schwarzem Spitzenjäckchen, die Haare noch schulterlang und offen, mit geschminkten Lippen und Augen, die nicht von spiegelnden Gläsern versteckt wurden. Sie war auf dem Fußboden gesessen, den weiten Rock ausgebreitet wie eine offene Malvenblüte, und blickte hoch, direkt in die Kamera, lächelnd. Daddy hatte über das Foto gestrichen, bevor er es Mary in die Hand drückte. Mary hatte die Frau auf dem Bild angeschaut; natürlich war es ihre Mutter oder zumindest eine jüngere Version, ohne Falten und graue Schläfen. Einfach schön. Die Brille war in ihrem Schoß gelegen, griffbereit. Mary hatte das Gesicht ihrer Mutter noch nie so ungeschützt, so nackt und so glücklich gesehen. Jetzt wurde ihr plötzlich klar, dass sie viel zu wenig über diese Frau wusste, die sie umsorgte, die rote Hände hatte von den Jahren, in denen sie in kaltem Wasser Wäsche gewaschen hatte, die eine geachtete Lehrerin war und von ihrem Vater so abgöttisch geliebt wurde.

»Ist es nicht«, sagte Mary, »ich nehme mir ein Sandwich mit, und spätestens abends bin ich rechtzeitig zum Essen wieder daheim.«

»Albert, sag was. Eine Dreizehnjährige ist zu jung, um sich mit anderen Dreizehnjährigen in der Stadt herumzutreiben.«

»Angies großer Bruder geht mit«, warf Mary ein.

»Scott ist siebzehn und wird die Augen woanders haben. Was wollt ihr in der City, was es hier nicht auch gibt? Außerdem hast du kein Geld, und ich gebe dir auch keines. Und der Rock ist viel zu luftig, das ist lächerlich bei diesem Wetter. Du musst zumindest die dicke Jacke anziehen, es ist kalt.«

»Ich weiß, ich bin ja nicht blöd.«

Nordwind, trocken und nach verbrannter Erde riechend. Mary schaute aus dem Fenster. Im Zentrum würde es stille Ecken geben, im Schutz der Mauern würde sie vielleicht ihr hübsches Kleid zeigen können. Aber natürlich würde sie den Mantel brauchen.

»Also, wie du redest! Nein, du kannst nicht mit Scott gehen.«

»Warum nicht?«

»Er ist zu alt. Ich frage mich sowieso, was er mit euch kleinen Mädchen am Hut hat.«

»Mama!«

»Das ist seltsam. Albert, sag auch was.«

Albert brummte, und Mary wusste, er hatte überhaupt nicht zugehört. »Aber Angie ist seine Schwester«, widersprach sie gereizt. »Warum soll er nicht mit ihr und ihren Freundinnen ausgehen wollen? Noch dazu vormittags!«

»Ich höre so Sachen über ihn.«

»Wieso ist es dir so wichtig, was andere sagen? Warum glaubst du mir nicht? Scott redet mit mir über Bücher. Und er erklärt mir Dinge.«

»Dinge?«

»Na ja, wie die Sachen zusammenhängen. Geschichte und so. Politik …«

»Politik? Ein Siebzehnjähriger einer Dreizehnjährigen? Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Maria?«

Mary starrte ihre Mutter an, senkte schließlich den Blick. Es war immer dasselbe.

»Ich mag es nicht, wenn du ohne uns unterwegs bist. Schon gar nicht in diesen dunklen Straßen voller Einwanderer und Unglücklicher, die Arbeit suchen.«

»Ihr seid auch Einwanderer. Bloß ich nicht. Ich bin hier geboren, wie Joey. Wieso hast du bei allem, das ich tue, Angst?«

»Albert, sag endlich etwas.« Die Mutter stand auf und verschwand mit Joey im Bad.

»Du bist zu jung«, sagte Daddy hinter der Zeitung.

»Bin ich nicht. Außerdem ist Melbourne sicher, während Mama in meinem Alter einen Krieg erlebt hat. Nichts, was mir hier geschieht, kann so schlimm sein wie das, wovon sie nicht redet. Und du im Übrigen auch nicht.«

Die Zeitung senkte sich. »Also gut. Aber du bleibst bei den anderen Mädchen. Ihr trennt euch nicht.«

»Ich liebe Melbourne.«

»Ich weiß.«

»Ich bin Australierin. Ist es das, was Mama an mir stört? Dass ich alles hier so liebe?«

»Nichts stört sie an dir. Es kann sie gar nicht stören, weil du unsere Tochter bist und einfach perfekt.«

»Merkst du es nicht? Ist es, weil ich daheim so oft Englisch rede? Ist es das? Sie mag etwas an mir nicht.«

Daddy sah sie ausdruckslos an und verschwand hinter der Zeitung. »Das bildest du dir nur ein.«

Mary bog die Zeitung herunter, sodass sie sein Gesicht sehen konnte und er gezwungen war, sie anzuschauen: »Du weißt, dass das nicht stimmt. Sie liebt dich und sie liebt Joey. Aber bei mir ist es Liebe auf einem Hinkebein. Und nun red es nicht schön.«