Über das Buch

Galicien, die stürmisch schöne Küste und zwei ungleiche Schwestern: In Galicien pflückt das Meer die Schwimmer wie Früchte von den Felsen und verschlingt sie. Eines Tages holt der Ozean auch Marias Schwester: Adela ertränkt sich und lässt die Familie voller Fragen zurück. Nach dem Unglück flieht Maria nach Deutschland. Erst Jahre später beschließt sie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Und trifft dabei auch auf Mateu, Adelas Freund. Ihm war Maria schon immer näher, als sie es sich erlaubte. Mit Wärme und Humor erzählt Marlene Fleißig eine berührende Geschichte über Schuld und die Schatten der Vergangenheit.

Marlene Fleißig

Bestimmt schön im Sommer

Roman

hanserblau

1

Dass mir ausgerechnet der Hund blieb. Alles andere hatte er mitgenommen. Sogar diese Lampe, die uns seine Schwester zu Weihnachten geschenkt hatte und von der er in den drei Jahren, in denen wir zusammenlebten, immer behauptet hatte, er fände sie hässlich. Also die Lampe jetzt. Als er ihr den Schirm abnahm, bedacht darauf, die Falten nicht zu zerdrücken, den goldenen Stiel auseinanderschraubte und ihn mitsamt massivem Fuß fast zärtlich in einen Karton bettete, hätte ich schreien mögen.

Stattdessen sah ich stumm zu, wie er nach der Lampe den restlichen Teil der Wohnung sezierte und unsere Zeit in Kisten und Kartons verpackt davontrug. Ich sah seinen Zeigefinger E für Exit drücken, bevor der Fahrstuhl ihn für immer verschluckte, dann ging ich zurück in die Wohnung. Der Hund lag vor dem Herd wie immer und hatte von alldem nichts mitbekommen. Er war nicht mehr der Jüngste. Außerdem litt er an Verdauungsstörungen und — wie ich vermutete — an einer latenten Bulimie. Doch in diesem Moment beneidete ich ihn wie niemanden sonst auf der Welt. Ich legte mich auf den Fliesenboden neben ihn, alle viere von mir gestreckt. Der Hund hob den Kopf und kotzte ein bisschen auf die Fliesen, dann legte er seine Schnauze zurück auf die Pfoten und schlief ein. Nur noch wir beide also.

Ich war schon immer zu empathisch. Fremde erzählten mir nach Minuten die dunkelsten Geschichten aus ihrem Leben, legten Abgründe vor mir frei, die sie selbst schaudern ließen. Bekannte vertrauten mir Geheimnisse aus ihrer Kindheit an. Freunde sahen jedes meiner Worte als Aufforderung, ihre Seele nackt und bloß in meine Arme zu stoßen, wo sie — doch das wusste nur ich — zitternd zugrunde gehen würde.

Ich rollte mich auf den Bauch und kramte mein Handy aus der Hosentasche. Zwei verpasste Anrufe meiner Mutter. Schon wieder. Außerdem ein Anruf von einer unbekannten Nummer, aber mit gleicher Vorwahl. Sie hatte wohl von den Nachbarn aus angerufen. Geschickt. Ich löschte die Anzeige und wählte Enos Nummer.

Als sie sich meldete, nur mit einem »Ja?«, niemals mit einem »Hallo« oder gar »Hier ist Eno«, erschrak ich wie immer kurz. Ihre Stimme war ein Zug, der einen überfuhr, und es blieb noch nicht einmal Zeit, um die Leichenteile von den Schienen zu kratzen. Eigentlich waren diese Stimme und Enos leichter Zungenschlag der einzige Grund, warum ich sie nicht sofort gehasst hatte. Eno war eins dieser frischen, gesunden Mädchen, die niemals Augenringe hatten oder etwas zwischen den Zähnen, die ein perfektes Model für Joghurt oder Nivea wären und die zauberhaft aussahen, wenn sie Aprikosen kauften. Aber mit dieser Stimme konnte man nicht für Nivea modeln, mit dieser Stimme soff man, schrie und schimpfte, und schweigen tat man nie.

»Scheiße«, sagte sie. »Er is weg, oder?«

»Hm«, sagte ich ins Handy, das ich ein paar Zentimeter von meinem Ohr weghielt.

»Scheiße«, sagte sie wieder und noch ein paar wirklich schlimme Schimpfwörter.

Mein Telefon hatte einen Riss im Display, einen ganz kleinen an der Seite. Ich wusste nicht, wo er herkam, er war wirklich klein. Aber so was konnte schnell zum Problem werden, das ganze Display würde irgendwann einreißen, oder? So war das doch mit Scheiben.

»Und ich glaube, ich werde nie fertig, ich sitz vor den Büchern und weiß nicht, wo weitermachen …«

Ich war so emphatisch, dass meine eigenen Probleme fremden Seelenmüll anzogen. Eno kippte ihn mir schon seit Jahren vor die Füße. Das gammligste Thema war ihre Doktorarbeit. Ich verdrehte die Augen, was mich gleich traurig machte, weil es niemanden mehr gab, in dessen Richtung ich die Augen verdrehen konnte. Enos Doktorarbeit war ein Jahrhundertprojekt, von dem wir beide insgeheim wussten, dass sie es nie beenden würde. Sie hatte damit angefangen, während sie schwanger war, und jetzt, wo sie ihr zweites Kind bekommen hatte, fand sie, sie könne es eigentlich abschließen. Fast jede Woche brach wieder die Welt zusammen, sie rief an und erzählte mir vom absoluten Super-GAU, Spinat in der Tastatur und unauffindbaren Literaturstellen. Wir fanden beide, sie müsse das Thema wechseln, und so war sie von den Kreuzzügen zur Perspektive der Frau in der Französischen Revolution bis hin zum Eichhörnchen in der Popkultur gelangt — oder etwas in der Art. Manchmal war ich mir nicht einmal sicher, in welchem Fach sie promovierte. Wahrscheinlich würde auch ihr aktuelles Thema, das irgendwie mit Kresse zu tun hatte, nicht lang halten. Eno hatte nie irgendetwas beendet. Wenn ihre Kinder nicht nach neun Monaten aus ihr herausgepurzelt wären, würden sie vermutlich immer noch in ihr reifen.

Ich hätte also wissen müssen, dass es ein Fehler war, sie anzurufen. Aber ich brauchte Eno.

Sie hatte gerade aufgehört zu reden, wahrscheinlich musste sie Luft holen. Der Hund drehte den Kopf in meine Richtung. Gerne würde ich sagen, er blickte in meine Richtung, aber es war nicht so, dass er mich noch erkennen konnte. Dass er nichts mehr sah, fiel ihm wohl auch wieder ein und er trottete in den Flur. Vermutlich Richtung Fressnapf, wo er sich ein paar Minuten vollstopfen und dann auf den Flokati im Schlafzimmer kotzen würde.

Ich sagte zum Telefon: »Und wie geht’s dir jetzt damit?«, was wohl so einladend und vertrauenerweckend war, dass Eno weitere zehn Minuten über ihren Dozenten sprach, der ja schon ganz süß sei, allerdings leider schon um die siebzig. Wir verabredeten uns für bald und legten auf.

Ich fühlte mich nicht wirklich besser, aber immerhin war es auch nicht schlimmer geworden. Sogar der Gedanke, jetzt zur Arbeit zu müssen, war erträglich.

Am Krankenhaus schloss ich mein Fahrrad an die Linde, die noch auf der guten Seite stand. Ein paar Schritte weiter überquerte ich die Grenze zum Park des Krankenhauses und wechselte auf die dunkle Seite. Genau in dem Moment, als ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, ging die Außenbeleuchtung an und überstrahlte die Nacht fahl. Schnell nahm ich die Stufen bis zur gläsernen Tür, die sich mit einem unheilvollen Schmatzen öffnete und mich verschluckte.

Seit Monaten schon kam ich um diese Zeit ins Krankenhaus, aber die Frau am Empfang behandelte mich nach wie vor wie einen Eindringling. Wie einen Serienmörder, der sich ins Gebäude schleichen wollte und sich ausgerechnet ihre Schicht für seinen Amoklauf ausgesucht hatte.

»Wohin?«, schnarrte sie.

Ich zeigte ihr meinen Ausweis, wie in den Monaten zuvor. Heute schien sie einen schlechten Tag zu haben. Natürlich schien sie immer einen schlechten Tag zu haben, aber heute war er wohl wirklich mies. Sie griff zum Hörer und fragte, ob meine Anwesenheit denn rechtens sei, leierte meinen Namen und meine Nummer herunter. Das hatte sie — eben an ihren wirklich miesen Tagen — erst drei oder vier Mal getan, immer mit demselben Ergebnis: Sie ließ mich passieren.

»Heute auf der 4A«, rief sie mir nach. Aber nicht, um mir den Weg zu weisen, sondern um mich spüren zu lassen, dass sie genau wusste, wohin ich ging.

Die 4A mochte mich nicht. Ich hatte nichts gegen die Station, eigentlich war sie ein ruhiger Bereich, wenn man von Tod und Leid absah. Aber die 4A brachte mir kein Glück. Nach einer 4A-Schicht brummte mir der Schädel, meine Augen rieben an den Lidern und an Schlaf war nicht zu denken. Meine Aufgabe hier war es, zuzusehen, dass niemand ausbüxte. Die 4A war daher eigentlich ein Abstieg für mich, angefangen hatte ich auf der Intermediate Care Station. Jeder, der noch halbwegs selbstständig atmete, wurde dorthin verfrachtet. Dort hatte ich nachts Patienten überwacht, die mehr Schlauch als Mensch waren, gestrandete Kraken.

Passiert war eigentlich nie etwas. Nur einmal hörte das Herz eines Mannes auf zu schlagen. Die ganze Nacht hatte er ruhig geatmet, ich hatte im Stuhl neben ihm gedöst, dann war es passiert. Man sagt, im Notfall wisse das Gehirn, was es tun müsse, eine seltsame Klarheit erfülle einen und man entwickle Kräfte und Fähigkeiten, von deren Existenz man nichts wisse. All das war mir nicht geschehen, obwohl gerade ich doch vorbereitet hätte sein müssen. Nichts, nicht ein Satz aus einem der Bücher, die ich für mein Studium gelesen hatte, war mir eingefallen. Keine einzige Erinnerung aus den Kursen war mir gekommen. Ich hatte dagesessen und auf die Bettdecke des Mannes gestarrt. Dann waren ein paar Menschen in das Zimmer gestürmt, ohne dass ich sie hätte holen müssen. Ich erinnere mich noch an die Ohrringe der Schwester, silberne Rosen, an den schiefen Eckzahn des Arztes und daran, dass die Decke des Mannes auf der linken Seite bis auf den Boden hing. Alles andere ist weg.

Danach wurde ich seltener auf der Halb-Intensiv eingeteilt und immer öfter auf der 4A. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung.

Das Zimmer 341 war ein Vierbettzimmer, aber heute Nacht waren nur zwei Betten belegt. Als ich die Tür öffnete, flutete das silberne Licht aus dem Gang den Raum. Kurz bevor es die Betten erreichte, verlor es sich und ich konnte nur erahnen, wen ich heute Nacht bewachen sollte.

Im Bett links vor mir sah ich schemenhaft einen Kopf mit verstrubbelter Dauerwelle. Auf der rechten Seite lag jemand, der sich seine Decke bis zum Scheitel gezogen hatte. Ich schob die Tür hinter mir zu und tastete mich an der Wand entlang zu einem der leeren Betten. Ich kletterte auf die Matratze, und meine Hand suchte die Nachttischlampe. Als ich sie anknipste, bewegte sich die Lockige ein bisschen, schlief aber weiter.

Manchmal wurden die Patienten wach, wenn ich bei ihnen saß. Sie fragten, ob ich Ärztin sei. Ich sagte schnell Nein, doch jedes Mal war es wie ein Schlag in den Magen. Die Leute erzählten von ihren OPs und von ihren Kindern. In dieser Reihenfolge. Wenn es keine Kinder gab, dann von den Katzen oder den Nachbarn — ebenfalls in dieser Reihenfolge.

Meistens passierte jedoch gar nichts, und ich konnte lesen. Oft hatte ich Lektüre dabei, die mir Eno empfohlen hatte. Das waren so abgehobene Bücher, dass ich nach ein paar Sätzen den Faden verlor und lieber checkte, ob der Patient noch atmete. Oder es waren seichte Heftchen aus den hinteren Reihen ihres Bücherregals, die vorhersehbarer waren als die Ampelphasen. Okay, ich geb’s zu: Die Klatschheftchen kamen aus den hinteren Reihen meines Bücherregals. Den Stoff holte ich mir in der Buchhandlung am Bahnhof. Da waren die Neuerscheinungen übersichtlich aufgebahrt. Wenn ich das Buch gelesen hatte — und ich las jedes bis zum Ende —, beerdigte ich es unter einer Parkbank, auf einem Tisch in der Cafeteria oder »vergaß« es auf dem Nachtkästchen eines Patienten.

Einmal hatte mich eine Angehörige aufgeweckt, als ich gerade mit Liebeskummer für Anfänger auf den Knien eingeschlafen war. Ihr strafender Deutschlehrerinnenblick hatte erst mich, dann den Buchdeckel durchbohrt, als sie sich geräuspert und über mich gebeugt genäselt hatte: »Dafür werden Sie aber nicht bezahlt.« Tatsächlich wusste ich nicht genau, wofür ich bezahlt wurde. Zusehen, dass niemand abkratzte, konnten Maschinen tausend Mal besser als ich. Bei meinem Stundenlohn hielt sich das schlechte Gewissen allerdings in Grenzen.

Heute hatte ich meine neueste Bahnhofsbuchhandlungs-Errungenschaft dabei, Paradiesküsse. Ein Mann und eine Frau stranden darin auf einer Insel und entdecken ihre Liebe in einer Garten-Eden-Kulisse. Ich wünschte mir, dass auf Seite 100 zumindest enthüllt würde, die beiden seien Geschwister. Nach ein paar Kapiteln, in denen Adam sich als gestresster Investmentbanker erwies, dem eine Auszeit auf einer Insel nur guttat, blickte ich zu den Schlafenden. Ich stellte mir unter der Decke das friedliche Gesicht einer zierlichen alten Dame vor, die nachmittags mit ihrem zierlichen alten Hund nach draußen ging oder mit ihren Enkeln in einem zierlichen alten Café Torte aß. Die Frau drehte sich auf die Seite und ihr Gesicht lag nun zu mir gewandt. Im Schein der Lampe konnte ich verwischte Züge erahnen. Zum Glück hatte sie sich gerade bewegt, sonst wäre ich mir sicher gewesen, es mit einer Leiche zu tun zu haben.

»Lebt hier noch jemand?«, sagte das Wachsgesicht mit Bassstimme.

Ich fuhr herum. Es war nur Lars, der seinen Kopf durch die Tür steckte und grinste.

»Hast dich erschreckt?«

Ich zuckte die Achseln. Lars war einer dieser Typen, die einen immer ein paar Sekunden zu lange ansehen. Das passierte mir oft mit Männern. Sie mochten mich. Ich war nicht so hässlich, dass sie sich vor ihren Freunden für mich schämen müssten, aber auch nicht hübsch genug, dass sie um mich kämpfen wollten. Bei Frauen war es ähnlich. Sie brauchten mich, damit ich Leinwand für ihre Vorzüge war.

»Du siehst müde aus.«

Lars lehnte sich in den Türrahmen und fing an, mich zu lange anzusehen. Er war hier für seinen Mitternachtsflirt, der allein aus Langeweile resultierte. Oder Schlafmangel. Manchmal war mir so fad, dass ich darauf einstieg, selbst als ich noch glücklich vergeben gewesen war — also gefühlt vor hundert Wintern —, aber heute war mir nicht danach zumute.

»Schon«, sagte ich und richtete meinen Blick wieder auf die Buchseiten.

»Bist du schlecht drauf?«, fragte Lars.

Die Frau im Bett neben mir drehte sich wieder auf die andere Seite.

»Du weckst sie«, flüsterte ich, ohne aufzusehen.

Lars blieb noch einen Moment unbewegt im Türrahmen stehen. Dann sagte er leise: »Na gut, nächstes Mal wieder? Hast doch die Woche Schicht, oder?«

Ich nickte, ohne aufzusehen.

»Super, ich auch!«, sagte er, wieder zu laut, und die Dauerwelle schreckte hoch.

»Was ist los?«, krächzte sie. Ihre Stimme und ihre Augen zeugten noch vom Schlaf.

»Alles gut, Frau Herbert, keine Sorge!«, sagte Lars.

Wenn der wüsste.

2

Drei verpasste Anrufe und eine SMS:

Maria. Son 5 anos, esperamosche.

Ich drückte auf Löschen und verfluchte die Person, die meiner Mutter das SMS-Schreiben beigebracht hatte. Sie erwarteten mich also. Wer »sie«? Mein Vater gehörte wohl kaum dazu.

Im Dezember würden es fünf Jahre sein.

3

Schwangere Frauen machen mir Angst. In ihrer Gegenwart werden meine Hände doppelt so groß, ungelenk und unkontrollierbar. Die Arme hängen als nutzlose Prügel an mir herunter und pendeln mal hierhin, mal dorthin. Um den aufgeblähten Schwangerenbauch ist ein Bannkreis, der mich abstößt.

Im Schwimmbad, wo die Bauchballons einen ungerechten Vorteil bringen — vielen Dank, Auftrieb —, suche ich die Bahn, die am weitesten entfernt ist von den Mutterschiffen. Auch meine Beine könnten beim Schwimmen außer Kontrolle geraten, zucken, mit der Ferse die harte Bauchdecke erwischen.

Den Bauch in der Dusche einschäumen, Seifenwasser am herausstehenden Bauchnabel, Schaumströme über den Bauch zwischen den Beinen verschwindend. Tattoos, vielleicht an der Hüfte, vorschwangerschaftliche Brandmarken.

Bäuche auf dem Fahrrad neben mir, Schweißausbrüche, denn wer weiß, vielleicht ein Kieselstein, eine Unebenheit der Straße, ein unbedachter Schlenker. Dann keilt sich Lenker in Lenker, Bauch trifft Asphalt.

Weil schwangere Frauen lächeln und sympathisch watscheln und in der H & M-Dickenabteilung einkaufen können, wo es immer die tollsten Schnitte und Farben gibt, kommt man nicht auf die Idee, dass auch schwangere Frauen Angst vor schwangeren Frauen haben. Nicht vor dem Wesen, das da in ihnen wächst und sie aussaugt und später vielleicht einmal Anwalt werden will oder Grundschullehrer. Sondern vor dem Raum, den sie selbst plötzlich einnehmen. Vor dem eigenen Körper. Glaube ich.

Als Eno das zweite Mal schwanger war, kam mir dieser Gedanke häufiger. Sie kugelte oft bei mir vorbei, öfter als sonst. Wir kannten uns damals erst kurz. Außerdem wusste ich, dass sie meine Wohnung eigentlich nicht mochte, zu wenig Platz zum Denken. Ideen stießen hier an Wände und wurden unsanft zurückgeworfen, trafen mich am Kopf, da hatte sie schon recht. Wahrscheinlich mochte Eno das Zimmerchen umso weniger, als sie hier, in der denkbehinderten Zone, mit ihrem Bauch unter der meergrünen Tunika noch gigantischer wirkte, ein Berg, den es zu erklimmen galt.

Ich kochte Tee, Kräuter. Immer Kräuter.

»Was Gesundes«, sagte ich jedes Mal, wenn ich ihr die angelaufene Alf-Tasse in die Hand drückte. Eno schnaubte.

Wir redeten nicht viel in dieser Zeit, und ehrlich gesagt bedrückte mich das. Es war kein angenehmes Jeder-hängt-seinen-Gedanken-nach-Schweigen. Also Eno hing schon ihren Gedanken nach, nur unterbrochen von ständigem Handyklingeln, das sie ignorierte. Ich nur dem einen: Was war los mit ihr?

Ich kannte Eno erst seit ein paar Monaten. Von ihrem Sohn hatte ich nur in einem Nebensatz erfahren und war zu perplex gewesen, nachzufragen. Kind Nummer zwei war mir daher ein komplettes Rätsel. So starrte ich auf ihren auf- und abgehenden Bauchberg und fragte mich, wie der kleine Vampir da hineingekommen war. Ich war geneigt, zur Storchtheorie zurückzukehren, anders konnte es nicht gewesen sein. Wann, zwischen Reisepläne schmieden, Doktorarbeit schreiben, feiern gehen, Wolken gucken und der ganzen Zeit, die sie mit mir in Studentenstarre verbracht hatte, hatte sie ein Kind gezeugt?

Außerdem war ich beleidigt, dass sie meinen Kräutertee trank und den einzigen bequemen Sitzplatz in meiner Bude besetzte, ohne mir erzählt zu haben, dass sie mit jemandem ausging. Wobei »ausgehen« ein zu angestaubtes Wort war, der Typ hatte sie schließlich geschwängert. Der Bauchballon, die Teetasse, die sie umklammert hielt, und die Stille hielten mich davon ab, nach ihm zu fragen.

Schließlich ging Eno auch abends nicht mehr nach Hause.

»Schon so spät«, gähnte sie und sah auf ihre unsichtbare Armbanduhr.

Ich nickte.

Zu zweit war es sehr eng in meinem Bett, oder quasi zu dritt. Ich schlief fast gar nicht, weil ich Angst hatte, mich zu bewegen. Der Ballon war zu nahe und konnte jederzeit unter meinen Fingern bersten. Eno schnarchte.

Ich machte Frühstück, was Gesundes und Senftoast. Eno verzog das Gesicht. Sie wollte nichts Gesundes.

Eno blieb. Die schicken H & M-Tuniken tauschte sie bald gegen meinen Bademantel. Und immer wieder Kräutertee und Toast. Es war, wie eine Kranke zu pflegen. Nur, dass Eno immer mehr Platz brauchte. Bald würde das Bett zu eng werden. Ich fragte sie nichts und als Dank für meinen Senftoast und meine Stille warf sie mir nach und nach die Brösel ihrer Geschichte hin. Sie war keine gute Geschichtenerzählerin, die Pointe, die ein gerissenes Kondom beinhaltete, kam zuerst und wirkte unmotiviert. Die Protagonisten waren schablonenhaft, eine klassische Pärchenkonstellation. Und das Ende, ja, das fehlte.

Ich warf die leere Toastverpackung in den Müll und ging zum ersten Mal seit Tagen hinaus. Erst auf der Straße, über der die Krähen kreisten, merkte ich, dass ich mich mit Eno eingesperrt hatte. Wir hatten uns verpuppt, aber Raupe blieb Raupe.

In dieser Nacht, als Eno schlief, nahm ich ihr Handy und lüftete das Geheimnis um den Vater ihres Kindes.

David stand am nächsten Tag vor meiner Tür, um Eno abzuholen. Sie zu retten, sagten sein grimmiger Blick und der mahlende Kiefer.

Ich sah uns durch seine Augen, ein trauriges Duo, ausgewaschene Jogginghosen, Haarnester, Senf an den Mundwinkeln, und zog meinen Bademantel enger um mich. Er war ganz freundlich zu mir und bedankte sich, dass ich ihn angerufen hatte. Ich nickte. Eno sah ihn ungläubig an, er nahm den Raum ganz für sich in Anspruch, es war klar, dass er kein Nein akzeptieren würde. Unsicher schielte ich zu ihr, wartete auf das Donnerwetter. Aber sie lächelte mich an und dann ging sie mit ihm. Der schöne blonde Mann im Parka und die Doppelversion von Eno im »Keine Macht den Drogen«-Shirt. Ich blieb zurück, immer noch im Kokon.

4

Die bunten Scheinwerfer strahlten den Disconebel an. Aus dem Nebel schwebten Schattengestalten in Zeitlupe auf mich zu und wurden zu Fleischbergen mit Bart. Oder zu kleinen piksigen Frauen mit Nietenblusen und Strassketten, die alle nach Bruno Banani stanken. Die Männer, die manchmal an ihren Hüften, manchmal an ihren Lippen hingen, waren mit Jean Paul Gaultier eingedieselt.

»Früher war’s hier besser!«, schrie Eno mir ins Ohr. Dann noch etwas und ich nickte heftig, obwohl ich kein Wort verstanden hatte. Der Bass wummerte so laut, dass ich das Gefühl hatte, die Schallwellen würden mich auf die Tanzfläche schieben. Aber ich blieb doch immer nur hier, am Rand, und sah den Verrenkungen meiner Artgenossen zu. Eno trug einen weißen Einteiler, daraus schloss ich, dass Einteiler bald in sein würden. Eno wusste immer lange vorher, was Trend war. Sie machte den Trend. Zum Beispiel war sie die erste Person, die damals ihre Hose in die Stiefel steckte. Jetzt machten das alle, außer Eno.

Der seidige Stoff des Anzugs flatterte um ihre dünnen Arme, als sie sich zu mir beugte und mich zwang, noch einen Schluck von ihrem Caipirinha zu nehmen. Sie lachte, als ich mich verschluckte und ein Spucke-Caipi-Fluss mein Kinn hinabrann. Ich wischte ihn mit dem Handrücken weg und lächelte sie an.

Ihre Schuhe und ihr Kajal sagten Fick mich. Die strenge Flechtfrisur löste sich langsam auf und einzelne Strähnen erdbeerblonden Haars versuchten, den Haarnadeln zu entkommen. Schon mehrere Typen hatten heute Abend probiert, Eno Cocktails zu kaufen, aber für keinen hatte sie sich erwärmt. Sie wich die ganze Zeit nicht von meiner Seite. Ist eben eine gute Freundin, dachte ich und strahlte sie an.

Ich sah mich um und kam mir alt vor zwischen den kaum volljährigen Mädchen mit ihren Sommerkleidchen. Obwohl unterschiedliche Farben vertreten waren, sahen doch alle gleich aus. Wahrscheinlich sah ich auch so aus. Neben der Flatterkleidgeneration, die die Tanzfläche verstopfte, und ein paar Grüppchen im Alter von Eno und mir gab es wie immer auch die Peinlichen, etwas zu Alten, die mit etwas zu engen Hosen und etwas zu glasigem Blick am Rand standen. Sie bewegten sich nur, wenn ein desorientiertes Mädchen aus Versehen in ihre Richtung torkelte, dann schnappte die Falle zu. Wie lange es wohl dauern würde, bis ich entweder einer der stierenden Menschen am Rand oder — das war aber keine Alters-, sondern eine Stimmungsfrage — eins der torkelnden Mädchen werden würde?

Eno stieß mir in die Seite, ihr Blick war irgendwo hinter meinem rechten Ohr verschwunden.

»Trink aus!«

Ich schüttelte den Kopf und spuckte den Strohhalm aus.

»Los jetzt!«

Ich zuckte mit den Schultern und trank auch noch den letzten Rest. Die Hälfte ging in meine Luftröhre, und ich begann zu husten. Eno schlug mir unwirsch auf den Rücken und ich drehte mich zur Seite. Meine Augen tränten, mein Gesicht war halb Cocktail, halb Tränen. Und doch sah ich ganz deutlich hinten an der Säule einen braunen Haarschopf. Der Rum, der gerade noch so schön meinen Magen gewärmt hatte, wurde zu Lava. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte mich, und als ich endlich den letzten Rest Flüssigkeit hochgewürgt hatte, war es zu spät.

Ich schubste Eno weg und suchte die Gegend um die Säule ab. Eine Gruppe Flatterkleidchen, ein knutschendes Paar, aber keine braunen Locken.

»Was ist los?«

Enos besorgtes Gesicht erschien vor mir.

»Nichts, nichts. Ich dachte nur, ich hätte jemanden …«

»Hast du ihn nicht schon vor ’ner halben Stunde gesehen?«

Ihn?

»Wen?«

»Wen? Na, Luis!«

Ach, Luis.

»Komm«, rief Eno und packte mich am Arm.

Ich ließ mich von ihr wegziehen, durch die Masse, schwitzende Körper klebten für Sekunden an mir, Eno presste uns durch die Menge wie durch einen Fleischwolf. Am Ende blieb nur noch Gehacktes von uns übrig. Irgendwie schafften wir es an die Bar. In Sekundenschnelle hatte sie mir ein Bier in die Hand gedrückt.

»Zahl mal, ich brauch das Geld noch fürs Taxi«, sagte sie, und ich kramte in meiner Jeans nach Münzen.

Ich drehte mich um, schaute, ob ich die Säule erspähen konnte, aber da war der Disconebel und da war die Menge auf der Tanzfläche. Eno sah mich interessiert an. Ohne den Blick von mir zu nehmen, schob sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Sie nahm einen Zug.

»Hier drin darfst du nicht rauchen!« Der Barmann drohte mit dem Zeigefinger.

Eno warf die Zigarette zu Boden und zertrat sie mit ihrem Keilabsatz. Erneut packte mich ihre armreifklirrende Hand. Während wir durch die Menge wateten, trank ich mein Bier aus. Schluck für Schluck versuchte ich damit, das Brodeln in meinem Magen zu betäuben. Aber Bier auf Lava war wie Öl auf Feuer.