ROLF VON SIEBENTHAL

Kaltes Grab

Friedrich Reinhardt Verlag

Für Lena

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Anmerkungen

Autor

1

22. Januar

Und deshalb trete ich per sofort aus dem Bundesrat zurück.

Die völlig unerwartete Erklärung Mauro Grafs von 9.30 Uhr lief am Sonntagmorgen als Endlosschleife auf dem grossen Redaktionsbildschirm. Den Ton hatten sie inzwischen abgestellt, Zoe Zwygart las die Worte von Grafs Lippen ab. Eine gute Stunde nach der Pressekonferenz standen ihre Kolleginnen und Kollegen noch immer in Grüppchen zusammen, diskutierten hitzig über den Rücktritt und mögliche Kandidaten für das Amt des Aussenministers.

Jürg Nyffeler, der wuchtige Chefredaktor der Berner Nachrichten, eilte mit einem Lächeln zwischen den Pultreihen hin und her. Fortwährend strich er sich mit den Fingern durch die grauen Haare und über die buschigen Augenbrauen. An einem normalen Sonntagmorgen würde ein kleiner Trupp von Journalisten auf ihren Stühlen herumlümmeln oder die Kaffeepause in die Länge dehnen. Heute schien die Luft wie elektrisch aufgeladen.

Nyffeler klatschte in die Hände, Zoe hob den Kopf, Stille kehrte ein. Er stellte sich mitten in den Newsroom, einen etwa dreissig mal fünfzehn Meter grossen Raum, in dem die Redaktoren an Vierer- oder Sechsertischen arbeiteten. «Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen allen gratulieren und danken für Ihren Einsatz in den letzten Wochen. Das war erstklassige Arbeit. Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Zeitung einen Bundesrat zum Rücktritt zwingt. Wir haben es geschafft.»

Jubel und Applaus brandeten auf, Zoe starrte stumm auf ihren Bildschirm. Nur zu gerne hätte sie sich mitgefreut über den Coup. Doch sie schaffte es nicht.

Mit erhobenen Händen bat Nyffeler um Ruhe. «Mit unserer Berichterstattung haben wir die Konkurrenz in den Schatten gestellt. Heute sind wir die Nummer eins in der Schweiz, die gesamte Konkurrenz zitiert uns. Ich erwarte, dass dies auch morgen so sein wird. Dafür braucht es vollen Einsatz von Ihnen allen. Als ersten Schritt berufe ich eine Sitzung der Dienstredaktoren ein. Sie beginnt in fünf Minuten. Vielen Dank.»

Nochmals applaudierten die Kolleginnen und Kollegen, einige klopften sich auf die Schultern, andere griffen zu den Telefonen. Zoe verschränkte die Arme vor der Brust. Die Rücktrittsnachricht hatte ihre miese Laune nur noch verschlimmert. Sie hatte nichts beigetragen zum Knüller, der den Berner Nachrichten gewiss Journalistenpreise eintragen würde. Keine einzige Silbe.

Zoe griff nach einem Notizblock und folgte den Kolleginnen und Kollegen die Treppe hoch. Sie hatte Dienst in der Lokalredaktion, das hiess: Artikel überarbeiten, Bilder auswählen und das Layout gestalten.

Im Sitzungszimmer im 4. Stock hingen Ölgemälde der ehemaligen Verleger an den Wänden, die klapprigen Holzmöbel und der zerschlissene rote Teppich erzählten von den finanziellen Engpässen des Blattes. Schwungvoll nahm Nyffeler oben am Tisch Platz, flankiert von Starschreiber Andy Walker im edlen Anzug und Inlandchefin Sonja Aeberhard mit ihrem kurzen, kupferrot gefärbten Haar.

Nyffeler wartete, bis alle auf ihren Stühlen sassen. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Er hatte das Jackett ausgezogen und die Ärmel seines weissen Hemdes hochgekrempelt, durch dessen Brusttasche ein blauer Kugelschreiber auslief.

«Es ist hoffentlich allen klar, dass wir im Begriff sind, Mediengeschichte zu schreiben.» Seine Augenbrauen hoben und senkten sich zur Betonung. «Die Online-Redaktoren sagen, dass wir die höchsten Klickraten seit dem Aufschalten der Webseite verzeichnen. Es kommen Dutzende Mails und Anrufe herein, sowohl positive wie auch negative. Ich denke, wir greifen nicht zu hoch und dürfen Parallelen zu Watergate ziehen. Das ganze Team hat tolle Arbeit geleistet.»

Inlandchefin Aeberhard im schwarzen Kostüm legte Andy Walker eine Hand auf die Schulter. «Und wir wissen alle, wem wir das zu verdanken haben.»

Ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Saal.

«Danke, Sonja.» Andy Walker fuhr mit der Rechten durch das halblange, silberblonde Haar, mit der Linken richtete er den Knoten der dunkelblauen Seidenkrawatte. Er grinste, als hätte er im Lotto gewonnen. Bestimmt überlegte er, wer ihn in der Verfilmung der Geschichte spielen würde: George Clooney oder Brad Pitt?

«Super gemacht, Andy.» Lea Brönnimann von der Wirtschaftsredaktion klimperte mit den Wimpern. Hoffentlich warf sie ihm nicht noch ihren Slip vor die Füsse.

Zoe mochte nicht mitsingen in der Jubelarie. Kurz vor Weihnachten war es gewesen, als die Berner Nachrichten anonym Fotos zugespielt bekommen hatten. Sie zeigten Bundesrat Mauro Graf, Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei, im Bett mit einer unbekannten Frau. Aufgenommen worden waren die Bilder Mitte Dezember im Genfer Luxushotel Beau-Rivage nur wenige Stunden, nachdem er vor den Vereinten Nationen über die Vorzüge der direkten Demokratie gesprochen hatte. Das Boulevardblatt Blick spottete später, dass Graf am Abend bloss den Kontakt zu den Stimmberechtigten habe vertiefen wollen.

Ein ganzes Team der Berner Nachrichten hatte sich an die Arbeit gemacht, hatte recherchiert, Fakten gesammelt und Stimmen eingeholt. Starschreiber Walker hatte zunächst eine grosse Show von wegen Super-Teamarbeit inszeniert. Doch am Schluss hatte er die Geschichte an sich gerissen und unter seinem Namen publiziert. Die Masche hatte er auch schon bei früheren Gelegenheiten durchgezogen, wie Zoe aus eigener Erfahrung wusste.

Ganz entspannt faltete Walker die Hände auf dem Tisch. «Ein Verlag hat mich vor einer halben Stunde angerufen. Er möchte, dass ich ein Buch über meine Enthüllungen schreibe. Ich werde das beim Abendessen mit unserem Verleger, Herrn von Känel, diskutieren.» Er zeigte seine strahlend weissen Zähne. «Ich kann mich nur dem anschliessen, was Jürg gesagt hat. Wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen und müssen unseren Spitzenplatz verteidigen. Deswegen schlage ich vor, dass alle Ressorts die Geschichte aus ihrem speziellen Blickwinkel beleuchten.»

Hatte das Grossmaul auch gleich den Chefposten übernommen? Nur zu gerne hätte Zoe einen bissigen Kommentar abgegeben. Doch sie befand sich in einer zu schwachen Position. Seit einem Brand im letzten Juni, bei dem sie selber verletzt wurde und ihr Grosi beinahe gestorben war, hatte sie keine richtig gute Story mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie sich bloss mit defizitären Gemeindefinanzen und lokalen Parteiversammlungen herumgeschlagen.

Nyffeler nickte. «Ich finde Andys Idee nicht schlecht. Vorschläge?»

Inlandchefin Aeberhard nestelte an der Lesebrille herum, die sie an einer Kette um den Hals trug. «Im Inlandteil werden wir uns morgen auf die potenziellen Nachfolger von Graf konzentrieren. Für die Wahl hat der Bundesrat eben eine ausserordentliche Bundesversammlung einberufen, sie wird in gut drei Wochen, am 14. Februar, stattfinden. Die Zeit drängt also. Die FDP hat diverse National- und Ständeräte, die in Frage kommen. Wir werden ein Anforderungsprofil für den künftigen Aussenminister erstellen und das mit den verschiedenen Kandidaten vergleichen. Und wir gehen der Frage nach, ob andere Parteien der FDP den Sitz streitig machen wollen.»

Stumm machte Nyffeler sich eine Notiz.

Kulturredaktor Lukas Schlatter zupfte an seinem Ohrläppchen. «Wir könnten einen Überblick bringen über Bücher oder Filme, die sich mit gestürzten Politikern befassen. Natürlich würden wir auch Watergate erwähnen. Jeder kennt ‹Die Unbestechlichen› mit Dustin Hoffman und Robert Redford.»

Klar, das würde Walker bestimmt gefallen. Zoe ballte die Fäuste unter dem Tisch.

«Gute Idee.» Walker zeigte seine gebleichten Zähne. «Wie sieht es in der Wirtschaftsredaktion aus?»

Lea Brönnimann blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. «In zwei Wochen hätte Graf eine Gruppe prominenter Firmenchefs auf einer Chinareise anführen sollen. Wir können nachfragen, was jetzt geschieht.»

Neben Zoe machte Justus Läderach ein Würgegeräusch. Der sechzigjährige Sportredaktor mit den geröteten Augen liess seinen Kugelschreiber auf den Tisch fallen. «Graf hat eine Dauerkarte für die Spiele der Young Boys im Wankdorfstadion. Ich werde ein Anforderungsprofil für die Kandidaten aufstellen, die für den Sitz in Frage kommen.»

Walker hob einen Mundwinkel. «Im Sportteil musst du aufpassen mit solchen Spass-Geschichten. Deine Leser nehmen so etwas für bare Münze.»

Läderach zog die Augen zu Schlitzen zusammen. «Hältst du meine Leser für blöd?»

«Na ja, wenn ich ganz ehrlich sein soll …»

«Du kannst mich mal, Walker», polterte Läderach in seinem Oberländer Dialekt. «Diesen Beweihräucherungsquatsch hier höre ich mir nicht länger an. Ich muss nämlich arbeiten. Deswegen habe ich auch keine Zeit für ein Essen mit unserem Herrn Verleger. Genauso wie die Kolleginnen und Kollegen, die sich zwischen Weihnachten und Neujahr den Arsch für dich aufgerissen haben. Vermutlich warst du da auf der Skipiste, Walker. In der Redaktion habe ich dich nämlich nie gesehen. Und jetzt ziehst du hier deine grosse Show ab.» Läderach legte den Kopf schräg und stützte die Wange auf den Zeigfinger. «Mich hat ein Verlag angerufen, weil ich so wahnsinnig toll bin», äffte er Walker mit einer Mädchenstimme nach. «So ein Scheiss.» Er stand abrupt auf, sodass sein Stuhl beinahe umkippte. Dann stürmte er aus dem Besprechungszimmer. Bei der nächsten Gelegenheit würde Zoe ihm ein Bier spendieren.

Nach ein paar Sekunden peinlichen Schweigens seufzte Nyffeler. «Okay, im Sportteil werden wir morgen wohl nichts über den Bundesrat lesen. Aber deine Idee, Lea, finde ich gut. Bitte koordiniert all eure Texte mit Andy. Sonst noch etwas?»

Zoe räusperte sich. «Was ist mit Graf selber?»

«Was soll mit ihm sein?», fragte Walker.

Zoe zuckte betont lässig mit den Schultern. «Vielleicht würde er mit uns reden. Bis jetzt hat er sich nicht geäussert zur Affäre.»

Walker verwarf die Hände. «Denkst du, ich habe es nicht versucht? Er hat alle Anfragen abgelehnt. Und sowieso, Graf ist jetzt Geschichte. Ab heute konzentrieren wir uns auf den Nachfolger.»

«Nicht so schnell.» Nyffeler hob eine Hand, er richtete den Kugelschreiber auf Zoe. «Denkst du, du bekommst ein Interview mit Graf? Vielleicht sogar exklusiv?»

Das Du, das ihr Nyffeler an der Weihnachtsfeier angeboten hatte, fühlte sich noch ungewohnt an. «Ich kann es versuchen.»

Walker verdrehte die Augen.

Nyffeler nickte knapp. «Okay, dann tu das. Das wärs, danke.»

Zoe malte Kringel auf ihren Block, während die anderen ihre Sachen zusammenrafften. Wieder mal hatte sie es geschafft, sich in die Nesseln zu setzen. Wie zum Teufel sollte sie bloss an einen Ex-Bundesrat herankommen, der alle Journalisten hasste?

2

An einem Sonntagmorgen pro Monat traf sich der «Club der alten Schachteln» zum Brunch, wobei jede im Turnus Gastgeberin spielte. Lucy Eicher inspizierte die Wände im Wohnzimmer ihrer alten Freundin Trudi Stähli, die heute an der Reihe war. Den handgeschriebenen Brief von Ron Wood, das Gitarrenplektrum von Keith Richards und die Trommelschläger von Charlie Watts kannte sie. Doch «Dirty Work», eine LP aus den 80er Jahren, musste neu sein. Sie trat davor und sah genauer hin. Tatsächlich, Mick Jagger hatte die Hülle unterschrieben. «Wo hast du denn die Platte her?»

Trudi stellte ein Tablett mit Teigtaschen auf den Tisch neben das trockene Rührei und die angebrannten Würste. «In England gekauft. Online.»

«Teuer?», fragte Ursi Flück.

«Hat mich ein halbes Vermögen gekostet. 1200 Franken», antwortete Trudi.

Viola Foletti verdrehte die Augen. «Na ja, für die Beatles würde ich ja auch einen Batzen Geld hinlegen. Aber für die Stones …»

«Halt, halt.» Lucy hob eine Hand. «Wir haben abgemacht, dass wir diese Diskussion nicht mehr führen.» Sonst würde es unweigerlich Streit geben. Denn Trudi war bekannt für zwei Dinge: ihre Verehrung der Rolling Stones und ihre miese Küche. Während sie selber über ihre nicht vorhandenen Kochkünste lachen konnte, verstand sie bei der Rockband keinen Spass.

Das wussten die vier Mitglieder des Clubs nur zu gut. Sie alle waren um die siebzig und kamen aus dem Marziliquartier. Man kannte sich seit Jahrzehnten. Lucy, Trudi und Viola lebten alleine. Eine Ausnahme bildete da Ursula Flück, die kurz vor ihrer dritten Hochzeit stand. Lucy mochte ihr es von Herzen gönnen.

Ursi hielt die rechte Hand hoch, ein Diamant von der Grösse einer Mandarine glitzerte am Ringfinger. «Meine Kinder finden, der sei übertrieben. Sie meinen, in meinem Alter hätte ich etwas Bescheidenes auswählen sollen.» Sie machte ein finsteres Gesicht unter der lila Dauerwelle. «Ich bin doch nicht fünfundsiebzig geworden, um jetzt plötzlich bescheiden zu werden. Mein ganzes Leben lang habe ich mir so einen Brummer gewünscht.»

Guter Themenwechsel, dachte Lucy. Sie pflichtete Ursi bei. «Das hast du genau richtig gemacht.»

«Ich hoffe, das Kleid passt dazu», sagte Trudi.

«Darauf kannst du Gift nehmen.» Ursi hielt ein Tulpenglas mit Prosecco hoch, alle stiessen an. «Ich habe mir ein weisses Brautkleid mit Rüschen ausgesucht, auch wenn es die Kinder peinlich finden. Die wissen immer ganz genau, was sich für eine alte Dame schickt und was nicht.»

«Ha! Sollen die erst mal siebzig werden und es selber herausfinden», fand Lucy. Sie war froh, dass ihre Tochter Lara ihr nie dreinredete. Wie sollte sie auch, wo sie doch bei wechselnden Männern irgendwo in der Welt hockte, gegenwärtig in Argentinien. Das war auch der Grund, weshalb Zoe, Lucys Enkelin, bei ihrer Grossmutter aufgewachsen war. Und die Kleine schenkte Lucy Dinge wie einen Zehenring, einen Gutschein für ein Tattoo oder aufreizende Unterwäsche von Victoria’s Secret. Ein Hoch auf Zoe! Lucy nahm noch einen Schluck. Sie liess sich auf dem samtbezogenen grünen Sofa neben Viola nieder.

«Na, wie lebt es sich denn mit einem Hund?» Viola tätschelte den Kopf von Winston, der halb unter dem Sofa schnarchte. Nur mit einer Spezialbewilligung hatte sie dem Club beitreten dürfen. Zum einen war sie mit zweiundsechzig viel zu jung dafür, zum anderen wohnte sie seit ein paar Jahren nicht mehr im Marzili, sondern im Berner Vorort Gasel. Doch mit ihrer umgänglichen Art passte sie gut zu den alten Schachteln.

«Wunderbar. Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens, ihn aus dem Tierheim zu holen. Winston freut sich über alles, das ist ansteckend. Zudem zwingt er mich dazu, mehrmals pro Tag an die frische Luft zu gehen.»

«Es wird auch Zeit, dass du wieder auf die Beine kommst.» Unter Violas schwarzen Haaren zeigten sich mehr und mehr graue Strähnen. Doch ihr rundliches Gesicht blieb das ganze Jahr über gebräunt, als käme sie immer direkt vom Strandurlaub. «Etwas komisch sieht er ja schon aus mit diesem Schwanz und den grossen Pfoten.»

Lucy lachte. «Du glaubst nicht, wie oft ich darauf angesprochen werde. Er ist eine Promenadenmischung im besten Sinn.» Winston hatte das schwarzbraune Fell eines Schäferhundes und den buschigen Schwanz eines Collies, dazu schlanke Beine und Pfoten wie Pingpongschläger.

Viola musterte Lucy mit ihren wachen braunen Augen. «Sind deine Wunden gut verheilt oder trägst du immer noch Kompressen?»

Nach dem Brand bei der Jagd auf den Mörder einer alten Freundin im vergangenen Sommer war Lucy nur sehr langsam wieder auf die Beine gekommen, sowohl psychisch wie auch physisch. «Fast, ein paar Narben werden übrig bleiben. Aber es geht von Tag zu Tag besser.»

«Schön, das freut mich sehr.» Viola zupfte einen Fusel vom Rock, sie trug ein schickes dunkelblaues Kostüm und eine Perlenkette darüber. «Hast du von Bundesrat Graf gehört? Das muss schrecklich sein für seine Frau. Wie konnte er ihr das bloss antun? Sich mit einer Fremden im Bett fotografieren zu lassen. Also wirklich …»

Das fragte sich Lucy auch. «Ich kenne ihn recht gut aus meiner Zeit bei den Berner Nachrichten. Damals war er noch Nationalrat. Eigentlich hätte ich ihn nicht für einen Typen gehalten, der fremdgeht. Aber wer sieht schon in einen Menschen hinein?»

«Da hast du recht. Ich mache mir schon lage keine Illusionen mehr, im Bundeshaus wimmelt es doch bloss von Heuchlern. Und Graf sitzt sogar im Vorstand der katholischen Kirchgemeinde von Lyss.»

«Ich frage mich, weshalb er nicht öffentlich Stellung nimmt. Das wäre doch das Mindeste.» Die Berner Nachrichten hatten die Story mit der Prostituierten am 7. Januar veröffentlicht. Zwei Wochen lang hatte der Bundesrat wohl gehofft, er könne die Sache aussitzen.

«Schreibt Zoe etwas über ihn?»

«Ich weiss es nicht, heute habe ich noch nicht mit ihr gesprochen.»

«Letzte Woche habe ich ihr Porträt gelesen über diese Berner Parfümeurin. Unglaublich, was die für eine gute Nase hat.»

«Stimmt.» Ja, der Text über die Frau, die Erfolge mit einer eigenen Marke feierte, war ganz okay gewesen. Aber Zoe hatte deutlich mehr drauf. Sie brauchte endlich wieder mal einen Reisser.

«He, ihr zwei», rief Trudi aus der Küche, «redet ihr wieder über Politik? Bei mir zu Hause ist das verboten.» Sie streckte den Kopf ins Wohnzimmer. «Wir wollen etwas über dein Liebesleben hören, Lucy.»

Ein heikles Thema. Denn Lucy wusste selbst nicht recht, wie es darum stand. Sie setzte ein Pokerface auf. «Du meine Güte, was soll da sein? Ich gehe mit dem Hund spazieren, erhole mich von meinen Verletzungen. Da bleibt keine Zeit für die Liebe.»

Trudi kam mit einem weiteren Tablett ins Wohnzimmer, sie hinkte leicht. «Da höre ich aber ganz andere Geschichten. Ein Amerikaner namens Robi ist in den letzten Monaten oft hier im Quartier gesehen worden.» Trudi grinste. «Wie ernst ist das denn?»

Die Augen von Viola, Ursi und Trudi richteten sich auf Lucy.

Ursi hob einen Zeigfinger. «Antworte ehrlich, sonst hängen wir dich an den Lügendetektor.»

Tatsächlich hatte sie seit bald zwei Jahren wieder regelmässigen Kontakt zu Robert Siegrist, einem guten Freund aus Jugendtagen. Seit dem Brand war er drei Mal aus den USA in die Schweiz geflogen. Und im April würde Lucy zu ihm nach Minneapolis reisen. «Ach, das ist bloss ein guter Freund», log sie und senkte den Blick.

«Ha! Das habe ich gesehen», rief Ursi Flück. «Damit kommst du nicht durch.»

Deren Blick entging nichts, Lucy musste selber schmunzeln. «Um ehrlich zu sein: Ich weiss es nicht so recht. Ich mag Robi wirklich, doch die räumliche Distanz zwischen uns ist im Moment einfach zu gross. Aber er redet davon, wieder in die Schweiz zu ziehen.»

«Gleich zu dir?», fragte Viola. «Riskant.»

Lucy hob beide Hände. «Doch nicht in meine Wohnung. So gescheit bin ich schon. Und Robi auch.»

Trudi nahm einen Schluck Prosecco. «Wenn er in der Schweiz wohnt, werdet ihr bald feststellen, ob ihr es aushaltet miteinander.»

«Bestimmt.»

«Gut für dich.» Ursi hielt einen Warnfinger hoch. «Aber zögere bloss nicht zu lange. Viel Zeit bleibt uns alten Schachteln nicht.»

«Stossen wir an auf Robi. Und darauf, dass wir alle auch in fünf Jahren noch zusammenkommen.» Trudi hinkte einen Schritt näher und hob ihr Glas.

Die Gläser klirrten, Lucy nahm einen Schluck. «Was ist denn mit deinem Fuss passiert, Trudi?»

«Verstaucht. Alle Nachbarn denken, dass ich beim Snowboarden in Grindelwald gestürzt bin.»

Viola machte grosse Augen. «Du fährst Snowboard?»

«Unsinn. Aber das tönt doch hundert Mal besser als die Wahrheit. Nämlich, dass ich im Bad auf einem Waschlappen ausgerutscht bin.»

Ursi kicherte. «Jaja, die grössten Gefahren lauern im Haushalt.»

«Mir ist vor drei Wochen der Staubsauger auf den grossen Zeh gefallen. Das habe ich auch niemandem erzählt», sagte Viola und grinste.

«Das kann ich toppen», meinte Lucy. «Letzte Woche wollte ich nachsehen, ob das Brot im Toaster feststeckt. Als ich den Kopf darüber beugte, sprang es heraus. Ein paar Stunden lang habe ich mit dem linken Auge alles nur verschwommen wahrgenommen.»

Alle brachen in Gelächter aus, und Lucy wünschte sich, dass es ihren Club auch in zehn oder zwanzig Jahren noch geben möge.

3

«Mein Sohn ist ein Schlufi», rief Clemens Scholer über seine Schulter hinweg Alex Vanzetti zu. «Stiefsohn, um genau zu sein. Der erste Mann meiner Frau ist früh verstorben. Sie hat das vermutlich kompensieren wollen und ihn komplett verhätschelt.»

Vor Vanzetti, Ermittler der Bundeskriminalpolizei, schritt der Mann mit dem sorgfältig getrimmten Schnurrbart durch das lichtdurchflutete Treppenhaus im Altbau an der Berner Lorrainestrasse. Vanzetti schätzte Scholer auf etwa sechzig. Auf den weissen Fliesen quietschten dessen Freizeitschuhe bei jedem Schritt. «Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?»

Vor einer schwarz gestrichenen Wohnungstür blieb Scholer stehen. «Zwischen Weihnachten und Neujahr. Aber natürlich brachte Leon keine Geschenke, er wollte welche. Er taucht bloss auf, wenn er Geld braucht. Viel Geld. Für ein paar hundert Franken macht sich der Herr nicht auf den Weg.»

Der Stiefvater kramte einen Schlüsselbund aus seiner dunkelroten Gore-Tex-Jacke, darunter trug er einen schwarzen Wollpullover. Vanzetti fiel eine fingergrosse Überwachungskamera über dem Türrahmen auf. «Sollten wir nicht klingeln?»

«Der Vogel ist ausgeflogen. Ich war kurz vor Mittag schon mal hier. Meine Frau hat keine Ruhe gegeben, weil sich der Leon seit drei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Also habe ich mich ins Auto gesetzt. Isabelle wäre lieber selber gekommen, aber sie ist seit einem Kletterunfall auf einen Rollstuhl angewiesen.» Er öffnete die schwarze Tür.

«Wie kommt es, dass Sie den Schlüssel haben?»

Scholer ging voran. «Den hat Leon seiner Mutter gegeben für den Fall, dass er seinen mal verliert.»

Der Eingangsbereich war mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt. Neben der Tür hingen eine Alarmanlage sowie ein Monitor für die Kamera, beide waren ausgeschaltet. Die Wand gegenüber schmückte ein gerahmtes Schwarz-Weiss-Foto einer nackten jungen Frau, die sich unter einem Wasserfall räkelte. «Darf ich mich mal umsehen?»

«Klar, deswegen habe ich ja die Polizei gerufen.»

Vanzetti liess das mal so stehen. Eigentlich war es Justizminister Marchand gewesen, der die Bundeskriminalpolizei um einen Gefallen gebeten hatte – inoffiziell. Er war der Götti von Leon und ein alter Freund der Familie Scholer.

Zwei geschlossene Türen gingen vom Entrée ab. Vanzetti fand rechts ein mit dem gleichen dunkelblauen Teppich ausgelegtes Wohnzimmer mit einigen exklusiven Möbelstücken darin: schicke Ledersessel, ein kleiner, verchromter Schreibtisch und ein eleganter Beistelltisch.

An den Wänden hingen noch mehr gerahmte Frauenakte. Eine Sammlung kunstvoller Metallobjekte zierte das Regal, dazu gab es einen silbernen, gerahmten Spiegel und luxuriöse italienische Tischlampen. Alles wirkte wie aus einem Heft für Innenarchitektur. «Ihr Stiefsohn hat Geschmack», sagte Vanzetti zu Scholer, der ihm gefolgt war.

Da sich der junge Mann schon früher diverse Eskapaden geleistet hatte, wollte die Familie laut Justizminister Marchand vorerst keine Vermisstenanzeige erstatten. Dementsprechend hatte Vanzetti die Sache auch drei Tage liegen lassen – es gab schliesslich genug Wichtiges im Büro. Nun opferte er seinen freien Sonntagnachmittag für Herrn Scholer.

Vanzetti begab sich ins angrenzende Schlafzimmer. Es war schwarz-weiss gehalten, im Wäschekorb lagen ein Hemd, drei Hosen, Socken und Unterwäsche, alle mit Designerlabels. Der eingebaute Kleiderschrank enthielt eine Reihe modischer Anzüge. «Und über Geld scheint er auch zu verfügen.»

«Woher das Geld kommt, weiss ich», knurrte der Stiefvater. «Beim Geschmack bin ich mir nicht sicher.»

«Ist Ihre Familie vermögend?»

«Wir besitzen ein Geschäft für Sport- und Kletterartikel in Freiburg.»

Das schien Vanzetti nicht gerade lukrativ heutzutage. «Und das läuft gut?»

«Eigentlich schon, vor allem online. Wir sind ausgezeichnet vernetzt im Schweizer Alpen-Club und in der Kletterszene. Früher haben meine Frau und ich ein paar Jahre als Hüttenwarte gearbeitet. Da lernt man Gott und die Welt kennen. Das hilft uns bis heute.»

Die Küche blitzte vor Chrom. Vanzetti checkte routinemässig den Raum. Im Kühlschrank lag eine Packung Milch, das Datum war vor über einer Woche abgelaufen. Eine Keramikschale auf dem kleinen Esstisch enthielt Kleingeld und ein paar zerknitterte Kassenzettel. In den Schränken fand er bloss zwei Büchsen Ravioli, dafür aber einen Vorrat an Alkohol: drei Flaschen Pinot Noir, dazu Whiskey, Wodka, Gin und einen Sechserpack Feldschlösschen.

Kein Haar oder Schmutz befand sich im Waschbecken oder in der Wanne im Badzimmer, von den Kacheln hätte man essen können. Die Wohnung war viel zu sauber für einen Junggesellen – jedenfalls hatte Vanzetti in seiner siebzehnjährigen Polizeikarriere wenige so ordentliche gesehen. Die Schachteln und Röhrchen diverser Medikamente im Schrank über dem Waschbecken enthüllten, dass Leon Sodbrennen, Schlafprobleme und wahrscheinlich ein aktives Sexleben hatte.

«Was genau arbeitet Ihr Stiefsohn denn?»

Mit verschränkten Armen stand Scholer auf der Schwelle zum Bad. «An Weihnachten hat er behauptet, er sei jetzt Vizedirektor einer Sicherheitsfirma. Allerdings hat uns Leon in der Vergangenheit schon einige Märchen aufgetischt.»

Vanzetti kehrte zurück ins Wohnzimmer und nahm sich den Schreibtisch vor. Er enthielt nur Blöcke und ein paar Kugelschreiber. Bekam der Kerl denn keine Rechnungen? Vanzetti suchte in Schubladen, auf Regalen und Schränken – nichts. «Wollte er das letzte Mal wieder Geld?»

«Natürlich, fünftausend Franken. Einen todsicheren Anlagetipp habe er bekommen, das Geld werde er innerhalb von zwei Monaten verdoppeln, hat er versprochen. Und Isabelle hat sich mal wieder bequatschen lassen.» Der Stiefvater schnaubte. «Sie verehrt ja den Boden, auf dem dieser Windhund läuft.»

Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon mit integriertem Anrufbeantworter. Vanzetti nahm den Hörer ab und drückte die Wahlwiederholung. Alle Nummern waren ebenso gelöscht wie die Nachrichten. Er bekam ein mulmiges Gefühl. «Vielleicht macht Leon Ferien mit dem Geld.»

«Das würde ich ihm durchaus zutrauen. Macht sich auf unsere Kosten einen schönen Lenz auf den Bahamas oder den Malediven. Ein gewisses Mass an Intelligenz kann man Leon nicht absprechen. Aber er besitzt keine Disziplin, keinen Ehrgeiz.»

Vielleicht tauchte der Verschwundene in ein paar Tagen tatsächlich wieder auf. Für viele Männer der Mittel- und Oberschicht schien es heutzutage in Mode zu sein, dem Bürotrott für eine Weile von heute auf morgen zu entfliehen. Vanzetti kannte mehrere Fälle von solchen Kurzschlusshandlungen. Die Männer räumten das Bankkonto leer, verschwanden und legten sich einen Aston Martin oder ein Segelboot zu. Irgendwann kamen sie zur Besinnung und kehrten reumütig zu ihren Familien zurück. Die Chancen standen also gut, dass Leon Scholer, wo immer er auch stecken mochte, nichts zugestossen war. Andererseits – diese geleckte Wohnung schmeckte Vanzetti nicht. «Haben Sie schon mit dem Abwart geredet?»

«Nein.»

«Dann tun wir das jetzt.»

Vanzetti ging voran, sie verliessen die Wohnung und nahmen die Treppe hinunter ins Parterre.

P. Wullschläger, Abwart stand unter einer Klingel an der letzten Tür vor dem Hofzugang. Vanzetti drückte darauf.

Es dauerte, bis die Türe von einem bulligen Mann geöffnet wurde. Vanzetti schätzte ihn auf Anfang vierzig, ein paar Jahre älter als er selber. Wullschlägers Gesicht war gerötet und die Wangen von Aknenarben gezeichnet, der Schädel war kahl rasiert.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragte er mit einer für seinen Körperbau unerwartet hellen Stimme.

«Wir sind auf der Suche nach Leon Scholer aus dem zweiten Stock.»

«Darf ich fragen, wer Sie sind?»

«Das ist Herr Scholer, sein Stiefvater. Ich bin von der Polizei.» Vanzetti hielt ihm seinen Ausweis hin.

Wullschläger warf einen kurzen Blick darauf. «Ihr müsst verdammt wenig zu tun haben in eurem Laden.»

«Was meinen Sie damit?»

Er verdrehte die Augen. «Ihre Kollegen von der Bundeskriminalpolizei waren schon am Freitag hier.»

«Wie bitte?» Scholer starrte Vanzetti von der Seite an. «Was soll das denn?»

Beschwichtigend hob Vanzetti eine Hand. «Unmöglich.» Er wandte sich wieder Wullschläger zu, der Betrügern aufgesessen sein musste. «Haben Sie sich deren Ausweise zeigen lassen?»

«Klar, sahen genauso aus wie Ihrer. Also ziemlich echt, ich meine, echt echt.»

Dreist. Vanzetti würde sofort in der Zentrale melden müssen, dass zwei falsche Polizisten unterwegs waren. Auch wenn es dann mit dem inoffiziellen Auftrag vorbei war. «Was wollten die?»

Wullschläger zuckte mit den Schultern. «Sie haben mich gefragt, wann ich Scholer zum letzten Mal gesehen habe.»

«Und?» Aus dem Wohnzimmer drang das Geballere aus einem Actionfilm oder Western.

Wullschläger lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen. «Zwischen Weihnachten und Neujahr, an das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern. Er hatte sein Auto falsch abgestellt. Ich habe ihn darauf hingewiesen, er ist weggefahren. Keine grosse Sache.»

Scholer schüttelte den Kopf. «Wenn Leon an etwas hängt, ist es sein Auto. Ein Audi Coupé. Und er hat sich gerühmt, dass er immer die Verkehrsregeln beachte.»

«Waren die Männer oben in der Wohnung?», fragte Vanzetti.

«Mehr als eine Stunde lang.»

Mist. «Was haben sie dort gemacht?»

«Keine Ahnung, ihre Arbeit vielleicht? Die haben mich aufschliessen lassen und fortgescheucht.»

Dann hatten die falschen Polizisten wohl die Wohnung gesäubert. «Können Sie sich an ihre Namen erinnern?»

«Egloff und … Kammer oder Kummer.»

Unglaublich, so hiessen tatsächlich zwei Kollegen aus der Abteilung Staatsschutz. Vielleicht hatten die Betrüger deren Ausweise geklaut, was sehr unangenehm für sie würde. «Wie sahen die beiden denn aus?»

«Der Chef, dieser Egloff, war ein Armeetyp mit Bürstenschnitt und einem grossen Zinken im Gesicht.» Wullschläger schob die Unterlippe vor. «Wuff, wuff. Der Kerl hat gebellt wie eine Bulldogge. Bei ihm war ein Milchbubi mit struppigen blonden Haaren und blauen Augen.»

Vanzetti fluchte innerlich.

4

Zoe liess den Hörer auf die Gabel fallen. Seit über einer Stunde suchte sie nach Ex-Bundesrat Graf, doch weder bei ihm zu Hause noch im Aussendepartement oder in der FDP-Zentrale ging jemand ans Telefon. Und seine Handynummer kannte sie leider nicht. Ob sie einfach mal nach Lyss fahren und an seiner Haustür klingeln sollte? Solche Boulevard-Methoden hatte sie eigentlich immer gehasst.

Sie lehnte sich zurück in ihrem Bürostuhl und stierte nach vorne zur Videowand. Dort informierte ein Newsticker über die aktuellen Geschehnisse und eine Rangliste zeigte auf, welche fünf Artikel auf der Webseite am häufigsten angeklickt wurden. Die Meldung über Grafs Rücktritt stand weiter auf Platz eins, dicht gefolgt von «Zum Heulen: Die schlechtesten Witze aller Zeiten» und «Sexbeichte eines Kardinals».

Zoe nahm den gelben Tennisball vom Pult und knetete ihn in ihrer Hand. Über Mittag hatte sich der Newsroom fast geleert, noch sechs Kolleginnen und Kollegen diskutierten, hingen am Telefon oder witzelten mit Fotografen. Und Zoe hörte zwangsläufig alles mit im Grossraumbüro. Wie sollte sie sich da nur konzentrieren?

«Zoe!»

Sie kippte beinahe vom Bürostuhl, dicht hinter ihr stand Walker. «Verflucht, warum schleichst du dich immer so an?»

Er richtete den Knoten seiner Seidenkrawatte und lächelte süffisant. «Hat da jemand ein schlechtes Gewissen, weil er nichts zu tun hat? Hier habe ich eine Liste für dich.» Er streckte Zoe ein Blatt Papier hin.

Sie nahm es und überflog den Text.

– Strassenumfrage zum Rücktritt Grafs beim Bahnhof machen

– Auflistung: Welche Politiker sind über Sexaffären gestolpert (international)?

– Bilder dazu im Archiv suchen

Zoe hielt das Blatt mit spitzen Fingern hoch. «Das ist ein Witz, ja?»

Er breitete die Arme aus. «Nyffeler hat mir die Leitung in Sachen Graf übertragen. Dies sind meine Aufträge für dich.»

«Träum weiter.» Sie zerknüllte das Blatt und warf es in ihren Papierkorb.

Er stemmte die Hände in die Hüften. «Du weigerst dich?»

«Und ob ich das tue. Das gebe ich dir gerne schriftlich.»

Er drohte mit dem Zeigfinger. «Das hast du dir selber zuzuschreiben.» Wie ein trotziger Kindergärtler stampfte Walker schnurstracks zu Nyffelers Büro, einem Glaskubus rechts neben der Videowand. Dort drin referierte er gestenreich. Wenn dieser Kerl nur ein kleines bisschen dümmer wäre, müsste man ihn zwei Mal pro Woche giessen.

Schliesslich trat Nyffeler aus seinem Büro und winkte Zoe zu. «Zoe? Auf ein Wort.»

Sie liess den Tennisball auf ihr Pult fallen und schlenderte durch den Newsroom, begleitet von den Blicken der Kolleginnen und Kollegen. Sportredaktor Läderach schüttelte seinen Kopf. Als Zoe an Helen Liniger von der Lokalredaktion vorbeikam, steckte die zwei Finger in den Mund und tat, als ob sie sich übergeben müsse. Zoe unterdrückte einen Lachimpuls.

Nyffeler stand hinter seinem Schreibtisch. Wie immer war alles makellos aufgeräumt, keine Stifte oder Büroklammern lagen auf der Glasplatte, neben dem Computermonitor stapelten sich ein paar wenige Papiere mit einer Lesebrille obendrauf. «Also, was ist los?»

Walker hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und marschierte vor dem Schreibtisch auf und ab. «Sie verweigert die Mitarbeit im Fall Graf.»

Mit dem Rücken lehnte sich Zoe gegen die Glaswand. «Das stimmt nicht. Doch er hat mir nicht zu sagen, was ich tun und lassen soll.»

«Worum geht es?»

Zoe schnaubte. «Eine Strassenumfrage soll ich machen. Und Informationen im Archiv zusammentragen.»

Nyffelers Augenbrauen bildeten einen Strich. «Das kann wirklich ein Volontär erledigen, Andy. Bestimmt findest du einen mit Kapazitäten in der Redaktion.»

Wie ein Dirigent ruderte Walker mit den Armen. «Es geht nicht nur um diese Aufträge. Zoe ist wieder mal auf dem Egotrip. Während wir uns alle abrackern, verplempert sie ihre Zeit mit Graf. Bringen wird das rein gar nichts.»

«Ach, und woher weisst du das?»

Nyffeler fuhr mit der Hand durch die Luft. «Genug. Ich habe Zoe das Okay für das Interview gegeben. Sie soll es zumindest mal versuchen. Sonst noch was?»

Walker stiess einen gequälten Lacher aus. «Oh, ja, eine ganze Menge. Sie ist unzuverlässig, kommt zu spät zu Sitzungen. Und seit Monaten hat sie keine vernünftige Geschichte mehr abgeliefert.»

Zoe stand der Mund offen. Dass sie den ehemaligen und vielleicht jetzt wieder Starschreiber der Berner Nachrichten in den letzten beiden Jahren öfters in den Schatten gestellt hatte, musste den schwer getroffen haben.

Nyffeler liess sich in seinen Sessel fallen und schnaufte laut. «Jeder von uns hat schon mal eine Durststrecke überwinden müssen. Du auch, Andy. Ich bin sicher, dass sich Zoe wieder fangen wird.» Er guckte zu ihr hin. «Hast du den Bundesrat erreichen können?»

«Bis jetzt nicht. Ich überlege mir, ob ich einfach mal zu ihm nach Hause fahren soll.»

Walker schnaubte laut. «Grandiose Idee. Bestimmt wird er dich zu Kaffee und Kuchen einladen.»

Nyffeler drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern. Wo hatte er den plötzlich her? «Ich finde das nicht mal so schlecht. Niemand rechnet damit, dass er öffnen würde. Also geht keiner hin. Wer weiss, vielleicht hast du Glück.»

Walker fingerte an seinen goldenen Manschettenknöpfen herum, die unter dem schwarzen Jackett hervorlugten. «Du bist der Chef. Du musst es verantworten, wenn sie ihre Zeit vergeudet.»

Nyffeler schoss in die Höhe. «Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, den Rest kannst du mir überlassen. Und wenn dir mein Führungsstil nicht passt, kannst du dich gerne beim Verleger beschweren. Das wärs.»

«Wie du willst.» Natürlich musste Walker das letzte Wort haben. Wie ein Gockel straffte er seine Schultern und stelzte aus dem Büro.

Zoe blieb noch ein paar Sekunden stehen und wartete, ob Nyffeler noch etwas sagen wollte. Doch er setzte sich hin und wandte sich dem Monitor zu.

Also machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Arbeitsplatz.

Was war denn das gerade gewesen? Dass Walker sie auf dem Kieker hatte, war nichts Neues. Aber hier schien es nicht nur um sie zu gehen. Zoe machte beim Pult von Helen Liniger Halt. «Kann ich dich was fragen?»

«Klar.» Helen schob ihre Hornbrille auf der Nase hoch.

«Was ist los mit den beiden?»

Helen liess den Drehstuhl herumfahren und senkte die Stimme. «Hast du es denn nicht gehört?»

Zoe schüttelte den Kopf. In den vergangenen Monaten hatte sie kaum Redaktionsklatsch mitbekommen.

Helen stand auf und brachte ihr Gesicht auf Flüsterdistanz. «Seit Wochen gehen sie aufeinander los. Mittlerweile tun sie das auch ganz öffentlich. Walker ist scharf auf Nyffelers Job.»

«Unmöglich! Eher wird DJ Bobo Schwingerkönig als Walker Chefredaktor.»

«Nicht so laut! Nyffeler macht privat eine schwere Zeit durch. Amstutz aus der Korrektur sagt, dass Frau Nyffeler schwer krank ist. Darmkrebs. Hast du nicht gemerkt, dass er oft verschwindet? Und wenn er mal im Haus ist, ist er nicht richtig bei der Sache.»

«Das ist mir nicht aufgefallen.»

Doch jetzt, wo es sich Zoe richtig überlegte …

«Walker will das ausnutzen.»

«Dieser Drecksack. Aber von Känel steht doch sicher hinter Nyffeler.»

«Klar, Nyffeler hat einen guten Draht zum Verleger. Aber Walker ist ein Schleimer. Und er kennt sich mit den sozialen Medien viel besser aus als Nyffeler. Der ist halt auch schon dreiundsechzig. Ich könnte mir vorstellen, dass sie im 5. Stock eine Frühpensionierung ins Auge fassen.» Mit dem Daumen deutete sie zur Zimmerdecke. «Und Walker soll in der letzten Zeit oft dort oben gewesen sein.»

Shit. «Stell dir mal Walker als Chef vor. Mannomann. Der hat einen IQ so hoch wie eine Teppichkante. Und Nyffeler …» Sie drehte sich um zum Glaskubus und fühlte Mitleid mit dem Mann, der etwas vom Monitor ablas und dabei die Lippen bewegte. «Ich mag ihn.»

«Alle mögen ihn. Aber was hilft das heutzutage? Auch bei uns sinken die Verkaufszahlen. Und die Werbung ist rückläufig. Es könnte tatsächlich sein, dass der Verleger die Notbremse zieht.»

«Danke.» Zoe tippte Helen auf den Arm.

Deprimiert schleppte sie sich zurück zu ihrem Pult. Eines war klar: Mit Walker als Chef wären ihre Tage bei den Berner Nachrichten gezählt.

5

23. Januar

Früh am Montagmorgen sass Vanzetti in der Zentrale der Bundeskriminalpolizei an der Nussbaumstrasse an seinem Schreibtisch und füllte ein Formular am Bildschirm aus. Der Antrag sollte ihm Einblick in die Kreditkartenabrechnungen des vermissten Leon Scholer verschaffen. Dann würde sich schnell zeigen, ob sich der Herr Sohn irgendwo an einem Palmenstrand beim Cuba Libre entspannte.

Draussen wurde es langsam hell. Vanzettis Blick wanderte vom Fenster über die Topfpflanze und die unverputzten Betonwände zum verwaisten Pult vis-à-vis. Noch weitere zwei Wochen würde sein guter Kollege Reto Saxer durch die Südinsel von Neuseeland streifen. Auch wenn er ihm den Urlaub gönnte, in Momenten wie diesen könnte Vanzetti dessen Input brauchen. Dass Egloff und Kummer letzten Freitag Scholers Wohnung durchsucht hatten, schmeckte ihm überhaupt nicht. Der Armeetyp mit dem grossen Zinken und das blonde Milchbubi würden ihm ein paar Fragen beantworten müssen. Durch die offene Türe beobachtete Vanzetti den Flur, mit den Fingern trommelte er auf die Tischplatte. Das Büro der Kollegen lag am Ende des Ganges, noch waren sie nicht aufgetaucht. Maledizione. Die Sache hatte ihn so aus dem Konzept gebracht, dass er gestern etwas vergessen hatte. Vanzetti griff nach dem Visitenkärtchen, das ihm Clemens Scholer gegeben hatte. Die Uhr an der Wand stand auf Viertel vor acht, ein Naturbursche wie der stand bestimmt früh auf.

Scholer meldete sich nach dem zweiten Klingeln. «Gibt es Neuigkeiten?»

«Noch nicht. Aber ich muss noch etwas wissen. Sie haben mir gesagt, dass Ihr Stiefsohn um Weihnachten herum zu Besuch gekommen sei. Wann genau war das?»

«Am Tag des Eröffnungsspringens.»

«Wie bitte?»

Scholer schnaubte. «Am 30. Dezember, Sie interessieren sich wohl nicht für Sport, wie? Vierschanzentournee. Das erste Skispringen findet immer am 30. Dezember in Oberstdorf statt.»

Wer hüpfte denn schon freiwillig von einer Schanze? «Okay. Hatte Leon eine feste Freundin?»

«In den vergangenen Jahren hatte er mehrere. Erinnern kann ich mich bloss an eine, Sandra irgendetwas, eine nette Bernerin. Keine Ahnung, wie er sich die geangelt hat. Sie haben uns im letzten Jahr mal besucht zusammen. An Weihnachten hat uns Sandra noch eine Postkarte aus Kreta geschickt, obwohl sie da schon nicht mehr zusammen waren.»

«Kennen Sie den Grund für die Trennung?»

«Ich nehme an, weil Sandra nicht dumm war. Irgendwann muss sie begriffen haben, was für ein Schlawiner Leon ist. Ende Dezember hatte er jedenfalls schon eine andere mit dabei, so eine Geschminkte mit Kopfhörer. Nicht mal aus dem Audi stieg die. Ihren Namen kenne ich nicht.»

Draussen im Flur hörte Vanzetti Stimmen, kurz darauf schritten Egloff und Kummer vorbei. «Wissen Sie, wie ich diese Sandra erreichen kann?»

«Eine Adresse oder Telefonnummer habe ich nicht. Aber sie arbeitet in der Altstadt in einem Restaurant. Ich habe da mal vorbeigeschaut, als ich in Bern war.»

«In welchem?»

«Dort, wo Albert Einstein gewohnt hat.»

«Im Café Einstein?»

«Heisst das so? Wollen Sie Sandra befragen?»

«Ja.»

«Sagen Sie ihr bitte einen lieben Gruss.»

«Mache ich.» Vanzetti beendete das Gespräch.

Er verliess sein Büro und ging über den grauen Spannteppich bis zum Ende des Flurs. Zwei Mal klopfte er an die schwarze Holztür, bevor er sie öffnete.

Armee-Egloff hängte seinen Wintermantel gerade an den Haken, der junge Kummer mit den blonden Strubbelhaaren hatte schon an seinem Pult Platz genommen.

Egloff strich sich über den Bürstenschnitt. «Was verschafft uns die Ehre?»

«Ihr habt am Freitag eine Hausdurchsuchung gemacht. Weshalb?»

Egloff schnaubte. «Was geht dich meine Arbeit an?»

«Ich war heute dort, auf Anweisung der Chefin. Weiss sie, dass ihr die Wohnung gefilzt habt?»

Egloff warf Kummer einen schnellen Blick zu, doch der bewunderte die Aussicht. «Ich weiss nicht mal, wovon du redest.»

«Spar dir deine Märchen. Der Abwart kann sich sehr gut an euch beide erinnern. Ich kann ihn herbestellen, wenn das nötig ist.»

Kummer knabberte an seinen Fingernägeln, Egloff zog eine Verblüfftheitsnummer mit grossen Augen und O-Mund ab. «Ach, die Wohnung in der Lorraine meinst du. Das war ein Gefallen für den Nachrichtendienst. Die haben uns gebeten, dass wir uns dort mal umschauen.»

Vanzetti trat auf Egloff zu. «Welcher von deinen Kumpels dort hat dich darum gebeten?»

Egloff stemmte die Hände mitten auf den Schreibtisch und beugte sich vor: «Spiel dich nicht so auf, Vanzetti. Ein alter Kollege beim NDB war es, kein Grund zur Aufregung.»

«Ihr spaziert dort also einfach rein ohne Bewilligung oder Durchsuchungsbefehl?» Vanzetti hielt ihm einen Finger vor das Gesicht. «Nochmals werde ich nicht hinter dir aufräumen wie im vergangenen Herbst.»

Damals hatte Egloffs schludrige Arbeit dazu geführt, dass ein Syrien-Rückkehrer beinahe unbehelligt geblieben wäre. Nach Kritik aus der Bundesanwaltschaft hatte BKP-Chefin Oppliger Vanzetti eingesetzt, um Egloffs Ermittlungen unter die Lupe zu nehmen. In tagelanger Knochenarbeit hatte er entdeckt, dass Egloff wichtige Informationen übersehen hatte und offenbar zu faul gewesen war, ein paar simple Anrufe zu machen. Am Ende war es darauf hinausgelaufen, dass Vanzetti seine Ferien hatte verschieben müssen.

Egloffs Augen verengten sich zu Schlitzen. «Das war nicht mein Fehler, mir fehlten damals wichtige Akten. Egal, was die da oben dir erzählt haben.»

Nichts als dumme Ausreden. «Du hättest es beinahe versaut, Egloff. Der Kerl könnte jetzt noch in seinem Kämmerchen sitzen und Bomben basteln. Sei wenigstens so ehrlich und steh dazu.»

Egloff kam um den Schreibtisch herum und baute sich einen Meter vor Vanzetti auf. «Von dir brauche ich mir nichts sagen zu lassen.»

Kummer kratzte unsichtbaren Dreck von seinem Schreibtisch.

«Dafür hast du aber verdammt wenig Ahnung von Ermittlungen.»

Die Röte stieg Egloff ins Gesicht. «Ich bin wesentlich länger dabei als du.»

«Du bist einfach ein fauler Hund.»

Egloff grunzte tief und holte wuchtig aus.

Vanzetti sah den Schlag kommen. Er blockte die Faust ab, umklammerte Egloffs Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Dort übte er so viel Druck aus, dass Egloff seinen Oberkörper vornüber beugen musste. Dann liess Vanzetti das Handgelenk los.

Egloff büsste dafür, dass er ein starker Raucher war. Er richtete sich mit pfeifendem Atem auf. «Du Drecksack.» Er stürmte aus dem eigenen Büro.

Vanzetti rieb sich mit einer Hand über die Stirn und wandte sich Kummer zu. «Tut mir leid, dazu hätte es nicht kommen dürfen. Doch manchmal muss man Dampf ablassen.»

Der Sechsundzwanzigjährige schaute drein wie eine erwachsene Version von Michel aus Lönneberga, nachdem er wieder mal Mist gebaut hatte. «Diese Wohnung … Das war nicht meine Idee.»

«Schon klar. Du hast es nicht einfach mit Egloff.»

Kummer arbeitete erst seit einem Jahr bei der Bundeskriminalpolizei und hatte das Pech gehabt, dass ihm ein Drückeberger als Partner zugewiesen worden war. «Er ist mies drauf in der letzten Zeit.»

Der war seit vierzig Jahren schlecht drauf. Vanzetti senkte die Stimme. «Ich weiss, du wirst dich nicht offiziell beschweren über ihn. Das respektiere ich. Aber ich rate dir, dass du dich bald in eine andere Abteilung versetzen lässt. Es ist schlecht für deine Karriere, wenn du zu lange nur mit Egloff arbeitest.»

Kummer schüttelte den Kopf. «Er hat nur noch ein halbes Jahr bis zur Pensionierung.»

Zum Glück. «Hältst du es so lange aus?»

«Ich komme schon klar.»

Vanzetti glaubte ihm, der Junge hatte in zwei Sonderkommissionen Talent und Einsatzwillen bewiesen. «Weshalb seid ihr an der Lorrainestrasse gewesen?»

Kummer stiess Luft durch die Nase. «Keine Ahnung. Egloff erzählt mir selten etwas. Es heisst einfach, ‹Los, gehen wir.› oder ‹Heb d Schnurre.› So war das am Freitag auch.»

«Habt ihr etwas mitgenommen aus der Wohnung?»

«Blitzblank. Ich habe Egloff darauf hingewiesen, doch er fand das nichts Besonderes.»

«Was denkst du?»

«Wenn du mich fragst, wollte da jemand Spuren verwischen.»

Vanzetti hielt einen Daumen hoch und nickte. «Halte noch sechs Monate durch.»

Kummer setzte sich wieder hinter sein Pult. «Okay, das werde ich. Kann ich dich noch was fragen?»

«Klar.» Vanzetti klemmte den Ordner unter den Arm.

Kummer kratzte sich übertrieben in den struppigen blonden Haaren. «Du weisst ja, dass wir … äh … jede Menge Zeugs schreiben müssen. All diese Berichte und Rapporte. Da habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht einen Schreibkurs nehmen soll. An der Volkshochschule. Meinst du, das brächte etwas?»

Vanzetti wünschte, es gäbe mehr Nachwuchs von dieser Sorte. «Das ist eine super Idee. Eigentlich müsste man alle in der BKP zwangsverpflichten zu so etwas.» Das Deutsch in den meisten Berichten war katastrophal. «Tu es. Trotzdem solltest du es für dich behalten.»

«Weil ich mir sonst jede Menge Sprüche von den Kollegen anhören muss? Schon klar.»

Mit einem Winken verliess Vanzetti das Büro. Er beneidete Kummer nicht. Für den Rest des Tages würde Egloff seine Scheisslaune an ihm auslassen.