1 Das Bauernhaus

Arrogante Menschen würden meine Eltern für neureiche Spießer halten. Aber ich lasse nichts auf sie kommen, denn sie haben das Herz auf dem rechten Fleck. Überhaupt halte ich den Ausdruck Spießer für fragwürdig, denn es kommt schließlich auf den Standpunkt an. Ich kenne eine Familie, die ihrer Schrankwand aus Eiche mit eingebauter Bar immer treu geblieben ist und auch bei der gesamten Einrichtung nicht auf ein plüschiges Ambiente und Schleiflackbetten mit goldenen Leisten verzichten wollte. Gerade diese stockkonservativen Leute haben einen traumatisierten Flüchtlingsjungen liebevoll bei sich aufgenommen. Mit abwertenden Äußerungen über Stil und Geschmack kann man sich natürlich schnell auf Kosten anderer interessant machen, aber das ist nicht mein Niveau.

Echte Spießer sind nach meiner Meinung nur solche Menschen, in deren Köpfen weder Toleranz noch Empathie einen Platz gefunden hat. Sie müssen nicht unbedingt alt und verkrustet sein, sondern können auch modern und schick gekleidet daherkommen. Manchmal finde ich sogar, dass in meiner Generation das Bedürfnis nach Sicherheit derart überhandnimmt, dass von fortschrittlichen Ideen oder gar gesunder Aufsässigkeit nur in Ausnahmefällen die Rede sein kann. An unserer Uni sehen viele Studierende aus wie Banker, rundherum adrett, topgepflegt, langweilig, brav. Blütenweiße Hemden und Blusen, dunkelblaue Kaschmirpullover. Keine Spur von Opposition, keine leidenschaftlichen Diskussionen, alle streben mit großem Fleiß nach guten Abschlüssen und der Aussicht auf einen lukrativen Job mit einer gesicherten Rente. Meinem Freund Henry gingen die meisten unserer Altersgenossen derart auf die Nerven, dass er mit Gleichgesinnten einen Klub gründete und ihn Gegenstrom nannte. Erst viel später erkannte ich allerdings, dass Henry der Einzige von uns war, der wirklich konsequent seine hochgesteckten Ziele verfolgte. Alle anderen waren etwas halbherzig, Henry konnte sie wohl hauptsächlich durch seine charismatische Ausstrahlung überzeugen.

Wir bewunderten die Generation unserer Großväter, die frischen Wind in die Hörsäle brachten, Kommunen gründeten, Konflikten mit der Vätergeneration nicht aus dem Wege gingen und gegen die einseitig antikommunistische Orientierung der Politik protestierten. In unserem Freundeskreis wollte man bewusst gegen den Mainstream schwimmen und auf übertriebenen Konsum sowie trendige Kleidung verzichten. Bei Smartphone, Computer und Auto wollten wir uns – auch aus finanziellen Gründen – mit Secondhandware begnügen, was zugegebenermaßen meistens nicht klappte. Schon bald spottete man über uns, Späthippies und Spinner waren noch die nettesten Bezeichnungen, Penner und Altpapiersammler die unfreundlichsten. Man hätte uns wohl eher akzeptiert, wenn wir uns für eine politische Partei engagiert und zum Beispiel für die Grünen geworben hätten.

Saskia, meine beste Freundin, war zwar nicht ganz so konsumresistent wie wir, aber sie wollte unbedingt auch zum Gegenstrom gehören. Und so kam es, dass wir zu dritt eine verwegene Idee in die Tat umsetzten.

 

Meine früh verwitwete, kinderlose Tante Emma war steinalt geworden und hätte wohl nie gedacht, dass inzwischen eine Generation heranwächst, die ihren altmodischen Vornamen wieder schick findet. Meine Eltern erbten zwar ihr marodes Haus, aber vor dem geplanten Abriss überließen sie es erst einmal mir. Es handelte sich um ein bäuerliches Anwesen am Rande der Stadt, wo man bereits fast alle Fachwerkhäuser durch moderne Einheitskästen ersetzt hatte. Denkmalschutz bestand bei diesen rustikalen Gebäuden sowieso nicht, die dazugehörigen Äcker lagen einige Kilometer entfernt und waren schon vor vielen Jahren als Bauland verkauft worden.

Beinahe bis zu ihrem Tod hatte meine Großtante ganz allein hier gewohnt, und es war für Henry und mich eine wahre Lust, in ihren Hinterlassenschaften zu stöbern, um ihren uralten Plunder vielleicht verhökern zu können. Wir entrümpelten also fleißig und beschlossen schließlich, das liebgewordene Haus samt Scheune vor dem Abriss zu bewahren. Mir schwebte eine WG vor, am liebsten mit gleichaltrigen Freunden. Vor lauter Enthusiasmus und weil gerade Sommer war, übersah ich allerdings, dass es keine Zentralheizung und nur zwei Kohleöfen gab. Wir hatten kühne Pläne, wollten zum Beispiel im verwahrlosten Gemüsegarten Tomaten und Erdbeeren anbauen und ein paar Hühner anschaffen. Meine Eltern zogen zwar die Augenbrauen hoch und seufzten, aber sie hatten es mit Abriss und Verkauf nicht eilig, ich war ihr einziges Kind und würde sie sowieso einmal beerben. »Macht, was ihr wollt«, sagten sie, »aber erwarte bitte nicht, dass wir Geld in diese Ruine stecken …«

Henry war von meiner Idee restlos überzeugt, zudem hatte er handwerkliche Kenntnisse, so dass wir zu dritt – Saskia war von Anfang an mit von der Partie – schon mal probeweise in zwei Zimmern übernachteten. Meine Freundin hatte sich erst vor kurzem von ihrem Partner getrennt und war glücklich, dass sie in Emmas Bett aus Kiefernholz mit hoher Rückenlehne schlafen durfte, denn Henry und ich entschieden uns doch lieber für den Kauf einer Doppelmatratze.

Von der Straße und den Nachbarhäusern wurde das Grundstück durch eine Mauer abgeschottet. Wenn man das knarrende Holztor aufgestemmt hatte, musste man sich zwischen dem wuchernden Unkraut des Vorgartens einen Weg bahnen. Fünf Stufen einer ausgetretenen Steintreppe führten durch einen Windfang in den größten Raum – die Küche. Im hinteren Bereich grenzte der verwilderte Garten an ein ähnlich ungepflegtes Terrain, die Trennungslinie bildete eine viel zu hohe, zum Teil schon schief wachsende Ligusterhecke. Es war eine von Henrys ersten Aktivitäten, dieses Gestrüpp radikal herunterzuschneiden. Dabei stieß er auf verschiedene leere Nester und entdeckte in einem verwitterten Vogelhäuschen das Skelett eines mausartigen Tieres. Nach gründlicher Recherche tippten wir auf einen Siebenschläfer. Wir sollten aber noch auf ganz andere Funde stoßen.

 

Es war ein heiterer, unbeschwerter Sommer, wir hatten Semesterferien und viel Zeit. Auch Henrys jüngerer Bruder besuchte uns oft. Fridolin musste die elfte Klasse wiederholen und sollte eigentlich in den Urlaubswochen pausenlos lernen. Er saß aber lieber auf dem Küchenfensterbrett, ließ die Beine nach außen baumeln und spielte entweder mit dem Smartphone oder auf seiner Blockflöte, worin er es allerdings zur Meisterschaft gebracht hatte. Im Übrigen war er etwas verpeilt, wie sich Saskia ausdrückte, wahrscheinlich litt er infolge seiner geringen Körpergröße unter Komplexen. Jedenfalls schaute er uns gern beim Putzen und Aufräumen zu, half zwar nur selten, unterhielt uns aber dafür mit virtuoser Musik. Wenn er nicht gerade Flöte spielte, hatte er einen Kaugummi im Mund und roch deswegen immer nach Wrigley’s Spearmint. Manchmal brachte er auch sein Meerschweinchen mit, das er mir übergab, wenn er die Flöte ansetzte. Ich hielt das Tierchen auf dem Schoß, kraulte das weiche Rosettenfell und wurde durch zufriedene Quietschtöne belohnt. Henry hatte mir erzählt, dass man seinem Bruder bereits in der Grundschule den Spitznamen Pumuckl verpasst hatte, weil er klein und rothaarig war. Auf keinen Fall und auch nicht zum Spaß durfte man ihn damit aufziehen, es handele sich nämlich um ein spätkindliches Trauma. Aber gerade weil Henry es mir und Saskia so streng verboten hatte, mussten wir bei Fridolins Anblick stets daran denken, dass er ein Kobold oder Troll war, eventuell ein glückbringendes Maskottchen, vielleicht aber auch ein kleiner Teufel. Ich mochte ihn gut leiden.

»Schade, dass du nur ein Meerschwein und keine Ratte hast, dann würde ich dich nämlich Rattenfänger nennen«, meinte Saskia. »Mit deiner Flöte könntest du mal versuchen, die Mäuse aus der Scheune zu locken.«

Die Idee gefiel dem Pumuckl-Rattenfänger. »Darf ich dann auch bei euch wohnen?«, fragte er. Ich schaute zu Henry hinüber, Fridolin war nicht volljährig, letzten Endes mussten seine Eltern einer solchen Entscheidung zustimmen. Henry schüttelte den Kopf und wandte sich seinem Bruder zu: »Spinnst du, Frido? Wenn du das Abi in der Tasche hast, können wir vielleicht darüber reden! Ich habe jedenfalls keine Lust, dich jeden Morgen aus dem Bett zu schmeißen und in Handschellen zur Schule zu schleifen. Außerdem bin ich nicht der Hausbesitzer, sondern Trixi.«

Fridolin tat so, als würde er sich ein Tränchen abwischen. Tröstend versprach ich: »Wenn mal alles fertig ist, kannst du uns an den Wochenenden gern besuchen. Wir könnten auf dem Speicher ein kleines Gästezimmer einrichten.«

Auf dem Dachboden war ich allerdings erst ein einziges Mal gewesen, weil ich mich vor Taubendreck ekelte. Auch Henry meinte, zuerst müsse man unsere beiden Schlafzimmer und die Küche bewohnbar machen, bevor man ins Detail ginge. Aber auch das erwies sich als Sisyphusarbeit, denn mit dem Entrümpeln war es ja nicht getan. Wir brauchten dringend Geld für die Renovierung. Zuerst entfernten wir den Linoleumboden in der Küche und beschlossen, den alten Dielen wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Ein Schleifgerät musste ausgeliehen werden, reichlich Öl für den Holzboden gekauft werden. Neue Tapeten sollten her, doch wir überlegten noch, ob Rauhputz vielleicht authentischer wirkte.

»Der nächste Flohmarkt ist erst im September«, jammerte ich. »Wir müssen versuchen, einen Teil der Sachen schon jetzt zu verhökern!«

Kurz entschlossen startete ich ein Angebot bei eBay und setzte außerdem eine Anzeige in die Tageszeitung: Privater Flohmarkt mit Haushaltsauflösung eines alten Bauernhauses. Samstag 10 bis 18 Uhr.

»Ach Zicklein, du hättest mich wenigstens vorher fragen sollen«, sagte Henry mit mildem Vorwurf. Seit wir ein Paar waren, nannte er mich Zicklein und sich selbst einen guten Hirten. Saskia hatte mit Henrys sehr speziellem Humor ihre Probleme, denn sie nahm seine ironischen Bemerkungen allzu ernst, fiel auf seine Späße mit machohaften Sprüchen herein und fand, dass der »gute Hirte« sich allzu viel einbilde. Zicke passe eher zu mir als Zicklein, fand sie. Doch ich lasse meinem Freund seine schottischen Spleens lächelnd durchgehen. Vielleicht war Saskia auch ein bisschen neidisch auf mein Liebesglück.

Ausnahmsweise war sie aber von unserem Flohmarkt-Projekt restlos begeistert. »Das wird einschlagen wie eine Bombe«, sagte sie. »Hoffen wir, dass das Wetter so bleibt! Wenn es zu heiß wird, gehen die Leute lieber ins Schwimmbad, wenn es regnet, sitzen sie vor der Glotze.«

Im Vorfeld mussten wir uns allerdings über die Preise abstimmen, wobei auf einem Flohmarkt natürlich nach Herzenslust gehandelt werden durfte. Henry war nicht ganz glücklich mit diesem Projekt, er hätte Schränke, Tische und Stühle lieber nach und nach auf Hochglanz gebracht, um sie dann als teure Antiquität anzubieten. Ganz abgesehen davon mussten wir uns auch einigen, welche Möbelstücke wir behalten wollten.

 

Außer ein paar interessierten Sammlern kamen nur die Anwohner unserer Straße, die wir allerdings noch gar nicht kannten. Im Grunde wollten sie nicht unbedingt etwas kaufen, sondern aus purer Neugierde mal hinter die Kulissen schauen. Wie hatte Tante Emma gelebt, was hatte sie hinterlassen, konnte man vielleicht ein Schnäppchen machen?

»Die alte Dame war so süß«, sagte ein Schulmädchen. »Ich hätte gern ein Erinnerungsstück aus dem Tante-Emma-Laden!«, und sie kicherte über ihr altkluges Wortspiel.

Wenn Tante Emma etwas nicht war, dann süß oder gar eine Dame. Und wahrscheinlich wollte das Mädchen auch keinen Cent ausgeben, sondern ein Geschenk einkassieren. Leicht verärgert überließ ich ihr einen angesengten Topflappen aus orangefarbener Acrylwolle.

»Persönlicher kann ein Andenken kaum sein«, behauptete ich. »Noch im hohen Alter hat meine süße Großtante gern gehäkelt. Dieses Museumsstück kannst du dir jetzt übers Bett hängen.«

Verkauft haben wir an jenem Tag nicht allzu viel, aber es reichte immerhin für ein paar Werkzeuge. Henry war froh, dass er fast alle Möbelstücke noch behalten und restaurieren konnte.

 

»Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen / Und jedermann erwartet sich ein Fest«, zitierte ich Goethe. Seit ich mit siebzehn bei einer Aufführung unseres Schultheaters als Souffleuse gedient hatte, kannte ich den halben Faust auswendig und nervte zuweilen meine Freunde mit Zitaten. Henry kannte mich aber gut genug, um sofort zu wissen, was ich diesmal im Sinn hatte.

Zur Belohnung für die Plackerei wollte ich ein kleines Einweihungsfest machen; das freundliche Sommerwetter war ideal für einen Grillabend im Vorgarten, den Henry durch unbarmherzige Rodung in eine Art Innenhof verwandelt hatte. Bei dieser Gelegenheit sollten sich unsere Freunde einmal anschauen, was wir bisher geleistet hatten, und überlegen, ob sie bei einer neu gegründeten WG eventuell mitmachen wollten. Henrys bester und ältester Freund Oliver stand ganz oben auf unserer Liste. Auch Martina, Kirsten und Holger kamen in Frage, Marko und Nils, Esther und Anke sollten ebenfalls eingeladen werden. Saskia wollte ihre jüngere Schwester mit Henrys Bruder verkuppeln.

»Fridooo und Dodoooo, das passt doch zusammen wie Deckel auf Topf«, fand sie. Ihre Schwester hieß zwar eigentlich Leonie, erhielt aber von Saskia schon als Baby den Spitznamen »Dodo« nach dem ausgestorbenen Riesenvogel.

Bei den Vorbereitungen halfen Fridolin und die kleine Dodo bereits mit, sie schälte Zwiebeln und Kartoffeln, die er dann etwas einschnitt, salzte, mit einem Stückchen Butter belegte und in Alufolie einwickelte.

»Kannst du auch Gitarre?«, fragte sie, aber Frido schüttelte bedauernd den Kopf.

Henry lieh einen großen, fast neuen Grill und sorgte für Holzkohle und Biergartenbänke. Ich kaufte Brot und Gemüse und legte die von meiner Mutter gestifteten Steaks nach einem amerikanischen Rezept in einer Mischung aus Öl, Sojasauce und Sesamsamen ein. Selbst mein Vater ließ es sich nicht nehmen, mit einer Wagenladung voller Getränke und einem Korkenzieher vorzufahren. Anscheinend fühlten sich meine Eltern immer noch für mein Glück verantwortlich.

»Wenn die Sonne untergeht, werden wir frieren«, meinte Dodo, sie hatte Decken, Pullover und Wollstrümpfe mitgebracht. Frido beobachtete die Fünfzehnjährige mit sichtlichem Wohlgefallen, immerhin war Dodo bloß einen halben Kopf größer als er. Schließlich trudelten unsere Gäste ein und hatten ebenfalls Naturalien mitgebracht. »Badisches Gras, von der Sonne verwöhnt«, sagten sie grinsend. Man besichtigte das Haus, man zeigte Interesse, ja man zankte sich geradezu, wer hier einziehen durfte, denn der Platz reichte höchstens für acht Personen, wobei sich Paare ja ein Zimmer teilen konnten. Die große Küche sollte als Wohn- und Esszimmer dienen.

Es wurde ein lustiger Abend. Bis in die späte Nacht wurde gegessen, getrunken, gescherzt, gelacht. Schließlich sangen wir aus voller Brust, begleitet von Fridos Flötentönen. Dodo hatte eine schöne Altstimme, am liebsten schlug sie halb vergessene Volkslieder vor, so dass ich mir wie am Lagerfeuer einer Pfadfindergruppe vorkam. Henry stimmte schließlich Greensleeves und Klassiker früherer Kultbands wie den Beatles, Queen oder Simon & Garfunkel an, Oliver konterte mit Songs aus den 30er-Jahren. Auch Saskia überraschte mich mit ihrem mädchenhaften, anrührenden Sopran. Um den Geschmack unserer Altersgenossen auch in diesem Punkt zu boykottieren, kamen die aktuellen Lieblingshits sowieso nicht in Frage. Unser Gesang wurde allmählich immer lauter und hemmungsloser.

Da die Toilette im Haus dauernd besetzt war, schlich sich einer der Gäste, ich glaube, es war Holger, ins Gebüsch. Sichtlich betreten kam er wieder zurück. »Wir sollten vielleicht etwas leiser sein«, schlug er vor. »Wir werden belauscht!«

Hinter der gestutzten Hecke hatte er eine glühende Zigarette entdeckt, die dazugehörige Person war im Dunkeln nicht zu erkennen. Schlagartig wurden wir etwas nüchtern, denn wir hatten gerade ausgiebig über die neuen Nachbarn gehetzt.

»Wahrscheinlich kleinkarierte Geizkrägen«, hatte ich behauptet. »Auf unserem Flohmarkt sind sie wie die Aasgeier hier aufgetaucht – gierig und hässlich. Aber wir werden gute Miene zum bösen Spiel machen und immer schön artig grüßen.«

Auch Henry hatte vom Leder gezogen. »Ich bin mir sicher, dass hier keiner die Grünen oder gar die Linken wählt, entweder sie sind an Politik völlig uninteressiert oder stockkonservativ, oder sie engagieren sich für Rechtspopulisten. Doch am Sonntag gehen sie alle brav in die Kirche, spenden sogar für den Tierschutz, aber nie im Leben für Flüchtlinge.«

»Scheinheilig, hartherzig, selbstgerecht und arm im Geiste«, pflichtete Martina bei, die aus einer Pfarrersfamilie stammte, sich aber von ihren Eltern radikal losgesagt hatte.

Es war kurz nach drei, als wir trotz der immer noch glühenden Holzkohle und den Decken froren, und die Stimmung kippte. »Aufräumen können wir auch morgen«, schlug ich vor, die Gäste brachen auf. Saskia sorgte noch dafür, dass ihre Schwester und Frido nach Hause gebracht wurden, dann stieg sie in ihr Bauernbett. Henry und ich warfen uns todmüde auf unsere funkelnagelneue Matratze, doch als es schon bald darauf hell wurde, weckten mich zwei aufdringliche Tauben. Rucke di guh – Blut ist im Schuh, dachte ich. Vorsichtig krabbelte ich über Henry hinweg und schaute schlaftrunken zum Fenster hinaus. Mir fiel sofort auf, dass der Grill nicht mehr an seinem Platz stand.

Danach konnte ich nicht gleich wieder einschlafen. So manche Probleme gingen mir durch den Kopf. Bestimmt würden wir noch viele schöne Feste hier feiern, aber meine Eltern sollten auf keinen Fall jedes Mal die Kosten übernehmen. Der städtische Flohmarkt würde sicher besser laufen und für einen stattlichen Gewinn sorgen. In einer wurmbefallenen Truhe befanden sich noch zahlreiche, fast neue Textilien, denn für die Aussteuer war vor hundert Jahren je ein Dutzend aller Wäschestücke vorgeschrieben, selbst der Vorrat an Nachthemden reichte wohl bis zum Lebensende. Die gesamte Leib-, Tisch- und Bettwäsche war mit Monogramm und Weißstickerei versehen. Man sah sofort, dass nur ein Teil der Laken, Tischdecken, Kopfkissen und Bezüge ständig gebraucht worden war, der Rest war unbenutzt, zeigte allerdings bräunliche Verfärbungsstreifen an den Faltstellen. Saskia und ich könnten mit Fleiß, Waschmaschine, Stärke und Dampfbügeleisen trotzdem schöne Ergebnisse erzielen. Sowohl die Leintücher als auch die bäuerliche Keramik würden wir hoffentlich noch auf Flohmärkten loswerden, denn nicht alle Menschen kaufen ausschließlich im schwedischen Möbelhaus.

Natürlich gab es auch so manchen Gegenstand, den man nicht einordnen konnte oder der völlig unbrauchbar geworden war. Leider waren wir bisher auf keine wahren Schätze gestoßen – der Ehering eines Vorfahren, ein Granatkettchen und eine goldene Taschenuhr waren die wertvollste Ausbeute, das Essbesteck war leider nur aus abgewetztem Neusilber.

»Alles, was noch halbwegs funktioniert, ist ein kleines Vermögen wert«, hatte Saskia mit leuchtenden Augen behauptet. Die verschlissenen Nachthemden wollten wir aber behalten, denn uns rührten die kunstfertigen Flicken und liebevoll gestopften Löcher. Der etwas steife Flachs war nach jahrzehntelangen Waschvorgängen weich und sanft geworden, eine Wohltat für die Haut. Der Shabby Look war zwar in Schüler- und Studentenkreisen wieder Mode geworden, aber nur auf kommerzieller Basis. Als Ausdruck des Protests gegen maßloses Konsumverhalten wollten wir ihn aber im Sinne der 68er wieder einführen und abgetragene Kleidung nicht einfach wegwerfen.

Auf dem Rückweg von der Toilette schaute ich in Saskias provisorische Schlafkammer hinein, denn die Tür war nur angelehnt. Tatsächlich steckte sie in einem dieser Nachthemden und schnarchte, wenn auch recht dezent. Rechts und links neben ihrem Bett hingen zwei kleine Bilder, die ihr so gut gefielen, dass sie auf keinen Fall verkauft werden sollten. Wir kabbelten uns sogar ein wenig, denn die Eigentümerin war schließlich ich, die fest daran glaubte, dass man einen schönen alten Rahmen mit Kusshand loswerden konnte, wenn man ihn polierte und das kitschige Bild entfernte. Auf den beiden kolorierten Stichen sah man je ein betendes Kind. Des Knaben Morgengebet lautete: Gib guter Gott, auf allen Wegen, den theuren Eltern Heil und Segen. Beim Pendant auf der anderen Seite betete ein Mädchen zur Nacht: Laß Vater Dir die Eltern mein in dieser Nacht empfohlen sein. Die Kleine war etwa bis zur Taille abgebildet, faltete brav die Händchen, trug ein rosa Kleid mit grüner Schärpe und passend dazu ein Röschen im Haar. Ihr Blick war hingebungsvoll gen Himmel gerichtet. Der Knabe steckte in einem braunen Kittel, der mit einem gleichfarbigen Gurt zusammengerafft wurde. Ein Spitzenkragen und die goldene Gürtelschnalle zeigten, dass der wohlerzogene Junge nicht aus armem Hause stammte.

Inzwischen hatte ich mich schlaugemacht: Diese Art populärer Graphik wurde wahrscheinlich in großer Zahl für den bürger- oder bäuerlichen Haushalt hergestellt. Im Gegensatz zu den edlen Rahmen aus dunklem Holz mit vergoldeten Leisten gab es für religiöse oder lüsterne Schlafzimmerschinken kaum noch einen Markt. Nach jener feuchtfröhlichen Nacht schlief Saskia selig zwischen den kitschigen Kinderbildern, und jeder würde bei diesem engelsgleichen Anblick glauben, dass sie keiner Fliege etwas zuleide tun könne. Und ich schon gar nicht.

2 Das Meerschweinchen

An jenem Sonntagmorgen lag ich schon bald wieder neben Henry auf der Matratze, es war schließlich noch viel zu früh zum Aufstehen. Erst um die Mittagszeit wurden wir allmählich wach. Die Sonne strahlte uns direkt in die Augen, denn wir hatten vergessen, die Klappläden zu schließen. Bevor es ans Aufräumen ging, wollten wir erst einmal die Essensreste verzehren; ein uralter Kühlschrank stand zwar noch in der Küche, funktionierte aber nicht mehr. Saskia hatte für Pulverkaffee, Zucker und zwei Milchtüten gesorgt, hungrig war im Grunde keiner, faul waren wir alle drei.

»Hasch macht lasch«, sagte Saskia.

»Wo ist eigentlich der Grill?«, fragte Henry und bekam keine Antwort. Wir suchten überall, auch in der Scheune, aber die fast neue Leihgabe war verschwunden.

»Wahrscheinlich hat ihn der Pumuckl versteckt«, sagte Saskia. »Na warte nur, du Rattenfänger! Dir werden wir die Flötentöne schon noch beibringen! Und überhaupt – eine Blechtrommel würde besser zu dir passen.«

»Eigentlich ist es nicht Fridos Art, mir einen Streich zu spielen«, meinte Henry. »Ich glaube eher, es war Dodo. Deine infantile Schwester hat ihr musikalisches Repertoire wahrscheinlich bei der evangelischen Jungschar gelernt. Wenn ich bloß daran denke, dass wir ihretwegen stundenlang im Kanon singen mussten!«

Jetzt schaltete ich mich ein. »Abendstille überall und Bruder Jakob, schläfst du noch – das sind doch schöne Lieder. Nächstes Mal singen wir: Bruder Henry, damit dein Ego befriedigt wird. Übrigens schaut mal, wer da kommt!«

Das unverschlossene Tor wurde gerade mühsam aufgestemmt, und Fridolin schob sein Fahrrad in den Innenhof.

»Wenn’s ans Aufräumen geht, kommst du ausnahmsweise mal zur rechten Zeit«, sagte ich. »Weißt du vielleicht, wo der Grill geblieben ist?«

Fridolin schüttelte den Kopf. Zielstrebig stieg er auf eine Bank und schwang sich auf seinen Stammplatz – das Küchenfensterbrett. Dann kramte er seine Flöte und schließlich sogar einen Schuhkarton mit dem Meerschweinchen aus dem Rucksack.

»Eigentlich haben wir damit gerechnet, dass du den Abfall zusammenkehrst«, meinte Saskia.

Ihre Worte zeigten Wirkung, Frido verließ seinen Hochsitz und zeigte sich willig. »Aber du musst so lange die Curly halten«, sagte er und übergab ihr das kleine Wuscheltier. Belustigt kletterte Saskia jetzt auf die Fensterbank und meinte: »Okay, wir tauschen mal die Rollen, nur kann ich leider nicht flöten. Die Aussicht hier oben ist übrigens fantastisch!«

Während der Junge kehrte und Abfall einsammelte, erteilte sie Befehle und kraulte dabei das Meerschweinchen.

»Die Pappbecher in den blauen Sack!«, kommandierte sie, schrie gleich darauf auf und schleuderte das Schoßtier in hohem Bogen weit von sich in die Tiefe. Offensichtlich hatte Curly sich nicht manierlich betragen, denn Saskias Jeans hatten einen großen nassen Fleck. Ich grinste, aber bei Fridolins Reaktion verging mir die Schadenfreude. Der Junge ließ den Besen fallen und war in Windeseile bei seiner haarigen Freundin. Das Meerschweinchen rührte sich nicht mehr, es war in einen leeren Sandsteintrog gefallen, den ich noch bepflanzen wollte.

Nie werde ich vergessen, wie herzergreifend der Pumuckl losheulte. Saskias schuldbewusste Beteuerung, das habe sie nicht gewollt und sie würde ihm ein neues Meerschweinchen kaufen, bewirkten keinen Trost, sondern genau das Gegenteil.

»Mörderin!«, schluchzte Fridolin, wickelte das tote Tier in ein rotkariertes Küchentuch, bettete es in die Schachtel und dann in den Rucksack, stieg aufs Rad und verließ uns. Er vergaß sogar seine Flöte, die auf dem Fensterbrett liegenblieb. Bestürzt sahen wir uns an.

»Der berappelt sich schon wieder«, meinte Saskia kleinlaut. Aber so einfach war es nicht.

»Ein siebzehnjähriger Junge, der flennt wie ein dreijähriges Mädchen, das ist doch ein bisschen übertrieben«, fand ich.

Henry zeigte sich jedoch solidarisch mit seinem Bruder. »Ihr seid echt herzlos! Immer mault ihr herum, wenn Männer keine Gefühle zeigen, nun ist es euch auch wieder nicht recht. Frido ist so was von sensibel! Das ist keine mittlere, sondern eine ungeheuerliche Katastrophe für ihn. – Im Übrigen hat Saskia total überreagiert – und nicht etwa Frido! Meerschweinchen fressen hauptsächlich Grünzeug, deswegen pinkeln sie nun mal häufig. Aber so ein bisschen Pipi trocknet doch in Windeseile …«

»Igitt«, schimpfte Saskia. »Das waren keine paar Tropfen, sondern eine volle Ladung. In Peru werden diese Viecher übrigens gegessen, und ich weiß jetzt auch, warum. – Trixi, hast du noch eine saubere Hose für mich? Außerdem müssen wir den blöden Ofen im Bad anheizen.«

»Bei diesem schönen Wetter kann man ruhig mal unter die kalte Brause gehen«, sagte Henry. »Wenn du so empfindlich bist, ist unser Projekt vielleicht nicht ganz das Richtige für dich.«

Die beiden starrten sich giftig an.

»Also gut, wir gehen uns heute lieber aus dem Weg. Ich muss sowieso mal nach Dodo sehen und duschen«, sagte Saskia nach einer Weile. »Meine Eltern sind übers Wochenende verreist, die Kleine ist allein zu Hause. Gestern wurde etwas zu heftig gesoffen und gekifft, deswegen sind wir alle nicht in Sonntagslaune. Mein Schwesterchen hätte vielleicht gar nicht mitkommen sollen, sie ist noch keine sechzehn …«

»Ich fahre dich«, sagte ich und streckte die Hand in Henrys Richtung aus, denn er war der Einzige, der einen uralten Fiat Punto besaß. Zögernd griff er in die Hosentasche und überreichte mir die Schlüssel. »Ich soll wohl inzwischen für Ordnung sorgen?«, fragte er. »Und die feinen Damen machen sich vom Acker?«

»Bin ja gleich wieder da«, sagte ich und gab ihm einen Kuss.

»Weiber«, knurrte er und schnappte sich den Besen.

Eine Weile saßen Saskia und ich stumm im Auto, bis ich schließlich fragte: »Meinst du, Frido und Dodo haben sich gestern ein wenig angefreundet?«

»Ich glaube, eher nicht«, meinte sie. »Er zeigte zwar Interesse, aber mein Schwesterherz himmelte den Oliver an. Klar, der kann am besten singen und mit seiner erotischen Stimme jede Frau verzaubern. Damit kann eine Blockflöte niemals konkurrieren.«

»Soviel ich weiß, ist Oliver schon lange hinter Kirsten her, da hat Dodo wohl keine Chancen …«

 

»Kommst du noch mit rein?«, fragte Saskia, als wir ihr Elternhaus erreicht hatten. Aber ich wollte Henry nicht enttäuschen und fuhr gleich wieder zurück. Mein Freund hatte nicht gefaulenzt, es sah schon alles etwas zivilisierter aus.

»Wenn ich bloß den Grill finden würde, ich muss ihn morgen zurückgeben«, meinte er. »Abgesehen davon könnten wir ihn jetzt noch mal anschmeißen und die restlichen Auberginen drauflegen, Brot ist noch genug da. Na ja, notfalls bleiben noch Tante Emmas Eisenpfanne und der vorsintflutliche Herd – oder die Pizzeria am Marktplatz. Übrigens hättest du auch gleich bei meinen Eltern vorbeifahren können, um Frido die Flöte zu bringen. Leider habe ich nicht daran gedacht.«

»Das kann ich ja immer noch machen«, sagte ich. »Schließlich wissen wir, dass er ohne sein Instrument nur ein halber Mensch ist.«

Doch Henry wollte den Bruder lieber persönlich trösten und außerdem im Elternhaus etwas Käse und Butter abstauben. Ich blieb also allein, hatte aber keine Lust, Teller zu spülen, sondern legte mich auf eine der Bänke, schloss die Augen und genoss die tief stehende Sonne. Plötzlich meldete sich der Hunger, ausgelöst durch einen köstlichen Duft, der mir verlockend in die Nase stieg. Neugierig ging ich ins Haus und schaute im ersten Stock aus allen Richtungen auf die umliegenden Gärten. Tatsächlich entdeckte ich eine feine Rauchfahne, die aus dem verwilderten hinteren Grundstück zu kommen schien. Nun wollte ich es genauer wissen, lief wieder ins Freie und schlug mich durchs Gebüsch bis zur Ligusterhecke. Und richtig: In einiger Entfernung konnte ich einen Grill erkennen, der in den abendlichen Sonnenstrahlen funkelte. Bei solchem Glanz konnte es sich eigentlich nur um ein neues Gerät handeln! Eine gebückte Gestalt drehte mir den Rücken zu und schien ein Stück Fleisch zu wenden. Benutzte der Unbekannte etwa unseren Bratrost für sein sonntägliches Barbecue? Ein ebenso dreister wie unprofessioneller Diebstahl! Anfangs spürte ich einen spontanen Impuls, durch die Hecke zu kriechen und den Mann – oder war es am Ende eine Frau? – zur Rede zu stellen. Aber war das klug? Konnte ich überhaupt beweisen, dass es sich um unseren Grill handelte? Sollte ich nicht lieber warten, bis Henry und Saskia zurück waren?

Saskia kam gar nicht mehr, mein Freund erst spät, offenbar hatte auch er in seinem Elternhaus geduscht. Ich war die Einzige, die an diesem Abend mit kaltem Wasser vorliebnehmen musste. Mit einer gewissen Skepsis hörte sich Henry meinen Bericht an. An einem warmen Sonntagabend hatten auch andere Leute Lust auf ein Essen im Freien, und sicherlich besaß fast jede Familie einen Grill. Auf jeden Fall wollte sich Henry die dubiose Sache erst einmal selbst anschauen, bevor er mir glaubte. Inzwischen dämmerte es bereits, weder Rauch noch Duft aus der Nachbarschaft konnte meine Behauptung beweisen.

»Vielleicht war es eine Fata Morgana, denn mein armes Zicklein hat heute noch nichts Vernünftiges gegessen. Oder du bist eingeschlafen und hast von gegrilltem Fleisch geträumt …«, überlegte Henry, schmierte ein Butterbrot, belegte es dick mit Gouda und überreichte es mir.

Aber er beschloss immerhin – bei völliger Dunkelheit und mit einer Taschenlampe bewaffnet –, auf das fremde Grundstück zu schleichen. »Eigentlich könnte man morgen ganz einfach in Erfahrung bringen, wer dort wohnt. Ich werde mal Kontakt mit den hiesigen Spießern aufnehmen, die wissen sicherlich alles.«

»Aber die Nachbarn halten uns für asozial und hassen uns«, meinte ich. »Außerdem haben wir es uns durch unser blödes Gequatsche total mit ihnen verdorben.«

»Das bildest du dir nur ein, es sind schließlich Sommerferien. In den angrenzenden Häusern sind die meisten verreist und konnten uns gar nicht hören.«

Als es beinahe stockdunkel war, kroch Henry tatsächlich durch die Hecke und sah sich bei unserem Anrainer um. Unseren Grill konnte er zwar im Lichtkegel der Taschenlampe nirgends entdecken, doch immerhin ein paar Indizien: einen abgenagten Knochen, den eine Katze bearbeitete, eine leere Schnapsflasche und einen halbvollen Sack mit Holzkohle. Das Haus war bis über die Dachkante mit Efeu bewachsen. Durch eines der Fenster schimmerte der schwache Schein einer gelblichen Lampe.

»Morgen werde ich dem mal nachgehen«, waren Henrys letzte Worte, bevor wir einschliefen.

 

Doch ich war schneller als Henry, weil ich am nächsten Tag als Erste aufstand, um Brötchen zu holen. Vor dem Bäckerladen traf ich die Schülerin, der ich die Topflappen angedreht hatte. Sie erkannte mich sofort und fragte gleich, ob ich jetzt wirklich in dem kaputten alten Haus wohne.

»Du kannst uns gern mal besuchen«, sagte ich und begann meinerseits mit dem Verhör. Das zutrauliche Mädchen erzählte, dass in jenem verkommenen Anwesen ein Monster wohne, vor dem sich alle Kinder fürchteten. Der Alte könne sich angeblich unsichtbar machen, Gegenstände verschwinden lassen und Menschen in Tiere verwandeln, aber daran würde sie natürlich nicht glauben. Schließlich sei sie schon fast ein Teenager und erhaben über Ammenmärchen. Mit diesen Neuigkeiten konnte ich allerdings wenig anfangen. Als ich zurückkam, das Tor aufgeschlossen hatte und ins Haus wollte, stolperte ich fast über den Grill. Natürlich nahm ich an, Henry habe das gute Stück endlich wieder aufgespürt, während er dachte, ich sei die glückliche Finderin. Eine Weile redeten wir aneinander vorbei, bis uns klar wurde, dass der Dieb in meiner kurzen Abwesenheit seine Beute zurückgebracht haben musste. Schließlich setzten wir uns auf eine der Bierbänke, bissen in die frischen Laugenbrötchen und tranken Kakao aus der Tüte. Ich berichtete Henry, was mir das Mädchen gerade erzählt hatte.

»Nachher statten wir dem ominösen Nachbarn mal einen Besuch ab«, schlug ich vor. Henry nickte.

»Auf das Kindergeschwätz darf man nicht viel geben«, meinte er. »Doch vielleicht war der alte Zausel mit Emma befreundet. Überhaupt – wie war diese Frau überhaupt?«

Ich hatte meine Großtante nie richtig kennengelernt, hatte als kleines Mädchen sogar ein wenig Angst vor ihr. Auch meine Eltern besuchten sie selten und nicht etwa aus Sympathie, sondern aus reinem Pflichtgefühl. Als nahe Verwandte fühlten sie sich für sie verantwortlich, sorgten für einen Telefonanschluss im Bauernhaus und riefen regelmäßig an, ob alles in Ordnung sei. Notgedrungen kümmerten sie sich auch darum, dass Emma nach einem schweren Sturz in einem Altersheim unterkam. Dort verbrachte sie bis zu ihrem Tod nur noch ein paar Monate, das Haus stand unterdessen leer. Sie hatte früh geheiratet und war schon nach wenigen Jahren Witwe geworden, hatte den Ruf, geizig, versponnen und unfreundlich zu sein, Kinder anzugiften und hilfsbereite Nachbarn wegzubeißen. Man nannte sie die alt’ Hex’.

»Komisch«, sagte Henry. »In zwei angrenzenden Bauernhäusern wohnten zwei misanthropische alte Leute, die alle beide als Kinderschreck galten. Bei so viel Übereinstimmung waren sie sich entweder spinnefeind oder die besten Freunde. Na, ich bin mal gespannt!«

Halb zwölf hielten wir für eine angemessene Zeit, um den Grilldieb aufzusuchen. Wir krochen natürlich nicht durch die Hecke, sondern klingelten artig am Vordereingang. Auf dem Namensschild lasen wir: Gerhard Gläser. Als sich nichts rührte, riefen wir mehrmals »Hallo« und hämmerten schließlich hörbar gegen die Haustür. Als wir gerade wieder abziehen wollten, öffnete sich ein Fenster im oberen Stockwerk, und ein weißhaariger Strubbelkopf schaute sich suchend um.

»Wir sind es, Ihre neuen Nachbarn«, rief ich, und ein Nicken deutete an, dass er verstanden hatte. Nach einer Ewigkeit wurde die Tür geöffnet, eine Katze schlüpfte blitzschnell neben uns herein, ein verwitterter Greis stand auf der Schwelle, musterte uns prüfend und sagte: »Na endlich!«

Wir wurden in die Küche geführt, die noch etwas übler aussah als unsere, bevor wir mit dem Entrümpeln begonnen hatten. Der Alte holte drei schmutzige Schnapsgläser und eine Flasche mit einer trüben Flüssigkeit, schenkte uns ein und sagte: »Prost, auf gute Nachbarschaft!«

Henry tat so, als ob er trinken würde, ich konnte mich noch nicht einmal zu einer höflichen Geste überwinden.

»Hübsch bist du geworden, Trixi«, sagte der Alte anerkennend und betrachtete mich mit zusammengezogenen Brauen. »Hast auch einen schönen Mann an deiner Seite, hoffentlich ist er dir treu!«

Nach drei weiteren Schnäpsen wurde er redselig. Wir erfuhren, dass er mich als kleines Mädchen kennengelernt hätte, woran ich mich allerdings nicht erinnern konnte. Außerdem ließ er durchblicken, dass er sehr gern beim Grillabend dabei gewesen wäre, denn wir hätten wunderschön gesungen, vor allem auch sein Lieblingslied Wo die bunten Fahnen wehen. Außerdem hätte es köstlich gerochen. Deswegen habe er sich in tiefer Nacht den Grill geholt, er sagte »geliehen«, um sich am nächsten Tag ein Kotelett zu brutzeln.

Etwas befremdet schaute ich ihn an. »Herr Gläser, Sie hätten uns ja einfach fragen können! Außerdem hätten Sie stürzen können, in Ihrem Alter ist es gefährlich, bei Dunkelheit durch das Gebüsch zu kriechen und dazu noch einen schweren Gegenstand zu schleppen …«

»Erstens bin ich stark, zweitens kam ich nicht durch den Garten, sondern von der Straßenseite. Schließlich weiß ich selbst, dass ich mit einem gebrochenen Bein wahrscheinlich nie mehr richtig …« Er schwieg, setzte dann aber wieder an: »Ich habe schon seit dreißig Jahren einen Schlüssel.«

Erneut tauschten Henry und ich Blicke. Ohne aufstehen zu müssen, griff der Alte in die Schublade des Küchentischs und zog zwei rostige, mit einem Draht zusammengeknüpfte Schlüssel heraus. »Seht ihr, die Emma hat mir voll vertraut, wir konnten uns immer aufeinander verlassen. – Aber nun wird es Zeit für ein Mittagsschläfchen, nachts kann ich oft kein Auge zutun, das werdet ihr erst verstehen, wenn ihr auch mal in die Jahre kommt.«

Wir verließen ihn schleunigst. »Er hätte dir die Schlüssel aushändigen müssen«, sagte Henry. »Wir sollten auf jeden Fall ein neues Schloss machen lassen – sonst kann er ja zu jeder Tages- und Nachtzeit bei uns eindringen. Meinst du, er ist noch ganz dicht im Kopf?«

»Kann ich nicht beurteilen. Rein äußerlich macht alles einen total verwahrlosten Eindruck, in seinem Bart klebt Eigelb, aus den Ohren wachsen stachelige Haarbüschel, in der Küche stinkt es, der Aschenbecher war randvoll, das Geschirrtuch ist jahrelang nicht gewaschen worden, alles verdreckt, der Alte selbst aber am meisten. Da sah es sogar bei Tante Emma noch appetitlicher aus …«

»Wie alt mag er wohl sein? Bestimmt schon über neunzig. Ob jemand hin und wieder nach dem Rechten bei ihm sieht? Müsste man das Sozialamt nicht einschalten? Kann er überhaupt noch einkaufen gehen? Aber woher sollte er sonst das Kotelett haben? Ich würde ihm gern mal die Haare schneiden …«

»… oder ich könnte ihm einen Zopf flechten …«

»Vielleicht finden wir unter Tante Emmas Hinterlassenschaften auch einen Schlüssel für sein Haus, sollten wir mal suchen?«

Auf dem kurzen Rückweg stellten wir uns Fragen über Fragen, auf die wir keine Antwort wussten. Inzwischen war aber Saskia mit einem Koffer voller Kleidungsstücke wiedergekommen und stand etwas ratlos vor dem verschlossenen Tor. Falls hier eine WG entstehen sollte, brauchten wir eine ganze Menge neue Schlüssel.

3 Saskia

Meine Freundin, die doch in ihrem Elternhaus sicherlich ausgeschlafen hatte, trug stumm den Koffer in ihr Zimmer und legte sich sofort zwischen die Kitschbilder der betenden Kinder. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, sie hatte bisher noch kaum ein Wort mit uns gesprochen. Leise klopfte ich bei ihr an und trat ein, ohne auf Antwort zu warten. Eigentlich wollte ich ihr nur vom Besuch bei unserem seltsamen Nachbarn berichten.

»Was ist, hast du schlechte Laune?«, fragte ich vorsichtig. »Das Meerschwein ist längst im Paradies gelandet. Frido ist bestimmt schon auf der Suche nach einem neuen Schmusetier.«

Saskia schüttelte den Kopf. »Störe meine Krise nicht!«, sagte sie und drehte sich zur Wand.

»Keine Krise ohne Dornen«, kalauerte ich zurück. Es hatte wohl keinen Zweck, weiter in sie zu dringen, also verzog ich mich lieber. Eine Weile lauschte ich noch an der geschlossenen Tür und meinte, ein leises Schluchzen zu hören.

 

Als wäre nichts gewesen, gesellte sie sich am späten Nachmittag aber wieder zu uns. Bei einer Tasse Chai-Tee setzten wir uns zusammen und besprachen, wer von unseren Freunden als Mitbewohner geeignet und willkommen wäre.