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DIE VERBORGENE GESCHICHTE EINER FAMILIE

Viele Familien haben ein Geheimnis. Doch nur wenige ein solches wie die von Bart van Es. 1942 versteckten seine Großeltern, einfache Arbeiter aus Dordrecht, das ihnen völlig unbekannte jüdische Mädchen Lien vor den Nazis. Achtjährig war es von seinen Eltern von Den Haag aus zu den van Es geschickt worden, mit seinem Poesiealbum und einem Brief seiner Mutter an die Pflegeeltern in der Tasche. Doch schon einige Monate später musste Lien die Familie, die sie schnell lieb gewonnen hatte, verlassen und in ein sichereres Versteck auf dem Land weiterziehen, wo es ihr nicht gut erging. 1945 kehrte sie zu den van Es zurück und wurde von ihnen adoptiert.

Doch Bart kannte Liens Geschichte nicht – wie konnte das sein, wo sie doch gemeinsam mit seinem Vater und dessen Geschwistern aufgewachsen war? Warum hatte seine Großmutter den Kontakt zu ihr abgebrochen?

Bart van Es lüftet das Geheimnis seiner Familie und schlägt damit ein wichtiges Kapitel der niederländisch-deutschen Geschichte auf. Er lernt Lien de Jong kennen, die heute in Amsterdam lebt. Sie erzählt ihm die Geschichte ihres Lebens, die zu Barts Erstaunen auch seine eigenen Lebensfragen berührt.

»In makelloser Prosa erzählt van Es ehrfurchtgebietend von den Tragödien und Triumphen der ›versteckten Kinder‹ während des Holocausts, und von den Familien, die sie bei sich aufnahmen.«

GEORGIA HUNTER

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© Roger Ainsworth

BART VAN ES wurde in den Niederlanden geboren und zog als Kind mit seinen Eltern nach England, wo er auch heute noch mit seiner Familie lebt. Er ist Professor für Englische Literatur an der Universität von Oxford und Fellow des St. Catherine’s College. Er veröffentlichte auch populäre Bücher über die Werke von William Shakespeare.

SILVIA MORAWETZ ist seit 1984 als Übersetzerin tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

THERESIA ÜBELHÖR hat ca. fünfzig Werke aus dem Englischen und Französischen übersetzt. Für DuMont legte sie 2017 die Übersetzung des ›Atlas unserer Zeit‹ vor.

Bart van Es

DAS MÄDCHEN
MIT DEM POESIEALBUM

Aus dem Englischen von
Silvia Morawetz und Theresia Übelhör

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eBook 2019

Für Charles de Jong und Catharine de Jong-Spiero und Henk van Es und Jannigje van Es-de Jong

PROLOG
DEZEMBER 2014

»Ohne Familien gibt es keine Geschichten.«

Die Frau, die das zu mir sagt, macht in ihrer Amsterdamer Wohnung Kaffee. Ihr Name ist Hesseline, kurz Lien. Sie hat die achtzig überschritten, ist aber immer noch eine Erscheinung von schlichter Schönheit mit ihrer hellen Haut ohne sichtbares Make-up, der kleinen silbernen Uhr, die sie als einzigen Schmuck trägt, und den glänzenden, nicht lackierten Nägeln. Sie hat eine forsche Art, die lange, dunkelgraue Strickjacke mit dem wehenden bordeauxroten Paisley-Schal verleiht ihr aber auch einen Hauch von Bohème. Meines Wissens bin ich ihr vor dem heutigen Tag noch nie begegnet. Dennoch ist diese Frau mit meinem Vater aufgewachsen, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden geboren wurde. Sie war einmal ein Teil meiner Familie, aber das ist nicht mehr so. Ein Brief wurde abgeschickt und eine Verbindung abgebrochen. Noch heute, fast dreißig Jahre später, schmerzt es Lien, davon zu sprechen.

Wir gehen aus ihrer weißen offenen Küche in den Wohnbereich, in den die Wintersonne scheint, teils durch Kunstwerke aus buntem Glas gefiltert, die vor die Scheiben gelehnt sind. Unter der Glasplatte eines niedrigen Couchtischs liegen Bücher, Museumskataloge und Kulturbeilagen aus Zeitungen. Die Möbel sind modern, genau wie die Bilder an den Wänden.

Wir unterhalten uns auf Niederländisch.

»In Ihrer Mail haben Sie geschrieben, Sie interessieren sich für die Familiengeschichte und wollen vielleicht ein Buch schreiben«, sagt sie. »Familie ist bei mir eigentlich kein Thema. Die van Es waren in meinem Leben lange Zeit wichtig, jetzt aber nicht mehr. Was für Sachen schreiben Sie denn?«

Ihr Ton ist freundlich, aber nüchtern. Ich erzähle ihr ein bisschen von meiner Arbeit als Professor für englische Literatur an der Universität Oxford – wo ich wissenschaftliche Bücher und Artikel über Shakespeare und Renaissancedichtung verfasse –, wovon sie das meiste jedoch bereits aus dem Internet weiß.

»Warum wollen Sie das tun?«, fragt sie.

Warum ich das tun will? Ich bin mir nicht sicher. Ihre Geschichte könnte interessant sein, auf vielen Ebenen. Diese Dinge festzuhalten ist wichtig, besonders heute, bedenkt man den Zustand unserer Welt, in der der Extremismus überall wieder auf dem Vormarsch ist. Hier ist eine noch nicht erzählte Geschichte, die nicht verloren gehen sollte.

An diesem strahlenden Dezembervormittag unterhalten wir uns über die Weltlage und Israel, über die niederländische Politik und die Situation in Großbritannien, wo die Koalitionsregierung unter David Cameron ans Ende ihrer fünfjährigen Amtszeit kommt. Wir springen von einem Thema zum nächsten, fast wie bei einem Vorstellungsgespräch.

Nach vielleicht einer Stunde schiebt Lien ihre leere Tasse zur Seite und sagt bestimmt: »Ja, ich glaube, das kann etwas werden. Sollen wir uns an den Tisch setzen? Haben Sie Stift und Papier dabei?«

Ich hatte nicht wie ein Reporter aufkreuzen wollen und muss sie daher um etwas zum Schreiben bitten, aber kurz danach sitzen wir an ihrem Esstisch aus hellem Holz. Ich darf sie nach allem fragen, woran sie sich erinnert: danach, was andere sagten und taten, was sie anhatte und was sie aß, in was für einem Haus sie wohnte – und was sie träumte.

Wir sitzen in der warmen modernen Wohnung, und Stunden vergehen über unserem ersten Kennenlernen. Dokumente – Fotografien, Briefe, diverse Gegenstände – kommen erst nach und nach zum Vorschein, so wie sie ihr einfallen, und als es am fortgeschrittenen Nachmittag draußen zu dämmern beginnt, ist der Tisch mit Andenken bedeckt. Darunter befinden sich ein Kinderbuch mit hellgelbem Umschlag und einem Dampfboot in der Mitte sowie eine Keramikkachel mit der Karikatur eines Ertrinkenden darauf. Auch ein Fotoalbum aus rotem Kunstleder mit stark abgenutztem Rücken ist dabei, auf dessen erster Seite das Bild eines hübschen Paares klebt, darunter die mit Blau geschriebenen Wörter »Mamma« und »Pappa«.

Charles und Catharine (links)

Die Frau links auf dem Foto ist Liens Mutter und heißt Catharine de Jong-Spiero. Sie sitzt auf der Kante eines Rattansessels, dessen geschwungene Lehne sie einrahmt. Die Sonne scheint ihr voll ins Gesicht, und sie lächelt etwas scheu. Ihr Mann Charles, Liens Vater, sitzt vor ihr auf dem Boden, die großen Hände ruhig auf den Knien. Er lehnt mit dem Rücken an seiner Frau, die eine Hand auf seine Schulter legt, und schaut mit selbstsicherem, ironischem Blick in die Kamera. Es hat etwas Lässiges, dass er trotz des gestellten Bildes lachen kann, was seiner steif lächelnden Frau sichtlich schwererfällt.

Charles hinten im Automobil

Strandgesellschaft

Die Selbstsicherheit des Mannes teilt sich auch auf den wenigen anderen Fotos mit, die auf der ersten Albumseite eingeklebt sind. Eins zeigt ihn auf der Rückbank eines Automobils, links und rechts neben ihm elegante junge Männer. Insgeheim deutet er mit Zeige- und Mittelfinger Hasenohren hinter dem Kopf eines Freunds an, der mit Handschuhen und Gehstock vor ihm posiert. Auf einem anderen Foto steht er, den Hut in der Hand, vor einem breiten schwarzen Torweg, ein Bein mit Lackschuh nach vorn geschoben. Von diesen frühen Aufnahmen gibt es ungefähr ein Dutzend. Das am stärksten zerknitterte – eingerissen, geknickt und mit vergilbendem Leim geklebt – zeigt eine Strandgesellschaft von vielleicht zwanzig jungen Männern und Frauen in Badekleidung, Arm in Arm, lächelnd. Eine Frau in Weiß in der Mitte hält etwas hoch, das wie ein Volleyball aussieht. »Mamma, Pappa, Tante Ro, Tante Riek und Onkel Manie« lautet der handschriftliche Vermerk unter dem Foto.

Pappas Gedicht

Obwohl ich in Interviews nicht geübt bin, findet unsere Unterhaltung bald zu einem gewissen Rhythmus. Ich stelle zahllose Fragen, erkundige mich aufs Geratewohl nach irgendeinem Detail, mache mir Notizen.

»Wie sah das Zimmer aus?«

»Von wo kam das Licht?«

»Was für Geräusche konnten Sie hören?«

Erst wenn alle Details einer Episode ausgeschöpft sind und sie mir nichts mehr dazu sagen kann, fahren wir fort.

Es ist bereits dunkel, als Lien ihr Poesiealbum erwähnt, ein Buch mit gesammelten Gedichten und Andenken, wie es fast alle Mädchen in den Niederlanden hatten. Sie kann es nicht gleich finden, geht aber nach nebenan und bittet mich, auf einen Stuhl zu steigen und ganz oben im Regal nachzuschauen, und da liegt es auch tatsächlich, staubgeschützt in einer kleinen Plastiktüte. Das Album ist in graues Leinen gebunden und etwa vierzehn mal sechzehneinhalb Zentimeter groß; ein verblasstes Blumenmuster ziert den Umschlag. Auf der ersten Doppelseite steht eine Reihe von Versen, unterschrieben mit »Dein Vater« und datiert mit »Den Haag, den 15. September 1940«. Der Anfang des Gedichts lautet:

In dieses Buch sollen Freunde schreiben,

die dir dein Lebtag Freunde bleiben

und mit dir durch die Jahre gehen,

dich allzeit lächeln und nie weinen sehen.

Ich halte kurz inne und betrachte die nach rechts geneigte Handschrift. Gegenüber, auf der linken Seite, sind drei altmodische Glanzbilder: ganz oben ein Weidenkorb mit Blumen, darunter zwei Mädchen mit Strohhüten. Das Mädchen rechts lächelt und sieht fröhlich aus, so wie Liens Mutter auf dem Foto, das Mädchen links aber umklammert mit zusammengepressten Lippen sein Blumensträußchen. Es schaut zur Seite, so als weiche es dem Blick des Betrachters aus.

DEN HAAG,
APRIL 1941

Im Grunde ist es Hitler, der Lien zur Jüdin macht. Ihre Eltern sind zwar Mitglieder eines jüdischen Sportvereins (es gibt ein Mannschaftsfoto, auf dem ihr Vater in dicken Socken und einem Hemd mit offenem Kragen zu sehen ist), praktizieren ansonsten ihre Religion aber nicht. Sie essen Matze zum Pessachfest und haben auf Wunsch der Familie in einer Synagoge geheiratet. Mit sechs ist Lien jedoch das holländische Pendant zum Weihnachtsmann, der Nikolaus, wichtiger, und sie weiß noch, wie zornig sie geworden ist, als sie hören musste, dass es den gar nicht gebe. Die Erwachsenen haben sie geprellt, und vor Wut und Beschämung versteckt sie sich in dem Wandschrank unter der Treppe, die zur Wohnung über ihnen führt.

Dieser Schrank in der Pletterijstraat 31 in Den Haag befindet sich im Flur direkt gegenüber ihrem Zimmer, das man beim Eintritt in die Wohnung vor sich sieht. Kommt man in ihr Zimmer, so sind dort vier kleine Fenster, direkt unter der Decke, zu weit oben, um hinauszusehen. Sie lassen nur wenig Licht herein. Auf der anderen Seite der Fenster liegt das hintere Schlafzimmer, das Liens Eltern gehört. Ein weiteres Schlafzimmer, das zur Straße hinausgeht und zur Küche weiterführt, wird von Frau Andriessen zur Untermiete bewohnt. Sie ist schon älter und eine eher vornehme Dame und schreibt wie alle anderen auch etwas in Liens Poesiealbum. »Liebe Lien, gehorche stets, sei brav und rein, / so wirst du wohlgelitten sein«, gibt sie dem Kind als Lehre mit. Die Blumenbilder, die Frau Andriessen ihr dazugeklebt hat, fesseln Lien mehr als der kluge Rat.

Am 20. April 1941, als Frau Andriessen ihren Vers beisteuert, sind Juden in den besetzten Niederlanden nicht mehr wohlgelitten. Sie müssen mit »J« gestempelte Personalpapiere mitführen; sie dürfen nicht im Staatsdienst arbeiten, nicht ins Kino oder ins Café gehen, nicht die Universität besuchen; Juden ist der Radiobesitz unter Strafe verboten. Für Lien aber ist alles noch ziemlich normal. Sie besucht eine gemischte Schule, und die sorgfältig und mit Füllfederhalter in ihr Album eingetragenen Kindernamen sind größtenteils nicht jüdisch.

»Wir bleiben für immer Freundinnen, liebe Lientje, was hältst du davon?«, schreibt Ria.

»Ein glückliches Leben voll Sonnenschein, das soll dir beschieden sein«, von »deiner Freundin Mary van Stelsen«.

»Wirst du dich auch ohne diese Albumseite an mich erinnern?«, fragt Harrie Klerks.

Sportklub

Der Eintrag bereitet Lien großen Verdruss, denn obwohl er versprochen hat, sauber zu schreiben, kleckst Harrie und verdirbt die Seite, die daraufhin mit dem Papiermesser aus dem Album herausgetrennt werden muss. Trotzdem gibt Lien ihm großzügig eine zweite Chance.

Echte Sorgen, könnte sie sie in Worte fassen, bereitet Lien nicht der Krieg, sondern die Ehe ihrer Eltern. Als sie noch sehr klein war, gerade mal zweieinhalb, musste sie die über einem Laden gemietete Wohnung, in der sie damals lebten, verlassen und bei Tante Fie und Onkel Jo und ihren beiden Kindern in einem anderen Stadtviertel wohnen. Ihre Eltern ließen sich scheiden. Mamma kam sie besuchen, Pappa aber sah sie sehr lange nicht. Zwei Jahre später heirateten Mamma und Pappa wieder, richteten sich in der Pletterijstraat ein und fingen noch einmal von vorn an. Pappa ist nicht mehr so viel auf Reisen wie in seiner früheren Tätigkeit als Handelsvertreter für Großvater und bleibt abends öfter zu Hause, schnitzt am Tisch unter dem Deckenlicht in der Küche Kinderpuzzles aus Holz. Für Lien malt er ein Bildchen von Jan Klaassen und Katrijn, den holländischen Pendants zum Kasper und zur Gretel, das ihr wertvollster Besitz ist. Auf einer grauen Wolke, aus der es regnet, sitzen Jan Klaassen und Katrijn oben in der Sonne, haben Regenschirme in der Hand und lächeln. Vielleicht sind die beiden ein bisschen wie Mamma und Pappa, die sich freuen, weil für sie nun wieder die Sonne scheint?

Lien bekommt schlimme Bauchschmerzen und will außer Nachtisch nichts essen. Sie hat vom Arzt schon Medikamente verschrieben bekommen und musste, als sie einmal richtig dünn geworden war, für sechs Wochen in ein Krankenhaus, in dem man viel Milch trinken und Haferbrei essen muss. Dort noch mal hinzumüssen wäre schrecklich, deshalb gibt sie sich Mühe und isst so viel von dem Grünkohl und dem Kartoffelbrei, den Mamma ihr macht, wie sie kann, braucht dafür aber immer sehr lange.

Für seine neue Arbeit hat Pappa eine kleine Fabrik wie die von Großvater, im Grunde ein Schuppen, zu dem er bloß hinter der Wohnung über den Hof zu gehen braucht. Er macht Marmeladen und Mixed Pickles und benutzt dafür Bottiche mit Obst und Gemüse und verschieden große Gläser. Lien sieht ihrem Pappa bei der Arbeit zu, darf selbst aber nicht helfen, weil Sauberkeit hier das A und O ist und Kinderfinger manchmal schmutzig sind. Man findet sie jetzt meistens auf der Straße, wo Kinderlieder gesungen werden und gespielt wird. Bei »Wo soll ich mein Taschentuch hintun?« zum Beispiel stellen sich alle in einem dichten Kreis auf, und ein Kind geht rundherum, bis es einem Mitspieler das Taschentuch gibt und der es nun fangen muss, um es ihm zurückzugeben. Lien mag solche Spiele sehr; wenn die Sonne scheint, ist sie fast immer draußen, und für den Spaß, den sie hat, nimmt sie sogar ein bisschen Regen in Kauf.

Sie geht auch zum Ballett, das ist sehr damenhaft, und manchmal treten sie vor Publikum auf. In Mammas und Pappas Schlafzimmer hängt ein Foto, das sie vor einer Bühnendekoration zeigt. Es wurde nach einer Aufführung gemacht: Lien hat ihr Kostüm an, schwarzer Rock und weiße Bluse, und hält mit der rechten Hand eine Handpuppe in die Höhe. Die Puppe ist ein wenig zerrupft und zerrauft und sieht eulenhaft aus, soll aber Micky Maus sein. Außer ihrem Ballettkostüm mag Lien noch ihre zwei besten Kleider. Das aus blaugrauer Seide hat sie mit Mamma bei einem Einkaufsbummel in der Bonneterie gekauft, dem riesigen Kaufhaus mit den Glastüren und der hohen Decke, das sie förmlich verschluckt hat. Die Fußböden glänzen dort so stark, dass man sich darin spiegeln kann, und wenn man von der Galerie in die Eingangshalle hinabschaut, sind die Leute unten klein wie Ameisen. Das andere Lieblingskleid ist aus Satin und hat einen Glockenrock mit einem Unterrock darunter, den ihre Mutter selbst genäht hat.

Liens Welt besteht aus Schule und dem Spielen auf der Straße, aus Großmüttern und Großvätern, Tanten und Onkeln und Cousinen und Cousins. Bis zur Familie ist es nie weit: Entweder geht man von der Pletterijstraat ein kurzes Stück zu Fuß oder man fährt ein kurzes Stück mit der Straßenbahn. Im Sommer fahren sie mit der Straßenbahn nach Scheveningen und spielen am Strand. Das gefällt auch dem Familienhund, einem Weibchen, das Pretty heißt und, so schnell es kann, durch den nassen Sand rennt, immer knapp an der Wasserlinie entlang, und mit seinen vier Pfoten Abdrücke hinterlässt, die das Meer fortspült. Wenn Lien einen Tennisball wirft, bringt Pretty ihn, triefend nass, klebrig und sandig, in Windeseile zurück.

Ballettauftritt

Rini und Daafje sind Liens Lieblingscousins. Sie sind fast wie Bruder und Schwester für sie, weil sie in der langen Zeit bei ihnen gewohnt hat, in der Mamma und Pappa keine Freunde sein konnten. An einem der vielen Tage, die sie zusammen verbringen, schreibt Rini ihr einen kurzen belehrenden Vers darüber, dass man Menschen so nehmen solle, »wie sie sind«, ins Poesiealbum. Sonderlich passend sind die Zeilen nicht, denn Lien urteilt eigentlich über nichts und niemanden, aber manchmal ist es leichter, sich beim Schreiben im Rahmen des Üblichen zu bewegen. Daran ist auch nichts auszusetzen, wenn die Handschrift und die eingeklebten Bilder schön sind, und deshalb schreibt Lien Rini ebenfalls etwas Erbauliches ins Poesiealbum.

Und dann ist da Tante Riek mit Liens Cousin Bennie und den beiden Kleinen, Nico und dem Säugling Robbie, auf die Lien manchmal mit aufpasst. Es gibt ein Foto von Tante Riek und Mamma, beide auf einen Sessel gequetscht und mit Bennie (Daumen im Mund) und Lien (weiße Schleife im Haar) auf dem Schoß. Mamma sitzt auf der einen Armlehne und hält mit der linken Hand Lien und mit der rechten Hand Riek fest. Der Sessel sieht ziemlich wacklig aus, so als könnte er jeden Augenblick mit ihnen umkippen, und auch wenn Mamma ihr seriöses Kamera-Lächeln beibehält, muss ihre Schwägerin schon lachen.

Rinis Gedicht

Mamma, Tante Riek, Lien und Bennie

Sehr gern geht Lien auch in die Eisenwarenhandlung ihres Onkels Manie, die näher am Stadtzentrum liegt und in der die Wandregale bis zur Decke reichen und voll sind mit Schraubenziehern, Türklopfern, Hämmern und Fahrradklingeln. Einmal bekommt sie dort wunderschöne Schlittschuhe, weiß und mit langen, scharfen silbernen Kufen. Die wird sie im Winter ausprobieren können. Lien sieht es schon vor sich, wie sie mühelos an den anderen Kindern vorübergleitet, in der Sonne dahinjagt und eine Pirouette auf dem Eis dreht.

Lien mit Bennie

Liens Erinnerung nach kommt der Krieg mit der Besetzung Hollands im Mai 1940 aus heiterem Himmel. Sie steht neben ihren Eltern, als sie die Flugzeuge am Himmel sieht, und die Eltern sagen: »Das ist der Krieg.« Ansonsten passiert nicht viel. Deutsche Soldaten sind da, die an den Caféhaustischen im Freien sitzen und manchmal durch die Straßen gehen. Sie sind freundlich. Die Dinge verändern sich nur langsam.

Ab Herbst 1941 tauchen andere Namen in Liens Poesiealbum auf. Oder, besser gesagt, sie haben alle eine Gemeinsamkeit: Roosje Sanders, Judith Hirch, Ali Rosenthal, Jema Abrahams: Alle, die Lien zwischen September 1941 und März 1942 etwas ins Poesiealbum schreiben, sind unverkennbar Juden, was daran liegt, dass Lien nun in eine jüdische Schule gehen muss. In ihren Gedichten geht es immer noch um Freundschaft, um Engel und Blumen, aber pastellfarbene Glanzbilder von Blumenbouquets und von Mädchen mit Krinolinen, wie sie auf den vorderen Seiten überall kleben, sind nun selten. Am 15. September 1941 tauchen neue Schilder vor Bibliotheken und Märkten, vor Parks, Museen und Schwimmbädern auf: »Für Juden verboten«.

DEN HAAG,
JANUAR 2015

Im Dezember hatte ich Lien für einen Tag besucht und bin nun für einige Wochen wieder in die Niederlande gekommen, um unsere Gespräche fortzusetzen. Wir finden es auch beide nützlich, wenn ich die Orte besuche, an denen sie gelebt hat. Fotos, die ich dort mache, sollen ihre Erinnerungen stimulieren, und ich soll ein Gespür für die Örtlichkeiten entwickeln. Deshalb fahre ich nach Den Haag.

Historisch betrachtet galt Den Haag immer als Dorf und erlangte formal nie den Status einer Stadt. Die Quizfrage nach der Hauptstadt der Niederlande ist nicht leicht zu beantworten, weil Amsterdam unstreitig die hoofdstad der Holländer und Den Haag lediglich der Regierungssitz ist. Obwohl es im ausgehenden 16. Jahrhundert als Stätte für die Zusammenkünfte der »Generalstaaten« der neuen Republik, des niederländischen Parlaments, gewählt wurde, wurde Den Haag nicht die Ehre einer Universität oder auch nur der Errichtung einer Stadtmauer zuteil. Die protestantischen Vertreter der sieben Provinzen, die sich vom spanischen Reich lossagten, trafen sich dort, weil es neutrales und ungefährliches Gebiet war. Sie hielten ihre Beratungen in der von einem Graben umgebenen Festung ab, die noch heute Sitz des niederländischen Parlaments ist. Auch wenn Den Haag keinen großen Hafen hat und auch keine traditionelle Handelsstadt ist, gilt sie mit Recht als Geburtsstätte der niederen Lande. Sie steht auf Sand, Dünen und den Überbleibseln eines morastigen Küstenstreifens, den Subsistenzbauern im neunten Jahrhundert trockenlegten. Wie so vieles in Holland wurde die Siedlung der Nordsee von Menschenhand abgerungen.

Der Weg nach Den Haag führt über Autobahnen, die den alten Meeresboden durchschneiden, heute ein einfarbiger Teppich aus identischen Rechtecken. Im Vergleich zu England, wo ich seit meiner Jugend lebe, wirkt das ländliche Holland in seiner flachen, perfekt organisierten Einförmigkeit total modern. Alle paar Minuten komme ich an einem hübschen Bauernhaus aus rötlich-braunem Backstein mit Steildach vorüber. Auf den Höfen dieser Häuser stehen blitzsaubere Traktoren und Futtersilos; von dem bäuerlichen Gerümpel, das man auf der anderen Seite des Atlantiks vorfindet, ist hier nichts zu sehen. Sogar das Vieh macht einen normierten Eindruck: kantige Kühe, allesamt bedruckt mit Variationen desselben Schwarz und Weiß. Schnurgerade, silberne Gräben durchschneiden das Land in gleiche Portionen, die sich im Morgennebel ausdehnen.

Als ich die Ausläufer der Stadt erreiche, weichen die Bauernhöfe schickeren Konstruktionen aus Glas und Stahl, Autohäusern, Zentrallagern, Schallschutzwänden und Gewächshäusern mit geregeltem Licht und Kohlendioxidgehalt. Wie die landwirtschaftlich genutzten Flächen muten auch diese Bauten eher künstlich an. Durchs Autofenster gesehen wirkt Holland vollkommen geschichtslos.

Nach der Abfahrt von der Autobahn finde ich mich bald in einer langweiligen Siedlung mit Reihenhäusern aus rotem Backstein wieder. Ich parke in der Pletterijstraat, der Straße, in der Lien gewohnt hat. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als diese Häuser gebaut wurden, erlebte die Stadt einen rapiden Aufschwung. Plakate mit Jugendstil-Illustrationen warben bei Bauern aus dem übervölkerten Umland und Einwanderern aus den Kolonien und dem Nahen Osten für ihre Vorzüge als Wohnoase. Auf einmal war Den Haag nicht bloß eine Stadt, sondern eine Stadt für die ganze Welt. Im Jahr 1900 wurde sie Sitz des Internationalen Gerichtshofs – so sollte er bald bezeichnet werden – , der in den neu erbauten prächtigen Friedenspalast einzog. Wie in seinen Anfängen war Den Haag abermals ein neutraler Begegnungsort für die Großmächte geworden. Die Pletterijstraat, 1912 fertiggestellt, behauptete sich in dieser Stadt der Hoffnung.

Noch heute ist es fast eine reine Wohnstraße, in der es einen Eckladen und zwei unabhängige Autowerkstätten gibt, die auch mit Gebrauchtwagen handeln. Die Erdgeschosswohnung des Hauses Nummer 31 beherbergt jetzt eine kleine physiotherapeutische Praxis, schon von außen an dem gelben Logo »Fysio Fitness« auf den Mattglasscheiben erkennbar. Ich läute und warte, bis ein junger Mann im Trainingsanzug die Tür öffnet. Er ist einer der Physiotherapeuten. In der Diele hinter ihm stehen zwei ältere Herrn in Sportkleidung: pludrige Shorts, verblichene Baumwollpullover, helle Turnschuhe und Socken, die etwas zu lang sind.

Ich bleibe allein in der Diele zurück, während die Sportgruppe ihre Stunde in dem Raum fortsetzt, der einst Frau Andriessens Zimmer war. Ich höre die Übungsgeräusche und den Trainer, der seine Schützlinge anspornt.

Rechter Hand befindet sich der Wandschrank, in den sich Lien verkroch, als sie erfuhr, dass es keinen Nikolaus gibt. Mir gegenüber liegt ihr ehemaliges Schlafzimmer, heute ein Büro, an dessen Wänden Ausbildungszertifikate hängen. Fahles Januarlicht dringt durch die Fenster.

Der Rundgang durch die Dreizimmerwohnung dauert nicht lange. Alles ist anständig, einfach und von vernünftiger Größe. Hinter dem Büro liegt das Schlafzimmer von Liens Eltern; hier stehen jetzt ein Massagetisch und ein anatomisches Skelett mit einer roten Pudelmütze auf dem Kopf. Mit dem Raum verbunden ist eine kleine Küche, darin ein Wasserkocher und ein paar Fitness-Prospekte auf der Ablage. Der schäbige Hinterhof ist zum Abstellplatz für ein Sammelsurium von Gegenständen geworden: ein Abfallkübel aus Metall, eine Schneeschaufel, ein Fahrrad, Rasengittersteine, ein Stapel Teller und kaputte Stühle. Ich schaue über den Zaun und versuche zu erahnen, wo Charles de Jongs kleine Fabrik gestanden haben mag.

Nach nicht einmal zehn Minuten habe ich alles gesehen, und ich winke beim Hinausgehen dem Therapeuten und den alten Männern freundlich zu.

Wieder auf der Straße, ergibt sich der nächste Schritt nicht zwangsläufig, und ich frage mich plötzlich selbst, was ich hier eigentlich tue. Trotz meiner wissenschaftlichen Arbeit bin ich natürlich kein Fachmann für niederländische Geschichte oder für die Verfolgung durch die Nazis. Ist es wirklich Recherche, die Stationen von Liens Geschichte aufzusuchen? Leicht gereizt, mit der Frage im Hinterkopf, gehe ich die Straße entlang.

Gegen Ende der Zwischenkriegszeit wurde dieses Viertel immer jüdischer. 1920, als die Häuser recht neu waren, wohnten lediglich sieben jüdische Familien in der Pletterijstraat. 1940 waren es neununddreißig. Schräg gegenüber von Liens Haus stand das jüdische Waisenhaus, das 1929 in diesen Räumlichkeiten seine Tätigkeit begann und schon bald darauf Flüchtlinge aus Deutschland aufnahm. Fünfunddreißigtausend flohen nach der Machtergreifung der Nazis in die Niederlande.

Diejenigen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in diese Reihenhäuser einzogen, waren keine Nachfahren der alten sephardischen Familien, die im ausgehenden 15. Jahrhundert aus Portugal in die Niederlande geflohen waren. Die Neuankömmlinge waren Deutsche und Polen, folgten aber ebenfalls einer bewährten Route, waren doch seit dem 18. Jahrhundert immer wieder aschkenasische Juden aus Osteuropa, deren Muttersprache Jiddisch war und nicht Hebräisch, nach Holland eingewandert. Die erste deutsche oder hoogduitse Synagoge wurde in den Zwanzigerjahren des 18. Jahrhunderts in Den Haag gebaut. Über die Jahre machten sich Zehntausende quer durch den Kontinent hierher auf den Weg. Hier gab es keine Pogrome, hier konnte man Zünften beitreten, konnte ein Bürger der Stadt werden und den Bürgerstatus sogar in der Familie vererben. Auch wenn es Stadtviertel gab, in denen mehr Juden lebten als in anderen, grenzte man sich nicht scharf voneinander ab. Generation um Generation übernahmen Einwanderer die Sitten und Gebräuche ihrer Mitmenschen und wurden zu Holländern. Und als Napoleon das Königreich Holland 1811 schließlich annektierte und eine namentliche Registrierung anordnete, nutzten viele Juden die Gelegenheit zur Anpassung ihrer Familiennamen. Joseph Izak beispielsweise, ein langjähriger Bürger, entschied sich für das schlichte, niederländisch klingende »Joseph de Jong«.

Die portugiesischen Juden, die sich als Erste in Holland angesiedelt hatten, wahrten Abstand zu den neueren, häufig aus Arbeitermilieus stammenden jüdischen Einwanderern. Sie bildeten eine Art Aristokratie, waren stark mit der politischen Macht verflochten und trieben Handel. Diese sephardischen Juden, die sich nach dem Laterankonzil von 1179, das die Zinsnahme unter Christen bei Strafe der Exkommunikation verbot, als Geldverleiher betätigten, waren der Verfolgung im Süden entkommen und gelangten im 17. Jahrhundert in den großen Hafenstädten Nordeuropas zu Wohlstand. Obwohl sie weniger als 0,01 Prozent der Bevölkerung ausmachten, besaßen die sephardischen holländischen Juden ein Viertel aller Zuckerplantagen in Surinam und waren für das Finanzwesen der neuen Republik unverzichtbar. Es war der portugiesisch-jüdische Bankier Francisco Lopes Suasso, der die notwendigen zwei Millionen Gulden vorstreckte und die Anwerbung von sechstausend schwedischen Söldnern organisierte, als Wilhelm III. von Oranien 1688 Anspruch auf die britische Krone erhob und mit einer holländischen Flotte in England landete.

In Den Haag stand die Gemeinde der sephardischen Juden womöglich in noch höherem Ansehen als die in Amsterdam. Es war in Den Haag, wo 1677 der skeptische jüdische Philosoph Baruch de Spinoza mit großem Prunk auf dem Friedhof der evangelischen Nieuwe Kerk bestattet wurde. Das war eine erstaunliche Geste der Akzeptanz, auch wenn die Kirchenobersten das Grab bald darauf wieder auflösten, weil die Gebühren nicht bezahlt worden waren.

Sein Status als Dorf, das gleichzeitig die Residenz der königlichen Herrscher war, machte Den Haag zu einem Ort, an dem sich Sonderinteressen leicht durchsetzen ließen. Deshalb wurde hier auch ein Disput, zu dem es 1690 über Passagen im Talmud kam, schnell bereinigt. Strittig war, ob man am Sabbat außerhalb seiner eigenen vier Wände, in der Öffentlichkeit also, Gegenstände bei sich tragen durfte, was eigentlich strikt verboten war. Was aber sollte als »Öffentlichkeit« gelten und was nicht? In Amsterdam hatte man entschieden, dass die von einer Mauer umgebene ganze Stadt eine Einheit bilde und mit Fug und Recht als das »eigene Zuhause« aufgefasst werden könne. Den Haag besaß leider keine Stadtmauer. Findige Rabbiner hatten jedoch ausgetüftelt, dass man bloß die beiden Steinbrücken über die Kanäle der Stadt durch Zugbrücken zu ersetzen brauche, damit Den Haag ebenfalls als eigenes Zuhause gelten könne – logisch. In der Folge trat eine jüdische Delegation an den regierenden Stadtrat heran. Sei es denkbar, die existierenden Brücken umzubauen, wenn sie die Kosten trügen? Und tatsächlich wurden die Brücken zwei Jahre später im Geiste politischen Entgegenkommens abgebrochen und ersetzt.

Die in den 1920er- und 1930er-Jahren in der Pletterijstraat lebenden deutschen und polnischen Einwanderer konnten solche Ausgaben nicht tätigen, selbst wenn ihnen dieselbe Findigkeit bei der Auslegung der göttlichen Gesetze zu Gebote gestanden hätte. Dennoch war das Viertel am Fluss, wenngleich nicht wohlhabend, sehr hübsch. Damals wie heute war es von Vielfalt geprägt, lebten dort unterschiedliche Rassen und Religionen nachbarschaftlich zusammen. Unter Nichtjuden gab es durchaus gewisse Vorbehalte gegen den Umfang der Einwanderung, denen die Regierung mit einer Begrenzung der Zahlen begegnete. Je nachdem, in welchen Kreisen man verkehrte, wurden sie als Sozialisten oder als Kapitalisten gefürchtet, als Zionisten, als arm und geringqualifiziert oder aber als reich und überqualifiziert, sodass sie die besten Arbeitsplätze erhielten. Es kam auch vor, dass Juden in den 1930er-Jahren Mühe hatten, einen Tisch im Restaurant zu reservieren. Doch selbst bei den Parlamentswahlen 1937 errang die NSB, die Nationaal-Socialistische Beweging der Niederlande, nur vier Prozent der Wählerstimmen.

Ich lasse das ehemalige Waisenhaus hinter mir und biege von der Pletterijstraat in eine Seitenstraße ein. Hier hoffe ich ein Café zu finden und komme an einer Grundschule vorbei, über deren Tür in hübscher Jugendstil-Schrift das Jahr der Fertigstellung des Baus angegeben ist: 1923. Später wurde der Fassade ein Wandbild hinzugefügt, auf dem eine Giraffe aus einem Fenster schaut, ein lächelndes Mädchen auf ihrem Rücken. Im Erdgeschoss gibt es noch mehr Kinderbilder auf dem Backstein, und einer Plexiglastafel entnehme ich, dass es eine evangelische Schule ist. Ein Stück weiter vorn sehe ich ein Einkaufszentrum und gehe in diese Richtung, um irgendwo einen Kaffee zu trinken.

Dort angekommen stellt sich heraus, dass das Einkaufszentrum nicht das ist, was ich erwartet habe. Der Bau ist so ordentlich und hübsch, wie er von Weitem aussah, hat ansprechend beleuchtete Schaufenster, doch in der Fensterreihe sieht man nur Frauen, die in Unterwäsche auf Barhockern vor dunkelrotem Hintergrund in schummrigen kleinen Kabinen sitzen. Bei einigen Fenstern sind die Vorhänge zugezogen, in anderen hängen Hinweise wie »sinnliche Massage«, »zwei Frauen« oder »pervers«. Auf der Straßenseite mir gegenüber befindet sich ein Urinal aus Stahl, an dem sich zwei Männer erleichtern und die Lage peilen.

Ich komme mir aufdringlich vor, und es ist schwierig, die Frauen im Vorbeigehen nicht anzusehen. Mein Blick huscht von einem Fenster zum nächsten, und ich bin befangen, da ich zwar kein Kunde bin, als Mann jedoch zur potenziellen Kundschaft gehöre. Die stark geschminkten Frauen sehen fast alterslos aus in dem warmen Licht hinter dem Glas, wie Verkäuferinnen, die aus Langeweile und Verzweiflung am Ladeneingang herumstehen. Eine junge Blondine lächelt mir zu und schaut, als ich ihr Fenster passiert habe, wieder auf ihr Handy.

In drei, vier Minuten habe ich den Bezirk durchschritten und bin wieder auf der Hauptstraße, die zum Bahnhof führt. Von hier kann ich einen Bogen zurück zur Pletterijstraat schlagen und so zu meinem Auto kommen.

Wieder trifft mich die Seltsamkeit dieses mir vertrauten Landes, das ich vor vierzig Jahren als Dreijähriger verlassen und in all den Jahren nur in den Sommerferien wiedergesehen habe. Mittlerweile bin ich wohl mehr Engländer als alles andere, was erklären dürfte, warum mich der propere Bezirk der Prostituierten so befremdet. Die Holländer sind in diesen Dingen pragmatisch: Es ist logisch, dass sich Sex, Drogenkonsum oder Euthanasie in aller Öffentlichkeit abspielen, ehrlich und geregelt, und wenn es weniger als hundert Meter entfernt von einer Grundschule geschieht, lässt sich das eben nicht ändern.

Diese vergangene Stunde war wie ein Eintauchen in das, was die Niederlande ausmacht: perfekte Autobahnen, eine evangelische Grundschule, ein Rotlichtviertel und eine physiotherapeutische Praxis in Räumen, die früher das Zuhause einer jüdischen Familie waren. Es ist ein tolerantes Land, in dem man die Leute machen lässt und sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischt, solange sich diese nicht störend auf die eigenen auswirken. Diese Einstellung macht die Niederlande fortschrittlich. Ist sie vielleicht aber auch die Erklärung dafür, warum die Deutschen so oft tun konnten, was sie taten? In den Dreißigern gab es in den Niederlanden noch das, was man »Stützen« der Gesellschaft nennt: voneinander geschiedene gesellschaftliche Schichten wie etwa Protestanten, Katholiken und Liberale, die zwar in Berührung kamen und in höflichem Austausch standen, darüber hinaus aber kaum Kontakt pflegten. Man befolgte die Gesetze und war ordentlich. Alles andere ging einen nichts an; es gab keinen Grund, sich einzumischen.

Von den 18 000 Juden, die 1940 in Den Haag ansässig waren, überlebten 2000. Von den 400 ehemals portugiesischen Juden, die bereits so lange und so tief in das Gewebe des Staates und der Stadt verflochten waren, kamen nur acht wieder. Das jüdische Waisenhaus auf der anderen Straßenseite wurde am 13. März 1943 aufgelöst. Es gab keine Überlebenden.

DEN HAAG,
MAI 1942

»Jude«. Im Mai 1942 beugt sich Liens Mutter am Esstisch in der Küche über eine große gelbe Stoffbahn. Der Stoff hat ein Muster aus Sternen, schwarz umrandet und mit dem Wort »Jude« in der Mitte aufgedruckt. Die einzelnen Sterne sind von einer feinen gepunkteten Linie eingefasst, damit man sie leichter ausschneiden kann. Von nun an müssen sie diese Sterne sichtbar an der Straßenbekleidung tragen, weswegen Mamma einen von ihnen mit der Aufschrift »Jude« sorgsam auf das Seidenkleid aus der Bonneterie heftet.

Die Kinder von der Straße, die Lien kennt, sind dieselben wie vorher, aber die auf dem Schulweg sind nicht so nett. Manchmal werfen sie Steine. Und eines Tages kommt eine kleine Kinderschar angerannt, packt sie, schiebt sie in eine Seitenstraße und ruft dazu im Singsang: »Wir haben einen Juden gefangen.« Als sie nicht pünktlich nach Hause kommt, geht ihr Vater sie suchen. Die Kinder weichen zurück, als sie ihn sehen, aber als er Lien an die Hand genommen hat, schiebt sich ein kecker Junge näher an die beiden heran. »Dreckiger Jude«, murmelt er halb verlegen und richtet sich zum Weglaufen auf. Pappa ignoriert ihn, aber nicht mit der Gelassenheit, die Lien von ihm gewohnt ist; seine Finger zittern, als er mit ihr die Gasse verlässt und heimgeht.

Bei Nummer 31 angelangt, steht Frau Andriessen halb auf der Treppe zum Hauseingang, halb draußen auf dem Gehweg und hält Ausschau nach ihnen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist beunruhigt und suchend und wechselt, als sie Lien erblickt, zu einem angespannten, erleichterten schiefen Lächeln. Das ist komisch, denn Frau Andriessen ist sonst doch fast immer in ihrem stark nach Seife riechenden Zimmer. Die alte Dame wendet sich halb um und ruft etwas in die offene Wohnungstür hinein; ihre Wangen sind rot und glänzen. Offenbar sagt sie Mamma, dass alles in Ordnung sei. Mit einem Mal fällt Lien ein, dass Frau Andriessen auch jüdisch sein muss, wenn sie bei ihnen in der Pletterijstraat bleiben darf, aber sicher ist sie sich nicht.

Tante Ellie wiederum ist nicht jüdisch, denn sie ist keine richtige Tante, sondern bloß eine gute Freundin von Mamma, die dauernd zu Besuch kommt, obwohl sie keinen Stern an ihren Sachen tragen muss.

Als die Sommerferien anfangen, bleibt Lien oft im Hof oder in der Küche oder auf der Treppe an der Vorderseite des Hauses. Sie lernt Lilly kennen, die in Nummer 29 oben wohnt. Lilly zieht mit Bleistift vier Linien im Album, alle im gleichen Abstand, und schreibt ein Gedicht genau in die Mitte des Blatts:

Rosen – kleine, Rosen – große,

weich wie Sammet an der Wand,

doch die weichsten Blütenblätter,

die hat Lientjes Herzensrose.

In die linke Ecke zieht Lilly diagonal noch ein paar Linien: »Ich lümmelte so lang im Bett herum, bis Mama schimpfte, das sei doch zu dumm.« Sie müssen jedes Mal kichern, wenn sie das einander vorlesen.

Dann, eines Abends im August, noch in den Ferien, kommt Mamma wie immer zu Lien, um sie zuzudecken und ihr den Gutenachtkuss zu geben. Sie setzt sich auf den Stuhl neben dem Bett, legt eine Hand auf die Bettdecke und streichelt Lien mit der anderen das Haar. »Ich muss dir ein Geheimnis verraten«, sagt sie. »Du wirst für eine Weile woanders wohnen.«

Es wird still. Alles, was danach folgt, ist verschwommen, nur dieser Satz, gesprochen mit der Stimme ihrer Mutter, bleibt haften. Lien weiß noch, dass ihre Mutter sehr liebevoll und fürsorglich war und sie sich geliebt gefühlt hat.

Das aufregende Geheimnis macht Lien zu schaffen, als sie am nächsten Morgen mit Lilly und einigen anderen Kindern auf der obersten Treppenstufe vor dem Haus sitzt. Sie würde es zu gern erzählen! Es ist etwas Besonderes, ein Geheimnis zu haben, aber es macht keinen Spaß, es so lange für sich zu behalten. Als Mamma heimkommt, rennt Lien die Stufen hinunter und ihr entgegen. »Darf ich es erzählen?«, flüstert sie. »Es ist ein richtig schönes Geheimnis.« Aber Mamma erlaubt es ihr nicht. Es sei sehr wichtig, dass niemand davon erfahre.

An dem Abend kommen Tanten und Onkel zusammen, quetschen sich in die Küche und suchen sich, als es dort immer voller wird, ein Plätzchen im Flur vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern, von dem aus sie wenigstens hineinschauen können. Es ist keine Geburtstagsfeier, denn außer ihr und Robbie, der noch klein ist, sind keine Kinder da. Trotzdem steht Lien im Mittelpunkt: Sie hat den pelzigen Geschmack von Schokolade im Mund, was bei ihr ganz selten vorkommt, und soll sich bei fast allen auf den Schoß setzen. Aus irgendeinem Grund will sie sich aber schlecht benehmen und zeigt, quietschend vor Lachen, was Mamma nicht leiden kann, auf einen Pickel auf Tante Elsies Nase – heute aber kann sie quietschen und mit dem Finger zeigen, wie sie will, und wird trotzdem nicht ausgeschimpft. Ihr Gekreisch übertönt das Stimmengemurmel; die Erwachsenen sprechen leise miteinander und haben nur Augen für Lien. Es geht alles so schnell. Es ist keine Zeit zum Reden oder auch nur zum Nachdenken über die Fragen, die in ihrem Kopf auftauchen und dann wieder davonstieben. So schnell das alles an ihr vorbeizieht, geht der Abend trotzdem noch stundenlang so weiter mit Umarmungen und Geflüster; sie bekommt nur halb mit, dass ihr Vater sie, nachdem sie schon eingeschlummert war, auf den Armen in ihr Zimmer trägt.

Am nächsten Morgen hat Lien kaum ihr Brot und den Käse gegessen, als eine Dame an der Tür steht, noch eindrucksvoller als Frau Andriessen und nicht so alt. Sie hat eine bestimmende, fröhliche Art, genau wie die Schwester in der Arztpraxis, sagt nette Sachen über Lien und fragt sie über die Schule und die Bücher aus, die sie gern liest. Lien ist verlegen, denn so viel liest sie gar nicht, aber dann fällt ihr ein, dass sie Jan Klaassen und Katrijn mag. Die Dame ist noch ziemlich jung und gar nicht wie eine Mutter. Es ist ein richtiges Abenteuer, mit ihr mitzugehen, die Sorte Abenteuer, von der man einen schlechten Geschmack im Mund bekommt. Äußerlich ist Lien aufgeregt, innerlich aber ruhig. Die beiden Frauen trennen die Sterne von Liens Kleidern ab – ihre Finger fliegen flink hin und her.

Lien kann ihren Vor- und Nachnamen, de Jong, behalten, darf aber nichts über Mamma und Pappa oder ihre Familie sagen. Sie soll jetzt nicht mehr jüdisch sein, sondern nur ein normales Mädchen aus Rotterdam, dessen Eltern bei der Bombardierung umgekommen sind. Wenn jemand fragt, muss sie sagen, die Dame sei Frau Heroma und bringe sie zu ihrer Tante, die in Dordrecht wohne, einer anderen Stadt. Sie soll der Frau nicht von der Seite weichen und sich möglichst unauffällig verhalten, damit niemand, der sie kennt, mitkriegt, dass sie ihren Stern nicht dranhat. Mamma schärft ihr genau dasselbe ein wie die Dame und lässt Lien die Worte nachsprechen, obwohl sie die doch längst auswendig kann. Dann ein Kuss und eine Umarmung, die ein bisschen wehtut, und sie ist draußen, auf der Pletterijstraat, geht schnell neben der Dame her und drückt sich an ihren Mantel. Die kleine Tasche mit ihren Sachen, darunter Liens Poesiealbum und Pappas Puzzle, hängt über Frau Heromas Schulter und schlägt bei jedem Schritt mit einer Kante gegen ihren Körper.

Es ist nicht weit von Liens Haus bis zum Bahnhof, deshalb ist ihr Fußmarsch, erst durch Straßen, dann durch den Park (der für Juden verboten ist) zum Bahnhof Hollands Spoor, kaum dass er angefangen hat, schon wieder vorbei. Von vorne sieht das Bahnhofsgebäude aus wie ein Palast, aber sie haben keine Zeit zum Gucken, denn ihr Zug fährt gleich ab. Lien denkt für einen Moment an ihr Zimmer, noch ist es nahe genug, um zurückzurennen.

Frau Heroma erzählt ihr von lustigen Ortsnamen. Davon gebe es in Holland viele, sagt sie. Zum Beispiel den Dubbeleworststeeg (den Doppelwurststeig) in Amsterdam, den Snor Steeg (die Schnurrbartstraße) in Groningen oder den Eendekotsweg (Entenkotzeweg) in Zeeland. Es gibt auch eine Straße, die Achter het Wild Varken (Hinter dem Wildschwein) heißt. Lien findet diese Namen auch lustig. Sie mag Frau Heroma und muss kichern, als die Häuser von Den Haag immer schneller am Fenster des Zugabteils vorbeiziehen und das Tschunk-tschunk der Räder immer lauter wird und die Pausen dazwischen immer kürzer. Der Rauch aus der Lokomotive ist schmutzig, riecht aber sauber. »Kennst du auch lustige Ortsnamen?« Nach langem Überlegen fällt Lien die Koediefstraat (Kuhdiebstraße) in Den Haag ein, von der Frau Heroma noch nicht gehört hatte. »Koediefstraat, das ist schön!«, sagt sie.

Lien will schon »Die ist bei uns in der Nähe« sagen, beißt sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge.

Im Gegensatz zu Den Haag hat Dordrecht nur einen Bahnhof. Der sieht auch aus wie ein Palast, nur ein bisschen kleiner und ohne die Prinzessinnentürme des Bahnhofs, von dem sie abgefahren sind. Sie gehen wieder durch einen Park – der ist größer als der zu Hause und liegt schläfrig in der Nachmittagssonne –, dann durch Straßen mit kleinen Häusern, die nichts gemeinsam haben mit den dreigeschossigen Wohngebäuden in Den Haag. Inzwischen sind Liens Beine schwer, und es dauert jedes Mal ein bisschen länger bis zur nächsten Ecke, aber Frau Heroma sagt ihr dort immer den Straßennamen und anschließend noch einen lustigen von anderswo in Holland, und da kann sie wieder weiter. Sie kommen an den Mauritsweg, wo Frau Heroma »Broekstraat« (Hosenstraße) sagt. Danach an den Krispijnsweg – sie sagt »Boterberg« (Butterberg) – und schließlich an die Bilderdijkstraat, wo Lien vom »Konijnenhol« (Kaninchenbau) erfährt. Sie sind am Ziel. Die Häuser, an denen Lien bis jetzt vorüberkam, waren alle klein im Vergleich zu denen in Den Haag, aber in der Bilderdijkstraat sind sie am kleinsten. Eigentlich sieht die Straße gar nicht so aus, als ob sie Häuser hätte; hier stehen bloß zwei lange, niedrige Mauern aus rotem Backstein mit Türen und Fenstern darin, und sie erstrecken sich so weit, wie Lien sehen kann.

Ein paar Jungs rennen auf der Straße herum und machen Krach. Frau Heroma beachtet den Tumult gar nicht, sondern geht schnurstracks zur Tür von Nummer 10 und klopft energisch an die kleine runde Fensterscheibe. In ihrer Manteltasche steckt, wovon Lien nichts weiß, ein Brief. Er ist mit derselben ruhigen Hand geschrieben, mit der ihre Mutter sich auf Seite zwei von Liens Poesiealbum eingetragen hat. Der Brief, der sich noch heute in Liens Wohnung in Amsterdam befindet, stammt vom August 1942. Er lautet wie folgt:

Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau,

ich kenne Sie zwar nicht, stelle Sie mir aber als den Mann und die Frau vor, die sich wie ein Vater und eine Mutter meines einzigen Kinds annehmen werden. Die Umstände bringen es mit sich, dass ich meine Tochter nicht bei mir behalten kann. Sorgen Sie für sie, als ob sie Ihr eigenes Kind wäre.

Wie wir Abschied genommen haben, können Sie sich denken. Wann werden wir sie wiedersehen? Am 7. September wird sie neun. Ich hoffe, es wird für sie ein Freudentag.

Es ist mein Wunsch, dass sie nur Sie als ihre Mutter und ihren Vater betrachtet und dass Sie sie in Momenten der Traurigkeit, die sie unweigerlich erleben wird, wie solche trösten.

Wenn Gott es will, werden wir alle uns nach dem Krieg glücklich wiedervereint die Hand reichen. Gerichtet an Sie vom Vater und der Mutter von:

Lientje

Mammas Brief

DORDRECHT,
FRÜHJAHR 2015

Ich sitze im Zug nach Dordrecht (umgangssprachlich »Dordt« genannt), der Stadt, in die Lien im Spätsommer 1942 gebracht wurde. Von der Eisenbahnbrücke kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof sieht man die Grote Kerk über hübschen Giebelhäusern aufragen, hinter denen Werften und ein Industriegebiet liegen. Mit knapp 120 000 Einwohnern nach heutigen Maßstäben zwar klein, war die Stadt einmal die größte in Holland. Errichtet auf einer Insel, an der mehrere Flüsse zusammentreffen, erlebte Dordrecht im 15. Jahrhundert eine Blütezeit und wurde zu einem wichtigen Umschlagplatz für landwirtschaftliche Güter. Eine Zeit lang war es auch Handelszentrum. Die stark verschlammten Flüsse erwiesen sich jedoch als ungeeignet für die größeren Schiffe, die für den Übersee-Handel schon bald benötigt wurden, und das hatte zur Folge, dass Dordt mit der Zeit von Rotterdam, seinem Nachbarn im Westen, überflügelt wurde.

Es war hier und nicht in Den Haag, wo die Bestrebungen nach Unabhängigkeit der Niederlande ihren Ausgang nahmen. In Dordrecht hielten 1572 Vertreter der meisten Staten van Holland