23
Heckschau

Robertas Erfahrung mit der Herstellung von Miniaturen hatte ihr eine sichere Hand im Umgang mit sensiblem Material beschwert. Binnen einer Stunde zogen wir die meisten Papiere von den beiden Schubladen und legten sie auf eine saubere Plastikplane, die sie aus ihrer Werkstatt mitgebracht hatte.

Es gab nur zwei Dokumente, um die sich Martin mit seiner Mutter gestritten haben konnte. Eins davon klebte so fest am Schubladenboden, dass wir uns nicht trauten, es abzupulen, aber es sah aus wie die Überreste eines alten Sparbuchs.

Ich hielt mein Vergrößerungsglas darüber. »Die Adresse ist irgendwas mit Lincoln, glaube ich.«

Roberta sah mir über die Schulter. »Lincolnwood?«

»Könnte sein. Das wäre in der Nähe des Ortes, wo Judy Binder aufgewachsen ist. Ihr Sparbuch oder das ihrer Mutter.«

Ich dachte an Kitty Binders Reaktion auf das Foto mit Martina im Radiuminstitut: Judy hatte es gestohlen, zusammen mit Kittys Perlenohrringen und Bargeld. Judy konnte genauso gut auch das Sparbuch ihrer Mutter geklaut und das Guthaben abgehoben haben.

Das andere interessante Papier war eine Fotokopie von einem Regierungsdokument, teilweise mit schwarzen Balken zensiert. Roberta und ich kauerten zusammen darüber. Der Kopf des Dokuments bestand aus drei Zeilen:

»Abte…g …igr…n … E…erung«, dann »Ins…al’s Of…« und »H…elsm…m d… Vere… St…n«. Das Datum war unleserlich.

»Erneuerung?«, sagte ich unschlüssig.

»Einbürgerung?«, schlug Roberta vor. »Wir bekommen manchmal Post vom Handelsministerium der Vereinigten Staaten, ich denke, das steht in der dritten Zeile.«

Ich fand, das ergab Sinn, aber keiner von uns fiel etwas zu »Ins-al’s Of« ein. Gemeinsam studierten wir den Text. Zwischen Zensurbalken und Zerstörung durch Abflussreiniger konnten wir nur noch winzige Bruchstückchen entschlüsseln.

»… Stadt Inns …twickl… Chemieingenieur ausgebildet … unterirdische Te… Prototypen … Mitgliedsch … gegebenen Erfordernissen geschuldet …ge zur Bombenpro… …eits- und Lebensbedingu… Einrichtungen möglicherweise … (Name geschwärzt) niemals Zeuge von Pr…«

Frank hustete. »Anstoß in vierzig Minuten, Mädels. Könnt ihr das dann mal beiseitelegen?«

Roberta und ich erhoben uns zögernd. Wir schlugen Plastikfolie um die einzelnen Blätter, die wir gelöst hatten, einschließlich des zensierten Dokuments, und verstauten das ganze Paket dann in einer der Schubladen, um es zu schützen. Die andere Schublade, an deren Boden das Sparbuch klebte, wickelte ich in eine Decke. Dann hob ich beide Laden in den Kofferraum meines Mustangs.

Roberta erhob Einspruch. »Die gehörten Agnes. Ich möchte sie gern restaurieren und neue Griffknöpfe für sie finden.«

»Ich bringe sie Ihnen zurück«, versprach ich. »Ich will die Papiere zu einem forensischen Labor in Chicago schaffen, um zu sehen, ob die vielleicht mehr von dem Brief oder dem Sparbuch entzifferbar machen können.«

Roberta runzelte unglücklich die Stirn, aber Frank legte einen Arm um sie. »Bobbie, die Kommode wäre doch vollends verrottet, wenn diese Detektivin hier nicht den ganzen Tag die Grube ausgehoben hätte. Und was Sie angeht, Frau Detektivin, Sie sehen aus wie die Unterseite einer toten Kuh. Falls Sie vorhatten, heute Abend noch nach Chicago ­zurückzufahren, ­sollten Sie sich das gründlich überlegen. Ratsamer wäre, sich ein Motelzimmer und eine Dusche zu gönnen. Haben Sie schon mal ein Highschool-Footballspiel gesehen?«

»Ich hab früher Basketball gespielt, mein Cousin Hockey«, sagte ich.

»Ich sag Ihnen was: Sie checken in dem Motel am anderen Ende der Stadt ein und kommen sich ansehen, wie mein Junge gegen Hansville spielt.«

Als ich kurz die Augen schloss, um das zu durchdenken, fing die Welt an zu trudeln. Wenn ich bedachte, wie ich mich fühlte, war die Unterseite einer toten Kuh eigentlich sehr schmeichelhaft ausgedrückt.

Roberta zog ein T-Shirt mit Palfry Panthers-Aufdruck aus ihrer Tasche. »Das leihe ich Ihnen. Sie können es in Chicago waschen und mir mit der Post schicken.«

Ich nahm es gehorsam entgegen und folgte ihnen in die Stadt. Frank hupte und zeigte auf das Highschoolstadion, dann auf die Straße, die zum Motel führte. Nachdem ich eingecheckt und den schlimmsten Gestank weggeduscht hatte, sehnte ich mich danach, mich hinzulegen und einfach ohnmächtig zu werden, aber Frank und Roberta hatten sich heute für mich ein Bein ausgerissen. Ich musste meine müden Knochen ins Footballstadion schleppen und den jungen Warren bewundern.

Am Ende war ich froh, hingegangen zu sein. Die Septemberluft wurde kühl, nachdem die Sonne untergegangen war. Das Publikum war laut, aber freundlich. Und als ich mich durch die Menge drängte, um zu Frank und Roberta zu gelangen, stellte ich fest, dass ich Teil des Unterhaltungsprogramms war.

In einer Stadt, die unter einer verheerenden Missernte litt, war eine Detektivin aus Chicago, die nicht nur die Leiche von Ricky Schlafly – kein großer Verlust, so die allgemeine Einschätzung – entdeckt, sondern auch noch eine Art vergrabenen Schatz gehoben hatte, besser als jeder Fernsehkrimi. In der Halbzeitpause, als Frank in der Pizza-Schlange anstand, kamen fünfzehn oder zwanzig Freunde der Wengers vorbei, um sich aus erster Hand von der Wühlerei durch die Methgrube berichten zu lassen. Roberta hatte Freude daran, die Legende noch mit dem Fehlen der goldenen Schubladenknöpfe auszuschmücken.

Ich blieb nach dem Spiel lange genug, um Warren vorgestellt zu werden, hatte ihn während des Spiels auch pflichtbewusst angefeuert: Er war Linebacker und hatte eine Interception erzielt und ein Fumble verursacht. Obwohl Hansville durch ein spätes Field Goal noch gewonnen hatte, war er eine vergnügte jüngere Ausgabe seines Vaters, der bei seiner Familie vorbeischaute, bevor er mit seinen Kumpels zum Burgeressen verschwand.

Im Motel blieb ich gerade noch lange genug wach, um eine E-Mail an die Cheviot-Labs zu senden, ein forensisches Privatlabor, dessen Dienste ich gern in Anspruch nehme. Ich wollte ihnen die Schubladen und das Brieffragment vorbeibringen, wenn ich morgen in die Stadt zurückkam. Ihre Sonntags-­Notbesetzung konnte den Zugang eintragen und sie sicher verwahren.

Mit der Radio-App meines iPads machte ich mir das Midnight Special von WFMT in Chicago an, so fühlte ich mich wie zu Hause. Bei Gordon Boks Version von The Golden Vanity schlief ich ein. Die Musik spielte weiter, während ich schlief, und meine Träume waren angenehm, nicht die Alpträume, die mich in letzter Zeit heimgesucht hatten.

Schmerzen in den Beinen weckten mich auf, schossen von den Füßen meine Schienbeine hoch. Als ich mir die Waden massierte, hörte ich über die leise Musik hinweg vom Parkplatz her Geräusche. Vier Uhr achtzehn, seltsame Zeit, um ins Motelzimmer zurückzukehren in einer Stadt, wo die Bars am Samstag um Mitternacht schließen. Ich teilte die Vorhänge. Zwei große Männer stemmten gerade mit einem Brecheisen den Kofferraum meines Mustangs auf.

Ich sprang in Jeans und T-Shirt, ohne mich mit Schuhen aufzuhalten, und war aus dem Zimmer, die Waffe in der Hand. Ich rannte den Flur entlang bis zu der Tür, die auf den Parkplatz führte, und stieß sie gerade so weit auf, dass ich die Männer sehen konnte.

Die beiden erstarrten kurz, dann wandten sie sich noch energischer meinem Wagen zu. Ich stürmte barfuß über den Platz, aber sie hatten den Kofferraum offen, bevor ich bei ihnen war. Sie schnappten sich die Schubladen und rannten zu ihrem eigenen wartenden Wagen, da flatterten die Papiere, die ich in Plastikfolie gewickelt hatte, über den Asphalt. Ich war als Erste bei ihnen, aber einer der beiden Gorillas rannte zurück und versuchte sie mir zu entreißen. Beim Tauziehen zerfiel das Papier.

Ich zog dem Kerl den Griff meiner Waffe hart über die Visage. Er brüllte vor Schmerz, schlug sich die Hände vors Gesicht. Sein Partner war ins Auto gesprungen und wendete. Ich versuchte den Kerl an der Schulter zu packen, aber er riss sich los und schaffte es in den Wagen.

Ich suchte in meinen Jeans nach meinen Autoschlüsseln, aber ich hatte sie mitsamt dem Zimmerschlüssel und den Schuhen drinnen liegen lassen. Mein Kofferraum war offen und leer. Ich hatte zwar ihren Wagentyp erkannt, ein Dodge Charger, aber vor lauter Sorge um die Papiere nichts vom Kennzeichen mitbekommen. Ich war so wütend über meine Dummheit, dass es nicht mal mehr zum Fluchen reichte.

Verschiedene Leute erschienen im Eingang und riefen verwirrte Fragen. Ich schob mir die Smith & Wesson hinten in den Hosenbund.

»Jemand hat mein Auto aufgebrochen«, sagte ich. »Als ich rauskam, haben sie die Brechstange fallen lassen und sind abgehauen.«

Meine Mitgäste strömten an mir vorbei, um ihre Autos auf Beschädigungen zu untersuchen. Ich ging zum Empfangs­tresen, wo ich einige Mühe hatte, die Rezeptionistin wach zu bekommen. Ich erklärte, was passiert war und dass ich mich in meiner Hast, die Eindringlinge zu stellen, aus meinem Zimmer ausgesperrt hatte.

Die Rezeptionistin wollte meinen Ausweis sehen, der ebenfalls in meinem Zimmer war, erklärte sich aber schließlich einverstanden, mich zu begleiten und die Tür aufzuschließen. Sie blieb im Türrahmen stehen und verlangte eine Beschreibung, was sich im Zimmer befand.

»Ich habe ein sandfarbenes Jackett und ein rosenrotes Seidenhemd auf Bügeln im Schrank. Die Aktentasche auf dem Tisch enthält mein iPad und meine Brieftasche, und ich kenne das Passwort für das iPad.«

Nun, da ich sie geweckt hatte, war sie entschlossen, sich pflichtbewusst zu zeigen: Sie sah zu, wie ich mein iPad entsicherte, auf dem jetzt etwas unpassend eine Haydn-Sonate lief, bevor sie zu ihrem Tresen zurückkehrte und den Sheriff anrief.

Die Deputys von der Nachtschicht, zwei Männer, denen ich noch nicht begegnet war, trafen mich bei meinem Mustang. Inzwischen war ich wieder mit meinem Seidenhemd und dem Jackett bekleidet und trug meine Waffe im Schulterholster. Ich hatte alle Flächen in meinem Zimmer sorgsam nach meinen Habseligkeiten abgesucht. Ich hatte nicht viel – iPad, Handy und Robertas Palfry Panthers-T-Shirt. Das hatte alles in meine Aktentasche gepasst, zusammen mit Kleinkram wie meinen Picks.

Als ich den Deputys erklärte, was aus meinem Kofferraum verschwunden war, rollten sie nicht etwa die Augen oder starrten mich so genervt an, wie ich es halb erwartet hatte.

»Ach ja. Sie sind die Detektivin aus Chicago, die in Schlaflys Haus einen vergrabenen Schatz gefunden hat. Wie wertvoll war er, was glauben Sie?« Der größere, ältere Deputy fand es nötig, sich praktisch in mein Gesicht zu lehnen, so konnte ich trotz des schwachen Lichts seine Marke lesen: Herb Aschenbach.

»Ich glaube, dass er überhaupt keinen Wert hatte«, sagte ich. »Die Kommode hatte einen ideellen Wert für Roberta Wenger, weil sie von Agnes Schlafly stammt.«

»Wir haben was anderes gehört«, sagte Herb. »Da war die Rede von Gold.«

Ich seufzte. »Ms. Wenger sagt, die Schubladen hätten früher goldene Knöpfe gehabt. Wenn jemand stille Post gespielt hat, kann sich das zu einem Berg von Gold ausgewachsen haben, aber alles, was ich gefunden habe, waren Hühnerknochen, Ätherkanister und Tampons.« Wie ich gehofft hatte, zog sich Herb bei dem Wort ›Tampons‹ ein Stückchen zurück.

»Was haben Sie überhaupt gesucht? Warum haben Sie die Schubladen mitgenommen?«

»Ich bin nicht die, die hier ein Verbrechen verübt hat«, sagte ich. »Ich bin das Opfer. Die Sausäcke sind in einem Dodge Charger abgehauen, nur falls hier einer durch die Gegend brummt, der mit Einbrüchen in Zusammenhang gebracht werden kann.«

Die beiden Deputys wechselten einen verblüfften Blick. Sie kannten den Charger.

»Sie müssen doch was gesucht haben«, sagte der jüngere Deputy. »Wir waren da und haben einen Blick in die Grube hinter Schlaflys Haus geworfen. Sie haben da ja richtig aufgeräumt.«

»Wenn Sie so viel darüber wissen, was ich hier mache, muss Ihnen Jenny Orlick auch erzählt haben, dass ich einen jungen Mann namens Martin Binder suche. Er war vor ein paar Wochen bei Schlaflys Haus. Vielleicht sind ihm Papiere in die Grube gefallen, die ein Licht darauf werfen könnten, wo er als Nächstes hin ist.«

»Das klingt mir nach ’ner Menge Mühe für fast nichts«, sagte Herb.

»Da kann ich schlecht widersprechen, Deputy, besonders seit ich obendrein noch einen aufgebrochenen Kofferraum habe. Reden Sie doch einfach mit Ms. Wenger, wenn es Morgen ist, also eigentlich jetzt, wenn ich es recht bedenke, und holen Sie sich ihre Version.«

Die Rezeptionistin kam durch die Hintertür heraus. »Kyle, ich hab da drin einen Haufen nervöser Gäste, die wissen wollen, ob die Gefahr besteht, dass ihre Autos aufgebrochen werden. Kannst du mal reinkommen und mit ihnen reden?«

Kyle und Herb sahen sich an, betrachteten den Mustang, nickten. Kyle sagte: »Klar, Tina, wir kommen gleich. Wir können hier nichts für Sie tun, Miss. Ich meine, wir könnten den Kofferraum nach Fingerabdrücken pudern, aber ehrlich gesagt ist das reine Zeitverschwendung, egal was sie in den Fernsehkrimis sagen. Wir fertigen einen Bericht an und sagen dem Team, dass alle aufmerken sollen, falls jemand was von diesen Schubladen hört. Ich würde sagen, jemand hat gestern beim Spiel das Gerücht gehört und sich hinreißen lassen, dachte, Sie hätten Gold ausgegraben, und wollte es sich unter den Nagel reißen.«

Herb fügte hinzu: »Wir schicken Jenny Orlick nachher zu den Wengers rüber, vielleicht kann sich Roberta noch an irgendwas erinnern. Wie lange haben Sie vor zu bleiben?«

»Nicht mehr lange, Deputy.«

»Sie kommen noch beim Revier vorbei und unterschreiben eine Anzeige, ehe Sie nach Chicago aufbrechen, okay? Und verlassen Sie nicht den Zuständigkeitsbereich, ohne uns vorher Bescheid zu geben.«

»Na klar, Deputy.«

Ich sah zu, wie die beiden Männer Tina ins Motel folgten. Ich nahm das Brecheisen an einem Ende und legte es in den Kofferraum. Ich bezweifelte, dass es Fingerabdrücke oder Genspuren aufwies, aber man weiß ja nie. Die verdammten Gorillas hatten das Schloss so schwer beschädigt, dass es nicht mehr zuging. Ich musste es mit einem Spanngurt fixieren, damit der Kofferraumdeckel nicht aufschwang.

Wie die Deputys fand auch ich es nicht sinnvoll, zu viel Aufwand zu treiben wie etwa eine Anzeige unterschreiben oder die Erlaubnis einholen, das County zu verlassen. Ich fuhr hinten raus, Scheinwerfer aus, Kanone neben mir auf dem Sitz. Erst als ich außer Sichtweite des Motels war, suchte ich mir auf meinem iPad eine Route nach Chicago. Ich wollte die alten State Highways und Landstraßen nehmen. Ich war müde, meine Beine taten immer noch weh, mir war nicht danach, in der Dunkelheit über die Interstate zu rasen. Außerdem wollte ich sicher­gehen, dass ich allein war.

Kreaturen der Nacht huschten aus meinen Scheinwerfer­kegeln, Waschbären, Füchse und rattenartige Geschöpfe. Ab und an rumpelte ein Traktor die Straße entlang, um zu einer dieser Fahrspuren neben den Feldern zu fahren. Sonnenaufgang war noch zwei Stunden hin, aber in vielen der Farmhäuser, an denen ich vorbeikam, brannte schon Licht.

Ich glaubte nicht, dass die beiden Schlägertypen hinter einem Schatz her gewesen waren. Sie wollten diese ramponierten Dokumente, die Roberta und ich gefunden hatten. Judy Binder und ihr Sohn hatten sich um irgendwelche Papiere gezankt, hatte Roberta gesagt: Sie hatte sie durch ihr Fernglas beobachtet, aber nicht gehört. Eindringlinge hatten Kitty Binders Haus verwüstet, auf der Suche nach – was?

Ich rutschte unbehaglich auf dem Sitz herum, rieb mir das Bein. Hatte ich das Naheliegende verworfen, weil ich es lieber kompliziert wollte? Judy und Martin konnten sich genauso gut über ihre Drogensucht gezankt haben. Sie konnten gestritten haben, weil er wütend war, dass sie sich mehr für Crack und Meth interessierte als für ihn. Ricky Schlaflys Tod trug alle ­Insignien einer Abrechnung unter Drogenhändlern. Und ­Dealer waren ein wilder, unberechenbarer Haufen. Roberta und Frank zufolge gab es noch mehr Drogenhäuser im County. Andere Methköche hatten womöglich beim Footballspiel von meinem Fund gehört: Sie hätten das Märchen vom vergrabenen Schatz leicht glauben können.

Selbst wenn das die korrekte Analyse wäre, beantwortete sie eine große Frage nicht: Wo war Martin Binder?

24
Überfällig

Die Sonne ging auf, als ich in meiner Wohnung in der Racine Avenue ankam. Früh in die Federn und früh wieder munter macht mir Augenringe und zieht mich runter.

Mr. Contreras war auf, klapperte in seiner Küche herum. Ich beschrieb ihm das gestrige Drama, einschließlich des Raubs der Kommodenschubladen. Es wurde eine lange Erzählung, weil mich der alte Mann ständig unterbrach, teils besorgt, ob es mir wirklich gut ging, teils empört, weil ich ihn nicht als Beschützer mitgenommen hatte.

Nachdem wir es schließlich so gründlich durchgekaut hatten, wie ich es aushielt, begleitete er mich zum See. Ich schwamm mit den Hunden raus bis zur entferntesten Boje und ließ mich eine Weile im Wasser treiben, sah zu, wie die Möwen einander jagten, bis mir so kalt wurde, dass ich mit Höchstgeschwindigkeit zurückschwimmen musste. In gewisser Weise hatte mich die Stunde im Wasser mehr erfrischt als eine Nacht im Bett. Nur in gewisser Weise.

Zu Hause teilten Mr. Contreras und ich uns einen Teller French Toast und diskutierten über den Raub: Waren es ­Junkies auf der Suche nach Gold gewesen oder jemand Unheilvolleres auf der Suche nach Dokumenten?

Ich dachte wieder an Jari Lius Slogan über Gott und Beweise. Die einzigen Beweise, die ich gesehen hatte, waren zwei gestohlene Schubladen, ein Sparbuch von einer Bank, vielleicht in Lincolnwood, was im Norden von Chicago nicht weit von ­Skokie liegt, und ein Schrieb von einer Abteilung für Einbürgerung im Handelsministerium.

Ich half Mr. Contreras beim Abwasch, dann ging ich in meine Wohnung, um an meinem Laptop zu arbeiten. Auf der Website des Handelsministeriums gab es keine Abteilung für Einbürgerung. Vielleicht hatten Roberta und ich die Kopfzeilen missdeutet. Letztlich hatten wir bloß geraten.

Ich schloss die Augen, atmete langsamer, versuchte mich an das Bild der fleckig-verblichenen Seite mit ihren Zensurbalken zu erinnern. Da war die Rede von Bomben. Ein Chemie­ingenieur. Ein zensierter Name war niemals Zeuge von etwas. Eine Stadt Inns. Mehr fiel mir nicht ein.

Ich recherchierte »Stadt Inns«. Etliche Kleinstädte brüsteten sich mit ihren gastfreundlichen »Inns«, aber dann tauchte in den Suchergebnissen Innsbruck auf. Innsbruck lag in Österreich. Martina Saginor, Lotty, Kitty Binder und Martinas Studentin Gertrud Memler – sie alle kamen aus Österreich. Und im Zweiten Weltkrieg hatte laut dem jungen Bibliothekar an der Uni die Kriegsmaschine der Nazis bei Innsbruck versucht, einen Nuklearreaktor zu bauen. Das klang aussichtsreich.

Im Journal of Science and War fand ich einen Artikel über den Innsbrucker Standort für Waffenentwicklung. 1940 wusste noch niemand, ob eine selbsterhaltende Kettenreaktion möglich war, was offenbar Voraussetzung ist, um Atome in Bomben zu verwandeln. Physiker wie Heisenberg in Deutschland und Fermi in Amerika bauten Kernreaktoren, um dahinterzukommen, wie sie eine Kettenreaktion auslösen konnten. Wie wir heute wissen, hat Fermi es geschafft, Heisenberg nicht.

Auch Japan und England hatten versucht, eine Bombe zu bauen, unsere Geschichtsbücher erwähnen das selten. Jedes Oberkommando überall war auf der Suche nach der verheerendsten Waffe, um möglichst viele Frauen, Kinder, Männer, Hunde und Bäume auszulöschen.

Herta Dzornen zufolge war Martina während des Krieges zur Waffenforschung gepresst worden, wahrscheinlich in Innsbruck. Mir war bewusst, dass ich eine enorme Pyramide aus Ziegeln ohne Stroh errichtete, aber ich fragte mich, ob Martin vielleicht in Bezug auf Martina einen Freedom of Information Act-Antrag gestellt hatte. Nein, das ergab keinen Sinn, sie war ja vor Kriegsende gestorben. Die USA würden gar keine Akten über sie haben. Wenn überhaupt, hätte Martin im Holocaust-Museum Nachforschungen anstellen können. Er könnte auch nach Gertrud Memler gesucht haben, erst Martinas Nazi-­Studentin, später Anti-Atom-Aktivistin – er hatte ja in dem Buch über den Kalten Krieg von ihr erfahren.

Aber wenn Martin über die Freedom of Information Act-Behörden an das Dokument vom Handelsministerium gekommen war, brauchte er sich nicht mit seiner Mutter darum zu streiten. Es sei denn, er hatte es mitgebracht, um es ihr zu zeigen und sie zu fragen, was sie über Memler oder Martina wusste. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Kitty in ihrer Verbitterung über Martina wie über die Wissenschaft an sich ihren Enkel hatte abblitzen lassen. Vielleicht war es seine letzte Hoffnung, dass seine Mutter irgendwas wusste, bedröhnt wie sie war.

Noch mehr Herumgerate. Ich hatte in der Binder-Akte bereits fünf vollgeschriebene Seiten mit nutzlosen Spekulationen.

Das Sparbüchlein war schon aussichtsreicher. Es war ein altes Sparbuch aus der Zeit lange vor dem Internet. Ich konnte mich noch erinnern, wie ich jede Woche mit in die Steel City Bank ging und meiner Mutter zusah, wie sie Türmchen aus Vierteldollarstücken über den Tresen schob, die sie mit Musik­unterricht verdient hatte. Der Kassierer zählte nach und trug die Summe von Hand in ihr Sparbuch ein. Mein Lieblingsteil war der rote Datumstempel, der neben den Eintrag kam.

Ein altes Sparbuch von einer Bank in Lincolnwood mochte Kitty gehört haben, geklaut von Judy. Es war denkbar, dass ­Benjamin Dzornen es angelegt hatte, um ihr Schweigen zu erkaufen, nachdem sie an der South Side solchen Rabatz gemacht hatte. Diese Fährte war etwas willkürlich, aber verführerisch.

Ich schlüpfte in ein Paar gute Hosen und ein Strickleibchen und legte einen rotgoldenen Schal um, dann zog ich los. Meine erste Etappe führte zur Autowerkstatt in der Lawrence Avenue. Obwohl Sonntag war, stand Luke Edwards, vermutlich der schwermütigste Mechaniker auf dem Planeten, in seiner Werkstatt und baute eine Welle aus. Er betrachtete den Kofferraum, als hätte ich das Schloss persönlich mit dem Brecheisen ­bearbeitet. »Warum tust du so was, Warshawski?«

»Manchmal überkommt es mich eben, Luke, dann muss ich einfach mit der Axt auf meine Karre losgehen. Wie lange wird es etwa dauern, das in Ordnung zu bringen?«

»Hängt davon ab, wie lang es dauert, die Ersatzteile aufzutreiben. Du weißt, bei diesen alten Mustangs sind die Maße anders, das Zubehör kann man nicht einfach bei Ford bestellen.«

»Aber du wirst für mich ein paar Äste schütteln und sehen, was runterfällt. Mit offenem Kofferraum lässt sich der Wagen nicht abschließen. Gibt’s eine Möglichkeit, die Alarmanlage für die Türen zu aktivieren, obwohl das Kofferraumschloss kaputt ist?«

Luke warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Natürlich nicht, Warshawski. Jeder kann durch den Kofferraum in den Wagen, wo läge also der Sinn? Ich ruf dich nächste Woche an. Es ist zwar nicht die gleiche Klasse wie dein alter Trans Am, aber es wär mir trotzdem lieb, wenn du besser auf die Kiste achtgibst.«

Ich grinste wild, statt ihm eine zu knallen, und fuhr zur Gold Coast.

Ich rief Herta Dzornen Colonna in ihrer Wohnung an, während ich gegenüber in meinem Wagen saß. »Ms. Colonna, hier ist V. I. Warshawski. Wir sind uns letzte Woche begegnet.«

»Begegnet? Sie nennen Ihren Überfall ›uns begegnen‹?«

»Ich bin im Begriff, Sie erneut zu überfallen. Ich weiß, dass Ihr Vater ein Sparbuch für Kitty Binder angelegt hat. Können wir darüber reden?«

Sie war einen Moment lang still, dann flüsterte sie: »Was wollen Sie? Versuchen Sie mich um Geld anzugehen?«

»Nein, Ma’am. Alles, was ich will, sind Informationen. Kann ich raufkommen und von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen reden? Oder wollen Sie das am Telefon fortsetzen?«

»Sie sind vor meinem Haus?«, schrie sie. »Oh, tun Sie mir das nicht an!«

»Ms. Colonna, ich will Sie nicht quälen, und ich will ganz bestimmt nicht Ihre Geheimnisse in die Welt hinausposaunen, aber wenn Sie mir erzählen, was zwischen Ihrem Vater und Kitty Binder wirklich passiert ist, könnte das ein paar alte Gespenster zur Ruhe bringen.«

»Nichts ist zwischen meinem Vater und Kitty Binder passiert.«

»Was ist mit dem Sparbuch der Bank in Lincolnwood?«

»Woher wissen Sie – oh, was tun Sie da?«

»Ich komme rauf, Ma’am. Dieses Gespräch ist zu kompliziert, um es am Telefon zu führen.« Ich schaltete meinen Warnblinker ein und ging rüber zum Hauseingang. Der Portier rief nur höchst unwillig oben an, meine gepflegte Erscheinung ließ mich wohl auch nicht vertrauenswürdiger erscheinen als bei meinem ersten Besuch.

Herta wartete an der Wohnungstür, eine Hand an der Kehle. Sie trug einen Stock, auf den sie sich schwer stützte, als sie mich ins Wohnzimmer führte – und ebenso schwer seufzte. Nachdem sie sich vorsichtig auf dem weißen Sofa niedergelassen hatte, zog ich mir wieder den Stahlrohrstuhl heran.

»Wann haben Sie das mit dem Sparbuch herausgefunden?«, fragte ich.

»Als Papa starb«, flüsterte sie. »Ich ging damals zwei- oder dreimal die Woche nach Hyde Park, um Mama zu helfen. Julius war völlig nutzlos. Sie haben ihn ja gesehen. Er saß nur die ganze Zeit in seinem Zimmer und spielte Gitarre und rauchte Marihuana. Er kam noch nicht mal runter, um Mama zu helfen, wenn sie Papa anheben musste, um sein Bettzeug zu wechseln.«

Sie ließ sich bereitwillig vom alten Kummer ablenken, scheute sich vor dem heiklen Teil der Erzählung. Ich saß ganz still da, kein Eindringling, bloß eine von ihren Fotografien, hörte zu, urteilte nicht.

»Eines Morgens, als Mama im Lebensmittelladen war, sagte Papa, er brauche meine Hilfe. Er wollte, dass ich mich um das Konto kümmere, aber Mama oder Julius oder meiner Schwester Bettina nichts davon sage.«

»Hat er gesagt, warum das ein Geheimnis bleiben sollte?«

»Er hatte Angst, wenn ich es Julius erzähle, würde der nur an das Geld zu kommen versuchen, und von Bettina dachte er, sie würde es Mama erzählen. Die litt so sehr unter den Gerüchten über Käthe Saginor, dass er ihr nicht noch mehr Kummer bereiten wollte. Sie sollte besser glauben, die Saginors würden sie nie wieder behelligen.«

»Hat er Ihnen erzählt, warum er das Konto angelegt hat?«, fragte ich. »Wenn die Geschichten über ihn und Martina Saginor nur Gerüchte waren …« Ich ließ den Satz suggestiv unvollendet.

»Selbstverständlich waren das nur hässliche Gerüchte«, erwiderte Herta indigniert. »Es machte ihm schrecklich zu schaffen, dass Martina im Krieg in Österreich geblieben war. Papa meinte, als er nach dem Krieg erfuhr, was mit Martina Saginor passiert war, schuldete er es ihrem Andenken, etwas für ihre Tochter zu tun. Ich widersprach ihm, er war Käthe gar nichts schuldig: Sie war verheiratet, sie hatte ihr eigenes Leben. Und wenn Mama dahinterkam, würde sie denken, all die Gerüchte wären wahr, Sie wissen schon, das, was die Nachbarn so tratschten, als Käthe 1956 auftauchte. Aber er sagte, er hätte Käthe dazu gebracht, uns in Ruhe zu lassen, indem er ihr etwas Geld zugestand.«

Vielleicht hatte Dzornen das seiner Tochter Herta erzählt, aber ich glaubte diese Version nicht, und ich war auch nicht überzeugt, dass sie es glaubte.

»War das Konto für Kitty selbst oder für ihr Kind?«, fragte ich.

»Er gab Käthe ein wenig Geld, als sie das erste Mal auftauchte, damit sie und ihr Mann sich ein Haus leisten konnten. Dann, als sie ihr Baby bekam, zahlte Vater mehr auf das Konto ein, damit Judy Binder später auf die Universität gehen oder einen Beruf erlernen konnte. Er konnte nur jedes Quartal ein bisschen Geld abzweigen, sonst hätte Mama was gemerkt, und deshalb sollte ich ihm versprechen, dass ich weiter darauf einzahlen würde. Er gab mir die Bankverbindung und die Unterlagen. Sie wissen schon, das war lange vor Geldautomaten und dergleichen.«

»Und haben Sie weiter auf das Konto eingezahlt?«, fragte ich.

Herta drehte ihren Stock um und um, grub ein Loch in den chinesischen Teppich unter ihren Füßen. »Nein«, flüsterte sie schließlich. »Stuart – mein Mann – meinte, Kitty wäre eine Erpresserin. Er schickte einen Ermittler seiner Kanzlei hin, der die Binders unter die Lupe nahm, damit wir entscheiden konnten, ob Judy die Unterstützung wert war. Judy war dreizehn, aber, nun ja, frühreif, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

In dieser Bedeutung hatte ich das Wort schon ewig nicht mehr gehört. Frühreif im Sinne von sexuell entwickelt, nicht musikalisch oder mathematisch begabt.

»Und wir hatten doch drei Kinder, das war ja nicht billig: Zahnspangen, College-Gebühren …«

»Also nahmen Sie das Geld vom Konto und gaben es für Ihre eigenen Kinder aus?« Ich gab mir wirklich Mühe, die Entrüstung aus meinem Ton herauszuhalten, aber offenbar ohne Erfolg, denn Herta zuckte zusammen.

»Es war doch unser Geld«, jammerte sie. »Papa hat unser Geld genommen und es Kitty und ihrer drogensüchtigen Tochter nachgeworfen. Und dann fand diese Tochter das Sparbuch. Sie kam doch tatsächlich zu unserem Haus in der Greenwood Avenue, als Mama noch am Leben war! Es war grauenhaft – sie war betrunken oder auf Drogen. Mama rief die Polizei, sie rief mich an, es war ein solcher Schock für sie, erfahren zu müssen, dass Papa das Geld ihrer Kinder unterschlagen hatte. Und Julius, der wohnte immer noch zu Hause, und da war er schon fast vierzig! Er fragte Mama, ob es sich lohnte, Kittys Tochter zu ermorden. Er saß da und lachte und sagte, für ein gutes Honorar würde er das übernehmen.« Hertas Gesicht lief bedenklich rot an.

Ich kniff die Augen zu, wusste, ich sollte auf keinen Fall mit dem herausplatzen, was mir durch den Kopf ging: Wie konntest du, nachdem du von dem Sparbuch wusstest, noch so tun, als wäre Kitty nicht deine Schwester? Und was ist mit dem ganzen Nobelpreisgeld passiert? »Wann war das?«, fragte ich stattdessen. »Als Judy dreizehn war und frühreif genug, um zu ahnen, was ihre Mutter mit Ihrem Vater verband?«

»Da noch nicht, ein paar Jahre später. Judy fand das Sparbuch und versuchte auf der Bank Geld abzuheben. Ich weiß nicht, wie sie herausfand, dass Papa das Geld eingezahlt hatte – ich traue Kitty zu, dass sie sie angestiftet hat, herzukommen und uns zu belästigen. Judy kam dreimal, glaube ich: das erste Mal, als Mama noch lebte, und dann, als sie in der Zeitung von Mamas Tod las! Sie kreuzte bei der Beerdigung auf, oh mein Gott, das war so schrecklich!«

»Und dann, vor etwa einem Monat, kam Martin? Und Sie dachten, er macht da weiter, wo Judy aufgehört hat.«

»Er hat immer wieder nach Martina gefragt«, flüsterte Herta. »Was ich über ihre Arbeit wüsste. Er deutete an, dass Papa ihre Arbeit gestohlen hätte! Ich weiß genau, er wollte, dass ich sage, der Nobelpreis hätte Martina gebührt! Und dann hätte er verlangt, dass wir ihm das Preisgeld geben.«

»Hat er das gesagt, oder war das nur Ihre Befürchtung?«

»Ich habe ihm erklärt, dass die Polizei anrückt, wenn er nur noch ein Wort sagt! Allein die Vorstellung, Papa könnte stehlen, ganz zu schweigen von der Vorstellung, die Tochter einer Näherin könnte Ideen produzieren, die es zu stehlen lohnt!«

Diesmal konnte ich mich nicht beherrschen. »Was, die Tatsache, dass Martinas Mutter ihren Lebensunterhalt mit Nähen verdient hat, bedeutet, dass Martina nicht zu schöpferischem Denken fähig war? Wenn die Ideen Ihres Vaters so mumienhaft waren wie Ihre, dann ist klar, dass er seine Studentinnen bestehlen musste.«

Wenig verwunderlich, dass unser Gespräch damit beendet war. Ich versuchte mich noch mal zu sammeln, doch Herta griff zum Telefon und rief beim Portier an. Ich ging, bevor er mich hinausbegleiten kam.