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Es ist, als ob um uns herum
eine neue Welt entsteht

HENRIK IBSEN, Ein Volksfeind

INHALT

Die Welt, in der wir leben

 1 Die Säulen der liberalen Ordnung

 2 Das westliche Nachkriegssystem 1945–1989

 3 Amerikas unipolarer Moment

 4 Die Hyperglobalisierung und ihre Folgen

 5 Die Rückkehr der Geschichte

 6 Schubumkehr: Die Stunde der Populisten

 7 Europas südliche Nachbarschaft

 8 Herausforderer der liberalen Ordnung: Russland und China

 9 Die globale Ordnung im digitalen Zeitalter

Wie weiter? Ein Ausblick

Ausgewählte Literatur zum Thema

Danksagung

DIE WELT, IN DER WIR LEBEN

Ja, in was für einer Welt leben wir denn eigentlich?

Die vergangenen Jahre muten an wie eine eskalierende Abfolge von Krisen, Konflikten, Umbrüchen, verbunden mit einer galoppierenden Delegitimierung des liberal-demokratischen Systems und der westlichen Werte insgesamt.

Wir erleben einen fundamentalen Wandel, auf den die Bezeichnung Epochenwechsel zu passen scheint. Ob dem so ist und der überblickbare Zeitraum den Begriff tatsächlich rechtfertigt, wird sich erst aus dem fernen Blick zurück auf die drei turbulenten Jahrzehnte um die Jahrtausendwende erschließen.

Was bereits feststeht, ist der Verlust dieses ominösen Gefühls von Sicherheit, das in den Jahrzehnten des Kalten Krieges vorgeherrscht hat. Ein Paradoxon, drohte doch der Ost-West-Konflikt mehr als nur einmal in eine atomare Katastrophe umzuschlagen.

Gewiss, der Blick zurück verklärt, zumal dieser dritte globale Konflikt des 20. Jahrhunderts für den ehemaligen Kriegskontinent Europa gut ausgegangen ist. Ausschlaggebend war jedoch in den Jahren des Wiederaufbaus – und nachwirkend bis zur Finanzkrise 2008 – der realistische Optimismus eines positiven Lebenshorizonts. In den Nachkriegsjahrzehnten herrschte das Gefühl vor, das Schlimmste hinter sich zu haben.

Heute will man lieber nicht zu viel Zukunft haben. Denn die vermeintlichen Gewissheiten des Fortschritts und des wachsenden Wohlstands, jene Säulen der subjektiven Sicherheit, sind weggebrochen, eingestürzt, haben sich für viele in nichts aufgelöst.

Das aber bleibt nicht ohne Folgen für die Politik. Zumal für die internationalen Beziehungen im Allgemeinen und das über sieben Jahrzehnte durchaus erfolgreiche System des Multilateralismus mit seinen globalen und regionalen Organisationen Weltbank und Währungsfonds, den Vereinten Nationen oder der EU und der OSZE. Diese Epoche gehört der Vergangenheit an. Mehr denn je gilt es, Wege und Institutionen zu (er)finden, um die zentrale Global-Gouvernance-Frage unserer Zeit anzugehen: Wie sieht unsere zukünftige Weltordnung aus?

Freilich: Ein sogenannter Epochenwechsel wird rasch konstatiert, wenn wir mit scheinbar unerwarteten und radikalen Veränderungen konfrontiert sind.

Bei manchen Ereignissen erschließt sich deren historische Bedeutung sofort, andere sind erst mit wachsendem Abstand in ihrer vollen Tragweite erkennbar. Wie etwa das Jahr 1978, als Deng Xiaoping die Abwendung vom Maoismus hin zur Öffnung und Modernisierung Chinas eingeleitet hat. Manch ein Umbruch erweist sich auch als Strohfeuer; denken wir an den Arabischen Frühling von 2011.

Damit aber wird verständlich, wie schwierig es im Fluss des politischen Handwerks ist, die Folgen für das komplexe internationale Umfeld – und damit für die fragile Weltordnung – abzuschätzen. Es ist der Nebel der laufenden Ereignisse, der den Blick behindert.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ist ein Beispiel einer Entwicklung, die kaum jemand vorhergesehen hat und die doch nach dem Wendejahr 1989 für jeden erkennbar den Lauf der Geschichte irreversibel verändern sollte. Ebenso könnte man das Jahr 2016 – Brexit und Trump – benennen als Zäsur und möglichen Endpunkt der westlich dominierten Weltordnung.

Diese Ordnung ist aus den drei großen Konflikten des 20. Jahrhunderts erwachsen. Lässt man diese Revue passieren, kommt man jedenfalls für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zu einigermaßen klaren historischen Folgerungen.

Haben die Pariser Vorortverträge von 1919 den Keim für den Zweiten Weltkrieg in diese Friedensordnung gleichsam eingebaut, so haben die alliierten Sieger von 1945 in einem historisch einmaligen Akt aufgeklärten Eigeninteresses die Besiegten in den europäischen (und asiatischen) Wiederaufbau miteinbezogen.

In Europa steht dafür der amerikanische Marshallplan, jenes umfassende Wiederaufbauprogramm, das Integration und Kooperation – nach Washingtoner Vorstellungen – als politische Leitlinien festgeschrieben hat. Die europäische Einigung hat die – vorerst wirtschaftliche – Überwindung der fatalen Ideen des aggressiven Nationalstaats (und der internationalen Politik als Nullsummenspiel von Geld und Macht) in die Gänge gebracht.

Daran muss gerade heute erinnert werden, da sich vieles in die entgegengesetzte Richtung – Renationalisierung, illiberale Demokratie, Autoritarismus – zu bewegen scheint.

Das Jahr 1989, in dem der dritte große Konflikt des 20. Jahrhunderts – der Kalte Krieg – beendet wurde, schien ein wirkliches Wunder produziert zu haben, eben ein annus mirabilis. Jedenfalls für den siegreichen Westen. Die ziemlich friedliche Auflösung der Sowjetunion (Sezessionskriege wurden in Jugoslawien geführt) schien dies vollends zu bestätigen. Die Menschheit wäre am Ende der Geschichte angekommen, hieß es; von nun an sollte der Planet nach einem einzigen – liberal-demokratischen und kapitalistischen – Takt tanzen.

Zweifellos beflügelte der Geist von 1989 die zahlreichen Veränderungen – von der Wiedervereinigung Deutschlands bis zu den demokratischen Revolutionen in den einst kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas.

Heute zeigt sich, dass es den von Moskau befreiten Völkern Ost- und Südosteuropas nicht in erster Linie um ein demokratisch verfasstes Europe Whole and Free ging, sondern um die Restauration ihrer je eigenen – nationalen – Identität. Das repressive Kollektiv Sowjetunion sollte nicht gegen eine andere, wenngleich demokratische, Union eingetauscht werden. Dieses diffuse Gefühl wurde freilich von der ersten Generation der liberalen, westlich orientierten Reformer weitgehend ignoriert. Man fühlte sich dem Fortschritt verpflichtet, und der hieß, endlich selbst sein Schicksal bestimmen zu können.

Doch was danach, als die meisten Reformländer bereits in der EU waren, folgen sollte, war die vehemente Rückbesinnung – oder war es ein Rückfall? – auf einen – imaginären oder doch realen? – Nationalstaat der Zwischenkriegszeit. Der aber wollte nicht umstandslos in einem Vereinten Europa aufgehen.

Risse, Trennlinien politischer, ökonomischer, kultureller und historischer Art hat es auch zwischen den sechs Gründerstaaten des europäischen Projekts gegeben. Das Seite-an-Seite der ehemaligen Kriegsgegner, der Kulturbruch des Holocaust und das blutige Ende der europäischen Kolonialherrschaft in Asien und Afrika haben die Pionierphase der europäischen Einigung bis weit in die 1980er-Jahre geprägt. Kleine und Große haben bereits die frühe EWG – die sich primär als Wirtschaftsgemeinschaft verstand – gleichermaßen mitgestaltet. Damals war der Kitt der ideologischen Konkurrenz mit dem Sowjetimperium durchaus hilfreich, wenn nicht sogar entscheidend für den Zusammenhalt. West und Ost waren geteilte Universen – vereint in der Verwirklichung der je eigenen, konkreten Utopie.

Mit dem Fall der Berliner Mauer und der Vereinigung des Kontinents aber wurden bald andere – überwunden geglaubte – Brüche und Fissuren sichtbar. Vollends haben dies jene beiden Ereignisse gezeigt, die die EU, wie wir sie kannten, irreversibel verändert haben: die globale Banken- und Finanzkrise von 2008, die Europa drastischer getroffen hat als den eigentlichen Verursacher USA; sowie die Asyl- und Migrationskrise von 2015 – auch diese ursächlich mit den militärischen Abenteuern der USA und der NATO in Afghanistan, im Irak, in Syrien und Libyen verbunden.

Beide Ereignisse zusammengenommen haben die EU gewissermaßen gevierteilt. Die Finanz- und Eurokrise hat den angeblich sparsamen Norden (und insbesondere Deutschland) gegen den angeblich fiskalisch undisziplinierten Süden in einen weit über das bloß Pekuniäre hinausreichenden Konflikt gebracht. Im Gegensatz zu diesem europäischen Nord-Süd-Konflikt weist das seit 2015 alles bestimmende Thema Asyl und Migration ein klares West-Ost-Gefälle auf. Diese Auseinandersetzung erinnert in ihrer von Populisten befeuerten radikalen Ausschließlichkeit an die sogenannten Sacred Conflicts von Jerusalem bis Kosovo.

Nicht, dass autoritäre und populistische Tendenzen nicht schon davor wirkmächtig gewesen wären. Aber mit 2015 gewann die xenophobe Rechte an Legitimität im demokratischen Prozess der Europäischen Union. Sie wurde mehrheitsfähig und gibt zunehmend den Rahmen der politischen Auseinandersetzung vor.

Wir schaffen das wurde binnen kurzem abgelöst durch Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen. Was hat sich da zwischen dem 31. August 2015 und dem 13. Januar 2016 verändert? Das vorliegende Buch versucht einen Beitrag zu leisten zum besseren Verständnis des internationalen Umfelds dieses europäischen Politikwechsels. Denn nirgendwo zeigt sich der rasende gesellschaftspolitische Wandel deutlicher als in der Wirkmacht dieser nur wenige Monate auseinanderliegenden politischen Aussagen zweier christdemokratischer Politiker.

Sprache formt Politik, sie eilt ihr voraus und rechtfertigt diese.

Politik heute kann es sich scheinbar leisten, ohne Rekurs auf die beeindruckenden Errungenschaften der Grund- und Menschenrechtspolitik – basierend auf den Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah – auszukommen. Das gilt neuerdings auch für klassische Mitte-rechts- und Mitte-links-Positionen.

Nehmen wir zum Beispiel die Migrationspolitik der Europäischen Union. Was da an Vorschlägen von europäischen Regierungen unterbreitet wird, etwa Anlandeplattformen oder Auffanglager auf fremden Territorien, Rückführungs- und Assistenzdienste zur Übernahme von abgelehnten Schutzsuchenden, oder gleich finanzielle Vereinbarungen mit Regierungen, die eine Mitverantwortung tragen für die Fluchtursachen – dies und noch mehr entbehrt jeglicher Humanität und zeigt in dramatischer Weise den Verfall europäischer humanitärer Solidarität. Hier findet die Selbstzerstörung jener Werte statt, auf die sich das europäische Friedensprojekt gründet.

Derweilen entfachen die USA gleich einen Handelskrieg mit China; jener mit der EU wurde – vorläufig – abgeblasen. Da hat das Verhandlungsgeschick des erfahrenen Jean-Claude Juncker gewiss eine Rolle gespielt. Es mag auch die Machtdemonstration eines einheitlichen Wirtschaftraums von 500 Millionen Konsumenten gewesen sein, die schließlich den Ausschlag gegeben hat.

Der Aufstieg und Fall der sogenannten liberalen Weltordnung wird im vorliegenden Band über mehrere Kapitel behandelt. Die Architektur der Nachkriegsordnung – die Gründung der Vereinten Nationen und der Bretton-Woods-Institutionen, das liberale Freihandelssystem und der – trotz Kaltem Krieg – einigermaßen funktionierende Multilateralismus – umfasst eine Welt, die trotz ungeheurer Veränderungen als ziemlich berechenbar und relativ stabil wahrgenommen worden ist. Im Schatten des Eisernen Vorhangs schien die westliche Welt in Ordnung.

Es stimmt, die Trente Glorieuses von 1945 bis 1975 markieren die westeuropäische Erfolgsgeschichte. Auch mit dem neokonservativen Paradigmenwechsel der frühen 1980er-Jahre gingen zwar die Wachstumsraten zurück, vorerst jedoch nicht das Vertrauen auf ein immer besseres Leben. Im Gegenteil, die Hyperglobalisierung der 1990er-Jahre mit ihrer entfesselten Finanzindustrie verhieß – so dachte man – raschen Reichtum für viele und ein gutes Leben für die meisten.

Doch das Vertrauen in die transformative Kraft offener Märkte und des freien Wettbewerbs ist rasch zusammengebrochen. Die bestehende Welthandelsordnung diskriminiert die unterentwickelten Länder im Globalen Süden, insbesondere die Staaten südlich der Sahara. Gleichzeitig führt das ökonomische Laissez faire zu wachsender Ungleichheit und damit zu politischen Verwerfungen in den industrialisierten Staaten des Westens, wo die Löhne der Arbeiter- und Mittelschicht seit Jahrzehnten stagnieren.

Nun, da vieles ordentlich ins Wanken geraten ist, wäre ein verklärter Blick zurück jedoch irreführend. Die über siebzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben tatsächlich die Welt – zumal die westliche – zum Positiven verändert. So manches von dem, was man heute etwas verklärt als liberale Weltordnung bezeichnet, war so liberal und demokratisch allerdings nicht. Die militärischen Interventionen des amerikanischen Hegemons in Südostasien, im Mittleren Osten oder in seinem südlichen Hinterhof, die Allianzen mit brutalen Regimen im arabischen Raum waren weniger hehren Idealen als vielmehr nackter Machtpolitik geschuldet.

Der Abschied vom amerikanischen Zeitalter, das mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg begann und mit dem Amtsantritt Donald Trumps als 45. Präsident der Vereinigten Staaten allem Anschein nach geendet hat, kann nur als abrupt bezeichnet werden.

Wie konnte es zum mutwilligen Verzicht auf die globale Führungsrolle Washingtons kommen? Und gibt sich da eine Weltmacht selbst auf?

Die Gründe und Hintergründe dieser Abwendung liegen in der gesellschaftlichen Verfassung der USA – und der westlichen Welt. Zweifellos spielt auch die narzisstische Persönlichkeit des derzeitigen Präsidenten eine Rolle. Kann man aber deshalb bereits von einem Epochenwechsel sprechen? Das vorherrschende politische Chaos in Washington sollte nicht dazu verleiten, leichtfertig über Epochen, die zu Ende gehen, oder neue, die beginnen, zu räsonieren. Das allein bringt keinen Erkenntnisgewinn.

Der 9. November 1989 hingegen war sofort als Umbruch von historischer Bedeutung erkennbar. Mit dem Ende des Kalten Krieges war das kurze 20. Jahrhundert abgeschlossen. Ob 2016 – das Jahr von Brexit und Donald Trump – einen solchen Umbruch markiert, lässt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen.

Gerade diese beiden Daten verweisen jedoch auf die Ambivalenz überraschender Ereignisse. Der britische Volksentscheid, so dramatisch er für alle Betroffenen sein mag, hat die populistischen Austrittsbefürworter auf dem Kontinent zum Schweigen gebracht. Trump wiederum hat die Diskussion um eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dynamisiert.

Und da wäre 2007, das Jahr, in dem die amerikanische Immobilienblase geplatzt ist und an den Börsen eine Abwärtsspirale von historischen Ausmaßen ausgelöst hat, die 2008 zur globalen Finanzkrise, ab 2010 zur Eurokrise führen sollte.

Kaum beachtet, haben zwei weitere – völlig disparate – Ereignisse das Jahr 2007 zu einem, wie ich meine, historischen Wendepunkt gemacht.

Da ist zum Ersten die Rede Präsident Putins vor der Münchner Sicherheitskonferenz, die – wie wir heute wissen – das tatsächliche Ende der europäischen Ordnung nach 1989 markiert. Putins beschwörendes Plädoyer vom Februar 2007 liest sich wie eine unbeachtet gebliebene Beschwerdeliste an den Westen. Hätten die anwesenden Spitzenpolitiker, Experten und Kommentatoren seine Aussagen ernst genommen und wären sie in eine tatsächliche Aussprache unter souveränen Gleichen eingetreten, wären die Konflikte in Georgien 2008 und der Ukraine 2014 womöglich anders verlaufen.

Was wir sicher wissen, ist, dass sich seit dieser Rede die europäischen und internationalen Beziehungen maßgeblich verändert haben. Russland hat sich seitdem zu einem der zentralen Herausforderer der liberalen Weltordnung entwickelt und nutzt jede Gelegenheit, um den globalen Einfluss der USA und Europas infrage zu stellen; ein neuer Kalter Konflikt ist die Folge.

Eine zweite – tatsächlich irreversible – Entwicklung hat sich 2007 in der Informationstechnologie ergeben. Wenige Wochen vor Putins Münchner Rede hat Apple-Gründer Steve Jobs das iPhone vorgestellt. Mehr noch, in diesem Jahr wurden viele jener Computer- und Softwaretechnologien präsentiert, oder fanden erstmals breitere Anwendung, die seither unser Leben maßgeblich gestalten.

Das iPhone oder Cloud Computing waren 2007 völlig neu und die weltweite Verbreitung von Facebook und Twitter hatte gerade erst begonnen. Ihre universelle Bedeutung war nicht abschätzbar. Das Internet überschritt im selben Jahr die Milliardengrenze an Nutzern. Diese innerhalb kurzer Zeit zu einem globalen Phänomen gewordenen Gadgets prägen seitdem die Politik und verändern die Parameter liberaler Demokratie und der internationalen Beziehungen.

Ein morgendlicher Tweet des amerikanischen Präsidenten kann schwerwiegendere Folgen für Europa haben als ein Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel. Auch Konflikte zwischen Staaten werden in zunehmendem Maße im Cyberspace ausgetragen, und die massenhafte Verbreitung von Smartphones und sozialen Medien eröffnet autoritären Regimen neuartige Möglichkeiten der Repression und Überwachung.

Aber die digitale Revolution gestaltet auf noch subtilere Art und Weise unsere Gesellschaft: Die Algorithmen der Suchmaschinen und sozialen Medien prägen unsere Wahrnehmungs- und Kommunikationsgewohnheiten. Immer mächtigere Künstliche Intelligenzen (KI) werden diesen Trend weiter verstärken und alle Aspekte des menschlichen Zusammenlebens tiefgreifend verändern.

Eines wird deutlich: Das digitale Zeitalter hat das analoge endgültig abgelöst. Diese Feststellung scheint banal, ist aber die kopernikanische Wende des 21. Jahrhunderts.

Mit den unmittelbaren Auswirkungen der technologischen Revolution als auch mit Putins Russland hätte der Westen vermutlich besser umgehen können, wenn nicht zeitgleich die globale Finanzkrise ausgebrochen wäre. Europas politische und institutionelle Kapazitäten waren durch Bankenrettung, Eurokrise und Ukrainekonflikt auf Jahre hinaus gebunden. Der seit Ronald Reagans neokonservativer Wende verteufelte Staat musste einspringen, um die Banken mit riesigen Beträgen, die diese teils mutwillig verzockt hatten, zu retten. Erstmals schien das Ende des Kapitalismus vorstellbar; eine dramatische Erkenntnis.

Die Bankenrettung und der daraus resultierende rasante Anstieg der öffentlichen Schuldenlast aber war nur ein Teil der Krisengeschichte. Die auf dem Fuß folgende Wirtschaftskrise katapultierte die Arbeitslosenraten in die Höhe, mit enormen sozialen Konsequenzen. Im am härtesten betroffenen Süden der Union fanden Millionen Jugendliche keine Arbeit mehr. Die Folgen der neoliberalen Politik europäischer Prägung trafen Minderqualifizierte ebenso wie Universitätsabsolventen. Erstmals seit 1945 sah sich Europa mit einer Lost Generation konfrontiert.

Genau dieses Zusammentreffen der Großen Rezession und der digitalen Revolution hat unterdessen den Aufstieg Chinas begünstigt. Das Wirtschaftswachstum im Reich der Mitte wurde nach 2008 kaum gebremst, während Peking schon früh die Möglichkeiten der neuen Technologien zur umfassenden Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung erkannt hat. Der autoritär-digitale Staatskapitalismus Chinas stellt die erste systemische Alternative zum liberal-demokratischen Marktkapitalismus des Westens seit dem Fall der Sowjetunion dar.

Auf die tektonischen Veränderungen des globalen wirtschaftlichen Gefüges seit 2008 hatte der europäische Wohlfahrtsstaat keine Antworten parat. Eine Fortsetzung der neoliberalen Politik, die ursächlich zur Kernschmelze des globalen Finanzsystems geführt hat, wirkte ebenso wenig überzeugend wie der sozialdemokratische Dritte Weg. Der über Jahrzehnte erfolgreich praktizierte Keynesianismus war in Theorie und Praxis endgültig ins Out geraten.

Dies aber blieb nicht folgenlos. Die entstandene Vertrauenskrise erreichte rasch die gesellschaftliche Mitte. Immer mehr verweigerten den politischen Eliten ihre Gefolgschaft. Die traditionellen Parteien rechts und links der Mitte verloren an Legitimität und Anhängerschaft, extreme Positionen wurden attraktiv und salonfähig.

Rascher als erwartet hat sich diese Entwicklung auf die internationalen Beziehungen übertragen. Populistische und rechtsextreme Bewegungen schossen in West- und Osteuropa ins Kraut und konnten an die reaktionären Bewegungen in den einst vom Nationalsozialismus beherrschten Staaten anknüpfen. Der historische Revisionismus – illiberal und autoritär – gehört seither zur europäischen Normalität.

Mehr noch, die Idee des Fortschritts hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Dystopie hat Utopie abgelöst. Der die westlichen Gesellschaften über einen langen Zeitraum dominierende Fortschrittsgedanke ist einer diffusen Zukunftsangst gewichen, die sich zunehmend in Abschottungsfantasien – Mauern allerorten – äußert. Wann wird es endlich wieder gestern? scheint zum Slogan unserer Zeit geworden.

Der 2017 verstorbene polnische Soziologe Zygmunt Bauman untersuchte in seinem letzten Werk Retrotopia die Gründe für diese globale Epidemie der Nostalgie: eine bestechende Analyse der verloren gegangenen Fähigkeit der Nationalstaaten, ihr Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit in einer globalisierten Welt einzulösen.

Freilich, so wie das kapitalistische System derzeit aufgestellt ist – seit langem wird gefährlich mehr verbraucht, als der Planet hergibt –, ist ein radikales Umdenken das Gebot des schieren Überlebens.

Der Club of Rome hat bereits 1972 in seinem gleichnamigen Bericht die Grenzen des Wachstums aufgezeigt. In der langen Zeit seither hat die Wissenschaft ungeheure Fortschritte im Erkennen der Ursachen gemacht. Zahllose theoretische Studien und empirische Untersuchungen über den Einfluss des Homo sapiens auf seine Umwelt sind verfasst worden. In den Wissenschaften setzt sich der Begriff des Anthropozän für das neue Erdzeitalter durch, in dem der Mensch der wichtigste Einflussfaktor auf die biologischen und atmosphärischen Veränderungen auf unserem Planeten ist. Die Vereinten Nationen haben zahllose Konferenzen zu Klima, Umwelt, Ressourcen, Welthandel und weiteren Grundfragen unserer Weltgesellschaft abgehalten. Agenturen wurden zur Umsetzung der Beschlüsse gegründet, kurz: Der Wissensstand über die globalen Fragen unserer Zeit ist auf einem nie dagewesenen Niveau. Niemand sage – auch der amerikanische Präsident nicht –, er habe es nicht wissen können.

Tatsächlich ist sehr viel geschehen; der wissenschaftliche Fortschritt ist beeindruckend. Allein die Bedrohung ist nicht geringer geworden. Ganz im Gegenteil.

Ein im Sommer 2018 veröffentlichter Bericht der New York Times dokumentiert auf über achtzig Seiten detailreich die überraschende Tatsache, dass bereits im Jahrzehnt von 1979 bis 1989 die gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Erderwärmung bekannt gewesen sind. Folgt man dem Bericht, so ist die Politik – das ist überraschend – damals nur knapp an einer dauerhaften international verbindlichen Lösung der Umweltprobleme vorbeigeschrammt. Heute aber gibt es – trotz Pariser Klimaabkommen – keine global umfassende Umsetzungsstrategie, geschweige denn Politik, zur Beantwortung der zentralen Zukunftsfrage.

Wenn es überhaupt um eine Weltordnung für das 21. Jahrhundert gehen soll, dann muss an vorderster Stelle die Sanierung des Planeten stehen. Dies kann – das liegt auf der Hand – nur mit der Beteiligung aller erfolgreich sein.

Dennoch werden die Regeln und die Ausrichtung einer neuen Ordnung, so eine entstehen kann, vom Verhältnis zwischen den USA, China, Russland und der EU bestimmt sein. China und die USA sind die dominierenden Mächte im internationalen System; es ist durchaus vorstellbar, dass wir auf eine neue Bipolarität zusteuern.

Russland ist zwar im Abstieg begriffen, besitzt allerdings dank dem taktischen Geschick Putins die Fähigkeit, die Ordnungsbestrebungen des Westens zu durchkreuzen. Die EU besitzt zwar das Potenzial, ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne zu werden, muss dazu allerdings erst lernen, mit einer geeinten Stimme aufzutreten.

Indien, das bald bevölkerungsreichste Land der Erde, aber auch Lateinamerika oder Südafrika weisen – bei allen gesellschaftlichen Widersprüchen – eine äußerst dynamische Entwicklung auf. Dennoch, eine grundlegende Neuordnung der internationalen Beziehungen, wie sie angesichts der globalen Klimakatastrophe notwendig ist, kann ohne die enge Kooperation zwischen den USA, China, Europa und Russland nicht gelingen. Daher liegt der Schwerpunkt des Buches auf diesem globalen Quartett.

Klima, Ressourcen, Energie sind die eigentlichen Themen unserer Zeit. Alle drängenden Fragen von heute – Migration, Ungleichheit, ja selbst Grund- und Menschenrechte, Demokratie – hängen damit zusammen. Ob und wie es der Global Community gelingen wird, eine nachhaltige Ökologisierung des Planeten zu entwickeln, davon hängt die Zukunft und das Wohlergehen der Menschheit ab. Die Zeit aber läuft uns davon.

Der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom hat darüber ein beeindruckendes Buch geschrieben. Darin beantwortet er Fragen, die wir uns immer noch nicht stellen. Zum Beispiel, warum wir an einem Wirtschaftsmodell festhalten, das gefährlich und längst überholt ist. Oder ob wir noch nie eine Fabrik gesehen haben, die fast ohne menschliche Arbeit auskommt. Blom schreibt über das verbreitete Gefühl, „dass wir die Kontrolle über unser Leben verloren haben und dass Zukunftslosigkeit die Gesellschaften des sogenannten Westens, die viel zu verlieren haben, betrifft“.

Bloß, was tun?

Der vorliegende Band versucht, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem weltpolitischen Umbruch von 1989 einzuordnen. Aktuelle Phänomene wie die fortschreitende Erosion der liberalen Demokratie, der Populismus-Migration-Nexus und der Authoritarian Turn werden ebenso angesprochen wie die disruptiven technologischen Innovationen rund um Internet, Digitalisierung und Automatisierung.

Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts, so viel ist klar, wird im Spannungsfeld zwischen offenen Gesellschaften und einem digital-autoritären Kapitalismus verhandelt werden.

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DIE SÄULEN DER LIBERALEN ORDNUNG

Seit den frühen 1970er-Jahren, als sich in Vietnam die militärische Niederlage der USA abzuzeichnen begann, haben drei Themen die Diskussion über das angeblich bevorstehende Ende des amerikanischen Zeitalters geprägt. Da war zum einen die Rede vom imperial overstretch, dem Versuch der Vereinigten Staaten, ihre globale Dominanz in Zeiten des Kalten Krieges aufrechtzuerhalten und womöglich noch auszubauen. Ausgelöst von den militärischen Misserfolgen in Südostasien und den wirtschaftlichen Aufholprozessen der einstigen Kriegsgegner in Europa und Japan, wurde zweitens ein relative decline, der machtpolitische Abstieg der Supermacht, thematisiert. Zum Dritten wird seit den Gründungstagen der NATO vom widening gap zwischen den Partnern der Nordatlantischen Allianz gesprochen. Europäer und Amerikaner haben zwar vieles gemeinsam, Perioden großer transatlantischer Harmonie hat es jedoch nur selten gegeben. Dennoch hat die Verbindung zum gegenseitigen Nutzen über siebzig turbulente Jahre hinweg gehalten. Erst die Wahl des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten im November 2016 hat in einer Art europäischer Selbstvergewisserung die Möglichkeit zur Tatsache werden lassen: Die amerikanisch-europäische Allianz, wie wir sie kannten, gehört wohl der Vergangenheit an.

Die Atlantik-Charta, 1941 von Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill auf dem britischen Schlachtschiff HMS Prince of Wales auf dem Ozean vor Neufundland unterzeichnet, ist wohl endgültig Makulatur. Wiewohl sich die Aufweichung der Bindungen zwischen Europa und den USA bereits seit längerem abgezeichnet haben, bedurfte es der merkwürdigen Figur Donald Trumps, diese Trennung – in politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Belangen – vollständig zu offenbaren. Dabei war ein Ende der sogenannten Westlichen Ordnung durchaus absehbar, wenn auch nicht offenbar: Entgegen den Erwartungen einer sukzessiven Ausbreitung der liberalen Demokratien nach dem annus mirabilis 1989 ist ihre Zahl seit etwa zehn Jahren rückläufig. Sowohl junge als auch etablierte demokratische Gemeinwesen wurden spätestens seit der weltweiten Finanzkrise 2008 anfälliger für Demagogen und Populisten, die nationale Lösungen für die globalen Probleme unserer Zeit versprechen.

Die Normen und Regeln der internationalen Beziehungen westlicher Prägung werden längst nicht mehr nur von diktatorischen Regimen und revisionistischen Mächten missachtet und infrage gestellt. Insbesondere die USA, bis 2016 Führungsmacht und Garant der liberalen Weltordnung, haben viele ihrer zentralen Institutionen geschwächt. Donald Trump verleiht mit seiner unverhohlenen Abneigung gegenüber den Vereinten Nationen, der NATO und den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) bloß auf vulgäre Weise einer Entwicklung Ausdruck, die seit längerem Fahrt aufgenommen hat.

Es sind vor allem Russland und China, ein eigenartiges Paar absteigender und aufsteigender Macht, die mit militärischen bzw. wirtschaftlichen Strategien an der Revision der internationalen Ordnung arbeiten. Sowohl diese beiden Staaten als auch insgesamt die Länder des Globalen Südens empfinden die herrschenden Regeln und Normen als westlich und ganz auf die Interessen des industrialisierten Nordens zugeschnitten. Dabei verliert jener universelle Wertekanon, der seit 1945 in zahlreichen internationalen Verträgen festgeschrieben worden ist, tendenziell an Bedeutung. Wiederum ist es der aktuelle US-Präsident, der bislang unerhörte Akzente setzte: In seiner Inaugurationsrede kam der Begriff Menschenrechte kein einziges Mal vor.

Europa scheint derweil kaum in der Lage, sich dieser Erosion von bislang einigermaßen bewährten Paradigmen der Weltpolitik entgegenzustellen. Zu schwach und gespalten ist die Europäische Union auf dem internationalen Parkett, zu sehr war sie in den vergangenen Jahren mit der Bewältigung interner Krisen beschäftigt. Nicht zuletzt daran ist auch innerhalb der EU der Konsens über liberale Grundwerte und das klare Bekenntnis zur westlichen Ordnung zerbrochen.

Die westliche Weltordnung

Doch was macht die so gefährdete Weltordnung eigentlich aus?

Wenn von einer internationalen Ordnung die Rede ist, so ist dies natürlich notwendigerweise eine Vereinfachung und Abstraktion, und selbstverständlich kein rigides Regelwerk. Anders als etwa Rechtsordnungen innerhalb von Staaten kennt die Weltpolitik keine oberste Autorität, die Regeln durchsetzen könnte. Das bestehende internationale Recht, sei es im Bereich des Handels oder der Seefahrt und noch entschiedener, wenn es um humanitäres Völkerrecht oder internationale Regeln bewaffneter Konflikte geht, ist sogenanntes soft law: Es gibt keine zentrale exekutive Durchsetzung; die Einhaltung erfolgt nach nationalstaatlichem Gutdünken.

Dennoch lassen sich im Fall der wahlweise als liberal, transatlantisch oder westlich firmierenden Ordnung einige Grundprinzipien ausmachen. Sie haben den zwischenstaatlichen Beziehungen seit 1945 einen gewissen vertragsartigen Rahmen gegeben. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es für einen kurzen Moment so, als ob diese westliche Ordnung gleichsam globale Geltung erlangen würde. Vier Säulen dieser Weltordnung sollen im Folgenden besonders herausgehoben werden: Demokratie, Marktkapitalismus, Globalisierung und Liberalismus. Sie spiegeln die normativen Vorstellungen des Westens wider; gemäß diesen sollen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft konstituiert sein.

Die erste Säule ist demokratisch verfasste Politik. Auch wenn die Realität oft hinter der Rhetorik zurückblieb, haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr Staaten zu einem demokratischen Regierungssystem bekannt. Aber auch die objektive Qualität von Demokratien ist anhand einer Reihe von Indikatoren – etwa Grundrechte und Meinungsfreiheit, Transparenz und Rechenschaftspflicht, Resilienz von demokratischen Institutionen – bis zur Finanzkrise 2008 kontinuierlich gestiegen. Zweifellos sind diese Wertvorstellungen durch die 68er-Revolution befeuert worden. Die Slogans von der Durchflutung der Gesellschaft mit Demokratie oder Mehr Demokratie wagen haben die politische Öffentlichkeit des Jahrzehnts nach 1968 geprägt und die progressive Hegemonie in Politik, Gesellschaft und Kultur durchgesetzt.

Zweitens ist die kapitalistische Marktwirtschaft ein zentraler Bestandteil der westlichen Ordnung. Von 1945 bis in die späten 1970er-Jahre noch stark eingehegt von Regulierungen und staatlicher Lenkung, wurden die Märkte seitdem zunehmend entfesselt und der Einfluss des Staates immer weiter zurückgedrängt. Die Namen Thatcher und Reagan stehen für diese neoliberale Revolution.

Drittens – und Politik und Wirtschaft umspannend – ist die beschleunigte Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges prägend für die internationale Ordnung. Dieser Prozess ist gekennzeichnet durch den sukzessiven Abbau von Handelsschranken und die stetig wachsenden Ströme von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Menschen, aber auch von Ideen und Informationen über alle Staatsgrenzen hinweg. Die zunehmende Globalisierung wurde im politischen Mainstream der entwickelten Welt die längste Zeit als durchwegs positiv dargestellt.

Viertens waren schließlich unterschiedliche Ausprägungen des Liberalismus – vom klassischen und neoklassischen Wirtschaftsliberalismus über gesellschaftsliberale Ansätze und politischen Liberalismus bis zu liberalen Ansätzen in den internationalen Beziehungen – die leitende Philosophie der westlichen Weltordnung. Nicht von ungefähr werden die Begriffe Westliche Weltordnung und Liberale Weltordnung synonym verwendet.

Jede einzelne dieser angeführten vier Säulen gerät jedoch zunehmend unter Druck. Die Euphorie des Westens nach dem Sieg in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges ist größtenteils verflogen, von einem Ende der Geschichte und dem damit gemeinten Universalismus des westlich-liberalen Systems ist schon längst keine Rede mehr. Klar ist, dass sich Geschichte nicht wiederholt und daher auch Demokratie und Marktwirtschaft nicht erneut von Faschismus und Kommunismus abgelöst werden. Aphoristisch könnte man sagen, wir befinden uns in einer Zeit, die noch keinen Namen hat.

Was aber ist die Essenz dieser vier großen Ideen, die nicht einmal mehr in der sogenannten westlichen Welt überzeugen können? Und welche neuen Konzepte und Visionen drängen aktuell in den Vordergrund?

Demokratie

Demokratie zählt zu den universellen und unteilbaren Grundwerten und Prinzipien der Vereinten Nationen. Obwohl der Begriff selbst nicht in der Charta der Vereinten Nationen enthalten ist, verdeutlichen die Anfangsworte der Präambel „Wir, die Völker der Vereinten Nationen“ das grundlegende Prinzip der Demokratie. Sie stellen klar, dass die Legitimität souveräner Staaten und somit der Vereinten Nationen auf dem Willen seiner Bürgerinnen und Bürger basiert.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die im Jahr 1948 von der UNO-Generalversammlung angenommen wurde, definiert das Konzept der Demokratie mit den Worten: „Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt.“ In der Erklärung werden die Rechte, die die politische Teilhabe gewährleisten, festgelegt. Doch obwohl die Vereinten Nationen und auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von ihrem Beginn an weltweite Mitgliedschaft und Anerkennung genossen, hat sich die Demokratie als politisches System seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichsweise langsam und ungleichmäßig durchgesetzt.

Im Jahr 1970 klassifizierte man rund 35 Länder weltweit als Demokratien mit freien und demokratischen Wahlen. Anfang der 1970er-Jahre stießen südeuropäische Staaten wie Griechenland, Spanien, Portugal zu dieser Gruppe, und nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts wurde ein Großteil des ehemaligen Ostblocks demokratisch. Schließlich schlossen sich Ende der 1980er-Jahre die meisten Länder Lateinamerikas an.

Doch liberale Demokratie, wie sie dem westlichen Ideal entspricht, erschöpft sich nicht allein in einem Mehrparteiensystem mit formal demokratisch durchgeführten Wahlen. Sie basiert auf Meinungsfreiheit und ist sehr eng mit Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Grundfreiheiten verbunden. Gemäß dem deutsch-britischen Intellektuellen Ralf Dahrendorf besteht eine Demokratie aus einem „Ensemble von Institutionen“, die politische Machtausübung in dreierlei Hinsicht legitimieren: Ermöglichung gewaltloser Veränderungen, Kontrolle und Balance der Machtausübenden sowie Partizipation der Bürger an der Machtausübung.

Allerdings haben diese Institutionen aktuell – angesichts der gegenwärtigen veränderten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen – ein Kontroll- und Legitimationsproblem: Nationalstaaten können nur noch bedingt jene Phänomene beeinflussen, die das Leben ihrer Bürger betreffen. Die globalisierte Wirtschaft, aber auch der Klimawandel oder Fragen der Regulierung des Internets und der neuen Medien entziehen sich dem Einflussbereich einzelner Nationalstaaten.

Darüber hinaus bekommen staatliche Institutionen zunehmend Konkurrenz durch Nichtregierungsorganisationen und Interessenvertretungen. Auch transnationale Konzerne und kosmopolitische Eliten, die sich jederzeit dort ansiedeln können, wo die rechtlichen und steuerlichen Bedingungen am vorteilhaftesten sind, stellen den Gestaltungsspielraum demokratischer Institutionen infrage. Zudem wurden über Jahrzehnte wichtige Aspekte der Politik an demokratisch nicht legitimierte, technokratische Institutionen wie Nationalbanken und Regulierungsbehörden abgegeben, während der Parlamentarismus insgesamt an Bedeutung verloren hat.

Das verbreitete Gefühl, demokratische Politik – die Mitwirkung des Einzelnen an der Res publica – verliere zunehmend an Einfluss auf globale Entwicklungen, führt schließlich zu einer wachsenden Apathie gegenüber dem Politischen insgesamt. Die traditionellen Großparteien der westlichen Demokratien sind über die Jahre in zentralen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik praktisch ununterscheidbar geworden; die traditionellen Mitte-links-Parteien haben von den Neokonservativen die Argumentation der Alternativlosigkeit übernommen. Margaret Thatcher hat überdies die schiere Existenz von Gesellschaft als solcher mit ihrem berüchtigten Ausspruch „There is no such thing as society“ in Abrede gestellt.

Reaktionen auf diese Entwicklungen sind zum einen die nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit, in der nationale Politik noch die Wirtschaft beherrschen konnte. Die Frage Wann wird es endlich wieder gestern? bringt die vorherrschende Stimmung eines im Abstieg begriffenen Mittelstands auf den Punkt. Diese Gefühlslage – diffus und angstbesetzt – hat entscheidend zum Ausgang des Brexit-Referendums und der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 beigetragen.

Zum anderen ist ein wachsendes Liebäugeln mit autoritären Regierungsformen zu beobachten; Demokratien funktionieren über Konsensbildung und komplexe Systeme gegenseitiger institutioneller Kontrolle. Folglich sind Entscheidungsprozesse in Demokratien notwendigerweise langsam. Das kann dazu führen, dass Autokratien als effizienter wahrgenommen werden und Politiker Zuspruch finden, die institutionelle Kontrollmechanismen abschaffen wollen.

Effizienz und Flexibilität sind schließlich – nicht zuletzt dank Internet und Smartphone – auch in der Wirtschaft und in der Arbeitswelt der Bürger zur obersten Maxime geworden. Demgegenüber scheinen die schwerfälligen Prozesse demokratischer Systeme nachgerade anachronistisch.

Eng verwoben mit der Krise der Demokratie im Zeitalter der rasenden Globalisierung ist die Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft hin zu einem alle Lebensbereiche dominierenden und global agierenden Finanzkapitalismus.

Marktkapitalismus

Die kapitalistische Marktwirtschaft baut auf den Überlegungen des liberalen Vordenkers Adam Smith auf. Dieser ging von der Annahme aus, dass ein freies Wechselspiel von Angebot und Nachfrage zur optimalen Allokation von Ressourcen und dadurch zum größtmöglichen Wohlstand für die größtmögliche Anzahl von Individuen führt. Auf Smith geht das oft gebrauchte Bild der unsichtbaren Hand zurück, eine Metapher für den rationalen Selbstregulierungsprozess des freien Marktes.

Freilich hat es die freie Marktwirtschaft in ihrer reinen Form nie gegeben; Regierungen und Gesetze haben stets in unterschiedlichem Ausmaß Einfluss auf Märkte – und damit auf die Gesellschaft – genommen. Auch die von Anhängern der (neo-) klassischen Schule der Ökonomie vertretene Annahme, Marktteilnehmer würden als rationale, den persönlichen Vorteil kalt maximierende Akteure agieren, wurde längst widerlegt. Vielmehr neigen Märkte dazu, Externalitäten und langfristige Ungleichgewichte zu erzeugen, während Marktteilnehmer oft emotionsgetrieben und irrational entscheiden.

Nichtsdestotrotz hat die kapitalistische Wirtschaftsform eine immense Vermehrung von Wohlstand und atemberaubenden technologischen Fortschritt ermöglicht. Sie war die Grundlage für den Aufbau einer breiten Mittelschicht in den westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit und brachte massive Verbesserungen der allgemeinen Lebensstandards. Doch die Verteilungsfrage innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems wurde, entgegen der Annahme von Anhängern des Marktfundamentalismus, zu keiner Zeit von den selbstregulierenden Kräften der Märkte zufriedenstellend gelöst. Vielmehr waren es stets politisch-rechtliche Rahmenbedingungen, die den Kapitalismus in gesamtgesellschaftlich nutzbringende Bahnen gelenkt haben.

Während der Wiederaufbauzeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unter dem Einfluss der kapitalistisch-kommunistischen Systemkonkurrenz – gepaart mit der Erinnerung an die Große Depression der 1930er-Jahre und ihre katastrophalen Folgen – beherrschte die nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes benannte Wirtschaftspolitik die Staaten des Westens. Der Keynesianismus zielte in erster Linie auf Vollbeschäftigung ab und sah die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als entscheidende Größe für das Wachstum. Demgemäß versuchten Staaten, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu steuern. Ziel war es, sowohl ein Überhitzen der Volkswirtschaft als auch Krisen und Rezessionen zu vermeiden und damit das Wachstum konstant und die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Daneben waren in den westlichen Industrienationen der Nachkriegszeit der Wohlfahrtsstaat und eine gewisse Umverteilung von Vermögen weit stärker ausgeprägt als heute. Man wollte dadurch dem Kommunismus, aber auch der Rückkehr des Faschismus einen Riegel vorschieben.

In den 1970er-Jahren geriet dieses Modell allerdings zunehmend unter Druck: Die aus den beiden Ölpreisschocks resultierende Stagflation – wirtschaftliche Stagnation bei gleichzeitiger Inflation – konnte mit den Rezepten des Keynesianismus nicht überwunden werden. Keynes’ Wirtschaftstheorie war nie darauf ausgelegt gewesen, exogene Schocks und von der Angebotsseite herrührende Probleme zu überwinden. Die wirtschaftspolitischen Empfehlungen Keynes’, entwickelt während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, zielten vor allem auf die Überwindung akuter Krisen, insbesondere die Verhinderung eines sich selbst verstärkenden Abschwungs und einer anhaltenden wirtschaftlichen Depression.

Die Kritiker Keynes’ nutzten die beiden Ölkrisen, um die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik grundlegend zu diskreditieren. An deren Stelle traten der von Milton Friedman entwickelte Monetarismus und die durch den Österreicher Friedrich von Hayek geprägte neoklassische Wirtschaftstheorie als neue Paradigmen der westlichen Politik.

Nachdem die neoliberale Schule des freien Marktkapitalismus in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Hoheit über die Wirtschaftspolitik der beiden führenden westlichen Mächte übernommen hatte, kam es zu einer markanten Veränderung des sozialen Gefüges in der kapitalistischen Welt. Deregulierung und Privatisierungen führten zu einer massiven Verschiebung von Wachstum und Profiten weg von der sogenannten Realwirtschaft hin zur Finanzwirtschaft. Gleichzeitig verloren Gewerkschaften stark an Einfluss, und die Schere zwischen Arm und Reich, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Abnehmen begriffen war, begann sich wieder zu öffnen.

Die zunehmende Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft und immer komplexere finanzielle Spekulationsvehikel wurden durch die technologische Entwicklung zusätzlich befeuert: Im 19. Jahrhundert hatte die Erfindung von Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegrafen eine zuvor ungekannte wirtschaftliche Komplexität ermöglicht; analog dazu haben die Computertechnologie und das Internet eine Komplexität insbesondere an den Finanzmärkten ermöglicht, die sowohl die Gewinnspannen als auch die Risiken massiv erhöhte. Theoretische Mathematiker und Teilchenphysiker – an der Wall Street auch despektierlich als quants bezeichnet – haben mit ihren immer ausgefeilteren statistischen Modellen die Hedgefonds und Investmentbanken erobert.

Globalisierung

Etwa zur gleichen Zeit, als sich in der Wirtschaftspolitik der Übergang vom Keynesianismus zu neoklassischen Modellen vollzog, nahm die Globalisierung an Fahrt auf. Zwar hat schon das späte 19. Jahrhundert eine erste Welle der Globalisierung unter der Führung des British Empire erlebt; mit der Erfindung des Telegrafen und des Dampfmotors fielen die Kosten für Kommunikation und Transport rapide. Im Zusammenspiel mit den neu erschlossenen Ressourcen und Märkten der entstehenden Kolonialreiche ermöglichten diese technologischen Neuerungen eine Phase anhaltenden Wachstums, die erst durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre beendet wurde. Allerdings kam der Wohlstand dieser frühen Globalisierung nur den wohlhabenden Eigentümern der Produktionsmittel zugute; die Ungleichheit zwischen sowie innerhalb von Staaten blieb unberührt.

Unter der Führung der USA wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Globalisierung gleichsam institutionalisiert. Das Bretton-Woods-System hat dafür die nötigen Finanzinstitutionen geschaffen. In dieser zweiten Welle der Globalisierung erwachte auch das Bewusstsein für den globalen Maßstab menschlichen Handelns: 1969 betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond, und die Bilder, die weltweit in Zeitungen und auf Fernsehbildschirmen zu sehen waren, machten die Einheit und Verletzlichkeit unseres Planeten so sichtbar wie nie zuvor. Das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges gab der Menschheit aber gleichzeitig ein Werkzeug in die Hand, das in der Lage war, das gesamte Leben auf der Erde auszulöschen.

1972 führte der legendäre Bericht des Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums) der Menschheit die Endlichkeit ihrer Ressourcen und die Gefahren der Umweltzerstörung drastisch vor Augen. Parallel dazu ließ die fortschreitende Informationsrevolution die Distanzen weiter schrumpfen. Der Weg vom Telefon über den Computer zum Internet hat Grenzen überwunden wie keine technologische Innovation davor.

Dabei traten auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung immer deutlicher zutage. Die Finanzmärkte wurden als Erste von den neuen Möglichkeiten der Informationsrevolution verändert. Neue Möglichkeiten der Computertechnologie trafen dabei auf eine breite Welle der Deregulierung. Die Aufhebung der Goldkonvertibilität des Dollars 1971 und das Floating der Wechselkurse waren wichtige Schritte zur Globalisierung der Finanzmärkte.

Die Liberalisierung des Handels folgte etwas verspätet mit der Uruguay-Runde des damaligen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade = Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), die erstmals auch Dienstleistungen mit einschloss und letztlich in die Gründung der WTO (World Trade Organisation) mündete. Das seit den 1970er-Jahren dominante ökonomische Paradigma von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung begünstigte die Entstehung von transnationalen Konzernen. Gleichzeitig veränderte sich die Natur des internationalen Handels selbst: Zunehmend wurden Zwischenerzeugnisse innerhalb von Konzernen über Länder und Kontinente hin bewegt und ein wachsender Anteil des Handels vollzog sich firmenintern.

Entscheidend für den Prozess der Globalisierung war, dass er – vor allem im Westen – die längste Zeit als normativ erstrebenswert angesehen wurde. Globalisierung würde, so das herrschende Narrativ, zu wachsendem Wohlstand für alle, sinkender Ungleichheit und weniger zwischenstaatlichen Konflikten führen. Globalisierung, Demokratisierung und Freihandel wurden als zivilisatorische Errungenschaften wahrgenommen. Abschottung und Autarkie sollten gezähmt und damit die Ursachen früherer Kriege aus der Welt geschafft werden. Die Hegemonie des Ökonomischen über das Politische sollte fortan die internationalen Beziehungen bestimmen.