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Die Autoren

Prof. Dr. med. Kirsten R. Müller-Vahl ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, sie ist als Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Seelische Gesundheit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) tätig.

Dr. rer. nat Valerie Brandt ist Lecturer im Department of Psychology, Centre for Innovation in Mental Health, University of Southampton, UK.

Ewgeni Jakubovski ist Diplom-Psychologe und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe »Tourette-Syndrom« am Zentrum für Seelische Gesundheit der MHH.

Prof. Dr. med. Alexander Münchau ist Facharzt für Neurologie. Er hat seit 2013 eine W3-Stiftungsprofessur »Bewegungsstörungen und Neuropsychiatrie bei Kindern und Erwachsenen« am Institut für Neurogenetik der Universität zu Lübeck inne.

Kirsten Müller-Vahl, Valerie Brandt, Ewgeni Jakubovski, Alexander Münchau

Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen

Mit einem Manual zum Habit Reversal Training

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032653-8

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-032654-5

epub:  ISBN 978-3-17-032655-2

mobi:  ISBN 978-3-17-032656-9

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Teil I: Theorie und Grundlagen
  3. A Klinische Phänomenologie und Komorbiditäten
  4. A. Münchau, V.C. Brandt
  5. A.1 Einleitung
  6. A.2 Definition und Charakteristika von Tics
  7. A.3 Differentialdiagnosen
  8. A.4 Klassifikation der Tic-Störungen
  9. A.5 Epidemiologie und Verlauf
  10. A.6 Mit dem Tourette-Syndrom assoziierte Phänomene
  11. A.7 Klinische Evaluation und Zusatzuntersuchungen bei Patienten mit Tics
  12. A.8 Literatur
  13. B Neurobiologie
  14. V.C. Brandt, A. Münchau
  15. B.1 Neurobiologie des Tourette-Syndroms
  16. B.2 Vorgefühle
  17. B.3 Genetik
  18. B.4 Literatur
  19. C Rationale Verhaltenstherapeutischer Ansätze
  20. V.C. Brandt, A. Münchau
  21. C.1 Therapie-Rationale
  22. C.2 Grundsätzliche Konzepte zum Phänomen »Tic«
  23. C.3 Literatur
  24. D Medikamentöse und chirurgische Behandlung
  25. A. Münchau, V.C. Brandt
  26. D.1 Einführung
  27. D.2 Medikamentöse Behandlung
  28. D.3 Operative Therapie: Tiefe Hirnstimulation
  29. D.4 Praktische Therapieempfehlungen
  30. D.5 Literatur
  31. E Verhaltenstherapie zur Behandlung von Tics
  32. K.R. Müller-Vahl, E. Jakubovski
  33. E.1 Einführung
  34. E.2 Allgemeine Bemerkungen vor Behandlungsbeginn
  35. E.3 Leitlinien-Empfehlungen
  36. E.4 Habit Reversal Training (HRT) und Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT)
  37. E.5 Habit Reversal Training (HRT)
  38. E.6 Exposure and Response Prevention (ERP)
  39. E.7 Studien zur Wirksamkeit von HRT/CBIT und ERP
  40. E.8 Langzeitwirkung nach Ende der Therapie
  41. E.9 Literatur
  42. F Alternative Psychotherapien und Ausblick
  43. V.C. Brandt, A. Münchau, K.R. Müller-Vahl
  44. F.1 Psychoedukation
  45. F.2 Expositionstherapie
  46. F.3 Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT)
  47. F.4 Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion
  48. F.5 Entspannungsübungen
  49. F.6 Tiefenpsychologisch orientierte und supportive Psychotherapie
  50. F.7 Hypnose
  51. F.8 Sport
  52. F.9 Bio-/Neurofeedback
  53. F.10 Selbstüberwachung
  54. F.11 Negatives Üben / Massierte negative Übungen
  55. F.12 Ausblick
  56. F.13 Literatur
  57. Teil II: Praxisteil: Habit Reversal Training (HRT) mit Therapiesitzungen
  58. HRT: Manual zur Behandlung von Tics
  59. E. Jakubovski, K.R. Müller-Vahl
  60. Anmerkungen zum Gebrauch des Manuals
  61. Vorbereitung der Patienten auf die Therapie
  62. Sitzung 1
  63. 1.1 Psychoedukation zum Tourette-Syndrom
  64. 1.2 Psychoedukation zur Behandlung
  65. 1.3 Erstellung der Tic-Hierarchie
  66. 1.4 Wahrnehmung von Einflussfaktoren
  67. 1.5 Einführung des Belohnungssystems
  68. 1.6 Hausaufgaben
  69. Sitzung 2
  70. 2.1 Besprechung der Hausaufgaben
  71. 2.2 Motivationsaufbau
  72. 2.3 Behandlung von Tic 1
  73. 2.4 Hausaufgaben
  74. Sitzung 3
  75. 3.1 Besprechung der Hausaufgaben
  76. 3.2 Motivationsaufbau
  77. 3.3 Ressourcenarbeit
  78. 3.4 Wiederholung der Übungen für Tic 1
  79. 3.5 Behandlung von Tic 2
  80. 3.6 Hausaufgaben
  81. Sitzung 4
  82. 4.1 Besprechung der Hausaufgaben
  83. 4.2 Motivationsaufbau
  84. 4.3 Wiederholung der Übungen für Tic 1 und 2
  85. 4.4 Behandlung von Tic 3
  86. 4.5 Einführung in Entspannungsverfahren
  87. 4.6 Hausaufgaben
  88. Sitzung 5
  89. 5.1 Besprechung der Hausaufgaben
  90. 5.2 Motivationsaufbau
  91. 5.3 Wiederholung der Übungen für Tic 1, 2 und 3
  92. 5.4 Behandlung von Tic 4
  93. 5.5 Fortsetzung des Entspannungstrainings
  94. 5.6 Hausaufgaben
  95. Sitzung 6
  96. 6.1 Besprechung der Hausaufgaben
  97. 6.2 Motivationsaufbau
  98. 6.3 Wiederholung der Übung für Tic 1, 2, 3 und 4
  99. 6.4 Wiederholung der Entspannungsübungen
  100. 6.5 Behandlung von Tic 5
  101. 6.6 Hausaufgaben
  102. Sitzung 7
  103. 7.1 Besprechung der Hausaufgaben
  104. 7.2 Motivationsaufbau
  105. 7.3 Wiederholung der Übung für Tic 1, 2, 3, 4 und 5
  106. 7.4 Wiederholung der Entspannungsübungen
  107. 7.5 Behandlung von Tic 6
  108. 7.6 Strategien zur Verringerung eines Rückfalls – Teil 1
  109. 7.7 Hausaufgaben
  110. Sitzung 8
  111. 8.1 Besprechung der Hausaufgaben
  112. 8.2 Motivationsaufbau
  113. 8.3 Wiederholung der Übung für Tic 1, 2, 3, 4, 5 und 6
  114. 8.4 Wiederholung der Entspannungsübungen
  115. 8.5 Behandlung von Tic 7
  116. 8.6 Strategien zur Verringerung eines Rückfalls – Teil 2
  117. 8.7 Ende der Therapie
  118. 9 Auffrischungssitzungen (optional)
  119. 9.1 Monatsrückblick und Aktualisierung der Tic-Hierarchie:
  120. 9.2 Motivationsaufbau
  121. 9.3 Wiederholung der Übung für alle Tics
  122. 9.4 Behandlung neuer Tics
  123. 9.5 Wiederholung von Strategien zur Verringerung eines Rückfalls
  124. Teil III: Arbeitsmaterial zum Manual
  125. Übungsblatt »Beobachtung der Einflussfaktoren (EF)«
  126. Übungsblatt »Ressourcentagebuch«
  127. Übungsblatt »Störungsprotokoll«
  128. Übungsblatt »Tic-Liste«
  129. Übungsblatt »Tic-Hierarchie«
  130. Übungsblatt »Tic-Beobachtungsprotokoll«
  131. Übungsblatt »Veränderung der Einflussfaktoren«
  132. Übungsblatt »Tics, Vorgefühl und Gegenbewegung«
  133. Infoblatt »Zusätzliche Strategien«
  134. Beispielblatt »Gegenbewegungen für Tics«
  135. Beispielblatt »Veränderungen der Einflussfaktoren«
  136. Register

Vorwort

 

 

 

Nachdem in den 1960iger Jahren der Nachweis einer Wirksamkeit von Neuroleptika zur Behandlung von Tics gelang und diese Therapie mehrere Jahrzehnte neben einer Aufklärung und Begleitung der Patienten den Grundbaustein der Behandlung des Gilles de la Tourette-Syndroms darstellte, konnte in den letzten Jahren die Effektivität auch von psychotherapeutischen Ansätzen in klinischen Studien untermauert werden. In dieser Hinsicht setzten 2010 bzw. 2012 veröffentlichte große Placebo-kontrollierte, multizentrische Studien zur Behandlung von Kindern bzw. Erwachsenen mit Tics mit dem sog. Habit Reversal Training (HRT), die eine Effektstärke ähnlich der der Neuroleptika nahelegten, wichtige neue Akzente. Diese und weitere Psychotherapie-Studien haben zu einer Trendwende in der Therapie von Patienten mit Tourette-Syndrom geführt, die sich auch in den 2011 veröffentlichten Europäischen Leitlinien zur Behandlung von Tics widerspiegelt, in denen eine Verhaltenstherapie von Tics als Behandlung der ersten Wahl empfohlen wird. Es gilt als erwiesen, dass neben einem HRT bzw. dessen erweiterter Form, der Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT), auch das sog. Exposure and Response Prevention Training (ERP) effektiv zur Behandlung der Tics ist.

Das Konzept des HRT (bzw. CBIT) basiert auf der Annahme, dass problematische Verhaltensweisen besonders dann nicht einfach unterlassen werden können, wenn sie Teil von Verhaltensketten sind, durch ständige Wiederholungen aufrechterhalten werden, teilweise unbewusst ablaufen und sozial toleriert werden. Das HRT besteht im Wesentlichen aus den Komponenten Wahrnehmungstraining, v. a. in Hinblick auf auslösende bzw. aufrechterhaltende Faktoren und das den Tics vorangehende Vorgefühl, dem Erkennen und Verändern von Einflussfaktoren, dem Competing Response Training, d. h. dem Erlernen einer mit der gleichzeitigen Ausführung von Tics inkompatiblen Gegenbewegung, einem Entspannungstraining und der Automatisierung sowie Generalisierung von Alternativbewegungen.

Das ERP hat zum Ziel, den von Patienten mit Tics oft beschriebenen Automatismus, dass einem Vorgefühl immer auch ein Tic folgen müsse, zu unterbrechen. In der Therapie wird geübt, das Vorgefühl für längere Zeit auszuhalten und die Ausführung des bzw. der nachfolgenden Tic(s) zu unterbinden.

Neben den genannten Verfahren kommen im Rahmen psychologischer Interventionen auch Entspannungsverfahren zur Anwendung, zumeist mittels progressiver Muskelrelaxation.

Neuere Untersuchungen zu Aufmerksamkeitsprozessen bei Patienten mit Tourette-Syndrom deuten darauf hin, dass sich eine zielgerichtete Fokussierung auf andere Wahrnehmungsprozesse oder Aktionen als Tics günstig auf die Tic-Frequenz auswirken könnte. Hierauf aufbauend böten sich aufmerksamkeitsbasierte Verfahren, z. B. die metakognitive Therapie, zur Behandlung von Tics an, die allerdings bislang nicht systematisch untersucht worden sind.

Ausgehend von Beschreibungen zur klinischen Phänomenologie und Komorbiditäten des Tourette-Syndroms sowie der Darlegung neurobiologischer Erkenntnisse widmet sich das Buch ausführlich den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zur Behandlung von Tics mit einem Hauptfokus auf das HRT, dessen Grundlagen erläutert und für das ein praxisrelevantes Manual für Erwachsene mit Tourette-Syndrom zur Verfügung gestellt werden.

Die Autoren

 

 

 

 

 

Teil I:   Theorie und Grundlagen

A         Klinische Phänomenologie und Komorbiditäten

A. Münchau, V.C. Brandt

A.1       Einleitung

Tics sind die häufigsten Extrabewegungen im Kindesalter (Bäumer et al. 2016). Dabei kommt vorübergehenden Tics bei Kindern im Laufe der motorischen Entwicklung per se kein Krankheitswert zu. Einfache, vorübergehende Tics wie Augenblinzeln, Naserümpfen oder Augenbrauen hochziehen treten bei sehr vielen, ansonsten gesunden Kindern auf, ohne dass dieses den Betroffenen bewusst ist oder zu Einschränkungen führt. Es mehren sich Hinweise darauf, dass Tics nicht notwendigerweise etwas »Abnormes« darstellen, eine Störung sind oder ein Defizit bedeuten, sondern Ausdruck eines für Lernvorgänge im sich entwickelnden motorischen System nützlichen Überschusses sein könnten (Brandt et al. 2016a; Tunc und Münchau 2017; Beste und Münchau 2017).

Allerdings können chronische Tics auch zu vielfältigen Beeinträchtigungen führen und Symptom gravierender Erkrankungen sein. Am häufigsten treten Tics als Leitsymptom eines Gilles de la Tourette Syndroms auf.

A.2       Definition und Charakteristika von Tics

Tics sind plötzlich auftretende, rasche, sich wiederholende, zumeist nicht rhythmische Bewegungen (motorische Tics) oder Laute (vokale Tics), die im Bewegungsablauf physiologischen Willkürbewegungen ähneln, allerdings im falschen Kontext, vermehrt, übertrieben oder überakzentuiert auftreten (Robertson 2000; Paszek et al. 2010) (Beispiele 1 und 2, image Kap. Sitzung 1). Motorische Tics resultieren aus Bewegungen der Skelettmuskulatur. Führen sie zu kurzen, umschriebenen Bewegungen an nur einem Körperteil, werden sie als einfache motorische Tics bezeichnet. Motorische Tics treten vor allem im Gesicht, am Kopf, an der Schulter und an den Armen auf, können jedoch auch den Rumpf und die Beine betreffen (Leckman 2002; Ganos et al. 2015). Bei komplexen motorischen Tics, die scheinbar einen Zweck erfüllen, sind verschiedene Muskelgruppen beteiligt. Eine Sonderform eines komplexen motorischen Tics ist die Kopropraxie (Zeigen obszöner Gesten).

Vokale Tics treten am häufigsten als einfache vokale Tics wie Räuspern, Schniefen, Husten und Nase hochziehen auf. Nur selten kommt es zu lauten Ausrufen oder Schreien. Gerade bei Kindern werden gering ausgeprägte einfache vokale Tics oft fehlgedeutet, z. B. als Ausdruck einer Erkältung oder Allergie. Deutlich seltener – meist bei schwerem Tourette-Syndrom mit mehreren Komorbiditäten (s. u.) – treten komplexe vokale Tics und eine Koprolalie (Ausrufen obszöner Wörter) hinzu.

Tics können isoliert, aber auch in Serien auftreten. Sie sind im Schlaf meist deutlich geringer ausgeprägt, können aber in allen Schlafstadien vorkommen (Hanna et al. 2003). Manchmal lassen sich Tics durch externe Stimuli auslösen, z. B. Berührung der Haut oder bestimmte Geräusche. Im Laufe der Zeit ändert sich häufig das Tic-Repertoire eines Betroffenen. Bestehende Tics klingen ab, neue treten auf. Manche Tics verbleiben dauerhaft im Repertoire eines Patienten. Interessanterweise fluktuieren Tic-Repertoire und -Frequenz bei Kindern deutlich stärker als bei Erwachsenen.

A.2.1     Vorgefühl vor Tics

Typischerweise geht Tics ein Vorgefühl voraus, das nach dem Auftreten eines Tics in der Regel zumindest vorübergehend wieder abklingt (Bliss 1980; Brandt et al. 2016b). Über 90% der erwachsenen Patienten mit Tourette-Syndrom berichten, dass ihre Tics mit einem unangenehmen Vorgefühl einhergehen (Leckman et al. 1993; Woods et al. 2005). Die Qualität dieser Vorgefühle wird sehr unterschiedlich beschrieben. Die Beschreibungen reichen von einem Druckgefühl über Kitzeln, Kälte- oder Wärmeempfindungen (Banaschewski er al. 2003), bis zu einem generellen inneren Druck- oder Anspannungsgefühl (Miguel et al. 1995). Viele Patienten berichten einen Drang, sich in bestimmter Weise bewegen zu müssen, d. h. einen Tic auszuführen. Die Dringlichkeit des Vorgefühls wird manchmal mit einem Juckreiz oder dem Reiz zu Niesen verglichen (Lang 1991; Leckman und Riddle 2000). Vorgefühle können überall im Körper auftreten, meist werden sie allerdings an der Körperstelle verspürt, an der auch Tics auftreten (Miguel et al. 1995). Sie gehen Tics einige Sekunden voraus und klingen nach der Ausführung eines Tics oder mehrerer Tics (Tic-Gruppen) wieder ab (Brandt et al. 2016b). Daher werden viele Tics auch als eine willentliche Reaktion auf das Vorgefühl wahrgenommen, nicht als rein unwillkürliche bzw. automatische Bewegungen (Crossley et al. 2014, Kwak et al. 2003; Leckman et al. 1993). Wenn Tics unterdrückt werden, bleibt das Vorgefühl tendenziell länger auf einem hohen Niveau, als wenn Tics nicht unterdrückt werden, bis es von einem Tic erleichtert wird (Brandt et al. 2016b). Dieser Zusammenhang legt nahe, beweist jedoch nicht, dass Tics durch das Vorgefühl »getrieben« werden, was auch dem klinisch berichteten Empfinden vieler Patienten entspricht.

Besonders von erwachsenen Patienten mit Tourette-Syndrom wird der den Tics vorhergehende Drang als eines der Kardinalsymptome und oft sehr belastend erlebt (Crossley und Cavanna 2013). Nicht selten wird dieses Vorgefühl als störender und unangenehmer empfunden als die Tics selbst. Kleinere Kinder hingegen verneinen oft ein derartiges Vorgefühl, wenn man sie danach fragt. Mit zunehmendem Alter werden Vorgefühle häufiger von Patienten mit Tourette-Syndrom berichtet (Banaschewski et al. 2003; Sambrani et al. 2016).

A.2.2     Unterdrückbarkeit von Tics

In der Regel lassen sich Tics für eine gewisse Zeit unterdrücken bzw. aufschieben. Betroffene sind oft bemüht, Tics vor anderen, z. B. Klassenkameraden, Kollegen oder Fremden, zu verbergen, so dass z. B. der Arzt während der Untersuchung oft keine oder nur wenige Tics beobachten kann. Die Tic-Unterdrückung gelingt am effektivsten in Körperregionen, die am wenigsten von Tics betroffen sind (Ganos et al. 2015), ist folglich selektiv und nicht global. Die Frage, ob die Fähigkeit, Tics zu unterdrücken, von Vorgefühlen determiniert wird, wurde lange empirisch und intuitiv bejaht. Studien, die sich dieser Frage explizit widmeten, konnten diesen Zusammenhang allerdings nicht belegen und vielmehr eine von den Vorgefühlen unabhängige Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung aufzeigen (Banaschewski et al. 2003; Ganos et al. 2012a; Müller-Vahl et al. 2014). Auch diese Befunde stützen die Annahme, dass dem Vorgefühl und Tics zumindest teilweise unterschiedliche neuronale Generatoren zugrunde liegen.

A.2.3     Fluktuationen von Tics

Tics fluktuieren. Phasen mit häufigen Tics wechseln sich ab mit Phasen, in denen wenige oder keine Tics auftreten (Petersen und Leckman 1998). Solche Fluktuationen kommen in kürzerem Zeitrahmen (Minuten oder Stunden), aber auch über längere Zeiträume (Wochen oder Monate) vor (image Abb. A.1). Bei den meisten Betroffenen nehmen Tics situativ bei Anspannung, Stress, Unruhe und Langeweile zu und flauen bei Konzentration und Entspannung ab (Depboylu et al. 2012).

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Abb. A.1: Schematische Darstellung von Tic-Fluktuationen

A.2.4     Einflussfaktor Aufmerksamkeit

Ein weiterer bedeutsamer Einflussfaktor auf die Tics ist die Aufmerksamkeit. Dies ist im Gespräch oft eindrucksvoll zu beobachten, z. B. beim Wechsel von Tic-bezogenen zu anderen, für Patienten bedeutsame Themen. Auch experimentell ist dies gut belegt: Beispielsweise wurde die Tic-Häufigkeit in einer naturalistischen Studie bestimmt, während Patienten alleine in einem Raum saßen, ohne sich selbst zu betrachten, während sie in einen Spiegel blickten, somit ihre eigenen Tics fortlaufend beobachteten und während sie sich Videosequenzen von sich selbst ohne Tics ansahen (Brandt et al. 2015). Die Tics waren hierbei am stärksten ausgeprägt, während sich Patienten im Spiegel betrachteten. Gerichtete Aufmerksamkeit auf Tics, nicht jedoch grundsätzlich auf das eigene Bild bzw. eigene (nicht-Tic) Bewegungen, führt somit zu einer Tic-Verstärkung. Auch eine andere Verhaltensstudie, in der gerichtete Aufmerksamkeit auf Tics, auf eigene Fingerbewegungen oder eine gezeigte Farbe miteinander verglichen wurde, belegte eine Zunahme der Tic-Frequenz durch fokussierte Aufmerksamkeit auf Tics (Misirlisoy et al. 2015). Diese Experimente deuten – untermauert durch klinische Beobachtungen – darauf hin, dass verhaltenstherapeutische Ansätze, bei denen gezielt die Aufmerksamkeit von Tics auf andere Prozesse verlagert wird, in der Behandlung von Tics hilfreich sein könnten.

A.3       Differentialdiagnosen

Bei typischer Verteilung, Fluktuationen, Vorkommen eines Vorgefühls und Kontextabhängigkeit bereitet die Abgrenzung von anderen Bewegungsstörungen in der Regel keine Probleme.

A.3.1     Stereotypien

Tics können Stereotypien ähneln, allerdings sind sie weniger komplex und werden typischerweise auch nicht so häufig hintereinander wiederholt, wie dies bei Stereotypien der Fall ist. Auch geht Stereotypien meist kein Vorgefühl voraus. Stereotypien lassen sich durch Zuwendung oder Ablenkung oft stoppen und sind kontextgebunden, treten z. B. häufiger auf, wenn Betroffene (meist Kinder) alleine als in Gesellschaft anderer sind.

A.3.2     Myoklonien

Kurze Tics können Myoklonien ähneln. Letzteren geht jedoch ebenfalls kein Vorgefühl voraus. In zweifelhaften Fällen kann eine Unterscheidung zwischen Myoklonus und Tic durch eine Polymyographie mittels Oberflächenelektroden über den betroffenen Muskeln erfolgen. Muskelzuckungen bei Myoklonus sind üblicherweise sehr kurz (meist kürzer als 200 ms, häufig zwischen 50 ms und 100 ms), während das elektromyographische Muster der Tics dem einer Willkürinnervation mit Muskelaktivität von > 150 ms gleicht.

A.3.3     Chorea

Gelegentlich kann es problematisch sein, zwischen raschen Tics und einer Chorea zu unterscheiden, insbesondere im Arm- und Beinvorhalteversuch. Choreatische Bewegungen sind jedoch unvorhersehbar, fließend, »chaotisch«, ohne klares Muster, während Tics sich wiederholen.

A.3.4     Dystonie

Schließlich können länger anhaltende tonische Tics einer Dystonie ähneln. Auch hier kann die Elektromyographie mittels Oberflächenelektroden bei der Differenzierung helfen. Eine Kokontraktion von Agonisten und Antagonisten ist ein Hinweis auf eine Dystonie und findet sich nicht bei Tics.

A.3.5     Zwangshandlungen

Der den Tics vorangehende Drang ist manchmal schwer von dem Drang, der einem Zwangsverhalten vorausgeht, zu unterscheiden. Zwischen komplexen Tics und Zwangshandlungen können fließende Übergänge bestehen.

A.3.6     Epileptische Anfälle

Sehr selten können kurze fokal-motorische epileptische Anfälle Tics ähneln. Sie sind jedoch durch die Semiologie mit repetitiven, stereotypen Abläufen meist von Tics abzugrenzen. In Zweifelsfällen hilft das iktuale EEG.

A.3.7     Dissoziative Bewegungsstörungen

Tic-ähnliche dissoziative (funktionelle) Bewegungsstörungen sind mitunter sehr schwer von Tics zu unterscheiden, insbesondere bei Patienten mit Tourette-Syndrom, bei denen in der Vergangenheit ähnliche Bewegungen im Tic-Repertoire vorkamen. Hier hilft in aller Regel die sorgfältige Anamneseerhebung bei der Differenzierung mit besonderem Augenmerk auf Beginn, Art, Häufigkeit, Einflussfaktoren, Vorgefühl und Unterdrückbarkeit der Bewegungen.

A.4       Klassifikation der Tic-Störungen

A.4.1     Primäre Tic-Störungen

Gilles de la Tourette-Syndrom

Am häufigsten treten Tics beim Gilles de la Tourette-Syndrom (Tourette-Syndrom, kombinierte vokale und motorische Tic-Störung) auf, das durch das Vorkommen mehrerer motorischer und vokaler Tics mit Beginn vor dem 18. Lebensjahr und einer Dauer von mindestens einem Jahr charakterisiert ist (DSM-5 2013).

Chronische motorische und vokale Tic-Störung

Die chronische motorische bzw. chronische vokale Tic-Störung unterscheidet sich vom Tourette-Syndrom lediglich durch das Auftreten nur einer Tic-Art (motorische oder vokale Tics). Die Ausprägung der Tics ist bei der chronischen motorischen Tic-Störung meist schwächer als beim Tourette-Syndrom. Auch Häufigkeit und Schwere der psychiatrischen Komorbiditäten (s. u.) sind üblicherweise geringer.

Vorläufige Tic-Störung

Die vorläufige Tic-Störung (auch als vorübergehende Tic-Störung bezeichnet) geht mit (meist nur gering ausgeprägten einfachen) motorischen und/oder vokalen Tics einher, die kürzer als ein Jahr andauern. Sie kommt, wie einleitend skizziert, bei Kindern sehr häufig vor. Die Unterscheidung zwischen »vorläufig« und »chronisch« ist naturgemäß erst durch die Verlaufsbeobachtung möglich.

A.4.2     Sekundäre Tic-Störungen

Tics können bei einer Reihe weiterer Erkrankungen als ein (Neben-)Symptom unter weiteren Symptomen und klinischen Zeichen auftreten, z. B. bei der Neuroakanthozytose, beim fragilen X-Syndrom oder bei der Chorea Sydenham (Kumar und Lang, 1997; Münchau, 2012). Häufig finden sich Tics bei anderen neuro-psychiatrischen Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Zwangsstörung oder Autismusspektrumsstörungen (Robertson 2000). Ob Tics Folge struktureller Hirnläsionen sein können, ist umstritten. Anders als bei anderen Bewegungsstörungen gibt es nur sehr wenige und nicht überzeugende Berichte über Tics im Zusammenhang mit umschriebenen Hirnveränderungen. Daher lassen sich keine eindeutigen Aussagen zu neuro-anatomischen Strukturen treffen, deren Schädigung zum Auftreten von Tics führen könnte (Kuman und Lang 1997).

Tics treten selten als Nebenwirkung einer medikamentösen Behandlung auf oder verschlimmern sich hierdurch, z. B. durch Amphetamin und dopaminerg wirksame Substanzen. Auch Suchtmittel wie Kokain können Tics provozieren. Darüber hinaus können Tic-ähnliche tardive Bewegungen (sogenannte tardive Tics) durch eine chronische Neuroleptika-Einnahme hervorgerufen werden (Madruga-Garrido und Mir 2013).

A.4.3     PANDAS

In Analogie zur Sydenham Chorea (einer Chorea im Gefolge einer Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A) wurde die Hypothese aufgestellt, dass auch Tics und Zwänge Folge einer vorangegangenen Streptokokken-Infektion sein könnten und für dieses Konzept das Akronym PANDAS (Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorder After Streptococcal Infection) vorgeschlagen (Swedo et al. 1998; Kurlan 2004). Als Mechanismus wird eine Kreuzreaktion von ursprünglich gegen Streptokokken gerichteten Antikörpern gegen Basalganglienantigene postuliert. Als klinisches Unterscheidungsmerkmal wird bei PANDAS ein abrupter Beginn und gleichförmiger Verlauf über Monate ohne die für das Tourette-Syndrom typischen Fluktuationen hervorgehoben (Cardoso 2004). Der Beweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer vorangegangenen Streptokokken-Infektion und nachfolgenden Tics steht jedoch bislang aus. Ob PANDAS eine abgrenzbare klinische Entität darstellt ist umstritten (Kurlan, 2004).

A.5       Epidemiologie und Verlauf

Für das Tourette-Syndrom wird weltweit eine Prävalenzrate von etwa 1% angenommen. Aus ungeklärter Ursache sind Jungen drei- bis viermal häufiger als Mädchen betroffen (Robertson 2000). Allerdings gibt es Berichte, dass bei erwachsenen Männern das Tourette-Syndrom nur etwa doppelt so häufig wie bei erwachsenen Frauen vorkommt (Yang et al. 2016). Chronische Tic-Störungen, die nur mit motorischen Tics einhergehen, sowie vorläufige Tic-Störungen sind häufiger als das Tourette-Syndrom (Black et al. 2016). Allerdings schwanken Angaben zur Tic-Prävalenz in jüngeren epidemiologische Studien ganz erheblich zwischen etwa 1% und 25% (Scharf et al. 2012; Robertson 2008).

Tics beginnen ganz überwiegend im Grundschulalter zwischen dem 6. und 8. Lebensjahr. Treten sie erstmals im Erwachsenenalter auf, sind andere Erkrankungen zu erwägen (s. o.). In der Mehrzahl ist der Beginn schleichend. Motorische Tics treten im Mittel zwei bis drei Jahre früher auf als vokale Tics. Zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr sind Tics am stärksten ausgeprägt (image Abb. A.2). Etwa 60-85% der Patienten, bei denen in der Kindheit eine Tic-Störung festgestellt wurde, haben als Erwachsene lediglich geringe, nicht beeinträchtigende Tics (Hassan et al. 2012; Pappert et al. 2003). Bei etwa 20% verschlimmern sich die Symptome im Erwachsenenalter und können dann zu einer nicht unerheblichen psychosozialen Belastung führen (Pappert et al. 2003; Müller-Vahl et al. 2010). Die Verlaufs-Determinanten sind derzeit unklar. Tics haben keinen Einfluss auf die Lebenserwartung (Müller-Vahl 2014).

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Abb. A.2: Charakteristischer Verlauf (schematisiert) einer Tic-Störung in der Kindheit und Jugend

A.6       Mit dem Tourette-Syndrom assoziierte Phänomene

Neben einfachen und komplexen Tics sind eine Reihe weiterer klinischer Phänomene charakteristisch für das Tourette-Syndrom. Hierzu zählen neben den Echo-, Kopro- und Paliphänomenen auch eine Vielzahl psychiatrischer Sympome.

A.6.1     Echo-, Kopro- und Paliphänomene

Typisch sind Echophänomene, d. h. Echopraxie (Neigung und zum Teil bemerkenswerte Fähigkeit zur automatischen Nachahmung beobachteter Bewegungen oder Verhaltensweisen) und Echolalie (Neigung, wahrgenommene Äußerungen oder Laute zu imitieren) (Finis et al. 2012; Ganos et al. 2012b).

Ein weiteres Merkmal sind die Koprolalie (Aussprechen obszöner Wörter) und die Kopropraxie (Zeigen obszöner Gesten und Bewegungen). Beide Symptome treten meist nur bei schwerem Tourette-Syndrom auf und sind deutlich seltener (Koprolalie: 18-25%, Kopropraxie: 5-10%) als gemeinhin angenommen wird. Auch kommen so genannte NOSIs (Non Obscene Socially Inappropriate Behaviours; nicht obszöne, sozial unangemessene Verhaltensweisen) (Kurlan et al. 1996) vor. Hierbei treten sozial unangemessene, aber oft treffende Kommentare oder Handlungen auf, die sich auf das Gegenüber oder die Situation beziehen.

Weitere Phänomene sind die Palipraxie (Wiederholung von eigenen Handlungen oder Bewegungen) und die Palilalie (Wiederholung von eigenen Wörtern oder Äußerungen).

A.6.2     Komorbiditäten

ADHS