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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2010

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ISBN Printausgabe 978-3-499-25431-4 (3. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-20511-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-20511-6

«Du musst dein Leben verändern –

sonst verändert es dich.»

«Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können.»
Zsa Zsa Gábor

Der Tag tut so, als sei nichts. Fängt ganz normal an, geht ganz normal weiter. So wie das Tage tun, normalerweise. In meinem Leben zumindest. Es ist zehn nach acht und ein Dienstag. Ein Dienstag im Februar. Also der unattraktivste Tag der Woche im unattraktivsten Monat des Jahres. Ich wette, es gibt eine Statistik, die beweist, dass überproportional wenig interessante oder gar die Welt verändernde Ereignisse an Dienstagen stattfinden.

Jetzt mal abgesehen von den Jahren, als dienstags um Viertel vor zehn «Dallas» lief. Das war die Glanzzeit dieses öden Tages, immerhin dreizehn Jahre lang, ganzheitlich betrachtet jedoch nur ein sekundenschnell verglimmender Funke im Feuerwerk der Weltgeschichte. Nur ein winziger Hauch Würde, eine kleine Prise Glamour für den Dienstag, ehe er wieder zu dem wurde, was er immer war und immer sein wird: die Grauzone der Woche.

Insofern war es klar, dass ich völlig arglos und nicht ansatzweise vorbereitet war auf das, was passieren würde.

Nun ist es aber nicht so, als würde ich ständig damit rechnen, dass sich mein Leben verändert. An einem Dienstag im Februar schon mal sowieso nicht.

Ich sitze vorm Fernseher, erwarte nichts und esse ein Schinkengraubrot mit Halbfettmargarine und frisch geschnittenen Gurken- und Tomatenscheiben, gewürzt mit salzlosem Hefegranulat. Dazu trinke ich grünen Tee. Nicht wegen des Geschmacks. Wegen der Gesundheit.

Ich bin nämlich seit neuestem in einem Alter, wo man sich auf Partys erregter über Schwermetallvorkommen in importiertem Seefisch unterhält als über die gestrige Gewinnfrage bei «Germany’s Next Topmodel»:

Was fällt die Jury nach der Sendung?

a) einen Baum

b) eine Entscheidung

Die Adressen empfehlenswerter Orthopäden werden höher gehandelt als die von angesagten Szene-Treffs, und in meinem Freundeskreis gibt es bald kaum noch einen ohne Knieprobleme, «was am Rücken» oder irgendeinen verschlissenen Knorpel irgendwo im alternden Körper.

Und wenn du nicht Pilates, Yogalates, Qigong, Tai-Chi oder sonst was machst, was wie eine fernöstliche Bezeichnung für «Hähnchen süßsauer» klingt, bist du ein Exot unter deinesgleichen.

Ich bin vierzig.

Und das kommt mir echt noch nicht leicht über die Lippen. Es klingt holperig, so gar nicht nach mir. So, als hätte ich plötzlich einen neuen Vornamen bekommen, an den ich mich erst mühsam gewöhnen müsste.

Vera Hagedorn, vierzig, freiberufliche Texterin, wohnhaft in Stade, Niedersachsen und seit acht Jahren verheiratet.

Meine Güte, das bin ich! Eine erwachsene Frau!

Da kannst du dir nicht mehr vormachen, dass noch alles vor dir liegt, dass du zum «Nachwuchs» gehörst, zur «werberelevanten Zielgruppe», zu den «jüngeren Leuten», die joggen gehen, ohne sich vorher fünfzehn Minuten lang aufzuwärmen. Die auf Stretching und cholesterinbewusste Ernährung scheißen und auf Partys stundenlang im Schneidersitz auf dem Boden hocken und sich dann sogar ohne Hilfe wieder erheben können, ohne ihre schmerzenden Sitzbeinhöcker und steifen Knie noch Tage später zu spüren.

Halbzeit. Holy shit! Wenn du jetzt noch kein Tor geschossen hast, kann es sein, dass du als Verlierer vom Platz gehst. Auch ein Unentschieden wäre nicht schön. Und wenn du dir das, was du dir zum Vierzigsten wünschst, nicht selber kaufen kannst, ist auch was falschgelaufen.

Vera Hagedorn ist erwachsen, seit genau zehn Tagen. Und ich habe mich immer noch nicht von dem Schock erholt.

Während der Party zu meinem zwanzigsten Geburtstag musste ein Gast mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden, drei Paare trennten sich vor Mitternacht, wobei zwei davon noch am selben Abend neue Partner fanden.

Bei meinem Dreißigsten kotzte immerhin noch einer ins Klo, und ich fand Spermaflecken unbestimmbarer Herkunft auf meinem Lesesessel.

Bei dem Essen an meinem Vierzigsten ist nicht mal ein Glas zu Bruch gegangen. Und auch die Geschenke waren gesittet, jugendfrei und meinem Alter angemessen: mehrere Gutscheine für Anti-Aging-Behandlungen im führenden Stader Kosmetikinstitut, ein Trüffelhobel aus Zedernholz, ein Käsemesser-Set, zwei Flaschen Jahrgangschampagner und eine Augenmaske von Shiseido.

Von meinem Mann hatte ich ein Weinseminar in Hamburg bekommen, das wir mit zwei befreundeten Paaren besuchten. «Ein befreundetes Paar»: auch so ein Ausdruck für erwachsene Leute.

Es war bezeichnend, dass ich während der Verkostung immer wieder unangenehm auffiel, weil mir stets die Weine am besten schmeckten, bei denen es sich laut unserer strengen Seminarleiterin um «sehr laute und aufdringliche Tropfen» handelte, «die eigentlich nur da sind, sich möglichst schnell abzuschießen».

Die Faszination großer, edler Weine erschloss sich mir nicht. Als die Seminarleiterin einen besonders hochwertigen Merlot mit der Bemerkung ankündigte, dies sei ein sehr komplexer und schwieriger Tropfen, zischelte ich Marcus zu, dass ich genug eigene Probleme hätte und mir nicht noch einen Wein ins Haus holen möchte, der zusätzliche Schwierigkeiten macht.

Wir verließen das Seminar, ohne neue Freunde gefunden zu haben.

Ich habe seit meiner Geburt großes Pech mit meinem Geburtstag. Weil er im Januar ist. Die Leute rücken dann nur ungern Geschenke raus, weil sie heilfroh sind, dass Weihnachten vorbei ist.

Früher halbierten meine Eltern den Wunschzettel, den ich an den Weihnachtsmann geschrieben hatte, und schenkten mir einfach den Rest zum Geburtstag. Das habe ich immer als große Ungerechtigkeit empfunden, besonders im Hinblick auf meinen älteren Bruder, der im Juli geboren ist und draußen feiern konnte, während ich mit meinen Gästen zu oft in der «Spielstadt XXL» landete, wo die halben Hähnchen nach sehr lange gekautem Kaugummi schmeckten und immer mindestens ein Kind zeitweise verloren ging.

Im Laufe der Jahre veränderten sich die Probleme, die ein Geburtstag im Januar mit sich bringt. Heute leiden die meisten der Eingeladenen wahlweise unter ihren guten Neujahrsvorsätzen oder unter den Sünden, die sie während der Feiertage begangen haben.

Eine typische Geburtstagsgesellschaft im Januar setzt sich wie folgt zusammen: Die eine Hälfte der Gäste kommt nicht, weil sie sich auf einer Entgiftungskur oder beim Fastenwandern befindet. Von den restlichen acht Leuten sind mindestens acht unzufrieden mit dem Gewicht, das sich während der Festlichkeiten rund um ihre Problemzonen niedergelassen hat und diese nun noch problematischer gestaltet.

Drei verzichten seit Neujahr auf Kohlehydrate inklusive Alkohol, zwei davon brechen ihre Vorsätze beim Nachtisch und müssen um halb zehn beschämt und betrunken nach Hause getragen werden.

Der Rest entschlackt seinen Körper mit Heilfasten nach Buchinger oder macht eine Darmsanierung nach F.X. Mayr, hat sich stinkenden Tee in Thermoskannen mitgebracht und blockiert stundenlang die Toilette, weil das Abführmittel vom Morgen erst jetzt zu wirken beginnt.

Einmal hatte ich an so einem Abend aus einem «Brigitte»-Artikel zitiert: «Es gibt keine Schlacken im Körper – höchstens im Gehirn! Eine Fastenkur hilft nur gegen Bandwürmer. Die hauen dann ab und sehen zu, dass sie woanders was zu fressen bekommen.»

Aber diese Bemerkung war der Stimmung nicht zuträglich gewesen. Denn der fastende Mensch ist in der Regel ein Mensch mit radikaler Gesinnung, ohne Humor und mit der festen Überzeugung, als einziger auf dem rechten Weg zu sein.

Diese Einstellung ändert sich selbstverständlich mit Beendigung der Kur. Sobald das erste Glas Wein getrunken und die erste Tüte Mini-Bounty «jetzt mit zwanzig Prozent mehr Inhalt» verzehrt ist, wird auch aus dem schärfsten Entschlackungs-Terroristen wieder ein Mensch wie du und ich.

Ich weiß das, denn es ist ja auch nicht so, als würde ich nicht selbst ab und zu die ersten Wochen eines neuen Jahres mit dem radikalen Abbau der Altlasten des vergangenen Jahres beginnen. Eine Phase, der mein Mann skeptisch gegenübersteht, weil sie von meiner Seite aus immer mit sehr schlechter Laune einhergeht und aufrichtig empfundenem Hass dafür, dass er seit dreißig Jahren dieselbe Hosengröße trägt.

Von der sagenumwobenen Fasteneuphorie habe ich bisher noch nichts gespürt. Außerdem hat mein Mann mal versehentlich mit meinem Abführsalz sein Putengeschnetzeltes gewürzt.

Und das ist echt nur im Nachhinein lustig.

«Möchtest du noch Tee?», fragt Marcus an diesem Dienstag im Februar. Wir essen Brote und gucken die «Tagesschau» und denken uns nichts.

Als das Telefon klingelt, schauen wir uns gegenseitig vorwurfsvoll an.

Niemand, der uns kennt, ruft um zehn nach acht an einem Wochentag bei uns an. Denn jeder, der uns kennt, weiß: Da essen wir Brote und gucken die «Tagesschau». Und abgesehen davon tut jeder, den wir kennen, um diese Zeit genau dasselbe.

«Wer kann das denn sein, um diese Zeit?», fragt Marcus, und sein Tonfall erinnert mich an den seiner Mutter.

O Mann, wir sind echt erwachsen geworden. Oder alt?

«Bestimmt dein Vater», sage ich.

«Ich wette, es ist Johanna», sagt er.

«Wenn es Johanna ist, dann ist es wenigstens was Wichtiges», sage ich.

«Klar, in Johannas Leben ist ja immer alles wichtig», sagt er.

«Ich geh ran.»

Ich schiebe langsam meinen Stuhl zurück, lege meine Serviette zusammen, werfe erst Marcus und dann Marc Bator einen strafenden Blick zu und beeile mich dann doch, so schnell wie möglich ans Telefon zu kommen. Der Anrufbeantworter ist schon angesprungen, und Johannas Stimme, die niemals und unter keinen Umständen leise ist, dröhnt bereits durchs Mauerwerk.

«Ich weiß, es ist die allerheiligste ‹Tagesschau›-Zeit, aber tu mir einen Gefallen, Taube, leg dein Schinkengraubrot zur Seite und schieb deinen Hintern zum Telefon. Ich hoffe doch, ihr habt immer noch diesen unsäglichen Anrufbeantworter, bei dem alle mithören können? Guten Abend, Marcus, verzeih bitte die Störung, aber …»

«Schon gut, schon gut, ich bin dran.»

«Taube, ich muss unbedingt mit dir sprechen!»

«Na, da wäre ich jetzt von alleine nie draufgekommen.»

«Setz dich hin, es ist was Ernstes. Und niemand, absolut niemand darf davon erfahren!»

Ich lasse mich auf den Sessel im Arbeitszimmer fallen und schubse die Tür mit dem Fuß zu. Das klingt nach einem neuen, spannenden, vielleicht auch tragischen Geheimnis. Ich kenne Johannas Geheimnisse, und sie kennt meine. Nein, das ist nicht korrekt formuliert: Ich kenne Johannas Geheimnisse, und sie würde meine kennen, wenn ich welche hätte.

Als Johanna und ich Freundinnen wurden, bin ich zu einer ernstzunehmenden Vertrauensperson geworden, das ehrt mich und wertet mein eigenes geheimnisloses Leben deutlich auf. Es gibt jetzt tatsächlich einige Dinge, die ich auf keinen Fall verraten darf und werde. Wichtige, existenzielle Dinge, die man sonst nur aus Büchern kennt, die häufig tragisch ausgehen.

Nein, hier geht es nicht um die sogenannten Geheimnisse von blöden Tussen, die sich wispernd über ihre Weinschorlen hinweg gestehen, dass sie sich die Bikinizone im «Brazilian Style» haben waxen lassen und dass der angeblich so günstig geschossene Stella-McCartney-Blazer in Wahrheit kein Sonderangebot war.

Johannas Geheimnisse sind groß und atemberaubend und bei mir so sicher aufgehoben wie die Büste der Nofretete im … na ja, wo auch immer die steht.

Es ist nicht so, als hätte ich nicht ganz gerne auch ein paar eigene Geheimnisse. Schließlich bin ich vierzig. Da wird es eigentlich höchste Zeit, dass man im Keller ein paar Leichen verscharrt hat. Aber mein Keller ist leer, und mein Herz ist rein. Leider. Es hat keine moralischen oder ethischen oder religiösen Gründe, dass ich nichts verberge und immer alles erzähle. Es gab bloß in meinem Leben bisher nichts, was sich zu verbergen gelohnt hätte. Warum lügen, wenn schon die Wahrheit niemanden interessiert?

Es ist nun andererseits auch nicht so, als würde ich ständig die Wahrheit sagen. Gott bewahre! Ich habe gelesen, dass jeder Mensch im Schnitt zweihundertmal am Tag lügt. Und ich würde sagen, dass ich da im vorderen Drittel locker mit dabei bin. Das liegt aber auch an meinen Lebensumständen. Wenn du in einer Kleinstadt lebst, wo jeder jeden kennt und jeder dich ganz besonders kennt, weil du mit dem Sohn des Inhabers des größten ortsansässigen Bäder- und Küchenstudios verheiratet bist, dann tust du gut daran, so unehrlich wie möglich zu sein.

Nicht auszudenken wäre das Chaos, das ich anrichten, und der Unfrieden, den ich stiften würde, würde ich die Wahrheit sagen bei den Fragen «Wie geht es Ihnen?», «Was macht das Geschäft?» und «Wie gefällt Ihnen die neue Ausstellung Ihrer Schwiegermutter? Finden Sie nicht auch, dass sie eine ganz außergewöhnliche Begabung hat?».

«Danke, es geht mir mäßig, denn ich habe nur noch einmal im Monat Sex mit meinem Mann, was schon schlimm genug ist, aber ich denke währenddessen immer öfter an Henning Baum, und das beunruhigt mich wirklich sehr. Der Laden läuft nicht so gut, wie er laufen könnte, wenn sich der schwerhörige, tyrannische Seniorchef nicht starrsinnig weigern würde, sich endlich aus seinem Büro mit Panoramablick auf die Schnellstraße nach Hamburg und aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen. Und, ja, ich finde auch, dass meine Schwiegermutter eine außergewöhnliche Begabung hat – eine außergewöhnlich schlechte! Ihre Töpferarbeiten, mit denen sie die Stader Gemeindehäuser, Kindergärten und Altenheime verschandelt, sind das Grauenvollste, was ich gesehen habe, seit ich im Alter von drei Jahren versucht habe, mit Knete meinen Bruder zu modellieren.»

Das sage ich nicht.

Ich bin eine Meisterin der Verstellung, des höflichen Nickens und des nichtssagenden Lächelns geworden.

 

Johannas Leben ist ganz anders als meines. Unberechenbar und oftmals dramatisch. Irgendwas passiert ihr immer. Mir passiert eigentlich immer nie was. Ich bin noch nie am Flughafen vom Zoll kontrolliert worden. Ich bin nie in einem Aufzug steckengeblieben und habe noch nicht einmal einen Probealarm miterlebt, geschweige denn einen echten.

Das Dramatischste, was mir in den letzten Jahren widerfahren ist, war, dass sich mein Friseur um zwei Nuancen in der Farbe vertan hat und dass mir meine saublöde Schwägerin Michaela den Umgang mit ihrer Tochter, meinem Patenkind, verboten hat.

Ich würde einen schlechten Einfluss auf das Kind ausüben, meinte sie. Und das hatte ich irgendwie als Kompliment empfunden. Das klang so verrucht und spelunkig, als hätte ich versucht, das Mädchen auf eine Drogenparty mit anschließender Sexorgie zu verschleppen. Dabei hatte ich Fee, die elf ist und aussieht wie ein schwangeres Rhinozeros, bloß gefragt, ob sie den dritten Nachtisch nicht einfach mal weglassen wolle.

Fee schrie, ich sei gemein, Michaela schrie, sie werde sich von einer kinderlosen Frau nicht in ihre Erziehung reinquatschen lassen, mein Bruder Claus schrie, ich solle mich in Zukunft gefälligst raushalten, und ich schrie, ich sei es leid zuzuschauen, wie in dieser kaputten Familie die Kinder gemästet würden, als könne man mit Zucker den Mangel an Nestwärme ersetzen, und wenn ich noch einmal den lächerlichen Satz «Das ist doch nur Babyspeck» hören würde, würde ich das Jugendamt einschalten.

Dann verließ ich tobend und zeternd die Runde. Und ich war tatsächlich ein bisschen stolz, die Scheinheiligkeit dieser Albtraumfamilie einmal durchbrochen und endlich die Wahrheit gesagt zu haben. Eine ungewohnte Erfahrung für mich.

Der kleine Claus, der vierzehnjährige Sohn meines Bruders, stand grinsend an der Tür, einen Schokoriegel in seinen fetten Fingern, und schaute mir nach. Zu Hause sagte Marcus: «Gräm dich nicht, Vera, das sind eben einfache Leute.»

Das fand ich nur leidlich tröstlich und eigentlich auch wieder eine Unverschämtheit. Meine Familie findet Marcus zu schlicht, und meine Freundin findet er zu dramatisch.

«Die Johanna zieht das Pech doch magisch an», sagt er regelmäßig. Und seit ich ihm erzählt habe, dass meine andere Freundin Selma begonnen hat, ihren Mann mit dem Klavierlehrer ihrer Tochter zu betrügen, sieht Marcus meine Freundinnen in noch viel unvorteilhafterem Licht.

Er ist der Meinung, ich solle mich lieber von den beiden fernhalten. Als sei Drama und Ehebruch ansteckend wie Schweinegrippe. Tröpfcheninfektion, und – boing! – schlägt das Schicksal auch in deinem Leben zu.

Dabei bin ich zutiefst dankbar dafür, dass ich mich mit Selma nur noch bei uns zu Hause treffen kann – und das auch nur, wenn Marcus beim Squash ist. Endlich hat eine von uns mal was zu erzählen, wobei niemand mithören darf! Denn die Tische beim Griechen um die Ecke stehen einfach zu nah beieinander für Unterhaltungen über Untreue, Alibis und sexuelle Praktiken, die ich bis dahin nicht mal vom Hörensagen kannte.

Gespräche zwischen Selma und mir beginnen jetzt meist so, dass Selma, selbst bei uns zu Hause auf dem Sofa, ihre Stimme senkt und dann Sachen fragt wie: «Bist du schon mal mit ‹Mystical Sex Body-Lotion› eingeölt worden und hast danach Sex auf einem Latexlaken gehabt?»

In der Regel schüttele ich dann voll stummer Ehrfurcht und sich leise regendem Neid den Kopf, frage mich im Stillen, ob man Latexlaken wohl in die Waschmaschine tun kann, und schaue anschließend mal im Internet nach, wo dann steht, dass die «Mystical Sex Body-Lotion» für Abende bestimmt sei, «an denen Sie bestimmt keine Kopfschmerzen haben werden».

Marcus hat im Grunde nur Angst vor der Unruhe, die Selma und Johanna immer wieder in mein und damit auch in sein Leben bringen. Anrufe nach acht. Spontan einberufene Treffen zur gemeinsamen Verarbeitung von Kummer oder Glück. Telefonate, während derer ich die Tür schließe, und Wochenenden in Berlin, nach denen ich mit Klamotten nach Hause komme, die man in Stade nicht tragen kann, ohne als semiprofessionelle Prostituierte zu gelten.

Ich glaube, Marcus fürchtet den Einfluss meiner Freundinnen auf mich. Und vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Denn es macht einen nervös, ja, es ist fast etwas peinlich, wenn sich andere Leute Sehnsüchte erfüllen, die man selbst nicht mal hat.

Marcus ist ein Mann der mittleren Temperaturen. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Das klingt nach lau? Ja, ich weiß. Aber ich weiß auch, dass sich zwischen den Extremen das eigentliche Leben abspielt. Zwischen Glück und Unglück. Zwischen Tief- und Höhepunkt. Zwischen erfrieren und verbrühen.

Es ist wie mit dem Thermostat an der Zentralheizung. Den stellst du ja auch auf neunzehn Grad durchschnittliche Raumtemperatur ein, weil es sich dabei am angenehmsten leben lässt.

Der Großteil des Lebens ist das, was meistens geschieht. Das nennt man Alltag. Schinkengraubrot und «Tagesschau». Der Wecker klingelt immer zur gleichen Zeit. Morgens Aronal, abends Elmex. Dienstagabend Kundalini-Yoga und Samstagvormittag Großeinkauf bei Lidl.

Ja, mein Leben besteht zu fünfundachtzig Prozent aus Alltag. Wie bei achtundneunzig Prozent aller anderen Menschen auch. Trotzdem klingt «Alltag» immer irgendwie abfällig. Als müsse man ihn dringend vermeiden.

Ich hatte mal einen Freund, mit dem verstand ich mich nur in Ausnahmesituationen gut: im Urlaub, bei Wochenendausflügen, auf Partys, beim Versöhnungssex. Der Typ wurde gereizt, sobald sich auch nur die kleinste Alltäglichkeit in unsere Beziehung zu schleichen drohte. Mülleimer runterbringen? Betten neu beziehen? Altpapier entsorgen? So was machte ich, wenn er nicht da war, um ihm die Illusion zu vermitteln, das Leben würde auch ohne solche Banalitäten funktionieren.

Vor jedem Sex mussten Unmengen Kerzen entzündet und verschiedenartige Drogen ausprobiert werden. Gekocht wurde nur mit exotischen Gewürzen, von denen mir die Eingeweide explodierten, und ein Wochenende, an dem wir nichts vorhatten, gab es meiner Erinnerung nach nicht.

Ein halbes Jahr hielten wir diesen Marathon der Höhepunkte durch, dann war Schluss, und ich verbrachte ein komplettes Wochenende erschöpft im Bett in Gesellschaft von Tütensuppen und der aktuellen Staffel von «Boston Legal».

Mein Neunzehn-Grad-Leben hatte mich wieder – und ich war froh darum. Das wirkliche Leben findet nicht auf Latexlaken statt, und die «Mystical Sex Body-Lotion» ist auch nichts für jeden Tag. Spannbetttücher aus kochfester Baumwolle und «Nivea Beautiful Age – Reichhaltige Body-Lotion für reife Haut»: So ist das Leben.

Marcus ist Alltag. Mein Alltag. Gelungener, harmonischer Alltag. Er ist für den Müll zuständig, ich für die frische Bettwäsche. Außerdem verwaltet er die Ressorts «Glühbirnen auswechseln», «Steuern und Finanzen» sowie «Pastasoßen und asiatische Gerichte».

Ich zeichne verantwortlich für «Backwaren und Süßigkeiten», «Sozialkontakte außerhalb des Tennisclubs» und «Streit anzetteln».

Wir ergänzen uns perfekt, zanken uns praktisch nur, wenn ich meine Tage bekomme oder wir uns über Johanna oder Selma unterhalten.

Im Kino lege ich meinen Kopf an seine Schulter. Wenn er spät aus der Firma kommt, trinken wir als Erstes ein Glas Wein zusammen. Sonntags bringt er mir meinen verdauungsanregenden Zerealien-Joghurt ans Bett. Und wenn mir Marcus abends vor dem Einschlafen mit einer Hand den Nacken massiert – ganz früher nahm er dazu noch beide Hände, aber mittlerweile kann er ganz gut gleichzeitig lesen und massieren –, bin ich fast glücklich, also, um bei meinem Lieblingsbild mit dem Thermostat zu bleiben, bestimmt bei brodelnden dreiundzwanzig Grad.

Ob ich gerne Sex auf Latexlaken hätte? Unaussprechliche Geheimnisse? Unstillbare Sehnsüchte?

Ach nein, das muss nicht sein. Meine Sehnsüchte halten sich in Grenzen, und mir reicht es, mich mit interessanten Freundinnen zu umgeben, Dramen zu begleiten, statt sie zu erleben, und Geheimnisse zu bewahren statt zu haben. Ich habe keine großen Träume. Noch nicht mal nachts.

Wenn ich Abwechslung will, fahre ich nach Berlin. Ein Ausflug in den Alltag von Johanna Zucker ist für mich ein Abenteuerurlaub.

«Was ist los?», frage ich also mit einer wohligen Aufgeregtheit, wie man sie an einem Dienstagabend im Februar so überhaupt nicht erwartet und umso mehr genießt.

«Taube, ich brauche deine Hilfe. Du musst kommen.»

Ich höre sofort, dass etwas nicht stimmt. Ihre Stimme ist leise, zumindest für ihre Verhältnisse, und eine Zehntelsekunde bevor das Schreckliche geschieht, weiß ich, dass jetzt gleich etwas Schreckliches geschehen wird.

Johanna sagt: «Ich muss operiert werden.»

Mir springt die nackte Angst mitten ins Gesicht, und es ergeht mir wie den Leuten, die sterben oder zumindest glauben, dass sie sterben: Zwischen zwei Wimpernschlägen rollt unsere komplette Freundschaft vor meinem inneren Auge ab, alles, was bisher geschehen ist und was womöglich keine Fortsetzung mehr erfährt.

Die ganzen fünf Jahre: Liebesglück, Hormonstress, der Tod, der viel zu schnell kam, dann das unglaubliche Wunder, bei dem ich direkt daneben stand. Und dazwischen immer wieder am Leben und an uns selbst zweifeln, fast verzweifeln, weinen, weiteratmen, durchatmen, lachen. Und alles begleitet von Hektolitern Riesling und jeder Menge Zigaretten.

Johanna und ich, wir rauchen nur, wenn wir betrunken sind. Und wir hatten in den letzten fünf Jahren viele Gründe, unser Glas zu heben.

Wir haben viel geweint und viel gefeiert.

«Das Geheimnis meiner guten Ehe? Ich war immer verliebt – selbstverständlich nicht in meinen Mann.»
Tante Helga

Als Johanna in mein Leben trat, tat sie das mit einer Wucht, die mich an das Auftauchen der Brachiosaurier in «Jurassic Park» erinnerte. Plötzlich war sie da, die Erde erzitterte, und das Chaos, das sie hinterließ, war unübersehbar und nachhaltig.

Ich saß in einem Wartezimmer und benutzte meine Zeitung wie einen Sichtschutz. Ich hatte mir am Bahnhof extra die «Zeit» gekauft – was ich sonst ja gar nicht so oft tue –, weil sie mir vom Format her für meine Zwecke am dienlichsten schien.

Hinter den großen, ehrwürdigen Seiten hoffte ich Schutz und Sicherheit und vielleicht sogar ein klitzekleines bisschen des Selbstbewusstseins wiederzufinden, das mir während der dreistündigen Zugfahrt abhandengekommen war. Von Stade nach Berlin, mit einmal Umsteigen.

Bereits kurz nach Hamburg hatte ich mich wie ein Häuflein Dreck gefühlt. Ich wusste genau, warum Marcus mich zu der Spezialpraxis nach Berlin geschickt hatte. Er hatte was von «international anerkannten Experten» gesagt – und das stimmte ja auch. Was er nur dachte, aber nicht sagte, war, dass mich in Berlin niemand erkennen würde. Ohne Aufsehen, ohne Gerüchte, ohne peinliche Nachfragen würde dort die ganze Sache über die Bühne gebracht werden. Denn auf so was wirst du ja nur sehr ungern im Lions Club, beim Tennisspielen oder während des Adventscafés der Kirchengemeinde angesprochen.

Ich ärgerte mich über Marcus, aber ganz besonders ärgerte ich mich darüber, dass ich ihn nicht aus Überzeugung beschimpfen konnte, weil ich nämlich ganz genauso dachte wie er. Ich schämte mich. Wir schämten uns. Aber das hatten wir uns nie eingestanden.

Ich saß also hinter der «Zeit» und wartete darauf, dass mein Name aufgerufen werden würde, als ich merkte, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte. Eine Frau mit einer sehr lauten und vollen Stimme sagte: «Guten Tag allerseits!»

Und das war schon mal der Gipfel.

In Wartezimmern, besonders in einem solchen, sagt man nicht laut «Guten Tag!». Das schickt sich nicht. Das gilt übrigens auch für Dampfbäder, U-Bahnen und Arbeitsämter. Da möchte man nicht offensiv begrüßt und dadurch aus der schützenden Anonymität herausgerissen werden. Kein Blickkontakt, kein Lächeln, kein Smalltalk. Wenn man den Diskretionsabstand schon räumlich nicht einhalten kann, dann wenigstens mental.

Ich zuckte zusammen, hielt meinen Blick konstant auf das «Zeit»-Feuilleton gerichtet und hasste die laute Frau auf der anderen Seite meiner Zeitung inbrünstig und auf der Stelle.

Der Sprechstundenhilfe schien es ähnlich zu gehen, denn ich hörte sie in einem selbst für Berliner Verhältnisse sehr mürrischen Ton fragen: «Wie ist denn bitte schön Ihr Name, und was wünschen Sie?»

«Johanna Zucker ist mein Name, und was glauben Sie denn, was ich wünsche? Bin ich hier in einem Gemischtwarenladen oder was? Ich will ein Kind! Sonst wäre ich ja wohl nicht hier.»

Ich saß wie versteinert hinter meiner dünnen Mauer aus Papier. Unter anderen Umständen hätte mir die Frau gefallen können. Laut, lustig, selbstbewusst. Alles, was ich nicht, zumindest aber viel zu selten bin.

In guten Momenten kann ich solche Frauen mit freundlichem Neid bewundern. So, wie ich Mutter Teresa für ihre Güte, Heidi Klum für ihre Disziplin und ihre Haare und jede Nobelpreisträgerin für ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit bewundere, sich über Jahre hinweg auf eine einzige Sache zu konzentrieren.

Wie gesagt, das gelingt mir in guten Momenten. Aber das hier war definitiv kein guter Moment. Es war ein echter Scheißmoment, und in solchen bin ich nicht großzügig und interessiert an imposanten Vorbildern.

Nein, ich bin verbiestert, spießig, kleinbürgerlich und unsicher und kann es nicht ausstehen, wenn eine andere das nicht ist.

Da lobte ich mir doch die Dame rechts neben mir, die komplett in Grau gekommen war. Graue Kleidung, graues Schuhwerk, graue Haut. Die Frau hatte nicht ein einziges Mal aufgeschaut und die Hände so fest ineinander verschränkt, dass sie ihre Finger womöglich niemals würde entwirren können. Ein mustergültiges Verhalten für einen Ort wie diesen.

In diesem Moment wurde mein Name aufgerufen.

«Frau Hagedorn? Bitte folgen Sie mir.»

Ich schlich mit gesenktem Kopf hinter der Sprechstundenhilfe her und wagte einen Blick auf Johanna Zucker.

Leider sah ich sie nur von hinten, aber das reichte völlig, um meinem Hass auf sie neue Nahrung zu verschaffen: groß, schlank, kurze, hellblond gefärbte Haare.

Mir wurde sofort klar, dass es sich bei Johanna Zucker um eine Frau ohne akzeptable Figurprobleme handelte. Höchstwahrscheinlich hatte sie als junges Mädchen zu jenen gehört, denen die Mutter Sahne statt Milch über die Cornflakes gießt und die im Restaurant ermuntert werden, eine Extraportion Pommes zu bestellen.

Mir hingegen hatte man schon früh vom Nachtisch abgeraten und fettreduzierte Milchprodukte empfohlen. Ich konnte Kalorien zählen, bevor ich lernte, wie man Mitesser ausdrückt.

Meine Mutter hatte früh geahnt, dass ich ihren gemütlichen Stoffwechsel sowie ihren Hang zum engagierten Aufbau von Fettreserven geerbt hatte, und so war ich aufgewachsen in dem Bewusstsein, ständig von Kalorien bedroht zu sein.

Ich war nie dick, aber ich habe ständig Angst davor, es zu werden. Und ich kann mich Marlene Dietrich inhaltlich voll anschließen, die sagte: «Seit zwanzig Jahren stehe ich hungrig von jedem Tisch auf.»

 

Johanna Zuckers lange, schlanke Beine steckten wie zum Hohn in, dem Anlass völlig unangemessenen, hochhackigen Stiefeletten und einem skandalös kurzen Rock.

Also ehrlich, diese Person wusste wirklich nicht, was geschmackvolles Benehmen war.

Wo waren wir denn?

Bei «Bauer sucht Frau»?

Nein, wir befanden uns in Berlins renommiertestem Kinderwunschzentrum «Babyhope». Und ich finde, da sollte man lieber die Klappe halten, gedeckte Kleidung tragen und sich der Situation entsprechend zurückhalten.

Wir saßen hier doch alle im selben Boot mit der Aufschrift: «Kinderlos!»

Ein Haufen frustrierter Frauen, die sich nicht damit abfinden können, dass sie keinen Nachwuchs bekommen. Frauen, die der Natur ins Handwerk pfuschen wollen, um den Makel, die Leere, die Sehnsucht loszuwerden.

Kinderlos.

Meine Güte, wie ich diese Bezeichnung hasse!

«Kinderlos» klingt wie «freudlos», «wohnungslos», «arbeitslos» oder – für Frauen um die vierzig mit durchschnittlich ausgebildeter Oberarmmuskulatur ebenfalls ein Unding – «ärmellos».

Die letzte Silbe des Wortes signalisiert deutlich: Da fehlt was! Da gibt es einen schlimmen Mangel, der schnellstmöglich behoben werden muss. Und zwar nicht nur, um der eigenen Existenz Wert und Sinn zu verleihen, sondern auch, um Vater Staat durch verantwortungsvolles Reproduktionsverhalten einen zukünftigen Steuerzahler zu schenken.

Ich wünschte, ich könnte von mir behaupten, dass mir kein Kind zum Glück fehlt. Ich wünschte, ich wäre eine dieser Frauen, deren Leben schon ohne Kind so reich und erfüllt ist, dass sie sich lange und ernsthaft überlegen, ob sie sich den Nachwuchs-Stress wirklich antun wollen. Für die sind Kinder nicht der Sinn ihres Daseins oder das Sahnehäubchen auf dem Kakao. Die machen sich Sinn und Sahne selber und haben tatsächlich was aufzugeben.

Ich ja nicht. Ich habe keine aufsehenerregende Karriere, keine spektakuläre Führungsposition, kein zeitaufwendiges Hobby, kein überbordendes Sexualleben und keine gutgepflegte, brettharte Bauchmuskulatur.

Ich gebe es nur ungern zu: Ein Kind würde mich bei überhaupt nichts stören. Wie bereits erwähnt: neunzehn Grad Durchschnittstemperatur. Perfekt für die Kinderaufzucht. Ich bin sowieso am liebsten zu Hause, gehe gerne vor Mitternacht ins Bett, und die paar schlappen Werbeaufträge, die ich bekomme, könnte ich ohne Probleme während des Stillens, auf dem Spielplatz oder später unauffällig bei sich hinziehenden Elternabenden erledigen.

Ich fühle mich nicht komplett ohne Kind. Ich habe das schreckliche Gefühl, das Beste zu verpassen. Verdammt, in meinem Leben ist noch Platz! Und mein Schwiegervater, mein Bruder und seine Frau mit ihren fetten, hässlichen und schlechterzogenen Gören lassen auch keine Gelegenheit aus, mich auf meinen erbarmungswürdigen Zustand hinzuweisen.

Dabei würde ich mir die Eileiter lieber mit Beton zugießen lassen, als mit solchen Blagen leben und mir vormachen zu müssen, das sei die Erfüllung. Es ist nämlich nicht so, dass ich Kinder besonders mag. Man mag ja auch nicht automatisch alle Männer, bloß weil man gerne einen eigenen will.

Die meisten Kinder, die man so in freier Wildbahn zu sehen bekommt, sind nicht dazu angetan, den eigenen Vermehrungswunsch zu verstärken. Besonders in Freibädern hatte ich in den letzten Jahren immer heimlich, weil politisch unkorrekt, gehofft, aus zwei alarmierenden, weltweiten Phänomenen einen ganz persönlichen Nutzen ziehen zu können: Dank globaler Erwärmung und sinkender Geburtenraten hatte ich mit einem Bombensommer im weitgehend menschenleeren, zumindest aber kinderfreien Erlebnisbad Stade gerechnet.

Jedoch: Ich bin immer wieder enttäuscht worden. Das Wetter war meist durchwachsen, das Babybecken randvoll mit Urin sowie Babys, und vom Fünfer sprangen dicke Teenager, die beim Aufprall auf der Wasseroberfläche eine Detonation auslösten, wie man sie sonst nur aus Katastrophenfilmen kennt.

Ich lag auf meinem Badelaken und bemühte mich um Nachsicht und ein gleichmäßiges Bräunungsergebnis. Als sich ein schlechtgelaunter Säugling auf dem Nachbarhandtuch schwungvoll übergab und drei Halbwüchsige in meiner unmittelbaren Nähe eine Nacktschnecke zerteilten, wurde es mir zu bunt. Ich packte meine Sachen und murmelte vorwurfsvoll: «Ich dachte, die Deutschen sterben aus, aber hier merkt man leider nichts davon.»

Wie die meisten mir bekannten Frauen war auch ich davon ausgegangen, irgendwann Kinder zu haben. Irgendwann. Ich hatte es nicht eilig gehabt. Lange Zeit nicht. Dann wurden Marcus und ich ein Paar, und nach zwei Jahren machte er zwei vernünftig klingende Vorschläge. Wir sollten heiraten, und ich sollte die Pille absetzen.

Ich war sechsunddreißig, er drei Jahre älter.

«Höchste Zeit, sich zu vermehren», hatte Marcus’ Vater dröhnend kundgetan. «In eurem Alter hatte ich schon einen Stammhalter gezeugt!»

Ein Jahr später begann ich, Buch zu führen über meine fruchtbaren Tage, was mir schon mal gar nicht liegt, da ich von Haus aus nicht so der durchorganisierte Filofax-Typ bin. Sechs Monate später ließ ich mich untersuchen. Keine Ursache zu finden. Und weitere sechs Monate später ging Marcus schließlich zu einem Arzt in Hamburg – die beiden niedergelassenen Urologen in Stade kannte er aus dem Tennisclub.

Als er zurückkam, erkannte ich am Klang seiner Schritte auf der Treppe, dass es auch nicht an ihm liegen konnte. Er nahm zwei Stufen auf einmal und wedelte stolz mit seinem «Spitzen-Spermiogramm», wie es der Arzt angeblich genannt hatte. Ich denke, Marcus war kurz davor, es einzurahmen und auf der Gästetoilette aufzuhängen.

Ich war sehr, sehr erleichtert, dass es nicht an ihm lag. Marcus ist nicht der Typ Mann, der mit so einer Diagnose fertig würde. Dazu bräuchte er ein etwas, nun ja, sagen wir mal: weniger störanfälliges Ego.

Er ist viel verletzlicher, als es nach außen den Anschein hat. Viel weicher und viel instabiler, als man denkt. Manchmal scheint es mir, als würde er den Geschäftsführer nur spielen, weil das alle von ihm erwarten.

Ich kann das verstehen. Wenn du groß wirst in einer kleinen Stadt, wenn dein Name bekannt ist und die Leute ganz genau wissen, was aus dir werden soll, lange bevor du selbst dir auch nur ansatzweise darüber Gedanken gemacht hast, dann fragst du nicht lange, sondern gehst den Weg, der sich vor dir auftut, weil du denkst, es sei der einzige und der richtige. Weil das alle denken.

Marcus macht seine Sache gut. Aber nur, weil man etwas gut macht, heißt das nicht, dass man das Richtige tut. Er steht unter Druck, das ist klar. Wenn er sich vorstellt, sagt er jedes Mal: «Ich heiße Marcus Hogrebe. Marcus mit c.» Und ich finde, das sagt schon alles über ihn und sein Selbstbewusstsein. Es steht und fällt mit einem Buchstaben. Ich liebe ihn dafür. Er sich nicht.

 

Nach dem Test war für Marcus klar, dass die Ursache irgendwie doch bei mir versteckt sein müsse. Er vermutete wahlweise Stress, innere Verkrampfung oder einen ärztlichen Diagnosefehler. Und ich vermutete, dass er damit recht haben könnte.

Wenige Wochen später saß ich in der Berliner Praxis «Babyhope», in deren Prospekt es geheißen hatte: «Wir bieten Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch alle gängigen Methoden der Behandlung. Der unerfüllte Kinderwunsch ist ein Problem, das jedes sechste Paar betrifft. Sie sind also nicht allein!»

Das mag ja prinzipiell ganz tröstlich sein, aber in dieser Sekunde wollte ich lieber allein sein als in einem Raum mit Johanna Zucker, die mich schon dadurch beschämte, dass sie sich anscheinend überhaupt nicht schämte für ihren, für unseren elenden Zustand.

Wie ich das hasste, hier sitzen zu müssen! Und wie ich sie dafür hasste, dass sie es ganz offensichtlich nicht hasste, sondern es wie ein großes, spaßiges Abenteuer zu nehmen schien, in das man gut gelaunt und gut geschminkt und laut trompetend hineinmarschieren sollte.

Also ehrlich, da werden mit heftigsten Hormonspritzen möglichst viele Eier in deinem unwilligen Körper herangezüchtet, unter Narkose rausgesammelt wie an Ostern und dann in Petrischalen mit dem Samen des erwünschten Erzeugers zu einem Stelldichein gezwungen.

Wenn du Glück hast, tun sich ein paar von denen zusammen, und nach zwei Tagen kriegst du bis zu drei propere Mehrzeller zurück in deine Gebärmutter, wo sie sich hoffentlich so verhalten, wie sie es im Biounterricht gelernt haben: teilen, teilen, teilen – so lange, bis dir der undankbare Zellhaufen sechzehn Jahre später an Weihnachten eröffnet, dass er ab jetzt lieber bei seiner Freundin feiern will.

Mir graute schon jetzt vor alledem. Ich betrachtete noch einmal kurz Johanna Zucker, ein menschgewordener Eierstock, so wie ich, und fragte mich, woran es bei ihr wohl liegen mochte. An ihr? An ihrem Mann? An beiden?

Sicherlich ein liederlicher Lebenswandel in Kombination mit zu viel Alkohol und Drogen in jungen Jahren. Schon allein der Name. Johanna Zucker. Bestimmt ein Künstlername. Na ja, was sich heutzutage alles so Künstler nennt.

Am Theater in Stade würde es meiner Meinung nach gar nicht auffallen, wenn zur Abwechslung mal eine Aufführung von den Bühnenarbeitern und Platzanweiserinnen gespielt würde.

Nicht, dass ich einen besonderen Zugang zur Kunst hätte. Das Theater-Abo hatte mir Marcus vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Und er hatte genau gewusst, dass ich mich nicht darüber freuen würde. Aber er hatte auch genau gewusst, dass ich so tun würde, als ob ich mich darüber freuen würde.