Guillermo
Arriaga

Der
Wilde

Aus dem Spanischen
von Matthias Strobel

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Arbeit des Übersetzers wurde durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds unterstützt.

 

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »El Salvaje« im Verlag Alfaguara, Mexiko-Stadt.

© 2016 by Guillermo Arriaga

Für die deutsche Ausgabe

© 2018, 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

Unter Verwendung eines Fotos von © Tomasz Gudzowaty/yours gallery/Agentur Focus

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98321-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11091-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Mariana und Santiago,
meine Lehrmeister

Blut

Nach einer langen Siesta wachte ich um sieben Uhr abends auf. Es war heiß. Ein viel zu heißer Sommer für diese chronisch kalte Stadt. Die anderen schliefen oben. Mein Zimmer lag im Erdgeschoss. Mein Vater hatte es aus Pressholz gezimmert, direkt neben dem Gästeklo. Ohne Fenster, mit einer nackten Glühbirne als einziger Beleuchtung. Dazu eine Pritsche und ein kleiner Schreibtisch.

Durch die nur zwei Zentimeter dicken Wände bekam ich immer alles mit. Ihre Stimmen, ihre Schritte, ihr Schweigen.

Schwitzend stand ich auf und verließ mein Zimmer. Die ganze Familie war zu Hause. Meine Großmutter saß auf dem braunen Sofa und sah sich auf dem riesigen Fernseher eine Quizsendung an. Meine Mutter war in der Küche und kochte das Abendessen. Mein Vater saß im Esszimmer und las in den Broschüren zu ihrer Europareise. Es würde das erste Mal sein, dass jemand aus unserer Familie über den Atlantik flog. Meine Eltern würden am folgenden Morgen nach Madrid aufbrechen und zwei Monate lang verschiedene Länder bereisen. Mein Bruder Carlos, der sechs Jahre älter war als ich, hockte am Boden und streichelte unseren Hund King, einen Boxer mit einer markanten Narbe auf der linken Lefze, in die ihm ein Betrunkener, mit dem er als Welpe hatte spielen wollen, ein Messer gestoßen hatte. In ihrem Käfig hüpften Whisky und Wodka, zwei australische Wellensittiche, von einem Stöckchen aufs andere und warteten ungeduldig darauf, dass meine Großmutter endlich ein Tuch über sie legte, damit sie schlafen konnten.

Ich träume oft von dieser Szene, vor allem während der Siesta. Es war das letzte Mal, dass ich sie zusammen sah. Im Laufe der kommenden vier Jahre würden alle sterben. Mein Bruder, meine Eltern, meine Großmutter, die Wellensittiche und King.

Als Erster starb mein Bruder Carlos, zwanzig Tage nach jenem Abend. Danach ging eine Lawine des Todes über meine Familie hinweg. Tod über Tod über Tod.

Ich hatte zwei Brüder. An beider Tod trug ich die Schuld. Und wenn nicht die Schuld, so doch die Verantwortung.

Mit meinem anderen Bruder teilte ich die Höhle namens Uterus. Acht Monate lang wuchs an meiner Seite ein mit mir identischer Zwilling heran. Beide hörten wir denselben Herzschlag, nährten uns vom selben Blut, schwammen in derselben Flüssigkeit, streiften einander an Händen, Füßen, Köpfen. MRT-Aufnahmen beweisen heute, dass Zwillinge um den Platz im Mutterleib rangeln. Es sind harte, gewalttätige, nie aussetzende Territorialkämpfe, bei denen sich einer der Zwillinge schließlich gegen den anderen durchsetzt.

Meine Mutter hat die Zuckungen in ihrem Bauch nicht als Teil einer wilden Schlacht begriffen. Ihrer Ansicht nach kamen die beiden Mädchen (sie war überzeugt, dass es Mädchen waren) gut miteinander aus. Dem war aber nicht so. In einem dieser Uterusscharmützel drängte ich meinen Bruder so lange in Richtung Gebärmutterhals, bis er sich in seiner Nabelschnur verfing. Die Falle war gestellt: Mit jeder Bewegung zog sich der Strick enger um seine Kehle und schnürte ihm die Luft ab.

Der Kampf endete vier Wochen vor dem Geburtstermin. Ohne dass meine Mutter es bemerkte, wurde sie für einen ihrer Zwillinge zum Sarg. Acht Tage lang trug sie die Leiche tief in ihren Eingeweiden. Die Todessäfte überschwemmten die Fruchtblase und vergifteten das Blut, das mich nährte.

Mein Bruder, den ich im fötalen Kampf besiegt hatte, rächte sich. Brachte mich fast um. Als der Gynäkologe meine Mutter abhorchte, die wegen Verdauungsbeschwerden zu ihm in die Praxis gekommen war, hörte er nur ein einziges Herz, das von Sekunde zu Sekunde schwächer schlug. Er legte das Stethoskop beiseite und sagte:

»Wir müssen einen Kaiserschnitt vornehmen.«

»Wann, Doktor?«

»Sofort.«

Sie kam ins Krankenhaus, direkt in den OP. Eilig setzte man den Schnitt. Holte erst den aufgedunsenen Körper meines Bruders heraus und dann mich, der ich wie eine Kaulquappe an Land nach Luft schnappte.

Ich brauchte Transfusionen. Es dauerte lange, bis das von meinem Bruder vergiftete Blut gefiltert war. Achtzehn Tage musste ich im Krankenhaus bleiben.

In den sechs Jahren, die zwischen mir und Carlos liegen, erlitt meine Mutter drei Fehlgeburten. Zwei Mädchen und ein Junge. Keiner überstand die ersten fünf Monate. Weil meine Eltern sich so sehr wünschten, dass ein Kind diese unseligen fünf Monate durchhielt und die Schwangerschaft ein gutes Ende nahm, konsultierten sie einen Arzt nach dem anderen und versuchten es mit den unterschiedlichsten Methoden: Kräuter, Beckenbodentraining, Hormonspritzen, Wechselduschen, Basaltemperaturmessung und verschiedenen Sexstellungen. Eine davon muss gefruchtet haben, denn irgendwann schaffte ich es auf diese Welt.

Als meine Eltern nach Hause zurückkehrten, waren sie am Boden zerstört. Meine Mutter verfiel in Depressionen. Sie wollte nicht für mich sorgen, mich nicht einmal ernähren. Auch mein Vater lehnte mich ab. Er war vom Chaos und den sich überschlagenden Ereignissen mit in den Kreißsaal gerissen worden und hatte bei der Geburt einen Ekel gegen den Leichengestank entwickelt, mit dem die Haut seines frisch geborenen Sohns imprägniert gewesen war.

Jahrelang standen zwei Wiegen in dem Zimmer, in dem ich schlief. Meine Eltern bewahrten den in neutralem Gelb gehaltenen Strampelanzug auf, der für meinen Bruder/meine Schwester gedacht gewesen war. Sie legten ihn in die Wiege, die einmal seine/ihre hätte sein sollen. Manchmal schalteten sie das Mobile mit seinen Giraffen- und Elefantenfigürchen an, das an der Decke hing. Dann drehte es sich mit seinen Sternenlichtern in der Dunkelheit, um eine leere Wiege und eine in sich versunkene Mutter zu erheitern.

Meine Großmutter rettete mich. Sie zog zu uns, als sie bemerkte, wie sehr mich meine Eltern ablehnten. Sie gab mir das Fläschchen, wechselte mir die Windeln, kleidete mich an, bis meine Mutter aus ihrer langen Lethargie erwachte und die Natur ihr kurz vor meinem ersten Geburtstag ihren Mutterinstinkt wiedergab.

Manche Kinder wachsen mit unsichtbaren Freunden auf, ich mit einem unsichtbaren Bruder. Da meine Eltern dafür sorgten, dass ich die Geschichte der missratenen Entbindung bis ins Detail kannte, fühlte ich mich für seinen Tod verantwortlich. Um meine Schuld wiedergutzumachen, spielte ich jahrelang mit dem Gespenst meines Zwillings. Ich teilte meine Spielzeuge mit ihm, schilderte ihm meine Ängste und Träume. Im Bett ließ ich immer Platz, damit er sich neben mich legen konnte. Ich spürte sein Atmen, seine Wärme. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, wusste ich, dass er die gleichen Gesichtszüge besessen hätte wie ich, die gleiche Augenfarbe, die gleichen Haare, die gleiche Statur, die gleichen Hände. Die gleichen Hände? Hätte eine Wahrsagerin ihm aus der Hand gelesen, hätten seine Linien das Gleiche besagt wie meine?

Meine Eltern tauften ihn Juan José, mich Juan Guillermo. In den Stein seines winzigen Grabs ließen sie als Todestag sein Geburtsdatum meißeln. Was eine Lüge war: Juan José war eine Woche vorher gestorben. War nie geboren worden. Nie über sein Wasserstadium hinausgekommen, sein Fischsein.

Mein Blut wurde mir zur Obsession. Meine Großmutter hob mehrmals hervor, ich hätte mein Leben allein der Großzügigkeit anonymer Spender zu verdanken, die ihre roten Blutkörperchen, ihre Blutplättchen, ihre Leukozyten, ihr Hämoglobin, ihre DNA, ihre Sorgen, ihre Vergangenheit, ihr Adrenalin und ihre Albträume in meinen Blutkreislauf eingespeist hätten. Jahrelang lebte ich mit der Gewissheit, dass in mir noch andere Wesen hausten, deren Blut sich mit meinem vermischt hatte.

Später, als Jugendlicher, wollte ich nach den Spendern suchen, um ihnen dafür zu danken, dass sie mir das Leben gerettet hatten. Ein Onkel enthüllte mir eine Wahrheit, die ich lieber nie entdeckt hätte: »Danken wofür, wo diese Kerle sich doch jeden Milliliter teuer haben bezahlen lassen.« (Der Handel mit Blut wurde erst Jahre später verboten.) Es waren also keine großzügigen Spender gewesen, sondern Menschen, die aus Verzweiflung ihr Blut verkauft hatten. Spritzen, die den Treibstoff des Lebens aus welken, ausgemergelten Körpern gezogen hatten. Es bedeutete eine große Ernüchterung für mich, dass ich von Söldnern aufgepäppelt worden war.

Mit neun sah ich zum ersten Mal mein eigenes Blut. Ich kickte mit Freunden aus dem Viertel auf der Straße, als der Ball auf das Grundstück eines Nachbarn flog, eines geschiedenen Anwalts und Alkoholikers, der immer, wenn er aus dem Auto stieg, seine im Hosenbund steckende Pistole sehen ließ. Die Grundstücksmauern waren von Efeu überwuchert, und oben waren Glasscherben eingelassen, um zu verhindern, dass jemand darüberstieg. Da der Anwalt nie zu Hause war, konnte ich unbesorgt am Efeu hochklettern, den Scherben ausweichen und über die Mauer springen. Der Hinweg war einfach, doch auf dem Rückweg spürte ich, dass ich mir beim Sprung auf den Bürgersteig die Hose aufschlitzte. Ich fiel hin und stand wieder auf. Meine Freunde starrten mich erschrocken an. Aus meiner Hose tropfte Blut. Ich inspizierte mein Bein und entdeckte einen tiefen Schnitt, aus dem es rot hervorquoll. Ich zog die Wunde auseinander. Auf dem Grund schimmerte es weißlich. Ich dachte, es wäre ein Stück Glas oder irgendein anderer Gegenstand, der sich mir ins Bein gebohrt hatte, doch es war mein Oberschenkelknochen. Mir wurde schwarz vor Augen. Zum Glück kam genau in dem Moment, in dem ich bleich und benommen auf den Gehweg sank, direkt vor eine rote Lache, eine Nachbarin. Sie schleppte mich zu ihrem Ford 200, hievte mich auf die Rückbank und fuhr mich in eine viertklassige Klinik in der Avenida Ermita Ixtapalapa, die zehn Minuten entfernt lag.

Erneut Transfusionen. Noch mehr fremdes Blut. Wieder wurde ein Söldnerheer durch meine Herzkammern gepumpt: Prostituierte, Alkoholiker, alleinerziehende Mütter, hormonüberflutete Jugendliche, die Geld benötigten für einen Nachmittag im Hotel, entlassene Büroangestellte, Bauarbeiter, die ihre Kinder sattbekommen wollten, Fabrikarbeiter, die sich etwas dazuverdienen mussten, Süchtige, die ihre nächste Dosis brauchten. Durch meine Adern floss das Prekariat.

Der Arzt, der mich operierte, sagte, ich hätte die typische Wunde eines Stierkämpfers, es sei genau die Stelle, an der sich das Horn in den Schenkel bohre und die Beinschlagader aufreiße. Der Zufall wollte es, dass er chirurgischer Assistenzarzt an der Arena Plaza México gewesen war. In dem schäbigen OP der schmutzigen Klinik, in der ich gelandet war, wusste er genau, was zu tun war, um die aufgeschlitzte Beinschlagader zu versorgen. Das Können dieses Arztes und die schnelle Reaktion der Frau, die mich hingefahren hatte, verhinderten, dass mir das Leben durch das Bein entwich.

Vierzehn Tage lag ich in dem Krankenhaus, das nur über vier Betten verfügte. In einem davon schliefen abwechselnd meine Großmutter, meine Mutter und mein Bruder. Manchmal wurde jemand mit einer Alkoholvergiftung oder das Opfer eines Autounfalls eingeliefert. Eines Nachmittags auch ein Mann mit einem Messerstich im Bauch, der ebenfalls durch das chirurgische Geschick dieses jungen Arztes gerettet wurde.

Erst in den Nächten, die Carlos an meiner Seite verharrte, lernten wir einander wirklich kennen. Die sechs Jahre und sechs Monate, die uns trennten, hatten verhindert, dass wir uns näherstanden. In diesen frühen Morgenstunden schrumpfte der große Altersunterschied zusammen. Wir redeten viel, er sorgte dafür, dass meine Wunde drainiert wurde, dass die Krankenschwestern nicht vergaßen, mir die Antibiotika zu geben, er half mir aufs Klo und säuberte mit einem Schwamm den langen, quer über mein Bein verlaufenden Schnitt. Mit wahrer Hingabe wachte er über meine Genesung. Mir wurde bewusst, dass ich auch mit ihm den mütterlichen Uterus geteilt hatte, dass auch wir von gleichem Blut waren. Also tauschte ich meinen unsichtbaren Bruder – Juan José – für meinen sichtbaren Bruder – Carlos – ein. Ich entdeckte, dass mein wahrer Zwilling sechseinhalb Jahre vor mir geboren worden war, und wir wurden unzertrennlich.

Zwei Monate lang durfte ich auf Anordnung des Arztes keine schweren Gegenstände heben, mich bücken oder auch nur gehen, nicht einmal mit Krücken. Da meine Eltern kein Geld für einen Rollstuhl hatten, wurde ich auf einer Schubkarre ins Klassenzimmer gefahren.

An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal wieder auf eigenen Beinen nach draußen gehen konnte, suchte ich nach dem Blutfleck, den ich hinterlassen hatte. Ich betrachtete den schwarzen Schmetterling, den das Vielmenschengemisch meines Blutes auf den Gehweg gezeichnet hatte, eine Erinnerung an mein Leben, das sich beinahe auf den Asphalt entleert hätte.

Meine Mutter sah, wie ich gedankenversunken den Fleck anstarrte. Sie kam mit Eimer, Putzmittel und Bürste heraus und zwang mich, so lange zu schrubben, bis auch der letzte Rest verschwunden war. Der Fleck auf der Straße war weg, doch auf der Glasscherbe, die mir das Bein von der Innenseite des Oberschenkels bis zur Wade aufgeschlitzt hatte, waren Spuren getrockneten Blutes zurückgeblieben, die auch mehrere Regenfälle nicht hatten abspülen können.

Ein Jahr später kletterte ich die Grundstücksmauer hinauf, schlug mit einem Hammer die Flaschenscherbe ab, an der ich mich geschnitten hatte, und verwahrte sie in einer Schublade. Vermutlich halten es auch die Stierkämpfer so mit dem Horn, das sie durchbohrt.

Auf meinem Bein blieb eine rund vierzig Zentimeter lange Narbe zurück. Hinterm Knie, um den Knöchel und an der Außenseite des Fußes ist meine Empfindung seither gestört. Dieses Taubheitsgefühl ist schwerer zu ertragen als Schmerz. Wenn einem irgendwo der Körper schmerzt, ist wenigstens noch Leben in dieser Region. Wenn es sich taub anfühlt, kann man fast sicher sein, dass etwas in einem gestorben ist.

Meine Retterin war die Mutter des Mannes, der fünf Jahre später mein Feind werden würde, weil er meinen Bruder ermordete. Ein Mord, zu dem ich Beihilfe leistete, der erste einer langen Reihe von Morden, an deren Ende meine ganze Familie ausgelöscht sein würde.

Laut einem Stamm in Afrika besitzen Menschen zwei Seelen: eine leichte und eine schwere. Wenn wir träumen, schlüpft die leichte Seele aus unserem Körper und geht am Rand der Wirklichkeit spazieren; wenn diese leichte Seele uns schlagartig verlässt, werden wir ohnmächtig; und wenn sie fortgeht und nicht wiederkehrt, werden wir verrückt.

Die leichte Seele kommt und geht. Nicht so die schwere Seele. Sie wandert erst dann aus unserem Körper aus, wenn wir sterben. Da die schwere Seele die äußere Welt noch nie betreten hat, weiß sie nicht, welcher Weg ins Reich des Todes führt, an den Ort, an dem sie für immer wohnen wird.

Aus diesem Grund macht die leichte Seele sich drei Jahre vorher auf die Reise dorthin. Weil sie nicht weiß, welche Richtung sie einschlagen muss, klettert sie auf einen Affenbrotbaum, den ersten Baum der Schöpfung, und späht den Horizont ab. Danach besucht sie Frauen, die ihre Regel haben. Die Menstruierenden wandeln auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Unter Blut und Schmerzen verlieren sie das Wesen, das hätte sein können und nicht sein wird. Wenn Frauen ihre Periode haben, werden sie weise. Sie bewegen sich zwischen Existenz und Nichtexistenz, und deshalb können sie der leichten Seele zeigen, wo der Abgrund des Todes liegt.

Die leichte Seele bricht also auf. Sie durchquert Täler und Wüsten, erklimmt Berge. Nach mehreren Monaten gelangt sie an ihr Ziel und stellt sich an den Rand der nebligen Tiefe. Ihren Augen offenbart sich das große Geheimnis. Sie kehrt zurück, erzählt der schweren Seele, was sie gesehen hat, und führt sie entschlossen dem Tod entgegen.

Mond

»Das glaubst du doch selber nicht, Cinco«, sagte Pato, nachdem ich die afrikanische Legende zu Ende erzählt hatte. Ich hatte sie für eine Geschichtsstunde am Gymnasium auswendig gelernt. Der Lehrer hatte gesagt, er würde uns volle zehn Punkte geben, wenn wir eine Geschichte erzählten, die er nicht kannte oder dessen Ende er nicht erraten konnte. Gelesen hatte ich sie in einem der unzähligen Bücher, die in Carlos’ Zimmer auf dem Boden verstreut lagen. Einen Großteil davon hatte er in Bibliotheken oder Buchhandlungen geklaut. Bei seinen Freunden kein einziges, denn deren Eltern hätten keinen Geschmack und sammelten nur Bestseller.

Mit achtzehn brach mein Bruder die Schule ab. Mein Vater regte sich fürchterlich auf, als er davon erfuhr. Für ihn war Bildung der Schlüssel, um sich das Leben aufzubauen, zu dem ihm selbst der Zugang verwehrt geblieben war. Er rackerte sich ab, um uns die bestmögliche Bildung zu verschaffen. Er und meine Mutter arbeiteten Doppelschichten, um uns eine Privatschule bezahlen zu können. Carlos und ich waren die Einzigen in der Straße, die nicht auf die staatlichen Schulen der Gegend gingen: die Grundschule Centenario, die Sekundarschule Nr. 74 und die Oberstufenschule Nr. 6. Enttäuscht drohte mein Vater meinem Bruder, ihm keinen Centavo mehr zu geben, sollte er die Schule schmeißen. Carlos war das egal. Mit neunzehn verdiente er bereits weit mehr Geld als unser Vater.

»Ein bisschen kitschig, die Geschichte«, befand Jaibo.

Jaibo, Pato, Agüitas und ich saßen abends gern oben auf dem Dach von Señora Carbajal unter den Wäscheleinen. Mit dreizehn Jahren rauchte Jaibo bereits zwei Schachteln Delicados am Tag. Wobei das nur Theater war, weil er gar nicht auf Lunge rauchen konnte. Agüitas, unser Wässerchen – wir nannten ihn deshalb so, weil er so rührselig war, dass er oft feuchte Augen bekam –, brachte immer Bier mit, das er dann mit Pato trank. Ich trank und rauchte nicht. Ich hatte beschlossen, nüchtern zu tun, was die anderen sich nur betrunken trauten.

Im Viertel suchten die meisten von uns Zuflucht auf den Dächern. Niemand störte einen dort. Nach den Unruhen von 1968, dem Massaker an den Studenten in Tlatelolco und der Kommunistenparanoia der Regierung, fuhren die Julias – geschlossene Polizei-Pick-ups, in denen Verhaftete auf zwei Holzbänken zusammengepfercht wurden – täglich Streife. Die Polizisten standen hinten auf der Stoßstange und hielten sich an zwei Bügeln fest, die in den Türen eingelassen waren. Wenn sie dich auf der Straße erwischten, sprangen sie vom Wagen, nahmen dich wegen Vagabundierens und Aufwiegelns fest (wobei sie nicht einmal wussten, was das Wort bedeutete) und brachten dich in Handschellen, die so eng gezogen waren, dass sie den Blutfluss stoppten, in eine Zelle. Wenn man erst mal eingesperrt war, wurde man geschlagen, getreten, mit Stromstößen in die Hoden traktiert, bis jemand kam und genügend Schmiergeld zahlte, damit sie einen wieder freiließen. Im besten aller Fälle verfolgten sie dich und schlugen mit Knüppeln auf dich ein, »damit du lernst, deine Haare nicht wie ein Mädchen zu tragen, sondern kurz wie ein Mann«. Bevor sie einen laufen ließen, drohten sie noch: »Wenn wir dich noch mal mit langen Haaren auf der Straße erwischen, kastrieren wir dich und machen wirklich ein Weibsbild aus dir.«

Die Einzigen, die dieser Hetze entgingen, waren die »guten Jungs«, die Mitglieder der Katholischen Jugendbewegung. Die guten Jungs trugen ihre Haare rappelkurz, ein langärmliges, bis oben zugeknöpftes Hemd und ein Kreuz um den Hals. Sie benutzten keine »schlimmen Wörter«, besuchten täglich die Messe, trugen älteren Damen die Einkäufe nach Hause und brachten den Waisenheimen Essen. Sie waren der Traum jeder Mutter oder Schwiegermutter: gute Söhne, gute Schüler, gute Jungs. Sauber, anständig, ordentlich, fleißig, moralisch einwandfrei.

Es war ein heißer Abend. Die Dachziegel strahlten die Hitze des Tages ab, ohne dass Wind für Abkühlung sorgte. Jaibo rauchte wie ein Schlot. Er zündete sich jede neue Zigarette mit der Kippe der alten an.

»Wieso kitschig?«, fragte ich Jaibo.

»Weil sie eben kitschig ist.«

»Was weißt du denn schon, du Schwachkopf? Wo du doch bis vor kurzem noch geglaubt hast, Frauen bekämen ihre Regel, wenn sie entjungfert werden«, spottete ich.

Jaibo kam aus Tampico. Sein Vater war tot. Er hatte als Seemann auf einem Handelsschiff gearbeitet und war betrunken vom Bug gestürzt. Die Witwe, die ebenfalls trank, hatte ihre fünf Kinder nach Mexiko-City verfrachtet und sich bei ihrem frisch verheirateten Bruder einquartiert. Der arme Kerl hatte sich gezwungen gesehen, die sechs Schmarotzer mit seinem kärglichen Topografengehalt durchzufüttern.

»Ich weiß alles über Frauen«, behauptete Jaibo.

»So, so, dann sag mir mal, was ein Hymen ist«, forderte ich ihn heraus.

Jaibo schwieg. Er wusste garantiert nicht, was ein Hymen war. Pato gab ihm einen Schluck Bier und wandte sich an mich.

»Dann weiß eine Frau, die blutet, also, wo der Tod ist?«, fragte er sarkastisch.

»Wenn eine Frau blutet, verliert sie das, was ein Baby hätte sein können«, antwortete ich.

»Und wenn ich mir einen runterhole, befinde ich mich dann auch im Zustand der Weisheit?«, mischte sich Agüitas ein. »Immerhin kommen zig Millionen Spermien raus, die auch Babys hätten sein können.«

Die drei lachten dreckig, als hinter uns eine Stimme ertönte.

»Quatscht nicht so blöd daher.«

Wir drehten uns um. Es war Carlos. Wer weiß, wie lange er uns schon zugehört hatte. Er kam zu uns. Meine Freunde hatten Angst. Carlos hatte bei uns in der Straße das Sagen. Vor Agüitas blieb er stehen.

»Frauen haben nur zwischen vierhundert und sechshundert Eizellen. Wenn sie menstruieren, kommt die Eizelle stückweise raus, voller Blut, und sie haben tierische Schmerzen. Die Hormone schlagen ihnen aufs Gemüt, blähen ihren Körper auf. Dir hingegen kommen die Spermien einfach so raus, sogar im Schlaf, und wenn du dir einen runterholst, ist das die reinste Freude. Frauen wissen Dinge, von denen wir Männer nicht den blassesten Schimmer haben.«

Meine Freunde schwiegen. Gegen Carlos kamen sie nicht an. Er las alles, was er zwischen die Finger kriegte, Philosophie, Geschichte, Biologie, Literatur. Die Schule hatte er aus Langeweile geschmissen, weil er keinen Bock mehr auf Texte hatte, die seiner Ansicht nach mittelmäßig waren. Er war hochgebildet und konnte sich ausdrücken wie niemand sonst im Viertel. Sprache benutzte er präzise und kannte jedes noch so ausgefallene Wort. Und selbst wenn meine Freunde genauso viel gewusst hätten wir er, hätten sie sich nicht getraut, ihn herauszufordern. Sie hatten Angst vor ihm. Alle hatten Angst vor ihm.

Carlos deutete auf eine Schachtel Delicados, die aus Jaibos Hemdtasche lugte.

»Gib mir mal ’ne Zigarette«, sagte er.

Jaibo stand extra auf, um ihm die Schachtel direkt in die Hand zu legen. Carlos zog eine Kippe heraus, und Jaibo hielt ihm ein Feuerzeug hin. Carlos zündete sich die Zigarette an, betrachtete die Schachtel, als wäre sie ein merkwürdiger Gegenstand, knüllte sie so zusammen, dass sie aufbrach, und warf sie vom Dach. Jaibo sah ihn empört an.

»Was soll das?«

»Ich will nicht, dass du an Krebs krepierst«, antwortete mein Bruder, ohne mit der Wimper zu zucken, und drückte die Zigarette am Zaun aus. Ich grinste, und als Carlos es merkte, grinste auch er. Er drehte sich um und sah zum Mond. »In siebenundvierzig Tagen wird die Apollo 11 da oben landen, im Meer der Ruhe«, sagte er und deutete vage auf eine Stelle.

Alle vier sahen wir nun zum Mond. Die unmögliche Reise, von der die Menschheit schon immer geträumt hatte, stand kurz bevor.

»Die Schwerkraft auf dem Mond ist sechsmal schwächer als hier bei uns«, fügte Carlos hinzu, ohne den Blick vom Mond zu wenden.

»Wie das?«, fragte Agüitas.

Carlos grinste. »Ganz einfach: Wenn deine fettleibige Mutter hier unten rund hundert Kilo wiegt, würde sie dort oben nur sechzehn Kilo wiegen.«

Carlos kannte das rührselige Gemüt von Agüitas, wusste, dass diese Art von Scherz ihm die Tränen in die Augen treiben konnte, doch Agüitas war zu sehr mit dem Umrechnen beschäftigt, als dass ihn der Spruch verletzt hätte. Außerdem war Carlos gnädig gewesen: Agüitas Mutter wog bestimmt hundertvierzig Kilo.

»Um zur Erde zurückkehren zu können, muss das Raumfahrzeug in das Gravitationsfeld des Mondes gelangen. Falls die Apollo 11 es nicht in die Umlaufbahn schafft, fliegt sie an ihm vorbei, und dann auf Nimmerwiedersehen«, fuhr er fort.

Mein Bruder hatte mir schon von diesem Szenario erzählt. Ich fand die Vorstellung entsetzlich. Drei Männer in einem Raumschiff, die nicht mehr zurückkönnen und in die Unendlichkeit trudeln. Drei Männer, die durch die Luke sehen, wie die Erde sich immer weiter entfernt. Was würden sie auf ihrer Reise ins Nichts entdecken? Was würden sie da oben fühlen, wenn sie in den endlosen Raum hineintrieben? Würden sie sich in den langsamen Tod fügen, oder hatten sie Zyankalikapseln dabei, um das Ende schneller herbeizuführen? Wie lange würde der Sauerstoff reichen, bis die unumkehrbare Benommenheit des Todes eintrat? Würden sie sich um das Essen streiten, nur um ein paar Tage länger zu leben? Statt mich zu begeistern, jagte mir die Eroberung des Mondes Angst ein. Drillinge in einem Uterus aus Metall, die im falschen Fruchtwasser der Schwerelosigkeit trieben und sich gegenseitig bekämpften, um zu überleben, war eine zu vertraute und zu schmerzhafte Metapher für mich.

Carlos stupste mit dem Fuß gegen die Sohle meines Turnschuhs.

»Gehen wir heim, abendessen.«

Er streckte mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

»Bis morgen«, verabschiedete ich mich von meinen Freunden.

Carlos und ich gingen vorbei an Drähten, Kabeln, Wäscheleinen und Wassertanks bis zum Rand des Dachs. Auf dem Weg nach Hause musste man die anderthalb Meter zwischen dem Dach der Ávalos und dem der Prietos überspringen. Normalerweise machten wir das mit links. Es war tägliche Routine. Trotzdem bestand immer ein Risiko. Vier Monate zuvor hatten Chelo, eine hübsche Siebzehnjährige mit grünen Augen, und ihr Freund Canicas sich aufs Dach der Martínez’ geschlichen, um zwischen der aufgehängten Wäsche zu vögeln (wenigstens schlossen wir das aus den beiden vertrockneten Kondomen, die wir am nächsten Tag dort fanden). Auf dem Rückweg sprang sie zuerst, schätzte aber im Dunkeln die Entfernung falsch ein und stürzte ins Leere. Sie landete mit den Knien auf dem Kofferraum des Coronet von Señor Prieto. Die Stoßdämpfer des Autos nahmen dem Aufprall die Wucht und retteten ihr das Leben. Sie brach sich beide Oberschenkelknochen, doch die Wirbelsäule und der Schädel blieben heil. Und sie hatte das Glück, dass Colmillo, der riesige Wolfshund der Prietos, eine Kreuzung aus einer Alaskan-Malamute-Hündin und einem Timberwolf, angekettet war. Wäre er frei herumgelaufen, hätte er sie zerfleischt. Alarmiert von dem Aufprall und Colmillos Gebell, kam Fernando Prieto raus auf den Hof, wo Chelo auf dem Boden lag, mit zersplitterten Knochen, die an mehreren Stellen die Muskeln durchstoßen hatten.

Chelo brauchte anderthalb Jahre, bis sie wieder gesund war. Sie wurde mehrmals operiert, und auf ihren Beinen blieb ein Flickenteppich aus Narben zurück. Nachmittags schleppte sie sich immer auf Krücken die Straße entlang und konnte kaum das Gleichgewicht halten. Anschließend kehrte sie nach Hause zurück und absolvierte ein erschöpfendes Pensum an physiotherapeutischen Übungen. Man hörte bis draußen, wie der Therapeut Anweisungen gab und Chelo vor Schmerzen stöhnte. Doch noch in der größten Qual behielt sie ihr Lächeln. Sie war fröhlich, lustig, nie verbittert. Jahre später würde Chelo mich mit einer Sanftheit lieben, die mich vor dem Wahnsinn bewahrte.

Carlos sprang zuerst und wartete auf mich. Ich überwand die Distanz mühelos. Über die Leere zu springen, war für mich ein Nervenkitzel. Manchmal machte ich es mir absichtlich schwer, nur um das Gefühl von Gefahr zu steigern: Ich sprang ohne Anlauf, mit geschlossenen Augen, die Hände hinter dem Rücken. Einmal erwischte mich Carlos dabei. Wütend begann er, mit mir zu schimpfen, aber ich hörte nicht auf ihn und machte es beim nächsten Sprung wieder so. Carlos holte mich ein und packte mich an den Schultern. Er hob mich in die Luft – ich war damals elf –, stellte sich an den Rand des Dachs und drohte mir damit, mich hinunterzuwerfen.

»Du hast es gern gefährlich, Freundchen?«

Ich sah nach unten. Sechs Meter. Statt mir Angst einzujagen, fand ich es lustig und lachte laut.

»Was soll das?«, fragte Carlos irritiert. Er wollte mir eine Lektion erteilen, und ich hing über dem Abgrund und kriegte mich kaum ein vor Lachen.

Carlos drehte sich um und schleuderte mich auf den Boden.

»Das tust du nie wieder«, warnte er mich, »oder ich reiß dir den Arsch auf.«

Ich grinste, sprang die anderthalb Meter ohne Anlauf hin und zurück und rannte über die Dächer davon.

Als wir zu unserer Dachterrasse gelangten, hörten wir im Dunkeln das Fiepen der Chinchillas. Carlos züchtete sie zu Hunderten. Auf dem Dach der Prietos, der Martínez’ und auf unserem hatte er eine Zuchtfarm eingerichtet. Dutzende kleine Käfige, übereinandergestapelt, ein Reich von Nagern mit edlem Fell. An heißen Tagen waberte der Gestank nach Urin zwischen den Häusern. Um Beschwerden zu vermeiden, zahlte Carlos Gumaro, einem jungen, geistig leicht behinderten Mulatten, etwas Geld, damit er die Dachterrasse dreimal am Tag mit Chlorreiniger und Desinfektionsmittel schrubbte.

Carlos zog eine Taschenlampe aus der Hosentasche und leuchtete umher. Geblendet rannten einige Chinchillas im Kreis und prallten gegen die Gitterstäbe. Andere stellten sich auf ihre Hinterläufe und versuchten zu erraten, was vor sich ging. Carlos hatte immer eine Taschenlampe dabei, um verwilderte Katzen aufzuspüren, die Feinde seines Geschäfts. Die Katzen streckten ihre Klauen zwischen den Gitterstäben hindurch, packten die Chinchillas am Kopf und bissen sie in die Schnauze, um sie zu ersticken. Dann rissen sie sie in Streifen und fraßen sie auf.

Hinter einem Hundezwinger versteckte mein Bruder ein rostiges Kaliber-22-Ein-Schuss-Gewehr. Wenn er eine streunende Katze entdeckte, holte er es hervor, zielte auf den Kopf und schoss. Das Zielrohr war nicht sehr präzise, manchmal schlug der Schuss im Bauch ein. Es kam also häufiger vor, dass auf den Stellplätzen sterbende Katzen unter den Autos lagen, mit einem Loch im Bauch und vor Schmerzen wimmernd.

Das Geschäft mit den Chinchillas fing damit an, dass ein Onkel Carlos an dessen sechzehntem Geburtstag ein Weibchen schenkte. Zwei Wochen später kaufte Carlos ein Männchen dazu. Die Chinchillas paarten sich, und keine zwei Monate später setzte das Pärchen zehn Junge in die Welt. In einer Zeitschrift las Carlos, wie hoch ihr Fell gehandelt wurde. Er fuhr ins Stadtzentrum und fand heraus, dass ein jüdischer Textilhändler Chinchillafelle in großem Stil kaufte. Dann bat er meine Eltern, auf der Dachterrasse Käfige bauen zu dürfen, und erwarb weitere zwanzig Chinchillas. Anderthalb Jahre später verkaufte er bereits rund vierhundert Felle im Monat. Er organisierte die Zucht so, dass die Weibchen in genau dem Rhythmus gebaren, den die Produktion erforderte.

Obwohl Carlos mit den Chinchillas haufenweise Geld verdiente, war es nicht sein Hauptgeschäft.

Feuchtigkeit

Ich lebte zwischen zwei Welten. Die eine Welt war mein Viertel, der Ort, dem ich mich zugehörig fühlte, meine Heimat aus Straßen und Dächern. Die andere Welt war die Privatschule, die meine Eltern unter großen Mühen finanzierten. Eine Schule mit Klassenkameraden, die nach New York und Europa reisten. Eine Schule, in der man die Lehrerinnen »Miss« nennen musste, in der man verpflichtet war, in der Pause Englisch zu sprechen, und die sich ihrer eisernen Disziplin brüstete. Eine Schule, die ich als Gefängnis empfand und die sich weigerte, meinem Bruder und mir ein Stipendium zu geben. »Eine gute Schulbildung kostet eben was, Señora«, sagte die Leiterin zu meiner Mutter, als sie um Ratenzahlung bat. Dass meine Mutter sie überhaupt hatte darum bitten müssen, war für sie erniedrigend und hatte ihr schwer aufs Gemüt geschlagen. »Gewähren Sie uns wenigstens eine Frist bis Jahresende, dann erhält mein Mann seinen Bonus«, flehte meine Mutter. »Ich muss meine Lehrer bezahlen, tut mir leid«, erwiderte die Eigentümerin-Direktorin-Halsabschneiderin-Mistkuh.

Ich erinnere mich noch, dass mein Vater sehr in sich gekehrt war, nachdem meine Mutter ihn darüber informiert hatte, dass die Direktorin uns von der Schule werfen würde, sollte sich die Bezahlung der Gebühr auch nur um einen Monat verzögern.

»Ich werde das Geld auftreiben«, sagte mein Vater leise.

»Wie?«, fragte meine Mutter.

Mein Vater schwieg, fasste sich an den Kopf, massierte sich die Stirn.

»Ich kann in der Firma um einen Kredit bitten.«

»Und wie wollen wir den zurückzahlen?«

Mein Vater verdrehte den Hals, um die Spannung zu lindern.

»Wir sollten sie auf eine öffentliche Schule schicken«, sagte meine Mutter.

Mein Vater sah sie an, als hätte sie ihn beleidigt.

»Eine gute Schulbildung ist das Einzige, was wir ihnen mit auf den Weg geben können«, sagte er bestimmt.

Wieder schwiegen sie. Mein Vater seufzte und ergriff die Hand meiner Mutter.

»Keine Angst, wir werden das Geld schon auftreiben.«

Weil ich mich auf meinen Teller konzentrierte, dachten sie, ich würde nicht hören, was sie sich zuflüsterten. Ich war damals neun, und mein Bein war noch nicht ganz verheilt. Meine Eltern hatten ihre ganzen Ersparnisse für die Arzt- und Krankenhauskosten aufgebraucht. Da sie der Regierung misstrauten, hatten sie beschlossen, mich auf gar keinen Fall in einer Klinik des öffentlichen Gesundheitsdienstes behandeln zu lassen. Bloß nichts, was nach staatlicher Bürokratie roch. Keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine Jobs. Und nun wussten sie nicht, wie sie die Privatschule bezahlen sollten.

Carlos begleitete mich in mein Zimmer. Mein Vater hatte es an das Erdgeschoss angebaut, damit ich nicht die Treppe hochmusste, solange mein Bein nicht wieder gesund war. Nachdenklich setzte Carlos sich auf mein Bett.

»Glaubst du, sie schicken uns auf eine andere Schule?«, fragte ich.

»Ich werde dieser Scheißtussi den Arsch aufreißen«, murmelte er gereizt. »Die hat kein Recht, unsere Mama so zu behandeln.«

Er presste den Kiefer zusammen, stand auf und zog die Laken glatt.

»Schlaf jetzt«, befahl er.

Ich legte mich ins Bett, und Carlos deckte mich zu.

»Gute Nacht«, sagte er, streichelte mir zärtlich über die Stirn und ging raus.

Es gelang meinen Eltern, das Schulgeld rechtzeitig aufzubringen. Sie verkauften den Mercury, den mein Vater über alles liebte. Er war sein ganzer Stolz gewesen, jahrelang hatte er hart dafür gearbeitet. Jetzt waren der Mercury und der Stolz dahin.

Ohne Auto blieb meinem Vater nichts anderes übrig, als die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Ich erinnere mich noch, wie er um halb fünf Uhr morgens aufstand, um zu duschen, zu frühstücken und zur Bushaltestelle auf der anderen Seite der Avenida Río Churubusco zu gehen. Und wie erschöpft er dann um zehn Uhr abends von seiner Doppelschicht nach Hause kam.

Es gab auch niemanden mehr, der uns zur Schule fuhr. Um sechs Uhr morgens verließen Carlos und ich das Haus und gingen zu Fuß zur Haltestelle des Trolleybusses in San Andrés Tetepilco. Dafür mussten wir eine Brache überqueren, auf der mit Kalk ein paar schiefe Fußballplätze aufgezeichnet waren. Bei Regen wurde sie überschwemmt und verwandelte sich ein schlammiges Feld. Dann hüpften wir von Stein zu Stein, um unsere Schuluniform nicht schmutzig zu machen, und rutschten doch jedes Mal ab.

Am Eingang der Schule erwartete uns der Pförtner und überprüfte die Uniformen, die Haarlänge bei den Jungs, die Rocklänge bei den Mädchen und die allgemeine Körperhygiene (Fingernägel geschnitten, Ohren gewaschen). Mehrmals schickte er mich wieder nach Hause, weil ich Schlammflecken auf der Hose hatte. Da niemand mich abholen konnte, musste Carlos den Heimweg mit mir antreten. Dann ließen wir es uns gutgehen. Mal besuchten wir das Naturkundemuseum, um uns die ausgestopften Tiere anzusehen, mal schlichen wir uns in die Reitställe der Pferderennbahn, um zuzuschauen, wie die Vollblüter trainiert und gepflegt wurden.

Vier Monate, nachdem es meinen Eltern gelungen war, das Schulgeld aufzubringen, etwa fünfundsiebzig Prozent dessen, was mein Vater in einer Doppelschicht verdiente, wurden sie von der Direktorin einbestellt, mit dem Hinweis, dass sie beide zu erscheinen hätten.

Nervös und besorgt machten sich meine Eltern auf den Weg. Noch nie waren sie so dringend in die Schule zitiert worden. Auf der langen Busfahrt malten sie sich die schlimmsten Dinge aus: ein Unfall, eine Schlägerei, ein Raubüberfall.

Die blöde Kuh von Direktorin, die sich nicht im Geringsten darum scherte, dass sie meine Eltern aus ihrer Arbeit herausgerissen hatte, ließ sie fast zwei Stunden warten. Zwei Stunden, die bedeutet hätten, dass sie nicht den ganzen Arbeitstag verloren und in Ruhe zur Schule hätten fahren können, statt sich in größter Sorge abzuhetzen.

Als sie schließlich zur Direktorin vorgelassen wurden und mich dort sitzen sahen, waren sie verblüfft. Sie dachten, man habe sie wegen Carlos einbestellt, der damals immer rebellischer wurde, aber bestimmt nicht meinetwegen.

Die Direktorin bat sie, Platz zu nehmen. Meine Eltern setzten sich auf die mit Leder bezogenen Stühle. Die Direktorin zeigte mit dem Finger auf mich.

»Wir haben beschlossen, Juan Guillermo endgültig und unwiderruflich von der Schule zu verweisen.«

Meine Eltern wechselten einen Blick, dann sah meine Mutter mich an.

»Was hat er angestellt?«, fragte sie fast flüsternd.

Zum Zeichen ihrer Empörung riss die Direktorin ihren Mund weit auf.

»Schüler wie Ihren Sohn können wir an dieser Schule nicht dulden.«

»Aber was hat er denn angestellt?«, fragte meine Mutter noch einmal.

Die Direktorin, die sich Miss Ramírez nennen ließ, wandte sich mir zu und hob ihr Kinn.

»Das soll er Ihnen selber sagen.«

Meine Eltern warteten auf meine Antwort. Ich traute mich nicht. Die Direktorin stellte sich drohend neben mich.

»Los, sag deinen Eltern, was du getan hast.«

Ich sah sie aus den Augenwinkeln an.

»Sag uns, was du angestellt hast«, wandte sich meine Mutter nun direkt an mich.

Ich schwieg. Miss Ramírez sprach mich auf Englisch an, weil sie wusste, dass meine Eltern sie dann nicht verstanden.

»Come on, tell them. Don’t be a coward.«

Ich schwieg weiterhin. Statt mich einzuschüchtern, schürte die Haltung der Direktorin nur meine Wut.

»Sie können ihn doch nicht mitten im Schuljahr rauswerfen«, sagte meine Mutter.

»Ich werfe raus, wen ich will und wann ich will, Señora. Und da der Junge sich weigert, Ihnen zu sagen, was er angestellt hat, muss ich es wohl tun.«

Genau in dem Moment, in dem sie zu ihrer Standpauke anheben wollte, fiel ich ihr ins Wort.

»Ich habe ein Mädchen geküsst, Ma.«

Mein Vater, der sich bis dahin zurückgehalten hatte, wetterte nun gegen die Direktorin.

»Sie wollen meinen Sohn rauswerfen, weil er ein Mädchen geküsst hat?«

»Selbstverständlich nicht, Señor, ich werde ihn rauswerfen, weil wir ihn dabei erwischt haben, wie er halbnackt ein Mädchen missbraucht hat, das ebenfalls halbnackt war. Ihr Sohn hat eine schwerwiegende moralische Verfehlung begangen, die an dieser Schule nicht geduldet wird.«

»Aber mein Sohn ist doch noch ein Kind.«

»Nein, Señor, Ihr Sohn ist pervers.«

Klassenzimmer. Pause. Schweigen. Blicke. Atmen. Herzklopfen. Hände. Rock. Knie. Schenkel. Haut. Streicheln. Blicke. Slip. Atmung. Herzklopfen. Berührung. Schamhaar. Nähe. Zittern. Blicke. Berührung. Schamhaar. Schweigen. Slip. Finger. Schamhaar. Feuchtigkeit. Stöhnen. Atmung. Hose. Reißverschluss. Hände. Atem. Blicke. Zittern. Knöpfe. Hände. Pimmel. Erektion. Berührung. Muschi. Berührung. Angst. Erregung. Blicke. Reiben. Pimmel. Muschi. Drinnen. Feuchtigkeit. Schweiß. Haut. Herzklopfen. Atmung. Schulglocke. Blicke. Trennung. Schweigen. Abschied. Klassenzimmer. Tür. Schweigen. Herzklopfen. Stimmen. Mitschüler. Lehrerin. Klassenzimmer. Blicke. Geheimnis.

Carlos knipste die Taschenlampe aus, holte das Gewehr hinter dem Hundezwinger hervor und schob eine Kugel in den Lauf.

»Mal sehen, ob sich eine Katze blicken lässt«, sagte er und lehnte sich an die Wand.

Wir schwiegen. Die Chinchillas fiepten im Dunkeln. Am Himmel der Mond, der bald erobert werden würde. Kann man das Uneroberbare erobern? Der Abdruck eines Raumfahrzeugs, der das Meer der Ruhe befleckt. Der Mensch und seine Obsession, auf alles seinen Fuß zu setzen.

In der Ferne dröhnten die Autos auf der Río Churubusco. Wo jetzt eine Avenida war, floss früher ein klarer Fluss voller Fische, Frösche, Axolotl und Schildkröten, in dem mein Vater und seine Freunde an heißen Nachmittagen badeten. Río Piedad, Río Mixcoac, Río de los Remedios. Ein Fluss nach dem anderen wurde in eine Straße verwandelt, erdrückt von tonnenweise Asphalt. Das Wassermassaker meiner Stadt.

»Wie hieß noch mal das Mädchen, das du in der Grundschule gevögelt hast?«, fragte Carlos.

»Ich habe kein Mädchen gevögelt.«

Carlos grinste. Sein Umriss in der Nacht. Auf dem Lauf des Gewehrs schimmerte das Licht des Mondes, auf den der Mensch bald seinen Fuß setzen würde.

»Dieses Mädchen, Mann, du weißt schon.«

»Fuensanta.«