image

100 × Österreich

Neue Essays aus Literatur und Wissenschaft

herausgegeben von
Monika Sommer, Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer

image

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01152-5

Inhaltsverzeichnis

VorwortBundespräsident Alexander Van der Bellen

VorwortKulturminister Gernot Blümel

VorwortMonika Sommer, Haus der Geschichte Österreich

Adele/RestitutionEva Blimlinger

AmbivalenzPeter Rosei

AuschwitzAlbert Lichtblau

Austrofaschismus/StändestaatLucile Dreidemy

BallhausplatzManfred Matzka

Befreit/BesetztGeorg Hoffmann

BurgenländerwitzClemens Berger

BurgtheaterPeter Turrini

ConchitaKatharina Wiedlack

Eiserner VorhangGünter Bischof

ErinnerungGeorg Stefan Troller

EurofighterFlorian Scheuba

ExilPaul Michael Lützeler

Farbenlehre, politischeDieter A. Binder

FlüchtlingeTanja Maljartschuk

FöderalismusFranz Schausberger

Frauen(wahl)rechtBettina Balàka

FristenregelungMaria Mesner

FunktionsjackenBirgit Birnbacher

FußballGeorg Spitaler

GedächtnisAleida Assmann

GemütlichkeitGerhard Ruiss

Gewalt, politischeAnna-Elisabeth Mayer

GrantHelmut Gollner

GrenzeMaja Haderlap

HabsburgKarl Vocelka

Hainburg, Zwentendorf, TschernobylOrtrun Veichtlbauer

HeimkinderPaulus Hochgatterer

HeldenplatzPeter Stachel

HofburgMeinhard Rauchensteiner

HymnenChristian Glanz

Identität, unsere kulturelleThomas Maurer

InländerrumStefan Benedik

Insel der SeligenRobert Prosser

JodelnSibylle Schleicher

JubelchöreLudwig Laher

KaffeeAndrea Grill

KasnudelJohn Wray

KellertürenRenate Welsh

KonkordanzdemokratieAnton Pelinka

KriegerdenkmalBrita Steinwendtner

KulturquartiereMartin Fritz

KZ MauthausenBertrand Perz

Land der BergeIrene Prugger

Land am StromeMartin Schmid

Land der ÄckerErnst Langthaler

Land der DomeErnst Hanisch

Land der HämmerRoman Sandgruber

Leich’, zwa schöneBrigitte Felderer

LipizzanerDaniela Strigl

MannerschnittenMartin Amanshauser

MigrationsgesellschaftDirk Rupnow

MinderheitenVida Bakondy

MusiklandCornelia Szabó-Knotik

NationalbewusstseinErnst Bruckmüller

NeujahrskonzertBarbara Boisits / Cornelia Szabó-Knotik

NobelpreiseJohannes Feichtinger

ÖBBUrsula Prutsch

Ösis und OssisSophie Gerber

Opferthesen, konkurrierendeHeidemarie Uhl

ORFPeter Huemer

OrtstafelnJosef Ostermayer

ParteienverkehrOlga Flor

PlatzkonzertLydia Mischkulnig

Politik der GefühleJosef Haslinger

PragmatisierungPeter Becker

ProporzHelmut Wohnout

Provinz/HeimatHelmut Konrad

Rot-Weiß-RotPeter Diem

Schilling – EuroFelix Butschek

SchlampereiJulya Rabinowich

Schnee, Nationsbildung imKlaus Zeyringer

SchnitzelClemens Ruthner

SeitenblickeLaura Freudenthaler

SinnlichkeitEvelyn Schlag

SozialpartnerschaftEmmerich Tálos

SprachformenMargit Schreiner

StaatsvertragWolfgang Mueller

StammtischAntonio Fian

SternsingenAnna Kim

StraßenumbenennungenFlorian Wenninger

SüdtirolSabine Gruber

TheatervergnügungenJulia Danielczyk

TöchtersöhneCordula Simon

TrachtBirgit Johler

Unentdecktes ÖsterreichKarl-Markus Gauß

UNO-CityOliver Rathkolb

UnvollendetGeorg Petz

VergessenSophie Reyer

WaldheimatDoron Rabinovici

WeltkriegeManfried Rauchensteiner

WeltmaschineClemens J. Setz

WiderstandWinfried R. Garscha

Wien ist …Daniel Kehlmann

Wien um 1900Wolfgang Maderthaner

WohlfahrtsstaatMarcus Gräser

WürstelstandHeinrich Steinfest

WunschkennzeichenAnna Weidenholzer

ZuhauseNorbert Gstrein

ZukunftsangstPetra Ganglbauer

Vorwort

Bundespräsident Alexander Van der Bellen

image

Ein Land geistig zu vermessen, ist beinahe vermessen. Wo anfangen? Wo enden? Wie man es auch anstellen mag, Vollständigkeit wird bei einem solchen Unterfangen sicherlich nie erzielt werden können. Das ändert nichts daran, dass diese Gattung der Literatur blüht und sich gut verkauft. »Gebrauchsanweisung für …« oder so ähnlich lauten dann die Titel.

Das hier vorliegende Konvolut nimmt jedoch eine Sonderstellung ein. Es nimmt das 100-Jahr-Jubiläum der Republik zum Anlass, um in 100 kurzen Essays Schlaglichter auf Österreich zu werfen. 100 Autorinnen und Autoren, Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft, der Verwaltung und mehreren Bereichen des öffentlichen Lebens schreiben zu Begriffen aus Architektur, Musik, Geschichte, Kulturgeschichte und Vielem mehr.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Stile spiegeln eine Vielfalt, die trotz der oben formulierten Zweifel dazu angetan ist, ein gültiges, jedenfalls aber spannendes Bild Österreichs zu entwerfen. Und dass die Liebe zur Heimat an einem Augenzwinkern keinen Schaden nimmt, das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Gerade in einem Land, das sich immer wieder selbst befragt und neu verortet.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern dieses klugen und mitunter sprühenden Kompendiums viel Freude bei der Lektüre.

image

100 Jahre – 100 Begriffe, von »Adele« bis »Zukunftsangst«

Gernot Blümel, Bundesminister für EU, Kunst, Kultur und Medien

image

Der 100. Geburtstag der Republik wird im Rahmen des Gedenk- und Erinnerungsjahres 2018 mit vielen Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen gefeiert.

Dieses Buch nimmt eine ganz besondere Stellung im Reigen der zahlreichen Veröffentlichungen zum Jubiläum des »Staates, den keiner wollte« ein. 100 Autorinnen und Autoren wurden gebeten, ihre Assoziationen zu frei gewählten Begriffen in essayistischen Artikeln festzuhalten. Das Ergebnis könnte österreichischer nicht sein.

Neben vielen staatspolitischen, juridischen und historischen Betrachtungen kommen auch jene spezifischen Inhalte nicht zu kurz, die ausschließlich die österreichische Eigenart betreffen, ohne die Österreich nicht vorstellbar wäre und die jenes Österreich, wie wir es heute kennen und schätzen, zusammen ausmachen und es sympathisch erscheinen lassen.

Die große Skepsis, die der Gründung der Republik vor 100 Jahren entgegenschlug, entsprang dem Vorbehalt gegenüber einem Staat, der den Rest eines einst mächtigen Reiches von europäischer Dimension darstellte. Viele Herausforderungen und Probleme, tragische und existenzbedrohende Ereignisse, aber auch viele Chancen begleiteten den Weg Österreichs durch die Geschichte des letzten Jahrhunderts.

Heute ist die Republik Österreich Mitglied der Europäischen Union, und gerade rechtzeitig zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik durften wir bereits zum dritten Mal den Vorsitz im Rat der EU übernehmen. Österreich ist zu einem verlässlichen Partner in Europa und auch weltweit geworden. Am 12. November 1918 haben es sich die Menschen angesichts des furchtbaren Elends, das ein mörderischer Weltkrieg hinterließ, und das jegliche Perspektive für die Zukunft zu nehmen schien, wohl nicht träumen lassen, dass aus dem neuen Österreich einmal ein Staat werden würde, der durch einen so hohen Grad an Zustimmung und Identifikation gekennzeichnet wird, wie das heute der Fall ist.

Die Bewusstmachung und Bewussthaltung jener immer wieder auftauchenden Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat sind unerlässlich für den erfolgreichen Aufbruch Österreichs in das zweite Jahrhundert seines Bestehens. Es wäre schön gewesen, den 100 Artikeln noch einen weiteren 101. hinzuzufügen: »Zukunftshoffnung«.

Vorwort

Haus der Geschichte Österreich –
Aufbruch ins Ungewisse

Monika Sommer

1. März 1998

Aufgeregt betrete ich die ehemaligen Hofstallungen, vorbei am Kindermuseum und an Zugängen zu privaten Wohnungen, steige die Stiegen hinauf zum Institut für Kulturwissenschaft, das mit einem schönen, modernen Zugangsportal einen zeitgenössischen Akzent in der historischen Architektur setzt. Die große Transformation des gesamten Areals in das Museumsquartier soll wenig später folgen. Ich treffe auf andere mehr oder weniger junge Leute, gemeinsam warten wir auf das Aufnahmegespräch für die Ausbildung zur »KuratorIn im Museums- und Ausstellungswesen«, angeboten von Renate Goebl und Dieter Bogner. Beide prägen pionierhaft die Entwicklung des österreichischen Museumswesens, das sich gerade enorm verändert, da sich die Museen nun langsam nicht mehr als Musentempel, sondern als publikumsorientierte Bildungseinrichtungen verstehen. Die unter Wissenschaftsminister Erhard Busek ins Rollen gebrachte »Museumsmilliarde«, damals noch Schilling, hat für die Bundesmuseen einen Sanierungs- und Modernisierungsschub gebracht.

Hinter mir liegt ein Sommer, den ich mit Vermittlungs- und Verwaltungstätigkeit im Museum in Bad Radkersburg verbracht habe, einem Heimatmuseum, das gerade neu konzipiert worden ist – diesen Prozess konnte ich als Studentin miterleben. Hier wird Geschichte ambitioniert erzählt und ausgestellt. Das will ich künftig auch tun.

Beim Aufnahmegespräch sollen alle KandidatInnen über ein gelungenes oder ein gescheitertes Museumsprojekt berichten. Ich habe mich entschieden, den Stand der Debatte zu einem möglichen Haus der Geschichte vorzustellen, denn schon länger habe ich die Diskussionen der führenden Historiker dazu verfolgt. Gleichzeitig haben mich die Forschungen über »Lieux de Mémoire« geprägt. Wie wäre ein zeitgemäßes österreichisches Geschichtsmuseum zu konzipieren, das Geschichte als offenen Prozess vermitteln soll und gleichzeitig permanent mit der Gefahr konfrontiert ist, diese aufs Neue festzuschreiben?

Ich präsentiere die Ideenpapiere von Stefan Karner und Manfried Rauchensteiner, die Vorstellung eines Hauses der Toleranz im Palais Epstein – eine Idee, die Leon Zelman, Anton Pelinka und Wissenschaftsminister Caspar Einem verfolgt haben –, und stelle die Ideen einer Gruppe um Siegfried Mattl vor, die die Gründung eines physischen Hauses der Geschichte zugunsten eines »virtuellen Museums« ablehnt. Mein Plädoyer für die Verbindung des Museums im Internet und des realen Museums im Palais Epstein fruchtet – ich werde aufgenommen. Vor mir liegen aufregende Jahre: die Ausbildung zur Kuratorin, das Verfassen einer museologischen Dissertation, eine Junior-Fellowship am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien, zehn tolle Jahre am Wien Museum an der Seite von Wolfgang Kos, das Übernehmen der Co-Leitung der KuratorInnen-Ausbildung an der Universität für angewandte Kunst Wien, vier lehrreiche Jahre beim Europäischen Forum Alpbach. Das Projekt für ein Haus der Geschichte, das 1998 bereits vor der Realisierung zu stehen schien, sollte jedoch noch jahrelang auf Eis liegen.

13. Februar 2017

Mein erster Tag als Gründungsdirektorin des Hauses der Geschichte Österreich, das wissenschaftlich unabhängig arbeitet und organisatorisch in die Österreichische Nationalbibliothek eingebunden ist. Eine Kollegin zeigt mir am Vormittag nach einem Gespräch mit Generaldirektorin Johanna Rachinger die Büroräumlichkeiten, vier möblierte Zimmer, vorerst für mich allein. Doch schon am Nachmittag führe ich Bewerbungsgespräche, denn der Druck ist enorm, soll doch anlässlich des 100. Jahrestags der Republik am 12. November 2018 eröffnet werden. Der Umbau der Ausstellungsräume in der Neuen Burg ist schon im Gange, den internationalen Wettbewerb zur Gestaltung schreiben wir am 6. März aus.

Zwischenzeitlich sind 2005 die Großausstellung Das neue Österreich im Belvedere und eine Staatsvertrags-Ausstellung auf der Schallaburg realisiert worden, 2008 wurde eine Ausstellung zu 90 Jahren Republik im Parlament veranstaltet. 2009 hat die Museumsfachfrau Claudia Haas im Auftrag der Bundesregierung eine umfassende Studie erstellt, die einen Neubau empfiehlt. Und St. Pölten hat sich als Teil des Museums Niederösterreich für ein eigenes Haus der Geschichte entschieden.

2015 ist das Projekt eines bundesweiten Hauses der Geschichte Österreich durch das Engagement von Minister Josef Ostermayer und Historiker Oliver Rathkolb neu in Bewegung gekommen. Schließlich ist es im März 2016 gelungen, das Bundesmuseumsgesetz zu ändern und somit die gesetzliche Grundlage für die Gründung des Hauses der Geschichte Österreich zu schaffen. So weit waren die Planungen bisher noch nie fortgeschritten. Es folgte im Mai 2016 eine Regierungsumbildung, Thomas Drozda löste Josef Ostermayer als Minister ab und redimensionierte die Planungen seines Vorgängers. Im internationalen Vergleich gesehen, fallen die Ressourcen für das Geschichtsmuseum nun äußerst bescheiden aus.

12. März 2018

Auf dem Heldenplatz übergibt das Haus der Geschichte Österreich der Öffentlichkeit eine Soundinstallation der schottischen Künstlerin Susan Philipsz. Vor 80 Jahren erfolgte der »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Am 15. März 1938 hielt Hitler am Heldenplatz jene Rede, die bis heute untrennbar mit dem Platz verknüpft ist. Die akustische, szenische Inszenierung des »Anschlusses«, gepaart mit dem frenetischen Jubel der Menschenmassen, erzeugt einen negativen audiovisuellen Gedächtnisort: Der Heldenplatz bzw. der Altan der Neuen Burg steht gewissermaßen für die Mitschuld eines Teils der österreichischen Gesellschaft am NS-Terror.

Gemeinsam mit Kasper König, Stella Rollig und Thomas Trummer habe ich mich entschieden, die Turner-Preisträgerin für das Auftragswerk einzuladen. Wir wollten den Altan der Neuen Burg nicht wieder bildprägend werden lassen. Die Soundarbeit The Voices erinnert an jene, die seit diesem Tag zum Schweigen gebracht wurden und an das lange Schweigen über die Mitverantwortung in der Zweiten Republik. Sie antwortet der politischen Propaganda und der Massenhysterie reflektiert und subtil. Der zarte Klang, erzeugt durch das Reiben von Rändern langstieliger wassergefüllter Weingläser, entfaltet sich auf dem Heldenplatz zwischen der Neuen Burg und den beiden temporären Pavillons des Parlaments – er gemahnt an individuelle Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft.

12. November 2018

Das Haus der Geschichte Österreich ist eröffnet. Das gesamte Team hat sein Bestes gegeben und es geschafft, in wenigen Monaten eine Ausstellung zu konzipieren und zu realisieren, die zu konstruktiven Diskussionen über Österreichs Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anregen will – ein »Diskussionsforum« soll das Haus der Geschichte Österreich sein, so steht es schon im Gesetz. Das neue Museum legt nicht eine Sichtweise auf die Vergangenheit fest, die Ausstellung bietet eine chronologische Lesart, aber auch themenspezifische Zugänge. Eine Webplattform, an der sich Interessierte beteiligen können, ergänzt das Angebot. Das vorliegende Buch – für die Eröffnung des Hauses der Geschichte Österreich konzipiert und gemeinsam mit Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer herausgegeben – bietet weitere, vielstimmige Perspektiven auf dieses Österreich. Und wer weiß, vielleicht bekennt sich die Politik ja zu ihrem Haus der Geschichte Österreich und schenkt sich anlässlich des Jubiläums der Ausrufung der Republik vor hundert Jahren einen Neubau in zentraler Lage? Das Land hätte es sich verdient.

Die goldene Adele und der Durchlauferhitzer

Eva Blimlinger

Wieso denn erst jetzt? Wieso werden erst jetzt Kunstwerke und Bücher, Knopfsammlungen, Porzellane, Gläser, Autos und sogar Durchlauferhitzer zurückgegeben? Warum denn nicht schon früher? Warum gibt man das überhaupt zurück? Gibt es da überhaupt Erb_innen? Hat es da nicht Rückstellungsgesetze gegeben? Fragen, die in den letzten Jahren immer wieder in Diskussionen, Postings zu Artikeln, Seminaren oder bei Präsentationen gestellt werden und auf die es viele Antworten gibt.

Die Republik Österreich bemühte sich nach 1945 – vor allem bis 1949 – wiederholt, Vermögen zurückzugeben, das während des Nationalsozialismus entzogen worden war. Vielfach waren die Maßnahmen jedoch halbherzig, schlecht vorbereitet und für die Antragsteller_innen, vor allem jene, die aus Österreich flüchten mussten, eine bürokratische Zumutung. Die jeweiligen gesetzlichen Grundlagen von den 1940er bis zu den 1960er Jahren führten in der Regel dazu, dass die Überlebenden des Holocaust und ihre Erb_innen – wenn überhaupt, dann nur unter größten Schwierigkeiten – das zurückbekamen, was ihnen entzogen worden war, oder zumindest dafür entschädigt wurden. Eine besondere Schwierigkeit war, dass sich Österreich für das Prinzip der Naturalrestitution entschieden hatte, also dafür, nur das zurückzugeben, was da, was auffindbar war. Dieses Prinzip führte vor allem bei mobilem Vermögen dazu, dass es außerordentlich schwierig war, die gesuchten Gegenstände nach 1945 zu finden und dass es heute, Jahrzehnte danach, äußerst schwierig ist, die damaligen Eigentümer_innen ausfindig zu machen: Von der arisierten Küchenkredenz über die Harley-Davidson bis zu Gottfried van Swietens 1790 in Wien erschienenem Vorträge des Präsidenten bey der Studien- und Censurs-Hofkommission oder zum Kochbuch für Katharina Hekler.

In Österreich begann die neuerliche – zunächst vor allem politische – Diskussion um Vermögensentzug und Arisierung während der nationalsozialistischen Herrschaft sowie Entschädigung und Rückstellung in der Zweiten Republik Ende des Jahres 1997 mit der Beschlagnahme von zwei Kunstwerken aus dem Leopold Museum. Am 9. Oktober 1997 wurde im Museum of Modern Art in New York die größte Schiele-Ausstellung eröffnet, die je in den USA gezeigt wurde: Egon Schiele: The Leopold Collection, Vienna. 152 Werke aus der Stiftung Leopold waren bis zum 4. Jänner 1998 zu sehen. Am 24. Dezember 1997 beschuldigte die New York Times den österreichischen Kunstsammler, in seiner Sammlung insgesamt vier Bilder »mit schwieriger Vergangenheit« zu haben. Leopold sprach in einer ersten Reaktion von »Lügen von A bis Z«. Er wies alle Vorwürfe zurück. Am 7. Jänner 1998 wurden die in der Ausstellung gezeigten Bilder Bildnis Wally und Tote Stadt III vom New Yorker Staatsanwalt Robert Morgenthau als »Diebesgut« beschlagnahmt. Henry Bondi und Rita Reif hatten als Erb_innen der Eigentümer_innen vor 1938 Ansprüche auf die Bilder gestellt. Das Bild Tote Stadt III wurde am 21. September 1999 vom US-amerikanischen Justizministerium freigegeben und nach Österreich überstellt. Der Rechtsstreit um das Bildnis Wally sollte bis 2010, also dreizehn Jahre dauern und wurde schließlich durch einen Vergleich am 27. Juli 2010 beendet; das Bild befindet sich nunmehr im Leopold Museum.

Mit dieser Beschlagnahme gab es plötzlich eine öffentliche Diskussion zu einem Thema, welches spätestens seit 1996 mit der Versteigerung unbeanspruchter Kunst- und Kulturgegenstände, die in der Kartause Mauerbach gelagert waren, als erledigt gegolten hatte. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich alsbald herausstellen sollte. Nach der Beschlagnahme der beiden Schiele-Bilder war klar, hier musste vor allem in den Bundesmuseen, aber auch in Landes- und Gemeindemuseen Nachschau gehalten werden. Zur Auffindung etwaiger Kunstgegenstände oder auch Bücher im Eigentum des Bundes wurde im Februar 1998 eine Arbeitsgruppe für Provenienzforschung, später dann die Kommission für Provenienzforschung, eingerichtet. Und dann ging es Schlag auf Schlag: Die Postsparkasse setzte eine Historikerkommission ein. Auf Anregung des damaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Ariel Muzicant, wurde im Oktober 1998 die Historikerkommission der Republik Österreich eingesetzt, und schließlich beschloss im Herbst 1998 der Nationalrat das Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen.

Am 20. Jänner 1999 trat zum ersten Mal jener Beirat zusammen, der über die Rückgabe auf Grund des Gesetzes zu entscheiden hat. Zunächst dachte die damalige Bundesministerin Elisabeth Gehrer, die Provenienzrecherche würde in zwei, drei Jahren erledigt sein. Wie so oft, was die Dauer der Rückstellungen betrifft, irrten sich die Politiker_innen, es dauerte immer wesentlich länger als prognostiziert. Die Kommission für Provenienzforschung begeht im November 2018 ihr 20-jähriges Jubiläum und ein Ende der Recherchen und damit verbundenen Rückgaben aus Bundeseigentum ist nicht abzusehen.

Die Mitarbeiter_innen der Kommission erforschen systematisch die Sammlungen des Bundes und legen zu einzelnen Fällen Dossiers vor. Diese werden dem Kunstrückgabe-Beirat übermittelt, der gegebenenfalls eine Rückgabe an festgestellte »Berechtigte« dem oder der zuständigen Bundesminister_in empfiehlt. Die Entscheidung liegt ausschließlich bei dem oder der Bundesminister_in, sie oder er ist per Gesetz zur Rückgabe ermächtigt. Es besteht kein Rechtsanspruch auf Herausgabe eines Kunstgegenstands, ein Verwaltungsverfahren nach dem Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz findet nicht statt. In allen bisherigen Fällen sind die Bundesminister_innen den Empfehlungen des Kunstrückgabebeirats gefolgt.

Einer jener Fälle, wenn man so will der Fall der Fälle, vor allem was die öffentliche internationale Aufmerksamkeit betrifft, war jener, der letztendlich im Schiedsverfahren Maria Altmann, Francis Gutmann, Trevor Mantle, George Bentley, alle vertreten durch Randol Schoenberg, und Nelly Auersperg, vertreten durch Berardino & Harris, gegen die Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, endete. Gegenstand dieses jahrelangen Verfahrens waren die Bilder von Gustav Klimt Adele Bloch-Bauer I (»Goldene Adele«), Adele Bloch-Bauer II, Apfelbaum, Buchenwald/Birkenwald und Häuser in Unterach am Attersee, die sich in der Österreichischen Galerie Belvedere befanden und ursprünglich im Eigentum der Familie Bloch-Bauer waren.

Der Fall der Fälle begann kurz nach der Beschlagnahme der Schiele-Bilder am 21. Februar 1998. In der Tageszeitung Der Standard erschien der Artikel von Hubertus Czernin Aus taktischen Gründen bitte verzögern, in dem er die Geschichte der Familie Bloch-Bauer und der arisierten Kunstgegenstände erzählte. Am 28. Juni 1999 fasste der Kunstrückgabe-Beirat seinen ersten Beschluss in der Sache Ferdinand Bloch-Bauer. Da wurde zunächst beschlossen, 16 Klimt-Zeichnungen sowie diverse Porzellane zurückzugeben. Beschlossen wurde auch, besagte fünf Klimt-Bilder nicht zurückzugeben.

Diese Entscheidung führte nun zu einem sieben Jahre dauernden, international geführten Rechtsstreit, der schließlich auf Grund der Entscheidung eines Schiedskomitees mit der Rückgabe der fünf Bilder an die Erb_innen endete. Es ist hier nicht der Platz, die juristischen Einzelheiten zu erläutern, sie zu analysieren oder zu bewerten, festzustellen, ob die Entscheidung der Schiedskommission richtig oder falsch war. Die zentrale Bedeutung dieses Falls liegt letztendlich nicht in der juristischen Entscheidung, sondern in der Art und Weise, wie die Republik Österreich diese Causa behandelte.

Die Republik Österreich wusste wieder einmal nicht, was in dieser Situation zu tun ist, wie jenen zu begegnen ist, die aus dem Land vertrieben wurden, denen alles von den Nationalsozialisten entzogen wurde. Es gab kein Bemühen, keine Idee, nichts. Elisabeth Gehrer agierte hilflos, beleidigt, gekränkt. In einem Antwortschreiben auf einen Artikel von Hubertus Czernin nach dem negativen Beschluss des Kunstrückgabebeirats versuchte Gehrer die Entscheidung zu rechtfertigen, dort, wo nichts zu rechtfertigen war. Die Bilder wurden schließlich zurückgegeben, die Bemühungen um einen Kauf von Seiten der Republik Österreich scheiterten, während auf einer Homepage die »Reisefreiheit für Adele« gefordert wurde. 2006 wurde Adele Bloch-Bauer I für 135 Millionen Dollar vom US-amerikanischen Unternehmer Ronald Lauder für die von ihm gegründete Neue Galerie in Manhattan (New York) erworben und kann dort gesehen werden.

Der Fall der Fälle überlagerte die zehntausenden Rückgaben, die seit 1998 stattgefunden haben. Österreich ist weltweit das einzige Land, das in einem Kunstrückgabegesetz die »Washington Principles on Nazi-Confiscated Art« umgesetzt hat und dadurch große internationale Anerkennung erfährt. Leider finden oft nur die »großen Fälle« ihren Weg in die Öffentlichkeit, und nicht etwa die Rückgabe der kleinen Sammlung von Blättern von Carl Meyer, die der nach Palästina geflüchteten Betty Blum gehörten. Alle seit 1998 getroffenen Empfehlungen sind im Volltext auf der Seite der Kommission für Provenienzforschung (www.provenienzforschung.gv.at) dargestellt.

Ein paar Bemerkungen über Ambivalenz

Peter Rosei

Keinerlei Wolken am Himmel, der im Übrigen so klar und so rein ist, dass seine Oberfläche zugleich unendliche Tiefe ist. Festliche, dunkle Schatten der Dinge, fein hingestrichene Sonnenflächen. – Sehr österreichisch, das alles.

Der Begriff Ambivalenz stammt zwar vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, was seine Popularisierung angeht, möchte ich ihn doch – Stichwort Sigmund Freud – für Österreich reklamieren. Ambivalenz meint die spannungsgeladene Stimmung eines Sowohl-als-Auch, die einerseits den Menschen befähigt, Gegensätze in seiner Lebenswelt zu ertragen, ihn andererseits aber in seinen Entscheidungen und Handlungen hemmt. Hassliebe ist wohl das geläufigste Beispiel für diese Haltung.

Mit einer Art negativen Theologie könnte man behaupten, dass etwa Otto Mühl oder Günther Brus, die auf Österreich ganz real geschissen und gebrunzt haben, ihm doch verbunden geblieben sind: Mühl übers Gefängnis, Brus mit seinem Museum in Graz, in dem sein Werk nun aufgehoben und, ja, eingesargt ist.

Jeden Morgen spaziere ich bei den Begräbnisstätten von Beethoven und Schubert vorbei. Letzterer wird von Franz Grillparzer mit den Worten verabschiedet: Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz, aber noch viel schönere Hoffnungen – was man ja auch so lesen könnte: Was Schubert geschaffen hat, nun gut, ok. Aber was da noch hätte kommen können …

Damit verwandt scheint mir die Denkungsart von Wittgenstein, der schreibt: Ich glaube, das gute Österreichische ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit liegt nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit. – Das Gegenteil des Subtilen ist das Grobe, das Gewöhnliche, man könnte auch sagen: Das Gegenteil des Subtilen ist der Alltag, der Betrieb, ist die Immanenz. Wittgenstein versteht seine Bemerkung positiv: Die Wahrheit, die das gute Österreichische sucht – und gelegentlich auch findet –, liegt also nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit. Nachdem aber unser Denken seine Resultate stets nur in Form von Wahrscheinlichkeiten erzielen kann, muss Wittgenstein bei seiner Bemerkung eine andere Art von Wahrscheinlichkeit im Sinn gehabt haben. Mir kommt vor, er versteht Wahrscheinlichkeit hier im Sinn von: die vorgegebene, die übliche Lösung, das landläufig Wahrscheinliche. Das Wort subtil – Wittgenstein hebt ja auch durch das Schriftbild den eigenwilligen, eigensinnigen Gebrauch des Wortes hervor –, hier legt es sich aus als abweichend, feinsinnig, ja, irgendwie exklusiv. Jedenfalls stehen das Wort und sein Gebrauch hier in Opposition zu dem, was gemeinhin für wahrscheinlich gehalten wird. Von wem aber? Die Nicht-Österreicher sind hier bestimmt nicht gemeint. Wittgenstein meint also eher: Die Sorte von Wahrscheinlichkeit, die das Österreichische auszeichnet, kommt sonst nicht vor, kommt selten vor, ist dem Mainstream, wie man heute sagen würde, fremd, steht irgendwie in Opposition zu dem, was landläufig für wahrscheinlich gilt oder gehalten wird, schließt sich nicht allen auf, schließt sich nur wenigen auf, ist irgendwie exquisit, elitär usf. – Man könnte die Bemerkung Wittgensteins allerdings auch negativ und also abwertend auffassen, freilich ganz gegen seine, gegen Wittgensteins Intention: Das gute Österreichische wäre dann das Abseitige und Verstiegene, das landläufig Unverstehbare, wohl auch fürs Erste Unbrauchbare, das Unhandliche, allzu Hochgemute oder Manierierte, das zu hoch Hinauszielende, das Extreme, das berserkerhaft Rücksichtslose und Wilde, das Gegenvernünftige, ja Irre, die Ekstase, der Wahn etc. – und das gibt doch auch zu denken.

Was würdest denn du als das gute Österreichische bezeichnen? Es ist wohl der Zweifel an allem Hier-Sein und So-Sein, kommt mir vor, ein Zweifel allerdings, der sich bald ins Aktive und Tätige wendet, ein Zweifel, der sich auf je verschiedene Art von sich selbst zu befreien, eben gerade den Zweifel endgültig abzutun sucht: Was ist ein solcher Zweifel aber anderes als ein sonderbar kreatives Prinzip?

Gemütlichkeit und Denken schließen einander aus.

image

Es ist eine der besonderen Pointen der Historie Österreichs, dass sowohl die Erste als auch die Zweite Republik gewissermaßen von außen proklamiert wurden. Der von den Österreichern nach dem Ersten Weltkrieg gewünschte Anschluss an Deutschland, Staatskanzler Renner wird in dem Zusammenhang immer genannt, wurde bei den Friedensverhandlungen in St. Germain zurückgewiesen, ja verboten. Im selben Vorgang wurde auch das proklamierte Staatsgebiet kräftig beschnitten. Clemenceaus angeblicher Ausspruch: Österreich – das ist der Rest! fasst den Vorgang prägnant, für unsere Ohren freilich zynisch klingend, zusammen.

Auch die Zweite Republik wurde grundsätzlich von den Siegermächten implementiert – in der Moskauer Deklaration ist trickreich von Wiederherstellung die Rede – und geht also mit der nachmaligen und zumindest dem Buchstaben nach aufrechterhaltenen, immerwährenden Neutralität nicht auf österreichisches und also eigenes Betreiben, sondern auf ein Reglement von außen zurück.

Die Bundesländer wieder, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Kärnten, Tirol etc., sind weit älter als der Staat Österreich in seiner heutigen Gestalt. Man könnte beinah sagen, die Länder hat es, im Vergleich zum Gesamtstaat, immer gegeben, womit ich nicht sagen möchte, die Österreicher wären in erster Linie Niederösterreicher, Oberösterreicher etc. – das wäre absurd. Österreich als Ganzes aber ist bis heute eine recht unanschauliche Größe geblieben, deren Realität zwar niemand anzweifelt, deren Inhalt mangels Konsens über die geschichtliche Herleitung freilich vage bleibt. Weil es Österreich gibt, könnte man sagen, gibt es Österreich.

image

Was allgemein unter österreichisch firmiert, insbesondere im Ausland, meint für gewöhnlich das Wienerische. Man wird nun kaum ein zweites, ein anderes Volk neben den Wienern finden, das so ganz verliebt ist, nicht in sich selbst, sondern speziell in seine negativen Seiten. Das Bild vom verfressenen, versoffenen, daseinsvergessenen Wiener kann hierzulande jederzeit auf Zuspruch eines lachlustigen Publikums rechnen. Man ist stolz auf die vielzitierte Gemütlichkeit. Eine lockere Fasson und ein wenig Hochstapelei, was hier Lebensart heißt, werden hochgehalten. Schlendrian und eine moderate Form von Korruption werden zum Nationalcharakter gerechnet. Handelt es sich hier vielleicht um die Rache von über Jahrhunderte geknechteten Untertanen, die nicht ihre Herren für die ausgeübte Unterdrückung, sondern sich selbst für das Dulden derselben verachten?

Im Westen wird die Stadt vom grünen Wienerwald eingefasst. Die Geografen sprechen gern von einem Becken, von einer Muschel, in die die Stadt gebettet ist. Und in der Tat, schaut man von der Anhöhe des Wienerwaldes auf die Stadt hinunter, liegt sie, was ihre Hauptmasse betrifft, tatsächlich geschmiegt in diese weiche, gegen Osten hin offene Form, die eingegrenzt wird von flachkuppigen Hügeln gegen Süden und dem schroffen Kahlenberg im Norden, der hart an den Donaustrom grenzt. – Es gibt freilich Tage, im Frühling oder dem Herbst zu, da schwimmt die Stadtmasse mit ihren Dächern, Kuppeln und Türmen in einem Geschiller aus blauer Luft und braunem, ja goldenem Lauboder sind es die braungrünen Triebe des noch jungen Weins, der sich um Drähte und aufrecht stehende Stöcke windet? Es geht dann, schaut man auf die Stadt hinunteroder streift man durch ihre besonnten und bekannten Straßen, alles bald in einem durcheinander, wirr und weich, das Untere kommt bald zuoberst, und das Obere kippt nach unten.

Es ist, als wenn die ganze Stadt nicht da draußen wäre, auf diesen zuletzt doch nur temporären Klippen und Kuppen und Hügeln aus Kalk und Lehm, nein, als ginge und schwankte sie im Inneren drinnen wie Wellen eines großen Meeres: Und die braungrünen Eichenbäume, die sanften Linden, die tollpatschigen Kastanien stehen da als wirre Notate, als flüchtige Einzeichnungen auf den schwarzen Linien einer Partitur: Und was du da hörst und empfindest, sind Klang und Wesen einer unerhörten, einer noch nie dagewesenen Musik!

Übersteigt man die Höhen von Wiener- und Laaerberg, liegt die Stadt vor einem hineingegossen in diese Bucht oder Muschel, die vom Rund der Wienerwaldberge gebildet wird. In der Mitte des flirrenden Gewirrs der Baukörper, der Dächer, Kuppeln und Türme, undeutlich sichtbar im Dunst, aufragend aus der bald gekrösehaft und fettig sich ringelnden, bald bröselig-grau oder schorfig und wund anzuschauenden Masse, steht der Turm von Sankt Stephan.

Wien, das ist ja nie weit weg, das ist immer gleich um die Ecken und wartet. Da wartet es. – Das ist immer so nah und so bald, dass unsereiner leicht und ohne Weiteres auf der Rasierklingen hinüberreiten kann, wie nix.

Auschwitz

Albert Lichtblau

AUSCHWITZ. Jedes Wort darüber hinaus entfernt uns davon, ist Reden darüber, ein Beschreiben, ein Abgleiten von der historischen Realität. Überlebende sprachen und sprechen vom »Planet Auschwitz«, der »Hölle« oder »Metropole des Todes«. Sie wussten, dass sie es nicht schaffen können, das Durchgemachte so darzustellen, dass es für jene, die dort nicht als Verfolgte waren, nachvollziehbar wird. Es sei unmöglich. Dennoch versuchten sie es immer wieder. Alleine, die Dimension Zeit lässt sich nicht beschreiben – es müssten unerträgliche Texte sein, die tage-, wochen- oder jahrelang von Angst, Erschöpfung, Sterben, Geschrei, Dreck, Blut, Gestank der verbrennenden Leichen, Hass, Missgunst, Verzweiflung, Hunger, den todgeweihten Ausgehungerten usw. handeln. Das »usw.« ist genau das Problem, denn eine Aufzählung von allem Unerträglichen ist nicht möglich.

Ein Ort steht symbolisch für den Holocaust und den Porajmos: Auschwitz eben. Der Versuch über Auschwitz zu schreiben ergibt kein adäquat Ganzes, bleibt immer ein Fragment. Er hinterlässt Ratlosigkeit, trotz aller Versuche des Verstehens, des Beschreibens, des Analysierens, des Erklärens, des Theoretisierens. Es wird dennoch immer wieder probiert und es gibt gewichtige Gründe dafür.

Wir tragen jederzeit abrufbare Bilder von Auschwitz in uns: das Eingangstor zum Stammlager mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«, das Einfahrtsgebäude von Birkenau, die Rampe, den Viehwaggon, die Wachtürme, den Stacheldraht, die Baracken, die ausgestellten Habseligkeiten der Opfer – die Koffer, Schuhe, Brillen, Zahnbürsten, die menschlichen Relikte: Berge von Haaren. Auch das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau gerät an diese Grenzen. Gestank und Angst lassen sich nicht darstellen. Außerdem sind von den ehemaligen drei großen Lagern mit dem ehemaligen Stammlager und dem Vernichtungslager Birkenau nur zwei zugänglich, während das Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz-Monowitz für Besuchende verschlossen ist.

Viele Orte der nationalsozialistischen Massenvernichtung haben so gut wie keine Bilder hinterlassen, wie beispielsweise die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« Treblinka, Sobibor und Belzec. Auschwitz hat die Bebilderung von Holocaust und Porajmos weitgehend übernommen. Doch auch die Bilder über Auschwitz sind nicht gefeit vor Ignoranz oder Verkitschung des Genozidgedenkens. Außerhalb der Gedenkstätte im ehemaligen Stammlager von Auschwitz werden handbemalte Teller oder Häferl mit dem Motiv des Eingangstors, geprägte Münzen oder ein 3-D-Modell von »Arbeit macht frei« bzw. dem Einfahrtsgebäude von Birkenau zum Verkauf angeboten. Dies sind nur wenige Beispiele von vielen für den Versuch, den Schrecken zu kommerzialisieren und zu vermarkten. Paradoxerweise regen künstlerische Interventionen wie das Lego-Auschwitz-Set von Zbigniew Libera aus dem Jahr 1996 oder die abgesagte Performance »Auschwitz on the Beach« des italienischen Künstlers Franco Berardi bei der documenta 2017 die mediale Öffentlichkeit weitaus mehr auf. Robert Menasse lässt in seinem 2017 erschienenen EU-Roman Die Hauptstadt einen österreichischen Ökonomen vorschlagen, in »Auschwitz« eine neue europäische Hauptstadt zu entwerfen. Die Frage des Gedenkens hat sich vor andere gestellt. Sie beinhaltet etwa die Fragen nach Inhalt und Form der Ausstellungen in den Gedenkstätten, Verhalten von Besuchenden von Gedenkstätten, Angemessenheit der Thematisierung von Auschwitz in der Kunst oder in Gedenkprojekten. Es sind Schlüsselfragen geworden: Wie werden Gedenkstätten »bespielt« und vermarktet? Wie verändert sich das mit den Orten der Massenmorde verbundene »moralische Kapital«? Inwiefern werden Orte wie AUSCHWITZ politisch instrumentalisiert und für wen bieten sie Profilierungsmöglichkeiten? Welche Rolle spielen dabei die Überlebenden? Was suchen Menschen an diesen Orten, was wird ihnen geboten, wie verhalten sie sich und was finden sie dort? Wie werden sie behandelt? Was bewirken diese Orte wann und bei wem?

Die 2013 erfolgte Ausschreibung zur Neugestaltung der Österreich-Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau evozierte die zusätzliche, nicht weniger grundsätzliche Frage: Wozu? 35 Jahre nach der Konzeption der ersten Ausstellung sollte eine neue österreichische Ausstellung zeigen, wie sich das Land seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus heute stellt. Zudem war die Ausstellung aus dem Jahr 1978 längst überaltert und provozierte durch die große Eingangssequenz mit der Aufschrift: »März 1938. Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus« und einem mit Stiefeln getretenen rot-weiß-roten Österreich-Umriss. Die auf diese Weise eingeschriebene Opferthese konnte so nicht mehr stehen bleiben. Allerdings ist der Sachverhalt komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Immerhin wurde die Ausstellung wesentlich von Auschwitz-Überlebenden gestaltet, die tatsächlich Opfer des Nationalsozialismus waren und gegen das Terrorregime aktiven Widerstand geleistet hatten. Trotzdem trugen sie damit zum österreichischen Opfer-Narrativ bei, das erst in den 1980er Jahren maßgeblich beeinsprucht wurde. Es wäre an der Zeit, diese Verwobenheit zu entschlüsseln.

Für das Team der neuen Österreich-Ausstellung stand ein anderer Gedanke im Mittelpunkt, der vielmehr mit dem Ort Auschwitz, seiner Entfernung von Österreich und der daraus folgenden Frage nach der angemessenen Thematisierung österreichischer Geschichte am Ort des Massenverbrechens zu tun hat. So entstand unter dem Titel Entfernung ein radikales Ausstellungskonzept, das sowohl eine Ausstellung in Österreich als auch im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau vorsah. Die beiden Ausstellungen sollten virtuell miteinander verbunden sein, sichtbar, als Projektion, am jeweils anderen Ort. AUSCHWITZ wäre damit unmittelbar nach Wien gebracht worden und Österreich – als parallele Welt – in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Mit diesem Konzept wurde nicht zuletzt auch dem Umstand Rechnung getragen, dass nur wenige Besuchende aus Österreich jährlich in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau kommen: 2016 waren es knapp 8000 von mehr als zwei Millionen. Das ursprüngliche Ausstellungskonzept war damit auch ein Hinweis auf eine bemerkenswerte Situation: Es gibt Holocaust-Museen in der ganzen Welt, von Seattle bis Kapstadt, bloß nicht in Österreich, dem Land, aus dem nicht nur tausende Opfer, sondern auch viele der Protagonisten der Massenmorde kamen, inklusive des genozidalen »Führers« Adolf Hitler. Das ursprüngliche Konzept musste geändert werden, da es den Wettbewerbsbedingungen nicht entsprach, aber der Anspruch auf eine Anbindung der Ausstellung an Österreich wurde nicht aufgegeben. So können etwa in Zukunft auf einem Touchscreen in der Ausstellung Eindrücke und Gedanken hinterlassen werden, die dort jedoch nach kurzer Zeit verschwinden und im öffentlichen Raum in Österreich auftauchen und gezeigt werden, um so eine Verbindung zwischen dem Gedenkort in Polen und Österreich herzustellen.

Es gab zahlreiche Vernichtungsstätten, die von Österreichern geleitet wurden. In Auschwitz stammte keiner der KZ-Kommandanten aus Österreich. Mit Maximilian Grabner und Hans Schurz fungierten aber zwei Österreicher in einer der wichtigsten Funktionen von Auschwitz, nämlich für die Gestapo als Leiter der Politischen Abteilung. Die aus Münzkirchen stammende Maria Mandl übernahm als Oberaufseherin die wichtigste Position im Frauenlager von Birkenau. Auch in der Zentralbauleitung, die für den Auf- und Ausbau von Auschwitz inklusive der Vernichtungsanlagen zuständig war, arbeiteten zahlreiche Experten aus Österreich in Schlüsselpositionen, allen voran der Architekt Fritz Ertl aus Oberösterreich und der Tiroler Walter Dejaco. Grabner und Mandl wurden im Krakauer Auschwitz-Prozess im Dezember 1947 zum Tod verurteilt, der Verbleib von Schurz nach Kriegsende ist bislang unbekannt. Der Prozess gegen Dejaco und Ertl endete am 10. März 1972 mit einem Freispruch durch ein Schwurgericht am Landesgericht Wien.

Beim Verstehen aller Orte der Massenverbrechen bleibt es essenziell, die Stimmen der Überlebenden zu hören, ihre Texte zu lesen. Sie standen dem Geschehen am nächsten. Von den österreichischen Auschwitz-Überlebenden, die ihre Erinnerungen festhielten, seien einige genannt: Jean Améry, Benedikt Kautsky, Gustav Kleinmann, Ruth Klüger, Freddie Knoller, Hermann Langbein, Ella Lingens, Dagmar Ostermann, Ceija, Johann und Karl Stojka oder Fred Wander.

Gedenkstätten wie das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau sind wichtige Orte der Erinnerung an die Massenverbrechen. Für Überlebende waren sie wie ein großer Friedhof ohne Gräber. Der Auschwitz-Überlebende und Historiker Otto Dov Kulka beschreibt seinen Besuch der Gedenkstätte Birkenau in seinen Erinnerungen: »Aber dies war nicht mehr die Metropole des Todes von früher. Es war eine verödete Landschaft. Aber alles war noch da, nur in einer Art Distanz der Verödung. Und dennoch brennend.«

Austrofaschismus/Ständestaat

Lucile Dreidemy

Das sind Dinge, da wollen ma net dran rühren, da erinnert man sich nicht gern … niemand in Österreich …«. Mit dieser Aussage legte 1961 Österreichs berühmtester Feinkostmagazineur, der Herr Karl, den Finger auf eine der wundesten Stellen der österreichischen Geschichtsschreibung, nämlich die Erinnerung an jenes tragische »Vierunddreißiger Jahr«, in dem die Erste Republik endgültig begraben wurde, und die österreichische Bevölkerung ihre ersten Erfahrungen mit Diktatur und Faschismus machte. Trotz des stetig wachsenden Wissensstands über das austrofaschistische Herrschaftssystem ist die historische, ideologische und politische Einordnung und Charakterisierung des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes 1933–1938 weiterhin ein kontroverses Thema, geprägt von hartnäckigen Mythen und vom Kampf um Begrifflichkeiten wie etwa den »Austrofaschismus«. Vor diesem Hintergrund erscheint es aus geschichtswissenschaftlicher und demokratiepolitischer Perspektive notwendig, die Begriffsdebatte wieder aufzugreifen und die Fakten ins rechte Licht zu rücken.

Diktatur oder Faschismus?

Die Regierungskoalition, die die Christlichsozialen im Mai 1932 unter der Führung von Engelbert Dollfuß mit dem Heimatblock, dem politischen Arm der faschistischen Heimwehr, und dem großdeutschen Landbund bildete, verfügte im Nationalrat über eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Als am 4. März 1933 eine Geschäftsordnungspanne im Nationalrat auftrat, nutzte die ohnehin bereits antiparlamentarisch eingestellte Regierung die Gunst der Stunde, um diesen auszuschalten und von nun an autoritär zu regieren. In seiner programmatischen Rede am Wiener Trabrennplatz im September 1933 machte Dollfuß klar, dass dieser politische Umbruch nicht als zeitlich befristetes Provisorium, sondern als dauerhafte Beseitigung des demokratischen Rechtsstaats gedacht war: »Diese Art Parlamentarismus wird und darf nicht wiederkommen. Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei, (…) wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung!« Mit der neuen Verfassung vom Mai 1934 oblagen Befugnisse der Gesetzgebung nun der Regierung, während der Bundeskanzler eine übergeordnete Führungs- und Entscheidungsposition innehatte. Diesem Umstand zufolge etablierte sich, nachdem lange Zeit der vollends unzutreffende Begriff »Ständestaat« geläufig war, im Wissenschaftsdiskurs der letzten Jahre nunmehr der Terminus »Kanzlerdiktatur« als Kontrapunkt zum Faschismusbegriff.

Diese Bezeichnung bleibt jedoch insofern problematisch, als sich Typologien wie »Diktatur« oder »autoritäres Regime« nur auf den politischen Stil und die Herrschaftsform beziehen. Das österreichische Regime war jedoch weit mehr als ein repressiv-autoritäres Herrschaftssystem, denn es entfaltete zugleich einen für faschistische Regime charakteristischen Monopol- und Totalitätsanspruch. Der Parteienpluralismus wurde durch Verbote der politischen Opposition und den massiven Einsatz aller Gewaltmittel beseitigt. Letzterem fiel insbesondere die Sozialdemokratie im Februar 1934 zum Opfer. Selbst die herkömmlichen Regierungsparteien wurden schrittweise aufgelöst und durch eine Monopolorganisation, die Vaterländische Front (VF), nach dem Vorbild des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus ersetzt. Der Totalitätsanspruch der VF wurde auch daran ersichtlich, dass sie nicht nur als Kontrollinstanz, zum Beispiel bei Personalbestellungen in der Administration oder der Wirtschaft, fungierte. Vielmehr sollte sie durch die Schaffung von sogenannten »Frontwerken« und Referaten (wie etwa dem kulturpolitischen Frontwerk »Neues Leben« oder der VF-Jugendorganisation »Österreichisches Jungvolk«) zugleich als Werkzeug der Umgestaltung, Durchdringung und Mobilisierung der gesamten Gesellschaft dienen.

Die Bedeutung der VF als Monopolorganisation war zwar nicht vergleichbar mit jener der NSDAP, entgegen der Annahme vieler Kritiker des Faschismusbegriffs verfügte sie aber dennoch über eine ähnliche Massenbasis wie ihr italienisches Pendant: In beiden Ländern erreichte der Mitgliederstand zum Höhepunkt des Herrschaftssystems etwa 50 % der Bevölkerung. Mitgliedschaft bedeutete keineswegs immer politische Loyalität, sondern war auch oft das Ergebnis von politischem Druck und individuellem Opportunismus: Das war nicht spezifisch für Österreich. In den knappen fünf Jahren seines Bestehens hat das österreichische Regime seinen Totalitätsanspruch nur teilweise durchsetzen können. Eine Eingrenzung des Faschismus auf Totalitarismen erscheint jedoch insofern inadäquat, als die Frage des totalitären Charakters selbst im prototypischen Fall des italienischen Faschismus umstritten bleibt.

Ideologisch teilte Österreich mit Italien in erster Linie den Anspruch auf eine harmonische »Volksgemeinschaft« auf berufsständischer Basis, die Klassenschranken und Klassenkampf überwinden sollte. Der pompös verkündete »Ständestaat« wurde jedoch nie Realität, sondern stand für eine Politik der sozialen Schieflage, die sich in einer krassen Verschlechterung der sozialen Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter manifestierte, etwa durch die Beschneidung des Arbeitsrechts, die Einführung von Zwangsarbeit für Arbeitslose und die zielgerichtete Zerstörung aller unabhängigen Interessenorganisationen. In der Tat war also die vermeintlich befriedete »Volksgemeinschaft« vor allem insofern »konfliktfrei«, als jegliche Kritik unterdrückt wurde.