Für Jean

encore et toujours

1

R. fühlte sich im Süden nicht wohl. Die Hitze, der Akzent, die Eintönigkeit der Weinberge, die in Parkflächen verwandelten Plätze der Städte, Touristen, die sich wie verirrte Viehherden über die schmalen Bürgersteige schoben. Vor allem die Touristen: Sie waren schuld daran, daß sich der alte Mann zu Fuß so schwer verfolgen ließ. R. war nun den vierten Tag in Salon-de-Provence und beschattete ihn. Das da mußte er sein. Er hatte das richtige Alter. Er könnte der alte Mann sein, der einmal der junge Mann auf dem Foto gewesen war. Und noch etwas schien zu stimmen: Er wohnte in einem Benediktinerkloster in den Hügeln oberhalb von Salon. Und es stand außer Frage, daß die Kirche in die Sache verwickelt war. Doch R. war sich noch nicht sicher. Er konnte sich erst dann völlig sicher sein, daß es sich bei dem alten Mann um Brossard handelte, wenn er nach dem Brief fragte. Der Brief war vor zwei Tagen aus Paris abgesandt worden. An den letzten drei Tagen hatte R. schräg über die Kreuzung vor der Bar Montana in einem Café in der Rue Maréchal-Joffre Posten bezogen. Der alte Mann kam immer am frühen Nachmittag, kurz nach zwei, ins Montana. Er bestellte sich einen Kaffee, setzte sich und las Le Monde von der ersten bis zur letzten Seite. Gegen drei Uhr wurde die Nachmittagspost ins Montana gebracht. Brossard – falls der alte Mann tatsächlich Brossard war – schenkte dem Eintreffen der Post weiter keine Beachtung. Jeden Tag verließ er das Montana etwa um halb vier und ging hinüber zur Place Saint-Michel, wo er seinen kleinen weißen Peugeot abgestellt hatte. Unterwegs betrat der alte Mann eine Pâtisserie und kaufte sich eine tarte aux amandes, die er, sobald er in seinem Wagen saß, auspackte und aß. Dann fuhr er aus der Stadt hinauf in die Hügel, auf der einsamen Straße, die zur Abbaye de Saint-Cros führte. Nachdem die Klosterpforte sich geöffnet hatte, um seinen Wagen einzulassen, blieb der alte Mann über Nacht dort.

Man hatte R. mitgeteilt, daß der Brief wahrscheinlich am 2. Mai in der Bar Montana eintreffen würde. Daher setzte R. sich am 2. Mai, dem vierten Tag seiner Observierung, gar nicht erst ins Café auf der anderen Straßenseite, sondern ging geradewegs ins Montana, setzte sich an einen der hinteren Tische und bestellte sich ein Sandwich und ein Bier. Der alte Mann saß an seinem üblichen Platz an der Tür. An diesem Nachmittag kam der Postbote um fünf nach drei, betrat die Bar, rief dem Barkeeper einen Gruß zu, ließ sich von ihm ein Formular unterschreiben und legte dann ein halbes Dutzend Briefe auf den Tresen. R. fiel auf, daß der alte Mann sich zum Tresen umdrehte, sobald der Postbote hinausging. Der Barkeeper blätterte die Briefe durch, zog einen aus dem Stapel und legte ihn neben die Tresenklappe. Kaum hatte R. das gesehen, stand er von seinem Tisch auf und ging an die Bar. Er sagte dem Barkeeper, daß er am Flipperautomaten spielen wolle, und bat ihn um Kleingeld. Während der Barkeeper das Wechselgeld abzählte, ging R. zur Klappe, warf einen Blick auf den Pariser Poststempel und las die maschinengeschriebene Anschrift: »M. Pouliot, Bar Montana, 6, Rue Saint-Michel, 13100 Salon-de-Provence.« Pouliot war der Deckname, den Brossard für seine Briefe benutzte. R. ging zum Flipper bei den Toiletten. Er begann zu spielen und hieb mal links, mal rechts gegen den Apparat, um die Stahlkugel ins gewünschte Loch zu lenken. Er war beim dritten Spiel, als er sah, wie der alte Mann aufstand, an den Tresen ging und etwas zum Barkeeper sagte, der daraufhin nickte und auf den Brief neben der Klappe deutete. Als der alte Mann den Brief an sich nahm, hörte R. auf zu spielen und ging zurück an seinen Tisch. Er legte das Geld für seine Bestellung hin, ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen. Er sah, wie der den Brief öffnete, hineinschaute, ein mandat hervorzog und einen Blick darauf warf. R. wußte, daß es eine Zahlungsanweisung über 15000 Francs war. Brossard – denn jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, daß es Brossard war – steckte den Umschlag in seine Jackentasche und griff wieder nach seiner Le Monde. Er las noch etwa zwanzig Minuten, legte dann ein 2-Franc-Stück auf die Untertasse, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging auf die Straße.

R. folgte ihm nach draußen. Wie stets war die Straße mit Touristen überfüllt, und wie stets gelang es R. nur mit Mühe, den alten Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Am Ende der Rue Maréchal-Joffre bog der alte Mann in eine steile, enge Straße und folgte seiner üblichen Route zum Parkplatz und zu seinem Wagen. Als er zur Place Bourbon kam, betrat er die Pâtisserie Du Midi und reihte sich in die kleine Warteschlange, um sich wie jeden Tag seine tarte aux amandes zu kaufen. R. blieb unter einer nahen Platane stehen. Anders als an den anderen Tagen, an denen er hier gewartet hatte, schien das Kaufen des Mandeltörtchens heute mindestens zehn Minuten zu dauern. Er versuchte, sich mit einer Atemübung zu beruhigen, aber es klappte nicht. Schließlich trat der alte Mann aus dem Laden und ging zum Parkplatz, an einem Finger baumelte kokett der eingepackte Kuchen. R. ging an dem Alten vorbei und bog auf denselben Parkplatz ein. Sein Mietwagen stand eine Reihe hinter dem Peugeot des alten Mannes. Der alte Mann würde jetzt in seinem Peugeot sitzen und seine tarte aux amandes essen, bevor er ins Kloster zurückfuhr. Gestern hatte R. beschlossen, daß er, wenn es soweit war, den Parkplatz vor dem alten Mann verlassen und sich an der gewissen Stelle weit vor dem Peugeot aufstellen würde. Aber wenn der alte Mann nicht zum Kloster zurückfuhr? Was, wenn er jetzt, da er das Geld erhalten hatte, in ein anderes Versteck fuhr? Das war ein Risiko, das R. nicht eingehen konnte. Er würde warten müssen, bis das Törtchen verzehrt war, würde dem alten Mann aus der Stadt folgen, den kleinen weißen Wagen irgendwo auf der Hauptstraße außerhalb von Salon überholen, in Sichtweite bleiben und sich vergewissern, daß er hinter ihm über die einsame, hüglige Straße rollte, die zum Kloster führte. Vor zwei Tagen war R. diese Straße abgefahren und hatte sich hoch oben seine Stelle gesucht, dort, wo die Straße eine scharfe Kurve machte, links eine tiefe Schlucht, rechts ein Felsvorsprung.

Sein Mietwagen stand am Parkplatzrand, nicht im Schatten der Platanen. Als er einstieg, war es drinnen heiß wie in einem Backofen. Er saß da, schwitzte bei offenen Türen und sah dem alten Schwein eine Reihe weiter zu, das sein Törtchen aß, sah die Krümel, die unbemerkt an seinem Kinn klebten. R. zog den Reißverschluß der Aktenmappe auf und suchte nach dem Blatt mit dem getippten Text, dann nach dem Revolver. Er legte die Tasche unverschlossen auf den Beifahrersitz. Endlich sah er, wie das Kuchenpapier achtlos aus dem Fenster des Peugeots geworfen wurde, und hörte, wie der Motor des alten Wagens mit einem knirschenden Geräusch ansprang.

R. folgte dem Peugeot aus Salon hinaus in einer Autoschlange, die langsam wie ein Trauerzug dahinkroch. Als er gestern dem alten Mann nachgefahren war, hatte er aufmerksam darauf geachtet, andere Autos vor sich einscheren zu lassen. Doch heute sorgte er sich, der alte Mann könnte nicht zum Kloster zurückfahren, und hielt es deshalb für besser, unmittelbar zum Peugeot aufzuschließen.

Sieben Kilometer hinter Salon überholte R. den Wagen des alten Mannes. Es schien zu stimmen. Brossard war zweifellos en route zum Kloster. Es gab einen bangen Augenblick, als R. vor ihm in die schmale Hügelstraße abbog, die zur Abbaye de Saint-Cros führte. Doch noch während sein Wagen zur ersten Kurve hinaufkletterte, folgte der kleine Peugeot nichtsahnend wie eine Maus in die Falle. Also gab R. Gas und jagte waghalsig voraus, um sich einen Vorsprung zu sichern und die Tat vorzubereiten. Nach weiteren drei Kilometern erreichte er die scharfe Kurve in der Straße, zur Linken die tiefe Schlucht. Von hier aus waren es bis zum Kloster nur noch drei Kilometer.

R. hielt auf dem Seitenstreifen, öffnete die Kühlerhaube und ließ die Haltestange einrasten, um anzuzeigen, daß er Ärger mit dem Motor hatte. Er langte zum Beifahrersitz hinüber, nahm die offene Aktenmappe, stellte sich mitten auf die Straße und wartete.

Eine tödliche Stille lag über der verlassenen Landschaft dieser Hochsteppe. Wie zur Strafe brannte die Sonne auf den Fels herab. R. horchte. Zuerst vernahm er das leise Zirpen der Zikaden, danach fernes Donnergrollen wie ein Wirbel auf einer Kesselpauke. Und dann, als der kleine weiße Peugeot langsam in Sicht kam, hörte er endlich den ächzenden Motor. R. leckte sich die Lippen, aber sie blieben trocken. Er stand da und sagte sich seinen Text vor, als wäre er ein Schauspieler. Der kleine Wagen war nur noch dreißig Schritte entfernt. R. hob seine Aktenmappe, winkte und sah, wie der Peugeot langsamer wurde und dann im Kriechtempo auf ihn zuhielt. Er ließ die Aktenmappe sinken, verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und näherte sich dem Wagen. »Entschuldigung«, sagte er. »Aber wie Sie sehen …« Er deutete auf seinen Wagen. »Fahren Sie zum Kloster? Könnten Sie mich mitnehmen?«

Der alte Mann sah zu ihm hinaus. Er hatte alle Fenster heruntergekurbelt, da der kleine Peugeot keine Klimaanlage besaß. Der alte Mann nickte, als wollte er die Bitte erfüllen. R. sah, daß immer noch einige Krümel am Kinn des alten Mannes hingen. Er ging zum Wagen, in der Hand die offene Aktenmappe, die er jetzt anhob, als wollte er sie unter den Arm klemmen. Doch statt dessen griff er hinein, suchte nach der Waffe, zog sie heraus. Er sah dabei den alten Mann an. Mit einem Gesicht, das so ausdruckslos wie das Gesicht einer Statue war, erwiderte der alte Mann seinen Blick, schaute auf die Waffe, schob bedächtig, ohne Hast einen schweren schwarzen Revolver aus dem Vorderfenster des Peugeots, hielt ihn in beiden Händen und feuerte und feuerte. R. spürte den Schock der ersten Kugel in seiner Brust. Er fiel, ehe die zweite Kugel traf – wieder in die Brust. Sein Revolver glitt ihm aus den Fingern und schlitterte über die weiße staubige Straße.

Der alte Mann öffnete die Fahrertür des Peugeots, stieg aus, ging steifen Schrittes über die Straße, setzte R. mit dem Geschick langjähriger Erfahrung die Waffe an den Hinterkopf und verpaßte ihm den coup de grâce.

Der Tote war auf seine Aktenmappe gefallen. Wie so oft, wenn die letzte Kugel aus nächster Nähe gefeuert wird, zuckte der Körper und änderte seine Lage. Erst dadurch wurde das Blatt Papier in der Aktenmappe sichtbar. Es war aus dem äußeren Fach gerutscht. Monsieur Pierre rührte es nicht an, sondern ging zurück zum Peugeot und holte ein Paar gelbe Gummihandschuhe aus dem Handschuhfach. Er zog sie an, blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Er konnte keinen Verkehr auf der Straße hören, aber sein Gehör war nicht mehr so scharf. Also schnell gemacht. Er ging zur Leiche zurück, zog das Papier aus der Aktenmappe und steckte es ungelesen in seine Jackentasche. Dann hob er den Revolver auf, der auf die Straße gefallen war, und legte ihn zusammen mit der Aktenmappe in den Wagen des Toten. Unter Aufbietung aller Kräfte faßte er die Leiche bei den Fußgelenken. Da war viel Blut. Es hinterließ eine Spur auf der Straße, als er den Leichnam zum Wagen zog und zerrte. Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er wußte nicht, ob er die Kraft hatte, die Leiche auf den Vordersitz zu hieven. Es dauerte eine Weile, aber er schaffte es. Wieder lauschte er. Alles ruhig. Er beugte sich über die Leiche, achtete sorgsam darauf, daß das Blut keine Flecken auf seinen Kleidern hinterließ, und nahm dem Toten die Brieftasche ab. Da war noch ein ausländischer Paß. Er schob Brieftasche und Paß in seine Tasche. Der Wagenschlüssel steckte. Er ließ den Motor an. Ehe er einen Gang einlegte, betrachtete er das Gesicht des Toten, doch es sagte ihm nichts. Er hatte den Leichnam mit dem Gesicht über den Boden geschleift, es war nur noch ein blutiger Klumpen. Er beugte sich vor, schlug das Steuer ein, legte einen Gang ein, zog dem Toten einen Schuh aus, verkeilte das Gaspedal und konnte gerade noch herausspringen, als der Wagen anrollte. Der Wagen stürzte in die Schlucht und fiel zwanzig Meter tief auf die Felsen hinab. Der alte Mann stand da, starrte auf die große Staubwolke und wartete darauf, daß der Wagen Feuer fing. Doch das tat er nicht. Pech.

Der alte Mann drehte sich um und ging zurück zum Peugeot. Diese Straße wurde nur von wenigen Autos befahren, aber trotzdem. Er zog sich die gelben Gummihandschuhe aus und stülpte ihr Inneres nach außen, ehe er sie zurück ins Handschuhfach legte. Er ließ den Motor an und fuhr los.

 

›Als ich gestern aus dem Montana kam und ihn auf der anderen Straßenseite sah, bin ich langsam vorbeigegangen und habe gewartet. Er ist mir den ganzen Weg bis zum Parkplatz gefolgt. Und als ich heute aus der Pâtisserie kam, war er wieder da, und dann stand er auf der Straße, wartete auf mich und hantierte an der Aktenmappe herum.‹

Pierre fuhr langsam bis zu einer Kurve, wo er den Wagen anhielt und über das gewundene Band der Straße zurückschaute. Es kamen keine Autos. Er griff in seine Jackentasche und holte den ausländischen Paß und das maschinenbeschriebene Blatt hervor.

BEKENNERBRIEF
KOMITEE GERECHTIGKEIT
FÜR DIE JÜDISCHEN OPFER VON DOMBEY

Dies ist Pierre Brossard, ehemals Chef der Zweiten Sektion der milice im Raum Marseille, der 1944 und abermals 1946 von einem französischen Gericht zum Tode in absentia verurteilt wurde und dem darüber hinaus mit der Ermordung von vierzehn Juden am 15. Juni 1944 in Dombey, Alpes-Maritimes, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt wird. Nach vierundvierzig Jahren voller juristischer Ausflüchte und Hinhaltetaktiken, in denen sich die katholische Kirche der Mittäterschaft schuldig machte, da sie Brossard vor der Justiz verborgen hielt, sind die Toten nun gerächt. Dieser Fall ist abgeschlossen.

Monsieur Pierre warf einen Blick auf den Paß. Er öffnete ihn und besah sich das Foto. Dann las er den Namen. David Tanenbaum. Alter: zweiundvierzig. Er hatte das Gefühl, das Leben noch einmal an sich vorbeiziehen zu sehen, in jene Zeit zurückversetzt zu werden, als er Herr der Dokumente war und über das Geschick des jeweiligen Inhabers bestimmen konnte, wenn ihm Paß oder Ausweis über den Tisch gereicht wurden.

Die Brieftasche des Attentäters enthielt 6000 Francs und einen kanadischen Führerschein, ausgestellt auf den Namen David Tanenbaum. Er fand keine Kreditkarten, keine weiteren Papiere. Monsieur Pierre steckte die 6000 Francs in seine eigene Brieftasche und legte die Brieftasche des Toten, den Paß und das maschinenbeschriebene Papier zusammen mit den blutbefleckten Gummihandschuhen und dem Revolver in das Handschuhfach des Peugeots. Am Armaturenbrett des Wagens steckte eine Medaille des heiligen Christophorus, die er 1943 in Marseille erstanden hatte, einen Tag nachdem Lehmanns Wagen von ihm zu persönlichem Gebrauch requiriert worden war. Es war eine wunderschöne kleine Medaille aus Sterlingsilber, die den bärtigen Heiligen zeigte, wie er mit dem Christuskind auf den Schultern eine gefährliche Furt durchquerte. Der heilige Christophorus: Patron der Reisenden. Zum Schutz vor Unfällen gab es eine solche Medaille in dieser Gegend häufig an den Armaturenbrettern der Autos. Monsieur Pierre hatte die Medaille gekauft und sie segnen lassen. Irgendwie half sie ihm gegen das Unbehagen, im Wagen eines Juden zu sitzen. Seither hatte die Medaille an den Armaturenbrettern all seiner Autos gesteckt. Und der heutige Tag hatte wieder einmal bewiesen, daß er unter dem Schutz des heiligen Christophorus stand.

Die Straße verengte sich, war kaum noch breiter als der Fuhrweg, der sie jahrhundertelang gewesen war. Während der kleine Wagen sich die Abhänge hinaufwand, die Reihe um Reihe mit Weinstöcken bedeckt waren, tauchten, flirrend in der Nachmittagshitze, die hohen, alten Mauern und das prachtvolle Steindach der Abbaye de Saint-Cros auf. Als der kleine Wagen sich dem schweren Holztor des Haupteingangs näherte, ertönte zweimal die Hupe. Langsam wurde das Tor aufgezogen und gab den Blick auf einen weiten Innenhof frei, dessen uraltes Pflaster uneben und mit Wildblumen übersät war. Der kleine Wagen holperte unsicher über den Hof und fuhr in den Stall, in dem zwei Traktoren, ein Deux-Chevaux-Lieferwagen und ein alter, viersitziger Panhard unter einem heugefüllten Dachboden standen.

Die Fahrzeuge des Klosters. Keine Besucher. Gut. Er drehte sich um und sah, wie das Tor geschlossen wurde, wie die dicke Eisenstange in die Halterung rutschte. Die Abtei war eine Festung, im vierzehnten Jahrhundert erbaut und wie die Benediktinerabtei in Metz eine der Ursprungsstätten des gregorianischen Chorals. Über solche Dinge wußte er Bescheid. Im Laufe der Jahre war er Gast in so vielen Abteien, Stiften und Pfarrhäusern gewesen, hatte so vielen Berichten über die Triumphe der Religion und die Anfechtungen ihrer Heiligen, über ihre Wunder und heiligen Taten gelauscht. Er fühlte sich geborgen an religiösen Stätten, sei es im Salon eines curé oder in der Pracht eines erzbischöflichen Palastes. Doch wirklich heimisch fühlte er sich nur in Klöstern. Gastfreundschaft gegenüber Fremden war hier Gesetz, über Jahrhunderte des Glaubens tradiert, Erinnerung an eine Zeit, als die Kirche eine eigene Macht unabhängig von aller weltlichen Autorität war und es ihr freistand, jenen Fliehenden Asyl zu gewähren, denen sie zu helfen gewillt war. Hinter den Klostermauern hörte die Welt auf. Mönche sahen nicht fern und lasen keine Zeitungen. Das war das Allerwichtigste. Gerade jetzt.

Er schloß den Wagen ab, durchquerte den Kreuzgang und ging den schattigen Weg entlang, der zum kleinen Büro des père hospitalier führte. Dort traf er Pater Jérôme, einen gebückten kleinen Mann seines Alters, der auf den blauen Bildschirm eines Computers starrte.

»Aha, Monsieur Pierre«, sagte Pater Jérôme, ohne aufzusehen. »Sie wollten mich sprechen?«

Er schien keineswegs erfreut über diese Störung.

»Ja, Pater. Ich muß fort. Eine Familienangelegenheit.«

In der Abbaye de Saint-Cros fühlte er sich besonders sicher. Der Abt, ein alter Freund, hatte den Gastpater schon vor langem angewiesen, ihm bei Bedarf zu jeder Zeit, ob Tag oder Nacht, ein Zimmer bereitzustellen. Selbst jetzt, nach Jahren regelmäßiger Besuche, kannte Pater Jérôme ihn nur als Monsieur Pierre. Er fragte nicht weiter nach der Familienangelegenheit. Es interessierte ihn nicht.

»Gute Reise dann«, sagte Pater Jérôme. »Werden Sie morgen früh abfahren?«

»Ich muß leider schon heute abend aufbrechen.«

Pater Jérôme nickte und tippte etwas in seinen Computer. Das Gespräch war zu Ende.

Monsieur Pierre ging nach draußen, und als er an der Kapelle vorbeikam, senkte er ehrfurchtsvoll den Kopf. Er ging über den Haupthof, vorbei an der angrenzenden großen Werkstatt, in der die Mönche Töpferwaren herstellten, die an Großhändler in Dijon und Paris geliefert wurden, durchquerte das leere Refektorium und erklomm eine Reihe von Steinstufen, die zu dem runden Türmchen führten, das Besuchern vorbehalten war. Sein Zimmer war oben, direkt unterm Dach, mit niedriger Decke, dicken Steinmauern, einem schmalen Bett, einem Betpult und einem grobgezimmerten Holzsessel. Es gab eine Waschschüssel und das übliche Kruzifix an der Wand neben einem schmalen Fensterschlitz, der den Blick auf einen Teil des Klosterglockenturms freigab. Er reiste stets mit drei Koffern, die seine Kleider, Papiere und einige Erinnerungsstücke enthielten, und da es in diesen mönchischen Zellen keine Möglichkeit gab, die Kleider aufzuhängen, hatte er einen Lederfaltschrank dabei, den er stets unmittelbar hinter der Tür aufstellte. Dieser Kleiderschrank machte es schwierig, sein Zimmer unbemerkt zu betreten. Neben sein Gebetbuch, das von Meßkärtchen und Heiligenbildern überquoll, hatte er das Bild der Jungfrau Maria, die Reproduktion eines Gemäldes aus dem siebzehnten Jahrhundert, auf das Betpult gelegt.

Er setzte sich auf das schmale Bett und maß seinen Puls. Er fühlte sich benommen und außer Atem. Dies war nicht wie zu anderen Gelegenheiten, nicht wie in anderen gefährlichen Situationen. Es ging nicht mehr bloß darum, sich vor der Polizei und den Gerichten zu verstecken. Seine Todfeinde waren ihm nahe gekommen, näher als je zuvor. Sie hatten gewußt, daß er in der Bar Montana sein und auf den Brief warten würde. Wie konnten sie davon wissen? Wer waren sie, wer steckte dahinter, Franzosen oder Amerikaner? Er sah sich den Paß noch einmal an. Kanadisch. Konnte gefälscht sein. ›Ich muß mich einen Augenblick hinlegen. Ganz ruhig. Ganz ruhig.‹

Wieder sah er den Fremden auf sich zukommen, wie er die Aktenmappe anhob, den Revolver herausnahm. ›Und wenn ich nach all diesen Jahren in meiner Wachsamkeit nachgelassen hätte, wenn ich das Gespür dafür verloren hätte, daß man mich verfolgt? Doch Gott sei gedankt, er hat mich heute beschützt, wie er mich auch in der Vergangenheit immer beschützt hat. Bei der Andacht heute abend muß ich ein Dankgebet sprechen. Geht nicht, ich kann nicht bis zur Andacht bleiben. Irgendwelche Winzer, die an der Schlucht vorbeikommen, könnten das Auto sehen. Und dann kommt die Polizei her, denn die Straße führt nur zur Abtei. Also aufgestanden und die Sachen gepackt.‹

Doch als er den Lederschrank zusammengelegt und seine Kleider wieder gepackt hatte, fühlte er sich erneut benommen und unwohl. Er ging die Wendeltreppe des Türmchens hinunter ins Refektorium. Einige Laienbrüder schälten Kartoffeln. Er bat um Hilfe, und ein Bruder Rafael, ein kräftig aussehender Bursche, begleitete ihn hinauf und half ihm, die Koffer zu tragen. Der dritte Koffer enthielt seine Sammlung, und da das Schloß schon alt war, hielt er es für besser, ihn selbst hinunterzutragen. Wenn der aufspringen sollte, würden die Wimpel und die deutschen Orden herausfallen, ein paar wertvolle Stücke darunter, alles leicht verkäufliche Andenken. Er trieb einen netten Handel mit diesen Dingen.

Kurz nach fünf Uhr war der kleine Peugeot endlich beladen und reisefertig. Die Andacht begann um sechs, und der Abt würde, das wußte er, zwischen halb sechs und sechs in den Kreuzgang hinunterkommen, um sich die Beine zu vertreten und das Brevier zu beten. Also ging er um zwanzig nach fünf zum Studierzimmer des Abtes und klopfte an. Eine Stimme rief: »Ja?«

»Ich bin’s, Vater Abt. Pierre. Könnte ich Sie auf ein Wort sprechen? Nur einen Augenblick?«

»Kommen Sie herein. Kommen Sie.«

Das Studierzimmer des Abtes war ein großer, kahler Raum, der von einem wuchtigen Holztisch beherrscht wurde, auf dem zwei Kästen aus Teakholz standen, die vor Briefen überquollen. Hinter dem Tisch saß in einem Sessel mit einer Lehne, hoch wie ein Kirchenstuhl, Dom Wladimir Gorschakow, groß, streng, mit Bart und einem schweren, eisernen Kruzifix, das wie ein Dolch in seinem Gürtel steckte. »Nun, Pierre, was gibt es?«

»Ich bin nur gekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken, Vater Abt. Wieder einmal habe ich Ihre Gastfreundschaft über die Maßen in Anspruch genommen, doch heute abend muß ich mich verabschieden. Ich glaube, es ist an der Zeit für mich weiterzuziehen.«

»Heute abend?« Der Abt deutete seine Überraschung mit einem theatralischen Hochziehen der Augenbrauen an. »Ein wenig plötzlich, nicht wahr? Ein besonderer Anlaß?«

Am besten, er sagte nichts. Erfand eine Ausrede.

»Man hat mir gerade mitgeteilt, daß mein Dossier an einen neuen Untersuchungsrichter übergeben wurde, der sich beklagt, daß die Polizei in ihren Nachforschungen nicht sorgfältig genug vorgegangen sei. Ich halte es daher für besser, wenn ich von nun an alle ein, zwei Wochen umziehe.«

»Es hat andere Untersuchungsrichter gegeben«, sagte der Abt. »Und ich bin mir sicher, daß Sie auch diesen überdauern werden. Was Sie sagen, klärt allerdings etwas, mit dem ich Sie eigentlich nicht beunruhigen wollte. Der Kardinal und Primas der Kirche in Lyon hat nämlich seinerseits eine Untersuchung eingeleitet. Er hat eine unabhängige Kommission aus Historikern zusammenstellen lassen, die herausfinden soll, warum Ihr Fall im Laufe der Jahre von so vielen Klerikern unterstützt wurde. Also wird man sich hier bald nach Ihren Besuchen bei uns erkundigen.«

»Dann ist es wohl besser, wenn ich jetzt fahre?«

»Vielleicht. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie hier stets willkommen sind.«

»Danke, Vater Abt. Der Primas – Kardinal Delavigne – er ist keiner von uns, oder?«

»Nein, ist er nicht.« Der Abt erhob sich, als wollte er die Unterhaltung mit diesen Worten beenden. »Dann eine gute Reise. Und Gott mit Ihnen.«

»Danke, Vater Abt. Vielen Dank für alles.«

 

Vor Dunkelheit wollte er einen Großteil der Strecke zurückgelegt haben. Er konnte nachts nicht gut sehen, und Brillen schienen nicht mehr zu helfen. Als junger Mann, vor allem in Uniform, war er zu eitel gewesen, um sie aufzusetzen. Wahrscheinlich mußte er heute den Preis für seine jugendliche Eitelkeit zahlen. Natürlich hatte er damals das Ansehen seines Amtes wahren müssen. Er war ein junger Standartenführer jener Neuen Ordnung gewesen, von der der Maréchal gesprochen hatte, einer von den Menschen, die in einem von der eigenen Schwäche überwältigten Frankreich jenen Gipfel sahen, den es zu bezwingen, die Berge, die es zu erstürmen galt. Und für ihn war es normal, eitel zu sein: Frauen fanden ihn attraktiv. Nicole hatte ihm gesagt, seine Augen seien von »stechendem Blau«. Sein Haar war blond, seine Haut weiß und glatt. In den Jahren der Zusammenarbeit mit Gestapokommandant Knab hatte der ihm immer wieder gesagt, er sähe wie ein »reinrassiger Arier« aus – in seinen Augen das höchste Kompliment. Und stets hatte er jünger ausgesehen, als er war. »Ein hübscher Meßdiener«, so hatte ihn eine belgische Schlampe der Pariser Sûreté beschrieben. Das war ’53, damals war er vierunddreißig gewesen.

Doch er erinnerte sich, wie nützlich die Brillen in den Pariser Jahren gewesen waren. Jacquot und er hatten jedesmal getönte Brillen getragen, wenn sie einen Job erledigen mußten. Jacquot sagte, sie wirkten wie eine Maske, und die Leute erinnerten sich hinterher nur an die getönten Brillen, wenn sie versuchten, dich zu beschreiben. Und es stimmte. Er hatte immer noch eine Brille mit getönten Gläsern in seinem Wagen, und als sich jetzt das Klostertor weit öffnete und die Abendsonne direkt auf die Windschutzscheibe schien, öffnete er beim Hinausfahren das Handschuhfach, um nach der Brille zu suchen. Sie lag unter den blutbefleckten Gummihandschuhen. Die Handschuhe mußten gewaschen werden: Den Paß und das Blatt Papier würde er dem Commissaire zeigen. Der Commissaire war ein Experte für solche Leute.

Etwa fünfzig Kilometer bis Avignon. Auf der Straße, die vom Kloster die Hügel hinabführte, war niemand zu sehen. Als er an die Kurve und zur Schlucht kam, fuhr er langsam, hielt aber nicht an. Vielleicht waren Polizisten oder Sanitäter dort unten, aber da er nicht stehenblieb, konnte er nicht feststellen, ob das Wrack bereits entdeckt worden war.

Er bog Richtung Avignon in die Hauptstraße ein. Bei der ersten Tankstelle hielt er an und fragte, ob es in der Nähe eine öffentliche Telefonzelle gebe. Er hatte Glück. Während der Peugeot aufgetankt wurde, ging er ans Telefon und wählte die Nummer in Avignon.

Eine Frauenstimme. Madame Vionnet? »Was soll ich ihm sagen, wenn er wissen will, wer ihn sprechen möchte?«

»Sagen Sie einfach: Monsieur Pierre. Danke sehr, Madame.«

Man rechnete nicht mit ihm. Vor langer Zeit war ausgemacht worden, daß er sich nur im Notfall meldete.

Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte auf blankem Boden.

»Ja, hallo?«

»Monsieur Pierre. Ich bin gerade in der Gegend und habe mich gefragt, ob ich heute abend vorbeikommen und Ihnen eine Serie Belgisch-Kongo zeigen dürfte? 1875, Freistaat Kongo, mit dem Porträt von König Leopold II. Die Marken sind wunderschön. Hätten Sie Interesse?«

Der Commissaire schien verärgert. »Wo stecken Sie?«

»Ich habe Salon gerade verlassen.«

Eine Pause. Dann: »Ich wollte eben zu Abend essen. Also schön. Ich könnte einige Minuten für Sie erübrigen. Sagen wir um neun?«

»Vielen Dank.«

›Neun Uhr, also muß ich im Dunkeln fahren. Mist! Ich sollte mir ein Zimmer bei ihm in der Nähe suchen, irgendein Touristenmotel. Ich könnte den Ausweis auf den Namen Pouliot zeigen, falls die einen sehen wollen. Wollen sie nicht. Heutzutage wird man nicht mehr so überprüft wie früher. Trotzdem, es ist niemals klug, in einem Hotel abzusteigen.‹

Kurz nach sieben traf er in Avignon ein. Es war noch hell. Als erstes fuhr er in die Avenue Delambre, vorbei an der schlichten, rosafarbenen Stuckvilla des Commissaire, die hinter einem riesigen Leclerc-Supermarkt in einem anonymen Vorort lag, vor den Toren der alten Stadtmauer. Wann war er zuletzt hier gewesen? Vor acht Jahren? Eine Straße weiter fand er, wonach er gesucht hatte, ein Motel an einem Kreisverkehr. Er nahm sich ein Zimmer und brauchte kein Formular auszufüllen. Er ließ einen Koffer im Motel und fuhr dann zurück zur Avenue Delambre. Im Leclerc-Supermarkt gab es eine Snackbar. Er bestellte sich saucisses, frites und ein Bier. Steak mit pommes frites, das Tagesmenü, wäre ihm lieber gewesen, aber die Brücke saß wieder locker. Endlosen Ärger hatte er mit seinen Zähnen gehabt, nicht bloß wegen der Schmerzen und all der Unannehmlichkeiten, sondern auch, weil er wegen der Karteiblätter der Zahnärzte vorsichtig sein mußte. Wer keine offizielle Identität hat, kann auch keine Gesundheitsfürsorge in Anspruch nehmen. Erst in den letzten Jahren hatte er durch den wohltätigen Einfluß von Dom Adelbert in Montélimar seine Zähne vernünftig behandeln lassen können.

Als er in der Snackbar sein Tablett in die Hand nahm, entschied er sich wie immer dafür, mit dem Rücken zu den Passanten zu sitzen. Er hatte sein Mahl etwa zur Hälfte beendet, als ihm übel wurde und er glaubte, sich übergeben zu müssen. Es war für einen Tag einfach zuviel gewesen. Nicht bloß der Jude und diese ganze Aufregung, auch die anderen schlechten Neuigkeiten. ›Hätte mir der Abt auch dann von der neuen Untersuchungskommission erzählt, wenn ich heute nachmittag nicht zu ihm gegangen wäre? Vielleicht nicht. Denn jetzt bin ich ihnen bestimmt lästig, selbst denen, die Wahres von Falschem unterscheiden können. Wenn die Kommission ihre Arbeit aufnimmt, werden sich weitere Türen vor mir verschließen. Kardinal Delavigne gehört der Nachkriegskirche an, ein Gaullist, Widerstandskämpfer und Reformer. Dem kann niemand einen Riegel vorschieben, er ist Primas der Gallier, der höchste Bischof von ganz Frankreich.‹

Der Commissaire würde erwarten, daß er pünktlich kam, also ließ er seinen Teller halbleer stehen, ging zum Wagen und fuhr in die Avenue Delambre. Er parkte eine Querstraße vor der Nummer 129. Es war schon dunkel. Er wartete, bis seine Uhr neun anzeigte, genau neun, dann stieg er aus, schloß das Auto ab und ging über den kurzen Weg, der zur Haustür führte. Ein Hund begann zu bellen. Er hatte Angst vor Hunden. Er sah sich um und hoffte, daß der Hund im Haus eingesperrt war.

Als er klingelte, rief jemand den Hund. Das Bellen hörte auf. Die Tür wurde von Madame Vionnet geöffnet. Er merkte, daß sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Er hätte sie allerdings auch nicht wiedererkannt, diese weißhaarige alte Frau in Turnschuhen und purpurfarbenem Trainingsanzug, sie, die einmal hinter einem Tisch im Büro des Commissaire gesessen, ihre langen Beine übereinandergeschlagen, ihre Strumpfbänder gezeigt und wie eine Hure gelächelt hatte.

»Ich werde erwartet«, sagte er. »Monsieur Pierre.«

Vom Hund keine Spur, offenbar war der im rückwärtigen Teil des Hauses. Als er den Flur betrat, mußte er sich an knapp zwanzig Weinkisten vorbeizwängen, die fast bis an die Decke gestapelt waren. Er las die Etikette auf den Kisten: Caves des Saussaies. Côtes du Ventoux. Was tat ein hoher Pariser flic im Ruhestand? Der Commissaire hatte sich ein kleines Weingut bei Vaison la Romaine gekauft. Der Witz lag im Namen: Rue des Saussaies. ›Wo sie mich zu Brei geschlagen haben.‹

Die weißhaarige Frau führte ihn in einen kleinen, nach vorne gelegenen Empfangsraum, der ebenfalls mit Weinkisten zugestellt war. Wieder schlug der Hund an, und er hörte die Stimme des Commissaire. »Balzar!« Das Bellen hörte auf. Der Commissaire kam ins Wohnzimmer, stocherte mit einem hölzernen Zahnstocher in seinen Zähnen herum. Er war alt geworden, seit sie sich vor sieben Jahren zum letzten Mal gesehen hatten. Mit seiner grünen Strickjacke und den blauen Cordhosen, der gegerbten und von der Sonne dunkelrot verbrannten Haut, den Fingernägeln, schwarz wie die eines Bauern, hätte man ihn durchaus für den einfachen Winzer halten können, der er neuerdings zu sein vorgab. Nur seine Augen hatten sich nicht verändert. Sie blinzelten nicht.

»Sie waren in Salon? Haben Sie Ihren Brief erhalten?«

»Ja, danke.«

»Was nicht in Ordnung?«

Der Ton seiner Stimme gab Monsieur Pierre zu verstehen, daß sein Besuch nicht willkommen war.

»Ja«, sagte er. Als er heute abend hergefahren war, hatte er sich im Wagen seine Version der Ereignisse zurechtgelegt, und die erzählte er jetzt kurz und bündig. Anschließend zog er den Paß des Attentäters und das Blatt Papier hervor. Der Commissaire, der bis dahin gestanden hatte, bedeutete ihm, Platz zu nehmen, setzte sich ebenfalls und knipste eine Tischlampe an, um sich den Paß genauer anzusehen.

»Scheint echt zu sein«, sagte er. »Aber ich behalte ihn da und lasse ihn untersuchen. Sie sind ein Glückspilz. Sie hätten heute abend am Grunde dieser Schlucht liegen können.«

»Das war kein Glück. Er ist mir gestern nachmittag bereits aufgefallen, als ich aus der Pâtisserie kam.«

Der Commissaire steckte den Paß in die Gesäßtasche seiner Kordhose. »Was halten Sie also von der ganzen Geschichte, Monsieur Pierre?«

Er wußte, wenn der Commissaire ihn mit Monsieur ansprach, dann nicht aus Höflichkeit. Die Anrede war Teil seines Decknamens. Der Commissaire klang verächtlich.

»Deshalb mache ich mir ja solche Sorgen. Welche Leute auch immer dahinterstecken, sie haben gewußt, daß ich in Salon sein würde. Sie haben gewußt, daß ich im Montana sein würde. Vielleicht haben sie sogar gewußt, daß ich auf den Brief gewartet habe. Und Sie? Was halten Sie davon?«

»Ich weiß nichts über diese Leute«, sagte der Commissaire. »Sie gehören zu keiner der üblichen Gruppen. Vielleicht ein jüdischer Studentenverein, vielleicht auch Verwandte von den Leuten aus Dombey. Ich werde dem nachgehen.«

»Aber wieso wissen die über den Brief Bescheid? Davon weiß keiner etwas, nicht mal meine Freunde in der Kirche.«

Der Commissaire nahm den Zahnstocher aus dem Mund und legte ihn behutsam in einen Aschenbecher. »Sie haben in Saint-Cros gewohnt, richtig?«

»Ja.«

»Und Sie haben heute abend Bescheid gesagt, daß Sie abreisen. Haben Sie auch erzählt, was passiert ist?«

»Nein.«

»Gut. Darüber sollte außerhalb dieses Zimmers auch nicht geredet werden.«

»Jawohl.«

»Und was haben Sie als nächstes vor? Wo wollen Sie bleiben?«

»Ich dachte an Aix.«

»Sie dachten?«

»Entschuldigung. Nur so eine Redensart. Ich bleibe einige Wochen im Prieuré Saint-Christophe außerhalb von Aix.«

»Werden Sie erwartet?«

»Nein, aber ich bin dort stets willkommen. Der Prior ist ein Freund der Chevaliers.«

»Notieren Sie mir die Adresse. Und die Telefonnummer, falls Sie die haben.«

Der Commissaire zog ein liniiertes Heft aus der Schublade eines Beistelltisches. »Die Chevaliers«, sagte er. »Gut. Sie wissen, daß Sie von jetzt an doppelt vorsichtig sein müssen. Sie verlieren Freunde.«

»Ich weiß.«

»Und nach Aix?«

»Fahre ich nach Villefranche. Und dann nach Nizza. Dort wird man mich zweifellos willkommen heißen.«

»Freunde des früheren Erzbischofs von Dakar?«

»Ja.«

In diesem Augenblick steckte Madame Vionnet den Kopf durch die Tür. »Möchtest du einen Kaffee, Henri?«

»Gleich«, sagte der Commissaire. »Mein Gast will sich gerade verabschieden.«

Er stand auf. Monsieur Pierre erhob sich ebenfalls. Der Commissaire führte ihn über den vollgestellten Flur. Monsieur Pierre zeigte auf die Weinkisten.

»Wie war die vendange

»Gut. Bißchen eng hier im Augenblick. Die Kisten werden morgen verladen.«

»Caves des Saussaies«, sagte Monsieur Pierre und lächelte. »Ich erinnere mich.«

Der Commissaire öffnete die Haustür und richtete seinen starren Blick auf den Besucher. »Natürlich tun Sie das. Sie haben da ganz schön gesungen.«

Monsieur Pierre gab keine Antwort.

»Gute Nacht«, sagte der Commissaire.

»Gute Nacht.«

 

Als der Commissaire ihn in die Dunkelheit entließ, schaute er zurück und sah, wie Madame Vionnet die Jalousie am Fenster des vorderen Empfangszimmers herunterließ. Er winkte ihr zu. Sie erwiderte seinen Gruß mit einer kleinen höflichen Handbewegung. ›Sie heißt Rosa. Erinnert sie sich an mich? Hat sie deshalb gefragt, ob er einen Kaffee will?‹

Er hatte sie einmal geküßt. In eben jener Rue des Saussaies. Das war an dem Tag gewesen, an dem sie ihm gesagt hatte, daß er gehen könne und daß ihn niemand aufhalten werde. Der Commissaire und seine beiden Assistenten machten Mittag. Ein Wärter hatte ihn aus seiner Zelle geholt und zu weiterem Verhör ins Büro des Commissaire gebracht. Überraschenderweise hatte ihn der Wärter dann in dem Büro mit der sexy aussehenden Sekretärin des Commissaire allein gelassen, mit ihr, der späteren Madame Vionnet. Bei einigen früheren Verhören hatte sie Protokoll geführt. Er hatte gehört, wie die flics sie Rosa nannten. Und Rosa war es, die ihm sagte, daß der Commissaire essen sei, die sich hinter ihrem Tisch zurücklehnte, ihre Beine so verführerisch übereinanderschlug, ihn anlächelte und einige Blumen in der Schale auf ihrem Tisch neu arrangierte. Sechs Wochen zuvor hatte man ihn verhaftet. Denis, der einige Tage vor ihm verhaftet worden war, hatte ihn an die Polizei verraten. Sie hatten ihn gesucht und ihn im Zimmer eines Dienstmädchens in der Rue Monge gefunden, wo er damit beschäftigt gewesen war, gefälschte Banknoten zu zerknittern, damit sie wie gebraucht aussahen.

»In absentia zum Tode verurteilt als ehemaliger Chef der Zweiten Sektion in Marseille; Sie wissen, was Ihnen droht«, hatte der Commissaire gesagt. »Man bringt Sie zurück nach Marseille, holt Sie in drei Monaten aus Ihrer Zelle und erschießt Sie. Nun, was wollen Sie? So geht das heutzutage.«

Hatte er eine Wahl? Erst schlagen sie dich zu Brei. Dann die Drohung mit Marseille. Und hinterher die Frage: »Sagen Sie, was wissen Sie über die jetzigen politischen Aktivitäten des Klerus?« Er hatte ihnen was erzählen müssen, und es mußte stimmen. Er hatte Namen genannt, auch den einen oder anderen von den Leuten der MAC, die ihn versteckt gehalten hatten. Doch Commissaire Vionnet wollte mehr.

»Abbé Feren, kennen Sie den?«

»Natürlich. Er war der Almosenier der milice

»Und als er nach Kriegsende in den Untergrund ging, da haben Sie ihn gesehen, nicht? Er hat Sie versteckt?«

Er mußte ja sagen. Es klang, als hätten sie den Abbé verhaftet. Schließlich hatten sie seit seiner Verurteilung in absentia unablässig nach dem gefahndet.

Der Commissaire war direkt. »Es wäre für Ihren Fall von großem Nutzen, wenn Sie uns sagen, wo wir ihn finden können.«

Natürlich war es eine Sünde gewesen, daß er es ihm gesagt hatte, eine Sünde, die er sich niemals verzeihen würde. Er wußte nicht genau, wo der Abbé war, er konnte es nur vermuten. Das gefiel dem Commissaire. Und die Vermutung hatte gestimmt. Eine Woche später wurde der Abbé in Sanary verhaftet und zu sieben Jahren verurteilt. Aber was waren schon sieben Jahre. Angeblich lebte er heute in Italien.

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