Für Jean

I

NOCH IMMER IST NICHT KLAR ERWIESEN, WANN nun eigentlich Anthony Maloney die Große Viktorianische Sammlung zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Kann man überhaupt sagen: er hat die Sammlung zum ersten Mal in seinem Traum erblickt? Oder hat er sie in ihrer Ganzheit erst erschaffen, als er aufwachte und aus seinem Schlafzimmerfenster stieg?

Maloney, stellte sich heraus, gab in dieser Sache einen unbefriedigenden Zeugen ab. Natürlich, nach diesem Ereignis war er ganz schön perplex. Tatsächlich war er da nicht mehr zu vergleichen mit dem gewöhnlichen, vernünftigen jungen Mann, der an diesem ungewöhnlichen Abend in das Sea Winds Motel in Carmel-by-the-Sea, Kalifornien, gekommen war.

Jener gewöhnliche junge Mann war neunundzwanzig Jahre jung und Assistenzprofessor für Geschichte an der McGill-Universität in Montreal. Dies war seine erste Reise an die Westküste. Er war nach San Francisco geflogen, um an einem Seminar in Berkeley teilzunehmen. Am letzten Tag des Seminars mietete er sich einen Wagen und fuhr nach Süden, mit der Absicht, das Wochenende auf Entdeckungsfahrt durch die Big-Sur-Region zu verbringen. Er kam in Carmel an einem Samstagnachmittag an. Am Montag wollte er das Flugzeug zurück nach Montreal nehmen.

Aber Maloney nahm seinen Flug nicht. Ein Jahr später lebte er immer noch in Carmel und in dem selben Motelzimmer, das er in der Nacht seiner Ankunft bezogen hatte. Eine Wand war herausgerissen worden, so daß er einen angrenzenden Raum als Arbeitszimmer benutzen konnte. Im wesentlichen aber blieb sein Motelzimmer unverändert.

 

Ein Wort noch zu Carmel. Es ist ein kleiner kalifornischer Kurort direkt an der Küste, der manchmal ein »Künstlerparadies« genannt wird. Aber sogar schon am ersten Abend hatte Maloney, als er durch die Galerien mit den gemalten Carmelensien ging, an den Arkadenläden, die in Heimarbeit gefertigte Kerzen verkauften, und den Büchergeschäften, die in ihren Schaufenstern die Gesammelten Werke von Kahlil Gibran ausliegen hatten, vorbeikam, den Eindruck, daß ein aufrechter, wahrer Künstler kaum anders als erschreckt sein mußte angesichts der »Werte«, die hier zu sehen waren. Tatsächlich sollte es ihn später irritieren, daß die Forscher der Vanderbilt-Universität es sich zur Aufgabe machen würden, einen Sinn seiner Wahl von Carmel und des Sea Winds Motel herauszufinden. Die Wahrheit war ganz einfach die, daß man ihm gesagt hatte, Carmel sei ein geeigneter Ort, von dem aus sich die Big-Sur-Region auskundschaften ließe. Und was seine Wahl dieses Motels betraf, so war er nach seiner Ankunft in Carmel in ein Fremdenverkehrsamt der Handelskammer gegangen und hatte sich dort nach geeigneten Räumlichkeiten erkundigt. Ein Angestellter des Amtes hatte ihm daraufhin das Sea Winds empfohlen.

Kurz nach siebzehn Uhr war er also dort eingetroffen. Henry Bourget, der Inhaber des Motels, begrüßte ihn in der Empfangshalle und zeigte ihm ein Zimmer in der ersten Etage. Maloney sah aus dem Fenster und erblickte einen riesengroßen leeren Parkplatz, der vom Bluff Road aus benutzt werden konnte. Er fragte, ob er seinen Wagen dort parken dürfte, aber Bourget sagte, der Platz sei nicht benutzbar, da man im Begriff sei, die Fläche zu bebauen. Er empfahl Maloney, den Wagen auf der Straße stehenzulassen.

Dann brachte Maloney sein Gepäck herein. Er erkundigte sich nach Restaurants, und Bourget empfahl ihm eins, in dem er dann später regelmäßig zu Abend aß. Nach dem Abendessen ging er zum Motel zurück, weil er die Absicht hatte, sich früh zurückzuziehen, um am nächsten Morgen um sieben auf dem Weg nach Big Sur sein zu können. Später sagte er aus, daß, als er sein Zimmer betrat, das Rollo heruntergelassen und das Bett ausgeklappt gewesen war. Inzwischen ist dies von Mrs. Elaine Bourget, der Frau des Inhabers, bestätigt worden: Hin und wieder übernahm sie für Gäste diesen Service.

Maloneys Schlafverhalten war ganz normal. In der Vergangenheit hatte er keine außergewöhnlichen Träume gehabt. Und schließlich kam ihm zu der Zeit sein Traum, als Traum gesehen, auch nicht weiter ungewöhnlich vor. Von Viktoriana zu träumen, war für ihn, wenn man seinen Hintergrund bedachte, auch kein unwahrscheinlicher Zufall. Schließlich lautete der Titel seiner Doktorarbeit: »Eine Untersuchung der Auswirkungen der Errichtung eines kolonialen Weltreiches auf die sozialen Konventionen des Viktorianischen Englands am Beispiel von Kunst und Architektur der Zeit.« In Verbindung mit seiner Arbeit war er nach England gereist und hatte Museen, Bibliotheken und die verschiedensten öffentlichen Gebäude besucht und besichtigt. So konnte er, wenn er auch kein anerkannter Experte in Viktoriana war, zumindest doch einen gewissen Grad an Vertrautheit mit diesem Gebiet nachweisen.

Aber zurück zum Sea Winds Motel. Maloney ging ganz normal schlafen und verbrachte eine ereignislose, ruhige Nacht. Irgendwann frühmorgens wachte er für einige Minuten auf, schlief wieder ein und begann dann zu träumen. Hier der Traum, wie er ihn am nächsten Tag in einem Fernseh-Interview wiedergab:

»Ich träumte, daß ich in London war und in einem alten Gasthaus mit dem Namen The Cheshire Cheese zu Mittag aß. Es steht ganz in der Nähe der Fleet Street. Als ich mich umsah, entdeckte ich, daß die anderen Leute, die zu Mittag aßen, ganz ohne Zweifel Transatlantik-Touristen wie ich waren. Ich erinnere mich, daß meine Art, in einer so offensichtlich typischen ›Touristen-Attraktion‹ zu speisen, mich selbst irritierte. Nur ein anderer Kunde war dort, der mir kein Nordamerikaner zu sein schien. Er war ein großgewachsener Mann, der dunkle, altmodische Kleidung trug. Ich sah sein Gesicht nicht, aber als er sich erhob und den Raum verließ, fühlte ich in mir einen Zwang, aufzustehen und ihm zu folgen. Der Ober rief mir nach, daß ich meine Rechnung noch nicht bezahlt hätte, aber ich hörte nicht darauf, ging hinaus und fand mich in einer trübe beleuchteten schmalen Gasse hinter dem Pub wieder. Der Mann in der dunklen Kleidung stand da und wartete mit dem Rücken zu mir. Da wußte ich plötzlich, daß man ihn beauftragt hatte, mich zu führen. Der Mann ging voran, zeigte auf eine Eichentür am Ende der Gasse und winkte mich heran, vor ihm weiterzugehen. Ich ging zu der Tür und stieß sie auf, weil ich glaubte, sie würde zur Straße hinausführen. Stattdessen fand ich mich in dem dunklen Zimmer des Sea Winds Motel wieder, in demselben Zimmer, in dem ich zu Bett gegangen war. Das Bett war leer und das Bettzeug in Unordnung. Ich ging zum Fenster, ließ das Rollo hinauf, und erblickte einen blaßrosafarbenen Sonnenaufgang. Unter mir lag der Parkplatz des Motels so groß wie ein Häuserblock. Jetzt aber ähnelte der Platz einem überfüllten Freimarkt, einem Labyrinth schmaler Gassen, die von festüberdachten Ständen gesäumt waren. Einige waren malerisch mit Segeltuchmarkisen geschmückt. Ich löste den Griff des Fensters, öffnete es, kletterte auf das Fensterbrett und ließ mich hinunter auf die Holzverkleidung einer Treppe, die etwa sieben Meter weit hinunter zum Platz führte. Zuerst ging ich eine Gasse entlang, die mir der zentrale Gang des Marktes zu sein schien, einen Gang, der überragt wurde von einem glitzernden kristallenen Brunnen auf Säulen aus poliertem Glas, die bis zur Höhe von Telegraphenmasten aufragten. An den Ständen und in teilweise abgeschlossenen Ausstellungsräumen, die wie Möbelschauen aussahen, war die erstaunlichste Sammlung viktorianischer Artefakte, objets d’art, zu erblicken, Möbel, Haushaltsgeräte, Bilder, Schmuck, wissenschaftliche Instrumente, Spielzeug, Teppichwaren, Skulpturen, Handarbeiten, Muster aus Wolle und Tuch, Industriemaschinen, Keramiken, Silber, Bücher, Pelze, Kleider für Männer und Frauen, Musikinstrumente, ein gewaltiges Teleskop auf einem Piedestal, eine Lokomotive, Schiffsausrüstungen, kleine Waffen, Webstühle, bric-a-brac und Curiosa. Wie ich mich so weiterbewegte und alles anstarrte, merkte ich, daß die Stände unbewacht und menschenleer waren und daß mein Führer mir nicht bis hierher gefolgt war. Da wurde mir klar, daß alles hier auf irgendeine Weise in meine Obhut übergeben worden war. Und als ich das begriffen hatte, wachte ich auf.

Es war Morgen. Ich befand mich in dem Motelzimmer, von dem ich geträumt hatte, in demselben Zimmer, in dem ich zu Bett gegangen war. Ich stand auf und ging barfuß und nur mit meiner Pyjamahose bekleidet zum Fenster, ließ das Rollo hoch und erblickte genau den gleichen blaßrosafarbenen Sonnenaufgang. Und da, unter mir, genau wie in meinem Traum, war der große Freimarkt und das Labyrinth aus Ständen, die dicht an dicht auf dem gesamten Gelände des Parkplatzes standen, der am Abend zuvor noch leer gewesen war. Ich öffnete das Fenster, kletterte zum Mittelgang hinunter, ging wieder den ganzen Gang entlang, genau wie ich es in meinem Traum getan hatte, und kam wieder an genau denselben Kristallspringbrunnen, den ich jetzt als das Werk von F. & C. Osler erkannte, ein Wunder an Guß- und Schneidearbeit, an Schleif- und Polierkunst aus Glas, wie es ursprünglich als das Mittelstück im Querschiff der Großen Ausstellung von 1851 errichtet worden war.

Ich ging weiter. Alles in den Ständen, Parzellen und Ausstellungsräumen war wirklich und lebendig. Aber natürlich, ich wußte, daß auch dies ein Traum sein mußte. Es gab keine wirklich ernstzunehmende Möglichkeit, daß dieser Platz, der am Abend zuvor noch leer gewesen war, in einer einzigen Nacht mit sovielen großen und verschiedenartigen Ausstellungsstücken hätte gefüllt werden können. Ich erinnere mich, daß mir, während ich immer weiterging, auffiel, wie alles und jedes, worauf mein Blick fiel, mir in gewisser Weise vertraut erschien. An einem Stand blieb ich dann stehen und nahm einen kleinen Gegenstand in die Hand, eine hölzerne Feuerspritze für Kinder, etwa aus dem Jahre 1840. Ich entsann mich, sie schon einmal in der Marvell-Spielzeugsammlung im Kensington Palace gesehen zu haben. Ich betastete die bemalte Oberfläche der Spritze, sog ihren schwachen Geruch ein, der irgendwie an Schnupftabak erinnerte, und stellte sie wieder auf das Bord zurück. Dann fiel mir eine mechanische Katze auf, die direkt daneben saß, ein Blechspielzeug, das es in keiner einzigen der bekannten Sammlungen von Viktoriana gab. Ich erkannte sie nur aus einer Beschreibung ihrer Arbeitsweise wieder, die ich in einem Buch über seltenes viktorianisches Spielzeug gelesen hatte.

Jetzt aber hielt ich ein echtes Spielzeug in der Hand, sieben Zoll lang, aus Blech gefertigt, mit schwarzen und orangefarbenen Streifen bemalt. Es enthielt einen Aufziehmechanismus, der es ermöglichte, es auf verborgenen Rädern über den Boden laufen und durch eine Drehung des Schwanzes sich der Länge nach drehen zu lassen. Als ich es aufzog und in Bewegung setzte, so erinnere ich mich, dachte ich einen Moment lang: Was ist, wenn das wirklich ist? Was ist, wenn ich nicht träume?

Ich begann, erregt zu werden. Schnell ging ich den Mittelgang hinunter und entdeckte, daß jeder einzelne der schmalen überfüllten Seitengänge Stände und Buden enthielt, die Gruppen von Objekten zeigten, welche ihrerseits wieder Sammlungen innerhalb der Sammlung enthielten. Zuerst blieb ich nur bei den sehr großen Stücken stehen – etwa bei dem Fernrohr, das ich als das berühmte Instrument erkannte, das A. Ross entwickelt hatte und das eine der populäreren Sehenswürdigkeiten der Großen Ausstellung von 1851 gewesen war. Die Lokomotive, die mir zuvor schon aufgefallen war, war natürlich die ›Folkstone‹ von der South Eastern Railway Company, die T.R. Crampton entworfen hatte.

Wirklich: Es war, als hätte ich in meiner Erinnerung einen gewaltigen Katalog gespeichert. Ich erkannte den ›Theben‹-Hocker wieder, der damals für Liberty & Co. gebaut worden war. Neben ihm stand ein Flügel aus Walnußholz mit Intarsien aus Buchsbaum und Perlmutt aus der Werkstatt von John Broadwood and Sons, und er wiederum stand auf einer Hammersmith-Brücke, die William Morris entworfen hatte. Alles stammte aus den achtziger Jahren. Daneben stand ein Spaltfußsofa aus geschnittenem Mahagoni, das aufgepolstert war in roter Seide, ungefähr 50 Jahre älter, dachte ich.

Solch eine Sammlung hatte ich noch nie gesehen. Und diesem Mobiliar gegenüber lag ein Gang, durch den mir der ›Tagträumer‹-Ohrensessel in Papiermaché auffiel, der an seinem oberen Ende mit zwei ›Geflügelten Gedanken‹ geschmückt und von Jennings & Betteridge gebaut worden war; ein Elfenbeinthron mit Fußbank – ein Geschenk vom Radscha von Travancore an Königin Viktoria; ein Marketerie-Putztisch mit botanischen Holzschnitzereien der Messrs. Trollope. Ich wandte mich ab mit der Absicht, in diesem Wirrwarr von Gängen nicht mehr zu pausieren, um einzelne Stücke zu begutachten, sondern mich einfach durch diese Schwemme schöner Dinge treiben zu lassen, und traf auf Sammlungen viktorianischer Teegeschirre aus Silber, Services für das Brautfrühstück, Urnen mit Ornamenten, auf Standbilder, Drehspiegel, Kommoden mit Aufsätzen, Ottomanen, runde Sitzkissen, Eckschränke, Spieltische, Stövchen, Küchenutensilien, Feuergitter und Feuerböcke. In den größeren Räumen erkannte ich das Empfangszimmer eines berühmten viktorianischen Bordells und einen Raum mit dem Mobiliar einer viktorianischen Music Hall.

Ich ging weiter. Ich ging gerade einen Gang entlang, der das Leben viktorianischer Straßen darstellte, und sah eine Ausstellung mit den Handwagen von Obsthändlern, Fuhrwerken, Hochrädern und so weiter, als ich vor mir sich etwas bewegen sah.

Es war ein Mann. Er war in den Sechzigern, sehr braun und hatte ziemlich langes, graues Haar. Er war draußen, auf dem Bluff Road, bewegte sich auf den Eingang zum Parkplatz zu und zog hinter sich einen Karren her, der mit zwei grünen Mülleimern beladen war.

Der Neuankömmling (später fand ich heraus, daß er John Rockne heißt und hier in der Straße wohnt) blieb stehen und rief zur Begrüßung aus: ›Hallo, Tag. Was zum Teufel soll das hier sein? Irgend ne Ausstellung? Wie um alles in der Welt haben sie das so fix hingekricht?‹

Ich erinnere mich, daß ich ihm nicht geantwortet habe. Er hatte etwas an sich, eine Art lebendiger Wirklichkeit, verstehen Sie, die mir die Sprache verschlug und mich in Alarmstimmung versetzte. Und wieder kam mir der Gedanke: Was ist, wenn ich gar nicht träume?

›Ist doch nicht zu glauben‹, sagte Mr. Rockne und warf einen Blick herein. ›Sehen Sie mal den Brunnen da! Und da – ist das ne Lokomotive, was da drüben rumsteht? Sind Sie hier der Chef?‹

›Ja‹, sagte ich. Ich weiß nicht mehr, warum ich das sagte. Es rutschte mir einfach so heraus.

›Aber gestern war hier doch noch gar nichts. Ich bin doch noch gestern abend hier vorbeigekommen. Ich kann’s einfach nicht glauben!‹

Ich gab ihm keine Antwort. Ich wußte einfach nicht, was ich hätte sagen sollen. Außerdem, in einem Traum besteht auch gar kein Grund, sich höflich zu benehmen. Ich lächelte, wandte mich dann um und ging den Mittelgang zurück, am Springbrunnen vorbei, dessen Graben, wie mir jetzt auffiel, Wasser enthielt und zu dem ein Mechanismus gehörte, mit dem man die Düsen anstellen konnte. Aber ich blieb nicht stehen, um es auszuprobieren. Ich fror. Ich trug ja schließlich nur meine Pyjamahose. Ich ging zu meinem Fenster zurück, stieg hinauf und kletterte wieder in mein Motelzimmer. Sofort begann ich, mich in Windeseile anzuziehen, und die ganze Zeit über starrte ich aus dem Fenster. Ich sah Rockne weitergehen und zu der Sammlung zurückblicken, während er seine Mülleimer hinter sich her zum Müllplatz zog. Dann – gerade war ich mit dem Anziehen fertig – sah ich zwei Autos den Bluff Road heraufkommen. Beide wurden langsamer, und die Insassen starrten zur Sammlung herüber. Und wieder durchfuhr mich der Gedanke: Wenn das da richtige Menschen sind, und sie sehen, was ich sehe, dann kann das hier alles kein Traum sein. Ich habe diese Sammlung zum Leben erweckt. Niemand zuvor hat auch nur etwas im entferntesten Ähnliches zu tun vermocht.«

Dann schilderte Maloney in dem Fernseh-Interview, daß in diesem Augenblick eines der Autos ausscherte, herüberkam und hielt und die Insassen, zwei Frauen und ein kleines Mädchen, ausstiegen und entschlossen in den Parkplatz hineinmarschierten und den Inhalt der Stände und Kojen anstarrten. Prompt packte Maloney helle Aufregung. Wenn das hier alles gar kein Traum war, dann waren ja die Ausstellungsstücke total ungeschützt und dem Zugriff von Dieben und Souvenirjägern ausgeliefert. Der Parkplatz mußte umgehend eingezäunt und bewacht werden. Und so stürzte er, ohne sich im klaren darüber zu sein, was er würde sagen müssen, hinunter zum Empfang.

Offensichtlich war Mr. Bourget an diesem Morgen noch nicht draußen gewesen. »Hallo. Gut geschlafen?«

»Jaja. Aber ich muß Ihnen etwas sagen. Draußen auf Ihrem Parkplatz wimmelt es von allerhand Zeug. Das ist ziemlich wertvoll. Ich frage mich, ob wir irgendjemand anheuern können, irgendeine zivile Wache, die sich darum kümmern kann.«

»Was für Zeug denn? Was soll das denn auf meinem Parkplatz? Ich hab Ihnen doch gesagt, daß der nicht benutzt werden soll.«

»Es tut mir schrecklich leid. Ich wußte sonst nicht, wohin damit.«

Mr. Bourget ist ein weißhaariger Mann, dessen Gang deutlich hinkend ist – die Auswirkung einer Verletzung, die er sich im Zweiten Weltkrieg beim Einsatz im Marinebaubataillon zugezogen hatte. Er kam hinter dem Empfangsschalter hervor, nahm seinen Stock und ging mit Maloney zum Parkplatz hinaus. Später gab er in einem Zeitungsinterview bei der Schilderung seiner Eindrücke an, »das wunderschöne Zeug da draußen« hätte ihn »regelrecht umgeschmissen«. Aber in Wirklichkeit »schmiß« ihn der erste Anblick der Sammlung ganz und gar nicht »um«. Er betrat den Parkplatz und marschierte mit seinem Stock gestikulierend den Mittelgang hinunter. »Was soll der ganze Ramsch? Wie zum Teufel ist der Kram hier reingeraten? Ist doch nicht zu fassen. Ein Springbrunnen! Ich glaube, ich spinne.«

»Naja, vielleicht spinnt ja einer von uns«, sagte Maloney. »Ich schätze, derjenige bin ich.«

»Wer zum Teufel hat Ihnen erlaubt, den ganzen Kram hier reinzubringen?«

»Es tut mir aufrichtig leid. Aber es war ein Notfall.«

»Was für’n Notfall?! Wie haben Sie denn die ganzen Gerüste hochgekricht? Sie müssen fünfzig LKW’s dabeigehabt haben.«

»Naja, ich wollte Ihnen ja erklären … Diese Sachen hier sind sehr wertvoll.«

»Also hören Sie!« unterbrach ihn Bourget. »Ich hab keine Ahnung, wie Sie das hier hingekricht haben. Und wenn ich’s mir recht überlege, will ich’s auch gar nicht wissen. Aber wenn Sie’s in einer Nacht reingekricht haben, dann kriegen Sie’s auch genauso plötzlich wieder raus, verstehn Sie mich? Ich will, daß der Platz bis Mittag leer ist.«

»Ich weiß. Ich hätte mit Ihnen sprechen sollen. Aber ich hab mich da was gefragt. Könnten Sie sich vorstellen, mir den Platz auf Tageszahlungsbasis zu vermieten?«

»Nein, Sir. Ist nicht drin.«

»Ich würde gut zahlen. Sagen Sie mir doch, was Sie als fairen Preis ansehen würden.«

Stille. Und dann: »Einen fairen Preis? Sie meinen wohl, einen billigen Preis, was? Na, sagen wir hundert pro Tag, das ist stockbillig. Schließlich haben Sie dafür ja auch ne Menge Platz.«

Beim Sprechen wedelte Bourget das Gesagte unterstreichend mit seinem Stock umher und gefährdete dadurch ernsthaft die empfindlichen Zylinder einiger seltener »Student«-Lampenschirme.

»In Ordnung«, sagte Maloney. »Also hundert pro Tag.«

»Momentchen mal. Das können Sie aber schlecht mit Ihrer Dinerskarte zahlen. Ich will bar. Und im voraus.«

»Wären Traveller’s-Schecks in Ordnung?«

»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Bourget.

Dort zahlte Maloney an Bourget zweihundert Dollar als Miete für zwei Tage, rief mit seiner Erlaubnis eine Wach- und Schließgesellschaft, Securiguard Inc., an und bestellte zwei uniformierte Männer für pro Tag je zweiunddreißig Dollar. Da die Leute in Acht-Stunden-Schichten arbeiteten und für nachts mindestens ein Wachmann besorgt werden mußte, schätzte Maloney ab, daß er auch dann, wenn er nach Montreal telegraphieren mußte, um seine ganzen Ersparnisse abzurufen, kaum in der Lage sein würde, die Sammlung länger als zwei Wochen zu halten.

Die Wachleute kamen innerhalb der folgenden Stunde. Bis zu ihrer Ankunft stand Maloney in gespannter Wachsamkeit am Parkplatzeingang und wies Passanten, die hereinkommen und die Ausstellungsstücke sehen wollten, ab. Er fragte sich nicht mehr länger, ob er wach war oder träumte: er hatte einfach keine Zeit zur Selbstbeobachtung, sondern war unablässig damit beschäftigt, die Leute davon abzubringen, Gegenstände in die Hände zu nehmen, und ausweichende Antworten auf Fragen zu geben wie: »Was soll das? Was für eine Messe wird das? Wo ist das alles her? Wem gehört das?«, und so weiter.

Aber kaum hatten die uniformierten Wachen ihre Posten am Platzeingang bezogen, da wurde er das Opfer neuer Angstzustände. Was wäre, wenn die Sammlung, die in einem Traum erschienen war, wieder verschwinden würde, noch bevor er genügend Zeit haben würde, der Welt zu beweisen, daß sie sich wirklich und wahrhaftig materialisiert hatte? Mit diesem Gedanken eilte er zurück in sein Motelzimmer und rief Professor William Henning an, seinen Gastgeber in Berkeley. Dies war das erste einer ganzen Reihe von seltsamen Gesprächen, die er mit Freunden und Kollegen führen würde.

»Bill, hier spricht Tony Maloney.«

»Hallo, Tony, wie geht’s? Laß mich raten, wo du bist. In Big Sur?«

»Nein, ich bin immer noch in Carmel. Hör zu, Bill, es ist was passiert. Ich brauch deinen Rat.«

»Was hast du für Sorgen?« fragte Henning und wartete schweigend in San Francisco, während Maloney, von Sprachlosigkeit geschlagen, einige Augenblicke lang unfähig war, auf die Frage seines Freundes irgendeine Antwort zu formulieren. Was konnte er sagen? Wer würde diese unglaubliche Geschichte glauben? Sie überhaupt zu erwähnen würde schon so viel bedeuten wie das Eingeständnis, den Verstand verloren zu haben. Und so murmelte er, als er die Sprache wiedergefunden hatte: »Paß auf, ich bin da auf was gestoßen, eine Sammlung von Viktoriana –«

»Das ist ja so ne Art Hobby für dich, oder?«

»Schon, ja. Diese Sammlung ist sehr interessant, sehr wertvoll. Ich würde gerne sofort ein paar Fotos davon machen lassen.«

»Wem gehört sie?«

»Na ja, in gewisser Weise mir.«

»Ach so, du hast sie gekauft?«

»Schwierig, das am Telefon zu erklären.«

»Kapiere«, sagte Henning mit dem Ausdruck eines Mannes, der scharfes Verhandeln zu schätzen weiß. »Noch in den Verhandlungen, was?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber diese Entdeckung ist einfach so wichtig, ich meine – diese Sammlung. Ich glaube, ich werde irgendeine Institution brauchen, die das sponsort. Verstehst du, mit einem Fonds, so daß für sie gesorgt ist und sie gezeigt werden kann und so.«

»Wie wär’s mit einem kommerziellen Sponsor?«

»Nein, an so was hatte ich eigentlich weniger gedacht.«

»Shell Oil macht doch viel in Kultur. Und Xerox auch. Du würdest dich wundern.«

»Nun … ich weiß im Augenblick noch gar nicht, was ich tun soll.«

»Tony«, sagte Henning voller Geduld. »Wenn du so eine herrliche viktorianische Sammlung entdeckt hast, dann brauchst du Publicity. Und wenn du erst mal die richtige Publicity hast, dann kommt alles von alleine ins Rollen.«

»Publicity?« fragte Maloney mit vor neuer Erregung bebender Stimme. »Du hast recht. Das gibt tatsächlich eine wahnsinnige News Story. He, Bill – hast du nicht mal gesagt, dein Schwager arbeitet in der San-Francisco-Redaktion der New York Times?«

Unsicher sagte Henning: »Ja ja. Aber du weißt ja selber, daß die Times ziemlich etepetete bei der Auswahl ihrer Geschichten ist. Die müssen immer, verstehst du, von nationalem Interesse sein.«

»Die ist von nationalem Interesse«, sagte Maloney. »Die ist von internationalem Interesse. Warte nur ab, bis die in London Wind davon haben, daß das Zeugs hier aufgetaucht ist. Aus heiterem Himmel! Glaub mir, Bill, dein Schwager wird dir nochmal dankbar sein.«

»So, du glaubst also, daß das eine wirkliche Bombe ist?«

»Aber ja doch.«

»Na ja, ich könnte Jerry ja mal anrufen. Aber hör mal, wie soll ich ihm das erklären? Ich meine, das mit der Sammlung?«

»Ach, sag einfach, sie ist, äh, daß sie die Große Viktorianische Sammlung überhaupt ist, die größte der Welt. Und daß ich sie gerade in Carmel entdeckt hab.«

»Und daß du eine führende Autorität auf diesem Feld bist.«

»Ach was, das muß ja nicht sein.«

»Tony, wenn du dafür Promotion willst, mußt du die Sache auch total packen.«

»Ja, ich glaube auch. Ja, du hast wohl recht.«

»Okay. Gib mir deine Nummer. Ich ruf dich dann zurück.«

Maloney las seine Nummer ab, legte den Hörer auf und ging zum Fenster. Auf der Seite, wo der Parkplatz zur Straße hinausführte, stand eine der Wachen, bewaffnet mit Revolver und Schlagstock, mit dem Rücken zu den Ständen und Kojen und beobachtete die Autos, die langsam auf dem Bluff Road vorbeifuhren. Die zweite Wache saß genau in der Mitte des Zentralgangs der Sammlung, mit hängenden Schultern und zwischen den Schenkeln baumelnden Händen, in der typischen Haltung aller Museumswärter auf der ganzen Welt: Fänger, die selber gefangen sind, kamen Maloney solche Wächter immer wie die Verkörperung jener Öffentlichkeit vor, die, sich selbst überlassen, nicht dazu bewegt werden kann, auch nur zehn Schritte zum Besuch irgendeiner Museumsausstellung zu gehen. Tatsächlich hatte der Wachmann, der wie ein Museumswärter inmitten der Sammlung saß, wirklich sozusagen etwas von einer Kröte mitten in einem imaginären Garten. Und das bekräftigte sein Gefühl, daß er nicht träumte: Er hatte all diese Dinge wirklich und wahrhaftig erschaffen und sie sichtbar gemacht für andere, damit sie sie sehen und bewundern konnten. So etwas war niemals zuvor unternommen worden. Es war einmalig.

In diesem Augenblick, da er am Fenster stand, kam ihm eine Idee. Wenn er nicht träumte, wenn er also wirklich fähig war, diese Dinge nur kraft seines Willens erscheinen zu lassen – konnte er sie dann auch mit seinem Willen wieder verschwinden lassen? Oder – eine interessante Möglichkeit – konnte er sie kraft seines Willens woanders erscheinen lassen? Was, wenn er, nur als Experiment, per Willenskraft ein einzelnes Teil jetzt in Bewegung versetzen könnte, direkt vom Parkplatz in dieses Motelzimmer hinein? Er schloß die Augen. Das erste Objekt, das ihm in den Sinn kam, war auch das erste, das er untersucht hatte, die hölzerne Kinderfeuerspritze aus der Marvell-Sammlung viktorianischen Spielzeugs. Er konzentrierte sich. Gib, daß sie aus ihrem Stand kommt und hier auf dem Bett wieder auftaucht.

Er schlug die Augen auf. Er sah auf das Bett. Es war keine Spielzeugspritze da. Ein Gefühl des Schreckens befiel ihn. Er drehte sich um, lief aus dem Motel direkt zum Parkplatz hinüber und schnurstracks zu der Koje, in der die Marvell-Sammlung ausgestellt war. Zuerst verspürte er, als er hinüberrannte, ein Gefühl der Erleichterung. Alles war angeordnet wie vorher. Die Spielzeugspritze stand genau noch da, wo sie nach seiner Erinnerung auch zuvor gestanden hatte. Aber als er sie aufnahm, fühlte er sofort, daß irgendetwas nicht stimmte. Sie sah noch genau so aus, aber als er sie umdrehte, entdeckte er auf der Vorderachse die aufgeprägten Wörter »Made in Japan«.

Er war sich absolut sicher, daß die Wörter bei der ersten Prüfung noch nicht dagewesen waren. Er untersuchte jedes einzelne Spielzeug für sich. Die Spritze war die einzige Imitation. Einen Augenblick lang stand er da und sah sie bestürzt an, verbarg sie dann unter seiner Anzugjacke und zog sich mit dem vagen Gedanken, sie zu zerstören, in das Motel zurück. Doch obwohl er die Wölbung fühlte, die das Spielzeug unter seiner Jacke verursachte – als er sein Zimmer erreicht hatte und sie herausnehmen wollte, war die Spritze verschwunden.

Seine erste Reaktion war pure Freude. Denn nichts konnte dem Ruf dieser Sammlung mehr schaden als eine billige Imitation, wenn man sie zwischen all den originalen Stücken aus jener Zeit entdeckte. Der Schwindel schien sich ganz einfach in Luft aufgelöst zu haben. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, daß er sie unwissentlich auf seinem Weg vom Parkplatz in sein Zimmer verloren hatte. Also ging er die Strecke noch einmal zurück und kam wieder zu der Marvell-Sammlung, wo er – wie von Zauberhand genau an den ursprünglichen Platz gestellt – ebendiese hölzerne Feuerspritze sah. Und beim Aufnehmen dieselbe belastende Inschrift las: »Made in Japan«.

Da, und erst da, begriff Maloney die Gesetze dieser Schöpfung. Schon tadelte ihn die Spielzeugspritze, ein winziger krebsartiger Fleck auf dem vollkommenen Glanz des Ganzen. Es war ihm gegeben worden, damit er hier, hier auf einem Parkplatz in Kalifornien, die Sammlung schauen durfte. Jeder weitere Versuch, diese Dinge an irgendeinen anderen Ort zu transferieren, hätte nicht etwa die größte Sammlung von Viktoriana, die die Welt je gesehen hatte, zur Folge, sondern einzig und allein eine ganz erstaunliche Anhäufung japanischer Fälschungen.

Wenige Minuten nach diesen Ereignissen klingelte das Telefon.

»Tony? Ich bin’s nochmal. Bill Henning. Ich hab gerade eben mit meinem Schwager telefoniert.«

»Und?«

»Na ja, ich denke, ich hab ganz überzeugend geklungen. Jedenfalls habe ich sein Versprechen, daß sie sich das mal ansehen. Er sagte, sie wollen ihren Mann aus Monterey rüberschicken, daß der sich mal umtut. Du bist doch noch ne Weile da?«

»Ja. Hat er gesagt, wann sie etwa kommen wollen?«

»Nein, ich hab auch nicht gefragt. Diese Pressefritzen lassen sich sowieso nicht drängen, weißt du.«

»Ja, natürlich. Auf jeden Fall vielen Dank, Bill.«

»Schon gut. Und hör zu, wenn du sonst noch Hilfe brauchst, ruf mich im Büro an. Ruf mich auf jeden Fall an und erzähl mir, wie’s sich macht. Ach, und noch was: Peggy sagt, wir sollten uns alle mal auf einen Drink zusammensetzen, sobald du wieder in San Francisco bist. Du kommst doch über San Francisco, nicht?«

»Ja, ich denke schon. Und nochmals tausend Dank, Bill. Ich bin dir wirklich dankbar.«

»Okay, und paß auf dich auf.«

Maloney legte auf, ging zum Fenster und starrte wieder hinaus auf die Dächer, Stände und Markisen. Lange und wie in Trance stand er so da und entsann sich mit einem Schauder des Wiedererkennens, daß er einst wirklich daran gedacht hatte, eine Sammlung wie diese zu schaffen. Das war während der Zeit, als er gerade aus England zurückgekehrt war und das Examen vor sich hatte. Damals hatte er seinen Tutor nach Möglichkeiten befragt, wie man das Canada Council dazu bewegen könnte, eine Studie zu subventionieren, die die Möglichkeit, eine Nationale Sammlung von Viktoriana zusammenzustellen, erforschen sollte. »Unmöglich«, hatte sein Tutor gesagt. »Sie müßten erstmal eine Sammlung und dann einen Stifter finden, der gewillt wäre, sie zu präsentieren. Sie müßten dann auch die Zusagen für weitere Fonds aus privaten Quellen in der Tasche haben. Und heutzutage hat niemand mehr soviel Kleingeld übrig.«

Und so konnte er nichts weiter tun. Oder doch? Jetzt, wie er da auf diese seltsame Verwirklichung eines alten Traumes hinunterstarrte, ging ihm auf, daß er tatsächlich die Verantwortung hatte. Er konnte diese Objekte ja nicht einfach sich selber überlassen. Er mußte hierbleiben, und auf sie aufpassen.

Sogleich aber tauchten, gleichsam kontrapunktisch, wieder dunkle Schuldgefühle auf. Das Antlitz seiner Frau Barbara schob sich drohend und wie eine zürnende Ikone in sein Bewußtsein und erinnerte ihn daran, daß er ihr versprochen hatte, sie am Mittwoch in Montreal zu treffen. Sie würden einen Kaffee im Café des Arts trinken und miteinander reden – miteinander zu reden, das war schon lange fällig. Es war inzwischen über ein Jahr her, seit Barbara ihn verlassen hatte. Und seitdem hatten sie sich weder gesehen noch miteinander gesprochen.

Nein, er mußte wieder zurück. Er hatte Barbaras Schwester als der Vermittlerin das feierliche Versprechen gegeben. Er mußte einfach am Mittwoch dort sein. Es würde das wichtigste Treffen seines Lebens sein. Wenn er hierbleiben und den Mittwoch verstreichen lassen würde, würden alle Chancen, mit Barbara alles zu klären, verpuffen wie ein Traum.

Das war das. Das wahre Leben. Die Sammlung war wundervoll, sie war schön, sie war absolut erstaunlich. Aber wenn sie fotografiert und als authentisch beglaubigt sein würde, würde er ohne Verzug heimkehren müssen. Daran gab es nichts zu rütteln.

Das Telefon klingelte. »Professor Maloney? Hier ist die Rezeption. Hier ist ein Herr, der sagt, er wäre von der Zeitung. Möchten Sie ihn sehen?«

»Ja, bitte.«

Er hatte jemanden erwartet, der älter als er sein würde. Aber der Reporter, der wie ein Student gekleidet war, Khaki-Safari-Jacke, Jeans, rote Tennisschuhe, war etwa fünf Jahre jünger als er. Der Besucher war dick und trug das weißliche Haar modisch bis auf die Schultern. Er sprach nicht, sondern überreichte Maloney stattdessen eine kleine Visitenkarte – wie ein taubstummer Bettler, der Almosen schnorrt. Mit kaltem, blauem Blick betrachtete er Maloney, der die Karte las:

FREDERICK X. VATERMAN

The Monterey Courier

»Außerdem bin ich der Lokalreporter der New York Times.«

Maloney bat ihn, sich zu setzen.

Vaterman setzte sich auf das Bett. Er förderte erst einen Notizblock und dann einen Kugelschreiber zutage. »Heute morgen bekam ich vom Times-Büro in San Francisco einen Anruf. Sie sagen, Sie würden für sich in Anspruch nehmen, hier in Carmel einen phantastisch wertvollen Berg viktorianischer Schätze entdeckt zu haben. Darf ich fragen, wo diese – diese Schätze – versteckt sind?«

»Die sind nicht versteckt«, sagte Maloney und winkte den Besucher zum Fenster. »Sie sind da auf dem Parkplatz.«

Vaterman stand auf und sah hinaus. Sonnenlicht durchspülte seine aschblonden Locken und machte weichen Flaum auf seinen Schweinebäckchen sichtbar. »Mein Gott! Die ganzen Stände?«

»Ja.«

»Wieviel einzelne Stücke würden Sie ungefähr schätzen?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich hab zum Zählen noch keine Zeit gehabt.«

»So. Darf ich fragen, wo Sie das alles gefunden haben?«

Maloney blickte in diese kalten, blauen Augen. Sicher, er würde schon von dem Traum sprechen müssen. Das war die Story. Aber wie? Erst zögerte er, dann sagte er: »Vielleicht wollen Sie gerne mal hinausgehen und einen Blick auf die Sachen werfen?«

»Später. Erst wollen wir mal die Details klären, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Gut«, sagte Maloney und spürte, wie er sich spannte.

»Wenn Sie vielleicht mit dem Anfang beginnen würden?«

»Nun ja, mir ist klar, daß es schwer sein wird, alles zu glauben.« Seine eigene Stimme erschien ihm losgelöst, körperlos im Zimmer zu treiben und sich abzuspulen wie ein Tonband. »Aber in der letzten Nacht hatte ich einen Traum. Ich habe geträumt, ich würde in London zu Mittag essen –«

»London, England?«

»Ja, ja. Ich war in einem Restaurant, ein Mann, der dort auch aß, ein Mann, der altmodische Kleidung trug, stand plötzlich auf. Und in meinem Traum folgte ich ihm hinaus in eine kleine Gasse. Er führte mich zu einer Tür und winkte mich heran, ich sollte hindurchgehen. Ich öffnete die Tür und fand mich in einem Zimmer wieder – in diesem hier.«

»Was für ein Zimmer?«

»Na, das hier.«

»Also dieses ganz bestimmte Zimmer«, sagte Vaterman. Er fing an, sich Notizen zu machen. »Und?«

»Und in meinem Traum ging ich zum Fenster und sah hinaus. Da war der Parkplatz, und alles war genau so, wie Sie es jetzt auch sehen können, mit allen Ständen, mit allen diesen Sachen. Dann – und das ist das eigentlich Interessante – wachte ich auf und stand auf. Es war Morgen.«

»Welche Uhrzeit?«

»Ich weiß nicht.«

»Na, so ungefähr!«

»Oh, es war kurz nach Sonnenaufgang. Egal, ich machte jedenfalls das Fenster auf, stieg hinaus und fing mit dem ersten Entdeckungsgang –«

»Warum sind Sie aus dem Fenster gestiegen?«

»Was meinen Sie?«

»Na, warum sind Sie nicht durch die Tür? Sie hätten doch genauso schön durch den Empfang zu dem Parkplatz gehen können.«

»Ich hab einfach nicht daran gedacht. Ich war aufgeregt. Ich meine, ich traute meinen Augen nicht.«

»… seinen Augen nicht«, sagte Vaterman und schrieb es auf. »Und warum nicht?«

»Warum nicht? Guter Gott, Mann, das hier ist die phantastischste Sammlung von Viktoriana der ganzen Welt. Sowas gibt es nicht noch einmal. Was sucht sie aber hier?«

Vaterman lächelte vorsichtig. »Warten Sie mal. Lassen Sie mich doch die Fragen stellen, wenn’s recht ist. Erstmal: Sind Sie ein anerkannter Experte für dieses viktorianische Zeug?«

»Na ja, es ist eigentlich mehr ein Hobby für mich. Ich kenne mich da ganz gut aus.«