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Überzeugen

Rhetorik und politische Ethik in der Antike

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eISBN (ePub) 978-3-7873-3582-4

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Inhalt

Einleitung

I.Das Problem: Von der Stasis zur Polis

Die Stimme Athenes
Die Erzeugung der Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in der Orestie des Aischylos

1.Die Handlung der Orestie und die theologischen Voraussetzungen ihrer Darstellung

2.Sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder und ihre Bedeutung für die Handlungsorientierung

3.Der Rechtskonflikt und seine politische Lösung

a)Der Weg von Argos über Delphi nach Athen

b)Das Urteil im Prozess vor dem Areopag

c)Die politische Verhandlung mit den Erinyen

d)Die Polis als Ort des neu befestigten Zusammenlebens von Göttern und Menschen

II.Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik

A.Gorgias: Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht

B.Die Überwindung des tierischen Anfangszustands der menschlichen Natur durch die soziale Gestaltungskraft der Sprache

C.Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik

1.Der Begriff des Wissens und das Konzept dialektischer Praxis

2.Die Wahl der besten sozialen Gestaltungskraft

3.Das Muster guter Herrschaft und die Bedingungen ihrer Verwirklichung

D.Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik

1.Die Überwindung des tierischen Daseins

a)Die Kultur begründende Kraft der Sprache und ihre Bedeutung für die Polis

b)Athen als Entstehungsort menschlicher Kultur

2.Der Gegensatz zwischen guter und gewaltgestützter Herrschaft

3.Die Möglichkeit der Rückkehr zu guter Herrschaft

4.Griechische Erfahrungen mit kooperativer Politik

5.Der Beitrag der politischen Rhetorik zur Realisierung guter Politik

III.Realisierungsprobleme – Möglichkeiten und Grenzen rhetorisch fundierter Politik

A.Der Ruf des Theseus oder die Gründung der Polis durch überzeugende und machtgestützte Rede

B.Solon und seine Politik der Eunomia

1.Die Vorstellungen des 4. Jhs. von Solons Politik

2.Solons Dichtung als Lobrede auf die Eunomia und als politische Selbstreflexion

C.Die Isonomiepolitik des Kleisthenes

1.Gewalt, List und Überzeugungskunst in der Politik des Kleisthenes

2.Die gesetzgeberische Kunst des Kleisthenes oder die Verankerung der Praxis der Isegorie in einer isonomen Verfassung

D.Themistokles oder: Die Praxis der Isegorie als Grundlage für eine Politik des kühn wagenden Mutes

1.Die Machtmittel des Themistokles: Überredungskunst, Bestechung, List, Gewaltandrohung und Zwang

2.Herodot über den Nutzen und Nachteil der Isegorie für die politische Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten

3.Das Handlungsmuster von Salamis und die Politik der Athener im delisch-attischen Seebund

E.Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides

1.Das Perikles-Bild des Isokrates

2.Thukydides und die Praxis der Isegorie

3.Die Bürger-Polis Athen – eine sichere Insel im Umfeld größter Bewegung?

a)Der griechisch geprägte Handlungsraum und seine Bewegungsformen

b)Die Bürger-Polis unter dem Druck größter Bewegung

c)Die Grenzen der politisch verantwortlichen Rhetorik im Umfeld größter Bewegung

Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik

Abkürzungen

Bibliographie

1.Quellen

2.Literatur

Anmerkungen

Personenregister

Einleitung

›Gewalt‹ (βία, vis) und ›Überzeugungskraft‹ (πειϑώ, persuasio) sind zwei gegensätzliche Gestaltungs- und Machtfaktoren des sozialen Handelns. ›Gewalt‹ besteht in der Anwendung physischer Zwangsmittel zur Durchsetzung des eigenen Willens, während ›Überzeugungskraft‹ sich auf sprachliche Mittel stützt, um Konflikte zu entspannen, Interessen auszugleichen und Vertrauen herzustellen. Gewalt begründet physische Verhältnisse, in denen Schwächere der Herrschaft des Stärkeren unterworfen sind, Überzeugungskraft hingegen moralisch-rechtliche Verhältnisse, die auf freiwilliger Zustimmung der Beteiligten und insofern auf Gleichheit beruhen. Beide Gestaltungskräfte stehen im ethischen Diskurs natürlich nicht gleichberechtigt nebeneinander, vielmehr gilt dort die bereits von Bias von Priene – einem der Sieben Weisen – formulierte Maxime: »Gewinne durch Überzeugung und nicht durch Gewalt« (DL I 88). In der ›politischen Kunst‹ als Einheit von ›kriegerischer‹ und ›gesetzgeberischer Kunst‹ (Protagoras) wird daraus ein Verhältnis der Subordination, in dem ›Überzeugungskraft‹ als kommunikative Gestaltungsmacht dafür sorgen muss, dass die nach außen gerichtete kriegerische ›Gewalt‹ lediglich als Mittel der Politik und das innerstaatliche Gewaltmonopol ausschließlich in der Bindung an gemeinsam beschlossenes Recht zur Wirkung kommt. Die Umwandlung der Naturkraft ›Gewalt‹ in rechtlich legitimierte ›Macht‹ ist die Geburtsstunde der Polis als politischer Gemeinschaft, die ihre Macht dadurch gewinnt, dass sie ihre innere Ordnung und ihr Handeln nach der klassischen Definition des Aristoteles an Recht und Gesetz bindet.1

Im vorliegenden Buch geht es um antike Konzepte der Überwindung innergesellschaftlicher Gewalt durch die ›Herstellung‹ (ποίησις, constitutio) rechtlich gebundener Einheiten des Zusammenlebens, die sich, wenn nötig, auch mit ›Gewalt‹ gegen innere und äußere Gegnerschaft behaupten können. Die Überwindung der Gewalt durch das Recht ist der Anfang aller Politik. Wenn man darunter einen historischen Vorgang versteht, dann gibt es dafür keine belastungsfähigen Zeugenaussagen. Da aber gerade die Art und Weise, wie er gedacht wird, für das Verständnis der Politik von entscheidender Bedeutung ist, muss der ›Übergang‹ von der Gewalt zum Recht im Rahmen einer ›Vermutung‹ rekonstruiert werden, die ihre Glaubwürdigkeit nur dadurch gewinnt, dass sie sich gegenüber anderen ›Vermutungen‹ als die ›wahrscheinlichere‹ erweist.2 Die politische Ethik, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, hält sich dafür an die Vorstellung, dass am ›Anfang‹ der ›menschlichen Dinge‹ kein Goldenes Zeitalter und keine wie auch immer geartete politische Natur des Menschen gestanden hat, sondern wie später in der Naturrechtstheorie von Thomas Hobbes ein Zustand roher Gewalt. Cicero beschreibt ihn als einen Zustand, in dem die Menschen »zerstreut und einzeln umherstreifend auf den Feldern lebten und nur so viel besaßen, wie sie gewaltsam mit der Faust unter Morden und Blutvergießen anderen entreißen und behaupten konnten«. Beendet wurde diese Lebensweise durch den Auftritt besonders tugendhafter und kluger Männer, die »die spezifische Bildungsfähigkeit des Menschengeschlechts und seine Veranlagung erkennen konnten und deshalb die zerstreut Lebenden an einem Ort zusammengeführt und aus tierischer Wildheit zu einer gerechten und gesitteten Lebensweise hingeführt haben«.3 Dafür haben sie sich auf die Fähigkeit gestützt, »ihre Mitmenschen von dem, was sie durch vernünftige Überlegung herausgebracht hatten, mit den Mitteln der Beredsamkeit zu überzeugen«, so dass diese ihr vereinzeltes, allein auf Körperkraft gegründetes Dasein freiwillig aufgegeben haben.4 Nur wortgewaltige Redner, die imstande waren, das ›Gewicht‹ (gravitas) ihrer Einsicht mit dem Reiz unwiderstehlicher ›Süße‹ (suavitas) zu verstärken, haben sogar die Stärksten überreden können, den Naturzustand zu verlassen und ihr Zusammen leben mit allen anderen durch »öffentliche, dem Nutzen der Allgemeinheit dienende Einrichtungen« und ein »neu erfundenes göttliches und menschliches Recht wie mit einer Mauer zu befestigen«.5

Cicero entnimmt diese Vorstellung von der Entstehung politisch-rechtlicher Ordnung einer politischen Ethik, die in der griechischen Welt maßgeblich im Ausgang von der Rhetorik entwickelt worden ist. Wenn sie in der bisherigen philosophischen Diskussion kaum Beachtung gefunden hat, so liegt das zum einen daran, dass der von Platon und Aristoteles begründete Begriff der Philosophie als wissenschaftlicher Darlegung der »ersten Gründe des Seienden« ein Denken zur Wirkung gebracht hat, für das am ›Anfang aller Dinge‹ eine göttliche Macht des Guten steht, die auch dem menschlichen Leben einschließlich seiner Gemeinschaftsformen verbindliche Normen vorgibt. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit besteht nach dieser ›Vermutung‹ in der ›Übertragung‹ einer transpolitischen Norm des Richtigen auf konkrete Sozialverhältnisse. Unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen wird daraus die Pflicht zur Orientierung des Handelns an einer ›regulativen Idee‹ des Gerechten und unter kommunikationstheoretischen Bedingungen seine Bindung an eine epistemisch rekonstruierbare ›Natur‹ sprachlicher Interaktion, die auf Gegenseitigkeit und Gleichheit beruht. Wenn der Vernunft die Einsicht in eine ›Natur‹ des Gerechten zugetraut wird, ist der von ihr belehrte und insofern von Herrschafts- und Machtinteressen ›gereinigte‹ Wille die einzig authentische Quelle des Guten, während die Rhetorik – exemplarisch bei Platon – dem Feld des strategischen Handelns zugeordnet wird, in dem es nur um den Aufbau von Macht-, aber nicht um die Begründung von Rechtsverhältnissen geht. Der andere Grund für die Vernachlässigung des Beitrags der antiken Rhetorik zur politischen Ethik besteht darin, dass die dafür relevanten Texte entweder nur fragmentarisch überliefert sind oder wie das Drama, die Lyrik, die Historiographie, der Dialog oder die künstlich gebaute Rede andere Formen des Glaubwürdigmachens verwenden als die, die seit Platon und Aristoteles für die wissenschaftliche Rede als verbindlich gelten.

Die Voraussetzungen des klassischen Begriffs der Philosophie und der von ihr begründeten Ethik sind bereits in der Antike bestritten worden. Erst recht sind heute ethische Fragen und die Grundlagen für ihre Klärung der kontroversen Diskussion ausgesetzt. Ethische Debatten führen deshalb in Gesellschaften, in denen unterschiedliche normative Vorstellungen aufeinander treffen, zu einem Dissens, der, wenn er den sozialen Zusammenhalt bedroht, nur politisch entschärft werden kann. Das geschieht dadurch, dass ›der Gesetzgeber‹ auf dem Weg rechtlich vorgeschriebener Verfahren ein ›Richtiges‹ festlegt, das sowohl sachlich vertretbar als auch für den sozialen Frieden ›nützlich‹ ist. Von daher verdient eine politi sche Ethik das Interesse nicht nur der Experten, sondern auch das einer breiteren Öffentlichkeit, die bereits in der Antike den Bürgern einer Polis zugetraut hat, auf der Grundlage von Rede und Gegenrede zu einer gemeinsamen Entscheidung über die Form ihres Zusammenlebens zu kommen und das eigene Handeln Gesetzen zu unterwerfen, die sie sich selbst nach kontroverser Debatte durch Mehrheitsbeschluss gegeben haben.6

Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik steht dem gegenwärtigen Bewusstsein aber auch dadurch nahe, dass ihr im Gegensatz zur platonischen und aristotelischen Philosophie eine Anthropologie zugrunde liegt, die den Menschen als ›Mängelwesen‹ auffasst. Danach steht am Anfang der ›menschlichen Angelegenheiten‹ ein Zustand der Not, in dem die elementaren Grundlagen für das eigene Leben durch ›Kunst‹ hergestellt werden müssen. Die Grundform des menschlichen Handelns ist deshalb ein inhaltlich offenes Streben nach Vorteilen. Das geschieht zunächst auf der Grundlage physischer Kraft. Da sie im gedachten Anfangszustand unterschiedlich verteilt ist und die Stärkeren deshalb ihren Vorteil leicht durch die Unterwerfung Schwächerer fördern können, kommt der politischen Kunst bei der Überwindung des ›tierischen Daseins‹ die Schlüsselrolle zu, weil nur sie stabile Handlungseinheiten ›herstellen‹ kann, die auf dem wechselseitigen Austausch von Rechten beruhen. Sie ist deshalb auch die Quelle rechtlich gehegter ›Gewalt‹, die als legitime Macht ›räuberischer Wildheit‹ Einhalt gebietet und dadurch der ›gesetzgeberischen Kunst‹ den Rücken dafür freihält, die Binnenordnung einer Gesellschaft ebenso wie das individuelle Streben nach Vorteilen an Recht und Gesetz zu binden.

Die hauptsächlich in Athen entstandene rhetorisch fundierte Ethik ist für die heutige Zeit auch deswegen von besonderem Interesse, weil sie in paradigmatischer Direktheit mit der Bändigung innergesellschaftlicher Gewalt befasst war. Die attische Gesellschaft der archaischen Zeit hat nämlich keine festen sozialen Bindungen und keine staatliche Ordnung gekannt, so dass die entscheidenden Träger des sozialen Handelns die ›Herren‹ der großen ›Häuser‹ gewesen sind, die, um den eigenen Besitz vor gewaltsamen Zugriffen ihrer Konkurrenten zu schützen und die Gestaltungsmacht über ihre Angelegenheiten nach Möglichkeit in die eigene Hand zu bekommen, ihr Gegeneinander in der Kampfform der Stasis ausgetragen haben.7 In diesem Rahmen konnte sich nur eine »extrem individualistische Wettbewerbsethik« entwickeln8, die gerade die Mächtigen verpflichtet hat, »immer der Beste zu sein und den anderen überlegen« (Homer, Il. 6, 208). Die Auseinandersetzung mit der agonalen Ethik des heroischen Handelns und mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen war die wichtigste Aufgabe für die Polis und ebenso für die ihr zugehörige Ethik. Die Polis profiliert sich dabei zum Ort eines Wettbewerbs von Reden und Gegenreden, den derjenige gewinnt, den seine Mitbürger als den besten Ratgeber für die Gestaltung ihres Zusammenlebens und für ihr gemeinsames Handeln anerkennen. Politische Rhetorik hat deshalb ihr Vorbild in der von Homer beschriebenen Praxis des Redewettstreits der »Besten im Kampf und im Rat« (Ilias 9, 441 ff) und in der Fähigkeit der »zeusgenährten Könige« Hesiods, mit ›gewinnenden Worten in gerechter Entscheidung rasch und klug gewaltigen Streit zu beenden‹ (Theog. 80 ff). Das Medium, in dem sie ihre Wirkung entfaltet, ist deshalb zum einen die Rede des Einzelnen, der andere von der Richtigkeit seiner Vorstellungen überzeugt und dadurch Handlungseinheiten herstellt, und zum anderen die Institution der agonalen Debatte, mit der eine Gemeinschaft von Gleichen die Regeln ihres Zusammenlebens festlegt und über ihr konkretes Handeln entscheidet. Die Wettbewerbsstruktur, die in der archaischen Epoche die Quelle der Stasis war, wird also in der Polis nicht beseitigt, sondern so umgeformt, dass der ›große Wettkampf‹ nicht mehr das physische Gegeneinander der Starken ist, sondern die agonale Debatte, in der um Wohl und Nutzen der politischen Gemeinschaft, aber auch um den Besitz politischer Gestaltungsmacht und das damit verbundene öffentliche Ansehen gestritten wird.

In der Polis konkurriert die politische mit der sophistischen Rhetorik, der das Verdienst zukommt, die Techniken sprachlicher Darstellung systematisch erschlossen und in Lehrbüchern zusammengestellt zu haben. Auf der Grundlage dieses Wissens ist auch der politische Redner imstande, »gegen alle und über alles so zu reden, dass er den meisten Glauben findet beim Volk«9. Da er jedoch ›bewirken‹ will, dass den Bürgern »statt des Verderblichen das Heilsame gerecht zu sein scheint und es deshalb für sie auch ist«10, stützt er sich ausschließlich auf die von Aristoteles als ethisch qualifizierten Überzeugungsmittel, d. h. vor allem auf seine persönliche Glaubwürdigkeit11 und auf eine Vortragsweise, die im Unterschied zur demagogischen Rede »in belehrender Form (διὰ τοῦ δεικνύναι) Wahres oder Wahrscheinliches« zum Ausdruck bringt.12 Es geht deshalb im vorliegenden Buch nicht um die technische, sondern ausschließlich um die politisch-ethische Dimension der ars bene dicendi, die der Form wie dem Inhalt nach ›gute‹ Rede sein will.13

Ein besonderes Problem der rhetorisch fundierten Polis-Ethik besteht offensichtlich darin, dass sie die ›Herstellung‹ des Guten einem Medium anvertrauen muss, von dem sie selber weiß, dass es auch das Gegenteil bewirken kann. Im Zentrum ihrer Selbstreflexion stehen deshalb der politisch vorteilhafte ›Gebrauch‹ sprachlicher Kunstmittel und die Notwendigkeit, ihn gegen ihren schädlichen ›Gebrauch‹ durchzusetzen.14 Dabei kommen zwangsläufig auch ein erkenntnistheoretisches Problem, das sie selbst, und ein politisches Problem zur Sprache, das ihre Außenwirkung betrifft. Das erkenntnistheoretische resultiert daraus, dass die Rhetorik für die Herstellung des Glaubwürdigen und ›Heilsamen‹ auf allgemein verbreitete Meinungen zurückgreifen muss, weil nur sie für eine ›Menge‹ von Menschen zustimmungsfähig sind. Sie müssen für diesen Vorteil aber den Nachteil in Kauf nehmen, hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für ein öffentlichkeitswirksames Sagen des Guten schwer durchschaubar zu sein. ›Meinungen‹ sind grundsätzlich ambivalent, so dass sie falsch, aber auch richtig sein können, sich aber in den meisten Fällen in der Mitte zwischen diesen beiden Extremwerten bewegen, so dass es oft aussichtslos ist, das Richtige aus seiner Vermischung mit Falschem herauszulösen.15 Die politische folgt der sophistischen Rhetorik darin, dass sie nicht die Erkenntnis des Wahren, sondern die Ermittlung des ›Wahrscheinlichen‹ zum Ziel hat. Um das damit verbundene Moment von Willkür so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten, muss sie sich zu der Kunst profilieren, die innerhalb des Wahrscheinlichen zwischen Schwäche und Stärke begründete Unterscheidungen treffen kann.16 Nach Platon ist das »Wahrscheinliche« nur dann etwas anderes als das, »was die Menge leicht glaubt«, wenn es »aus einer Ähnlichkeit mit dem Wahren entsteht«, so dass es »am besten von dem zu finden« ist, der »die Wahrheit in der Sache erkannt hat« (Phaedr. 273 a und d). Da sich die politische Rhetorik von diesem Ideal des Wissens bewusst distanziert, ist die Grundlage ihrer Kunst eine besondere Form der Urteilsklugheit (φρόνησις, prudentia), die sich auf ethische und politisch-praktische Streitfragen konzentriert und die Einsicht in die ›Natur der Dinge‹ einer anders gearteten wissenschaftlichen Erkenntnis (ἐπιστήμη, scientia) oder der Gottheit überlässt. Sie muss deshalb erklären, wie sie »unter der Bedingung kognitiver Ungewissheit«17 eine allgemein überzeugende Vorstellung entwickeln und mit ihr einer Gemeinschaft dazu verhelfen kann, ihr ›Wohl‹ zu befördern.

Das politische Dilemma ist darin begründet, dass in der Polis verschiedene Interessen und widersprüchliche Meinungen über die ›richtige‹ Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten aufeinander stoßen. Ihr ordnungspolitisches Grundproblem ist deshalb die gewaltfreie Herstellung von Konsens bei gegebenem oder jederzeit möglichem Dissens. Wissenschaftliche Sätze allein können, selbst wenn sie wahr sind, nicht mehrheitlich von einer Gemeinschaft als das für sie ›Heilsame‹ nachvollzogen werden, weil eine ›Menge‹ von Menschen keine Versammlung der ›Besten‹ im Sinne Hesiods ist, die »alles selbst einsehen und bedenken, was danach und hin bis zum Ende das Beste ist« (Erga 293 ff). Die Lösung des Konsensproblems gelingt deshalb nur der ›Kunst‹, die in der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Meinungen von unterschiedlicher Wertigkeit eine Vorstellung ausbilden und öffentlich so darlegen kann, dass eine ›Menge‹ glaubt, ihr folgen zu müssen, um aus einer Situation der ›Ratlosigkeit‹ herauszufinden. Themen ihrer Selbstreflexion sind aber auch die Möglichkeit des eigenen Irrtums und das mögliche Scheitern einer ›guten‹ Rede am Widerstand einer unbelehrbaren ›Menge‹ oder an der Wirkungsmacht einer schlechteren Gegenrede.

Zur Verdeutlichung dessen, worum es in der politisch verantwortlichen Rhetorik und der von ihr begründeten Polis-Ethik geht, ist das vorliegende Buch in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten soll, angeregt durch Überlegungen Christian Meiers zur Entstehung des Politischen bei den Griechen und zur Politischen Kunst der griechischen Tragödie, das Grundproblem dieser Ethik, die Überwindung lebensbedrohlicher ›Wildheit‹ durch eine soziale Ordnung, die auf gemeinsamen Überzeugungen beruht und auf Kooperation eingestellt ist, am Beispiel der Orestie des Aischylos veranschaulicht werden.18 Sie ist gleichsam der dramatische Grundtext für die rhetorisch fundierte Polis-Ethik, weil dort die Entstehung einer der artigen Ordnung auf die »gute Zunge« (Eum. 988: γλώσση ἀγαϑή) der Göttin Athene zurückgeführt wird, die mit ihrem »besänftigenden Klang« (886: μείλιγμα καὶ ϑελκτήριον) »zu rechter Zeit« (1000) dem Guten durch belehrende Rede (881: λέγουσα τἀγαϑά) gegenüber denen zum Sieg verhilft, die sich wie eine hartnäckige Stasispartei dem Wettkampf für das gemeinsame Wohl auf eine gefährlich lange Zeit »wild in Weigerung versagt« haben (974 f). Die Befreiung aus einer Welt der Gewalt gelingt nicht allein durch die Ablösung der Rache durch das Recht, sondern erst dadurch, dass die normativen Folgelasten dieses Übergangs durch besänftigendes Reden und politisches Verhandeln so aufgefangen werden, dass zwischen den bisherigen Streitparteien ein Verhältnis gegenseitigen Wohlwollens zustande kommt. Die Orestie veranschau licht außerdem die ambivalente Wirkungsmacht sprachlich gefasster Vorstellungsbilder, die ebenso zu tödlicher Gewalt wie zu einem allseitig vorteilhaften Zusammenleben ›überreden‹ können. Auch in dieser Hinsicht ist sie für die politische Rhetorik ein grund legender Text.

Im zweiten Hauptteil geht es um konzeptionelle Begründungen für eine Ethik, die die von der Athene des Aischylos als göttlich gepriesene Macht der Peithō auf eine menschliche Stimme übertragen und als rhetorische Kunst im Raum der Polis als Mittel der Problemlösung vergegenwärtigen will. Am vollständigsten ist diese Ethik von Isokrates entwickelt worden (D). Er gewinnt ihre philosophischen Grundlagen dadurch, dass er die These seines Lehrers Gorgias von der Sprache als universaler Gestaltungsmacht (A) mit der sophistischen Anthropologie menschlicher Schwäche und der für sie charakteristischen Vorstellung des ›künstlichen‹ Übergangs vom status naturalis zum status civilis (B) verbindet. Er kann deshalb Xenophons Konzept der Herstellung von Freundschaft und guter politischer Herrschaft durch besonnen überzeugende Rede (C) zu einer Bestimmung des Logos als der besten sozialen Gestaltungskraft erweitern. Ihre Leistung wird von Isokrates in seinen großen politischen Reden konkretisiert. In ihnen macht er deutlich, dass die Wirkungsmacht der besonnenen Rede für die Athener der entscheidende Urheber alles Guten, ihre Schwächung hingegen der Urheber des Schlechten gewesen ist, nämlich die Ursache dafür, dass sie ihre Politik einseitig auf den Machtfaktor ›Gewalt‹ umgestellt und damit letztlich ganz Griechenland ins Elend gestürzt haben. Da diese Aussagen nicht nur für Athen, sondern für jede politische Gemeinschaft gelten, gehören sie in den gedanklichen Horizont einer philosophischen Theorie der Politik.

Der dritte Hauptteil gilt in erster Linie den problematischen Realisierungsmöglichkeiten, aber auch konzeptionellen Erweiterungen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik. Die Überlegungen dazu folgen der von Isokrates aufgestellten Liste der vier ›besten‹ Politiker Athens: Solon, Kleisthenes, Themistokles und Perikles. Sie wird im Blick auf seine Helena -Rede an ihrem Anfang um Theseus erweitert, weil die Polis im Akt der ihm zugesprochenen institutio rei publicae die Kraft erhalten hat, mit der sie in späterer Zeit bürgerkriegerische und äußere Gefährdungen überwinden und ihre Macht nicht nur quantitativ ausdehnen, sondern, in der Sicht des Isokrates, zur gewaltfrei überzeugenden Wirkungsmacht der Schönheit steigern konnte. Da sich sein Lob der besten Politiker Athens mit wenigen Andeutungen begnügt, wird deren Bild vor allem durch Texte von Herodot (Kleisthenes, Themistokles), Thukydides (Themistokles, Perikles) und Aristoteles (Solon, Kleisthenes) ergänzt. In diesem Rahmen wird Solons Dichtung als lyrische Ursprungsform der politischen Rhetorik vorgestellt. Sie sollte nämlich nicht nur dazu beitragen, einen besonderen Bürgerkrieg zu beenden, sondern vor allem das Bewusstsein dafür wecken, dass die Bürger für die konkrete Gestalt ihres Zusammenlebens eine Verantwortung tragen, die ihnen niemand abnehmen kann. Solons Dichtung appelliert an den Willen zur Gerechtigkeit als der einzig tragfähigen Voraussetzung für die ›gute Ordnung‹ (Eunomia) einer Polis. Sie thematisiert aber auch Grenzen, die einer Politik der Verbindung von Macht und Recht gesetzt sind, wenn sie ausschließlich von der freiwilligen Zustimmung der Bürger abhängt, und plädiert damit für die gegenseitige Verstärkung von Individual- und Institutionenethik.

Das Bild von der Politik des Kleisthenes, der in der Antike als guter Redner galt, obwohl keine einzige Rede von ihm erhalten ist19, wird nicht nur durch aristotelische Referate, sondern auch im Blick auf Herodot präzisiert. So wird deutlich, dass Kleisthenes nur durch eine kluge Verbindung von Überredungskunst und Gewalt die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Stasis beseitigen und einer Verfassung zur Macht verhelfen konnte, die auf überzeugende Rede und damit auf eine alle Bürger umfassende politische Kooperation eingestellt war. Herodot spricht in diesem Zusammenhang von der Praxis der Isegorie als einer Institution, die dafür sorgt, dass erst dann gehandelt wird, wenn die Bürger einer isonom verfassten Polis ihre Vorhaben zuvor in Rede und Gegenrede ausführlich diskutiert haben. Er betont außerdem, dass die Orientierung an dieser Praxis die Handlungskraft Athens entscheidend verstärkt hat. In seiner Darstellung des Krieges zwischen Persern und Griechen hat er seine These vom machtpolitischen Vorteil der Isegorie vielfältig differenziert und dabei der Redekunst des Themistokles besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Mit seiner Interpretation des menschlichen Handelns als einem unvermeidlichen, aber letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch, den Mangel an Autarkie zu überwinden, der zur menschlichen Natur gehört, bewegt er sich im Rahmen einer Anthropologie, die auch der rhetorisch fundierten Polis-Ethik zugrunde liegt.

Anknüpfend an Herodot zeigt Thukydides, dass die Reden des Themistokles, die den Athenern bei Salamis den ›kühnen Mut‹ eingegeben haben, die höchste alle Gefahren, nämlich die des Nicht-Seins, freiwillig auf sich zu nehmen, um die Freiheit ganz Griechenlands zu ›retten‹, in ihr politisches Handeln ein Muster ›eingepflanzt‹ haben, das den Machtfaktor expansiver Gewalt von Persien nach Griechenland geholt, ihn dort zu ›größter Bewegung‹ entfesselt und damit die Politik kooperativer Verständigung ins Reich frommer Wünsche verwiesen hat. Im letzten Abschnitt des dritten Hauptteils geht es deshalb um Grenzen, die der Praxis der Isegorie unter den Bedingungen ›größter Bewegung‹ gesetzt sind. Im vergleichenden Blick auf verschiedene Formen der ›Ingebrauchnahme‹ politischer Rhetorik wird deutlich, dass bereits der Antike bewusst war, dass ihre Gestaltungskraft von Voraussetzungen abhängt, die auch der beste Redner nicht selbst in der Hand haben kann. In einer Schlussbetrachtung wird die Bedeutung dieser Einsicht für das Selbstverständnis der rhetorisch fundierten Polis-Ethik herausgestellt und sie selbst in den Zusammenhang der antiken praktischen Philosophie eingeordnet.

Im vorliegenden Buch geht es nicht um die Darstellung historischer Prozesse, obwohl auf sie immer wieder Bezug genommen wird, sondern um die Verdeutlichung der begrifflichen Konzepte, die den Beschreibungen und Bewertungen politischer Organisationsformen und ihrer Handlungsmuster zugrunde liegen.20 Eine Antwort auf die Frage, ob die Ausführungen dazu auch für ein gegenwärtiges Politikverständnis »Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen« enthalten, muss dem Leser überlassen bleiben. Es ist jedenfalls weder beabsichtigt, ein gegenwärtiges Bewusstsein zu überreden, in eine Vergangenheit ›überzusiedeln und sich darin ein heimisches Nest zu bereiten‹, noch ein Vergangenes durch den Nachweis der darin wirksamen ›Macht menschlicher Gewalt und Schwäche‹ zu ›dekonstruieren‹.21 Die antike Polis unterscheidet sich viel zu stark von der gegenwärtigen repräsentativen, vom Prinzip der Gewaltenteilung geprägten Demokratie, als dass einfache Übertragungen möglich wären. Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik gehört in die uns fremd gewordene Lebenswelt einer Demokratie, die sämtliche politischen und juristischen Streitfragen in Tagversammlungen der Bürgerrechtsträger, also der freien erwachsenen Männer, entschieden hat. Politik war deshalb nicht die Angelegenheit einer dafür zuständigen, von einer professionalisierten Bürokratie unterstützten Regierung, sondern tatsächlich die Sache des gesamten ›Volkes‹. Die aus der Rhetorik entwickelte Ethik war außerdem an Bürger adressiert, die in den knapp 150 Jahren zwischen ca. 600 bis 450 v. Chr. Stasis und Tyrannis, ihre institutionelle Überwindung durch die Einrichtung einer Bürger-Polis und deren Umgestaltung von einer aristokratischen ›Herrschaft der Besten‹ zur ›Herrschaft des Volkes‹ erlebt und zunehmend mitgestaltet haben. Der Arbeit an der konkreten Form ihrer politischen Gemeinschaft hat kein bewusster Plan, sondern die Notwendigkeit zugrunde gelegen, die eigene Lebensform vor Stasis und Tyrannis und der imperialen Großmachtpolitik Persiens zu schützen. Der Erfolg dieser Anstrengung hat für Athen den rasanten Aufstieg von einer mittleren Regional- zur politischen und kulturellen Führungsmacht Griechenlands bedeutet. So wie die Stadt verfasst war, konnten diese Veränderungen, aber auch die späteren Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges nur auf der Grundlage freier Diskussion bewältigt werden. Wer die Stilisierung der Rhetorik zur Primärquelle des Guten für eine weltfremde Idealisierung hält, sollte bedenken, dass die öffentliche Debatte der Lebenskern einer Bürger-Polis war, die immer wieder vor der Notwendigkeit gestanden hat, sich in ihrem Inneren gegen den Ausbruch und nach außen gegen den Zugriff zerstörerischer ›Wildheit‹ zu wehren.

I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis

Die Stimme Athenes
Die Erzeugung der Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in der Orestie des Aischylos

Für Aristoteles ist die politische die beste menschliche Gemeinschaft, weil alle Mitglieder an ihr in der Weise teilhaben, dass ihnen das gemeinsam gestaltete Leben zusammen mit wirtschaftlicher Autarkie (Pol. I 2, 1252 b 29) das normative Gut rechtlicher Ordnung sichert (ebd. 1253 a 17 ff). Der Herrschaft von Gleichen über Gleiche mit ihrem Wechsel von Regieren und Regiertwerden geht zeitlich – und für Aristoteles auch logisch – die Herrschaft des Königs über das ›Volk‹ (Demos) voraus, die derjenigen entsprochen hat, mit der die ›Herren‹ größerer und kleinerer ›Häuser‹ über ihre Familie und die mit ihr verbundenen ›Unfreien‹ regiert haben. Das von Homer beschriebene ›Haus‹ des Odysseus in Ithaka oder das des Alkinoos bei den Phäaken veranschaulichen diese für die nachmykenischen Verhältnisse in Griechenland charakteristische Form der hausgebundenen Königsherrschaft, die sich wesentlich von der im Orient verbreiteten theologisch legitimierten Monarchie und der auf sie zentrierten Palastökonomie unterscheidet.1 Die ›gute Ordnung‹ des ›königlich‹ regierten ›Hauses‹ war als personales Gut abhängig von der Fähigkeit seines Herrn, beim Entscheiden von Streitfällen und der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten ›in Scheu vor den Göttern unter vielen starken Männern (sc. das sind die ›königlichen‹ Herren der kleineren Nachbarhäuser, AR) zu herrschen, dabei die guten Rechtsweisungen (εὐδικίας) hoch zu halten‹ (Homer, Od. 19, 109 ff) und den eigenen Besitz vor dem Zugriff anderer zu schützen. Kritische Vorgänge wie die Abwesenheit des Herrn, seine Vertreibung durch Mächtigere, problematische Erbschaftsregelungen, in größeren Häusern auch Herrschaftsteilungen oder Rivalitätskämpfe zwischen Thronprätendenten konnten selbst glänzende Häuser vernichten. Auch in Athen war die mythisch erinnerte Frühzeit vom stasislastigen Streit um die Machtposition des Königs bestimmt.2 In historischer Zeit geht der Bürger-Polis eine Periode heftiger Rivalitätskämpfe zwischen den führenden Grund besitzenden ›Adligen‹ und ihren Anhängerschaften um die Vorherrschaft in Attika voraus. Der Preis für deren Beendigung konnte die Tyrannis sein, bei der der Herr eines ›Hauses‹ durch die gewaltsame Ausschaltung seiner Konkurrenten für eine bestimmte Zeit das Machtmonopol behauptet und damit den allgemeinen Frieden gesichert hat. Stasis3 und Tyrannis4 sind deshalb die entscheidenden Hindernisse gewesen, gegen die sich die Polis mit ihrer Orientierung an der Norm bürgerlicher Gleichheit durchsetzen musste.

In der Orestie wird der Gegensatz zwischen ›Haus‹ und ›Polis‹, den Athen zum Zeitpunkt der Erstaufführung im Jahre 458 historisch bereits überwunden hat, in tragisch-dramatischer Zuspitzung noch einmal auf die Bühne gebracht. Sie zeigt den Zusammenbruch des königlichen Hauses der Atriden in Argos und stellt dieser Welt des Todes das Bild eines sittlich fundierten, göttlich geschützten und für alle Bürger vorteilhaften Lebens in der Polis entgegen. Dabei wird deutlich, dass die Polis ihre Sittlichkeit zwar aus sich selbst erzeugen, aber auch normativen Ansprüchen gerecht werden muss, die für das königlich regierte ›Haus‹ verbindlich waren. Die Orestie ist ein Musterbeispiel politischer Kunst5, weil sie zeigt, wie die Polis durch ihren Eingriff in eine Kette ›urerster Schuld‹, die im ›Haus‹ entstanden ist und auch sie ohne eigenes Verschulden bedroht, ein verlässliches Wachstum des Guten begründet. Außerdem zeigt sie, dass der Übergang von tödlicher Gewalt zu lebensfreundlichem Recht in der gelebten Wirklichkeit ein außerordentlich schwieriger und immer wieder von Gegenkräften bedrohter Prozess sein kann. In der folgenden Interpretation soll deshalb den Verwicklungen nachgegangen werden, die erst nach langem und oft hoffnungslos erscheinendem Ringen bei allen am Konflikt Beteiligten die Besonnenheit aufkommen lassen, mit der tödliche Gegensätzlichkeit entspannt und ein sozialer Zusammenhang begründet werden kann, in dem eigene ›Tugend‹ das ›freudevollste, mit Sicherheit verbundene Leben‹ erzeugt und deshalb die Kraft entfaltet, sich einen ›Überfluss an Besitz und Gesundheit zu erwerben und zu bewahren‹.6

1. Die Handlung der Orestie und die theologischen Voraussetzungen ihrer Darstellung

Im ersten Teil der Tragödientrilogie kehrt Agamemnon aus Troja nach Argos zurück und wird dort von seiner Gemahlin Klytaimestra, die sich mit ihrem Schwager Aigisthos verbunden hat, ermordet. Sie rächt damit den Tod ihrer Tochter Iphigenie, die vor dem Aufbruch der Griechen nach Troja von ihrem Vater der Artemis geopfert wurde. – Der zweite Teil thematisiert die Rückkehr des von Klytaimestra früh aus dem Haus entfernten und bei Verwandten in Phokis aufgewachsenen Orest. Zentrum der Handlung ist die ihm von Apoll aufgetragene Rache an der Mörderin seines Vaters. – Der dritte Teil handelt vom Schicksal Orests, der von den Rachegeistern seiner Mutter auf den Tod verfolgt wird. Die Befreiung von ihrem Zugriff gelingt nicht durch die üblichen Reinigungsrituale7 und auch nicht in Delphi, sondern erst nach seinem Freispruch durch den Areopag in Athen, den Athene als »des Landes Herrscherin« (Eum. 288)8 bei dieser Gelegenheit als das Richtergremium einsetzt, das zukünftig für die Blutgerichtsbarkeit zuständig sein soll. Das Urteil erregt den Zorn der Erinyen, die daraufhin ihre Vernichtungsdrohung gegen die Polis richten. In dieser Situation kann die Stimme Athenes eine Wirklichkeit der Instabilität, der einseitigen Verfolgung normativer Ansprüche und einer sich selbst reproduzierenden Gewalt in eine Welt verwandeln, in der Menschen und Götter in wechselseitiger Gunst miteinander verbunden sind.9

Die Theologie, die der Orestie zugrunde liegt10, kennt das Göttliche als Einheit und Gegensatz zwischen alten, dunklen, unerbittlich handelnden chthonischen Gottheiten, die mit den Wachstumskräften der Erde und dem in ihrer Tiefe gelegenen Reich der Toten verbunden sind, und jungen, hellen, verhandlungsfähigen, rational argumentierenden olympischen Göttern, die primär in das Geschehen oberhalb des Erdbodens eingreifen. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die Theogonie Hesiods mit der für sie leitenden Vorstellung, dass der politisch-rechtlichen Herrschaft des Zeus innergöttliche Stasiskämpfe vorausgegangen sind, die in ihrer Heftigkeit den Gesamtbestand des Kosmos bedroht haben. Ihre Ursache waren die tyrannischen Ambitionen von Uranos und Kronos, die aus Furcht vor einem Rivalen unter den eigenen Söhnen mit hybriden Eingriffen in den naturhaften Vorgang der Lebensreproduktion Aufstände provoziert haben, die erst mit einem gewaltsamen Sieg der olympischen Götter über entfesselte titanische und gigantische Urkräfte beendet werden konnten. Die Entmachtung des Kronos durch Zeus markiert den entscheidenden Übergang von tyrannischer Gewalt zu politischer Ordnung. Weil sie auf einer gerechten, durch Vertrag und Versprechen gesicherten Verteilung von Macht beruht und dabei auch die Ansprüche vorolympischer Götter auf ›Ehre‹ berücksichtigt, scheint mit ihrer Errichtung die Gefahr einer innergöttlichen Stasis gebannt zu sein. Hesiods Darstellung der Überwindung eines Zustands der Gewalt durch die Herrschaft des Rechts ist als Vorbild für die Überwindung der Stasis durch die Herstellung einer politischen Ordnung in der menschlichen Welt konzipiert.

In der Rechtsordnung des Zeus war es die Aufgabe der Erinyen, als »Helferinnen der Dike«11 das Gesetz ihres königlichen Oberherrn zur Geltung zu bringen, nämlich die Bestimmung, dass derjenige, der die göttlich sanktionierte Ordnung des Lebens verletzt, das von ihm begangene Unrecht an sich selbst erleiden muss.12 Das gilt insbesondere für den ›Mord an verwandtem Blut‹ (Eum. 212), der als Muttermord nicht nur ein individuelles Verbrechen, sondern einen massiven Angriff auf die Reproduktionsquelle des menschlichen Lebens darstellt. Nach der Ermordung Klytaimestras durch Orest droht die Epoche der Einheit zwischen olympischen und chthonischen Göttern zu zerbrechen und muss deshalb auch im Blick auf die menschliche Welt neu gefestigt werden.

Athen hat in historischer Zeit aus einer hoch entwickelten Sensibilität für Tötungsdelikte weit gehende institutionelle Konsequenzen gezogen.13 Mordprozesse unterlagen einer strengen rituellen Form und waren besonderen Gerichtshöfen anvertraut, wobei der Areopag für vorsätzliche Morde an Bürgern Athens zuständig war.14 Auch in der Polis betrafen Tötungshandlungen zunächst das ›Haus‹ des Opfers, so dass in der Regel nur der nächste männliche Verwandte gegen den Täter Klage erheben konnte und das, wenn er seine ›Ehre‹ wahren wollte, auch musste. Vor dem historischen Areopag waren Kläger und Beklagter verpflichtet, ihre Aussagen mit dem »größten und stärksten aller Eide« zu bekräftigen (Antiphon 5, 11) und für den Fall einer Falschaussage die »Vernichtung ihrer selbst, ihrer Angehörigen und ihres Hauses« auf sich herab zu rufen (Selbstverfluchungseid).15 Die Polis bleibt also Normen verpflichtet, die bereits im ›Haus‹ das menschliche Leben vor Verletzung schützen sollten. Dabei will sich Athen dem eigenen Mythos nach unter Hintanstellung eigener Machtinteressen in besonderer Weise für fremde, ›haus‹-flüchtige ›Schutzflehende‹ eingesetzt haben, die außerhalb Attikas Unrecht erlitten hatten.16 In der Orestie kommt es zu einem Streit zwischen olympischen und chthonischen Gottheiten über die gerechte Strafe für den Muttermord Orests, der als ›Bittflehender‹ in Athen auf besonderen ›Schutz‹ rechnen darf. Dabei ist Apoll Mithandelnder, weil er Orest diese Tat unter Androhung schwerster Bestrafung befohlen hat (Choeph. 269 ff) und ihn im Prozess vor dem Areopag in Athen verteidigt (Eum. 465 und 597 f). Sein Versuch, einen Menschen vor göttlichen Rechtlichkeitsmächten in Schutz zu nehmen, beschwört die Gefahr einer Stasis zwischen ›alten‹ und ›jungen‹ Göttern herauf, die auch für die menschliche Welt katastrophale Folgen hätte.

2. Sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder und ihre Bedeutung für die Handlungsorientierung

In der Orestie werden Handlungen auf Binnenprozesse der menschlichen Psyche zurückgeführt. Bei ihrer Darstellung bringt Aischylos eine Form der Handlungssteuerung durch sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder ins Spiel, die später von der Rhetorik aufgenommen wird. Gorgias hat sie ausdrücklich thematisiert und insbesondere Isokrates hat sie nach dem Vorbild Solons politisch konkretisiert. In den beiden ersten Teilen der Orestie geht es um Inter aktionen zwischen Sprache und Handlung mit zerstörerischen Folgen, während im dritten Teil mit der Stimme Athenes erstmals ein ›Sagen des Guten‹ erklingt, das die Fortzeugung destruktiven Handelns verhindert und eine Wirklichkeit schafft, in der das Gute auf Dauer gestellt ist.

Der erste Teil der Orestie beginnt mit einer Rede des zum nächtlichen Wachdienst bestellten Dieners, der vom Dach der Königsburg aus auf das Feuersignal achten muss, das die Eroberung Trojas anzeigt und die bevorstehende Rückkehr Agamemnons ankündigt. Er beklagt dabei nicht nur das ihm persönlich auferlegte »Hundeleben« (Ag. 3), sondern ebenso »dieses Hauses Unglück«, in dem »nicht mehr wie früher das Beste waltet« (18 f). Was er darüber nicht sagen will, erfahren wir alsbald vom Chor der Männer, die bereits zehn Jahre zuvor für die Teilnahme am Krieg gegen Troja zu alt gewesen sind. Sie nennen die Gräueltat beim Namen, die seitdem das öffentliche Bewusstsein belastet: das von Agamemnon an seiner eigenen Tochter vollzogene Menschenopfer am Altar der Artemis. Der Seher Kalchas hatte zu dieser Tat geraten, um den Zorn der Göttin zu besänftigen, die mit widrigen Winden die Abfahrt der griechischen Flotte nach Troja verhindern wollte.17 18