Mafia. 100 Seiten

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Lieber Leser,

 

ach die Mafia, haben Sie vielleicht gesagt, müssen wir uns darum auch noch Sorgen machen? Haben wir nicht schon genug am Hals? Klimawandel und Globalisierung, Paradise und Panama-Papers und amerikanische Problempräsidenten?

Außerdem: diese Sache mit den Regeln und Geheimbünden, mit den Blutstropfen hier und da – und den Namen, die kein Mensch auseinanderhalten kann: Totò Riina, Marcello Dell’Utri, Matteo Messina Denaro. Cosa Nostra, Camorra, ’Ndrangheta.

Und: Armut. Und Rückständigkeit auch. Süditalien eben. Klar, dass sich die Mafia da halten kann. Hat nicht jeder, der mal Urlaub in Süditalien gemacht hat, diese Geschichten von Leuten gehört, die sich nicht an die Polizei wenden, wenn ihnen das Auto geklaut wird, sondern an den örtlichen Boss?

Außerdem: Berlusconi und so, da war doch auch was mit Mafia? Na ja. Italien eben.

Wobei, war da nicht doch mal was gewesen, mit der Mafia in Deutschland? Diese Sache in Duisburg … Auch schon lange her. Spricht niemand mehr darüber. Letztlich waren es doch

Auf jeden Fall war in den Zeitungen schon länger nichts mehr über die Mafia in Deutschland zu lesen. Weshalb Sie dachten: Dann kann da nicht so viel dahinter sein. Denn wenn es sie gäbe, diese Mafia in Deutschland, dann würde doch sicher auch über sie berichtet. Journalisten finden doch immer etwas heraus, wenn was faul ist. Die Mafia ließe sich doch nicht einfach verschweigen, oder?

Okay, Sie haben sich neulich auch darüber gewundert, wie es der Besitzer der Eisdiele in Ihrem kleinen Ort schaffen konnte, dieses supermoderne Tagungszentrum mit Golfplatz zu bauen, allein mit dem Verkauf von Eisbällchen doch wohl nicht. Und als Sie ihn gefragt haben, nachdem Sie sich wie üblich ein Spaghetti-Eis bestellt haben, lächelte er so, als hätte er ein etwas begriffsstutziges Kind vor sich und sagte, dass er glücklicherweise einen Investor gefunden habe und es überhaupt langsam an der Zeit sei, etwas Schwung in Ihre kleine Stadt zu bringen.

Tatsächlich können Sie sich nicht daran erinnern, dass ein deutscher Politiker das Wort »Mafia« jemals in den Mund genommen hätte. Was ja im Grunde nur zwei Dinge bedeuten kann: Entweder ist diese Mafia kein Problem für Deutschland.

Oder …

Wer so wie ich in einer ostpreußisch-schlesischen Großfamilie aufgewachsen ist, geprägt vom Katholizismus polnischer Prägung und von rauschenden Familienfesten, weiß um die Macht von Blutsbanden: Die Familie über alles. Großherzig nach innen und streng nach außen, hielt meine ostpreußische Großmutter den Clan bis zum letzten Atemzug zusammen. Und meine schlesische Mutter unterteilt die Menschheit bis heute in »wir« und »die Fremden«. Blut ist eben dicker als Wasser. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, als wir im Englisch-Leistungskurs die Bedeutung dieses für mich so offensichtlichen Satzes erklären sollten. Und dass ich die einzige war, die sich meldete.

Für den Erhalt der Familie hätte meine Großmutter alles getan. Wobei zur Familie im Ernstfall nur die Blutsverwandten gehörten. Wie eine Sizilianerin auch, unterschied meine Großmutter zwischen carne di carne, Fleisch aus Fleisch, und carne di contratto, Fleisch aus Vertrag. Und meine Mutter war nur Fleisch aus Vertrag.

Mein Vater war der älteste Sohn – und starb mit 27 Jahren als Bergmann unter Tage. Als meine Mutter sechs Jahre nach seinem Tod zum ersten Mal wieder tanzen ging, wurde sie von

Ein gewisser amoralischer Familiensinn war mir also durchaus vertraut, als ich mit zwanzig zum ersten Mal nach Sizilien aufbrach. Ich fuhr mit meinem damaligen Freund in einem alten Renault 4 von Kamen nach Corleone, nur weil ich den Paten gelesen hatte: Die Geschichte einer Familie, die Segen und Fluch zugleich war, hatte mich fasziniert. Eine Familie, die man gleichermaßen liebt und hasst und der man dennoch nicht entkommen kann: All das erinnerte mich an den Loyalitätskonflikt, in den ich als Kind gestürzt war, als sich die Familie meines Vaters meiner Mutter gegenüber ungerecht verhalten hatte. Ich liebte die Familie meines Vaters und liebte meine Mutter – und war erleichtert, als der Bann gegen meine Mutter endlich wieder aufgehoben wurde.

Als ich zum ersten Mal nach Corleone fuhr, war die Mafia für mich nichts anderes als eine große, pervertierte Familiengeschichte. Damals ahnte ich noch nichts vom »amoralischen Familismus« – ein Begriff, den der amerikanische Anthropologe Edward C. Banfield bei der Erforschung süditalienischer Familienstrukturen geprägt hat: Vertrauen besteht nur gegenüber Familienmitgliedern, das Wohl der Familie stellt den höchsten Wert dar. Moral gilt nur innerhalb der Familie, nicht außerhalb – alles, was der Familie nützt, ist gut. Später diente der Begriff lange als Basis für die soziologische Erforschung der Mafia – und wird heute von vielen sizilianischen Mafiaforschern als inadäquat kritisiert, weil Banfield von dem

Ich wusste nichts davon – und doch war es genau das, was mich damals nach Sizilien trieb. Nach vier Tagen Fahrt (Venedig, Florenz und Rom ließen wir links liegen) kamen wir in Corleone an: Ich war enttäuscht, nur alte Männer mit Schlägermützen am Straßenrand sitzen zu sehen. Und dennoch war schon da mein späterer Lebensweg vorgezeichnet, also nach Italien zu ziehen und mich mit der Mafia zu beschäftigen: Die Familie ist an allem schuld.

In der Struktur der Mafia ist die famiglia die kleinste Zelle. Bei der kalabrischen Mafia, der ’Ndrangheta, gehören nur Blutsverwandte zum Clan – und das ist auch der Grund dafür, dass es bei der ’Ndrangheta die wenigsten Abtrünnigen gibt: Blutsverwandte verraten einander nicht so leicht. Cosa Nostra hingegen, die sizilianische Mafia, baut nicht allein auf Blutsverwandtschaft auf, sondern vor allem auf einer Art Wahlverwandtschaft: Aufgenommen wird nur derjenige, der die nötige kriminelle Energie mitbringt – der also als fähig betrachtet wird, einen Mord mit der nötigen Kaltblütigkeit auszuführen oder einen sauberen Bankraub hinzulegen.

Hinter dem viel beschworenen Familiensinn der Mafia verbirgt sich also vor allem Pragmatismus und ein feines Gespür für die Schwächen der anderen – die sie stets für sich nutzt. Im katholischen Italien war und ist die Familie diese Schwäche: Jeder Italiener hat Verständnis dafür, dass die Familie geschützt werden muss.

Die Familie ist in Italien ein hoher Wert – den zu pervertieren die Mafia nicht zögert: Denn mit dem »amoralischen Familismus« geht auch die primitive Rechtsvorstellung des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« einher – und damit die Blutrache.

Mafiosi sind Meister darin, sich als Opfer zu stilisieren, der Vorwurf der »Sippenhaft« wird von ihnen in Italien stets erfolgreich strapaziert – etwa als Ninetta Bagarella, die Ehefrau des Bosses Totò Riina über ihre Kinder einst an die Tageszeitung La Repubblica schrieb: »Sie werden beschuldigt, als Kinder von Vater Riina und Mutter Bagarella geboren worden zu sein, eine Erbsünde, die durch nichts getilgt werden kann. Warum kann man meine Kinder nicht wie Jugendliche betrachten, die so normal sind wie andere auch?«

Allerdings unterscheidet sich der Familiensinn der Mafia von dem normaler süditalienischer Familien dadurch, dass ihr Amoralismus auch nicht vor den eigenen Familienmitgliedern haltmacht: Das höchste schützenswerte Gut ist nicht der Erhalt der Blutsfamilie, sondern der Mafiafamilie. Ihr wird alles geopfert, zur Not sogar die eigenen Kinder.

Die Mutter des Mafiosos Enrico Incognito sah zu, als ihr Sohn von seinem Bruder erschossen wurde, um zu verhindern, dass Enrico zur Justiz überlaufen würde. Und Rita Atria, ein junges sizilianisches Mädchen, das in einer Mafiafamilie aufgewachsen war, wurde von seiner Mutter verstoßen,

Ritas Vater und ihr Bruder waren von der Mafia ermordet worden, auf diese Weise wollte sie die beiden rächen. Mit ihrer Schwägerin lebte sie im Zeugenschutzprogramm in Rom unter falschem Namen. Der Antimafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino wurde ihnen zum väterlichen Freund. Kurz nachdem Paolo Borsellino im Sommer 1992 ermordet wurde, nahm sich Rita das Leben. Sie wurde achtzehn Jahre alt.

Ihren Grabstein in Partanna schmückte der Satz »Die Wahrheit lebt«. Ritas Mutter zertrümmerte diesen Grabstein mit einem Hammer, wenige Monate nach dem Selbstmord ihrer Tochter.

Ich habe mein erstes Buch über Rita Atria geschrieben, eine Staatsanwältin gab mir damals eine Kopie von Ritas Tagebuch. Darin stand der bemerkenswerte Satz: »Bevor du anfängst, gegen die Mafia zu kämpfen, musst du dein eigenes Gewissen prüfen – erst wenn du die Mafia in dir besiegt hast, kannst du gegen die in deinem Freundeskreis kämpfen. Denn die Mafia, das sind wir selbst und unsere falschen Verhaltensweisen.«

Um Rita verstehen zu können, bin ich in ihr Heimatdorf Partanna gefahren, südöstlich von Trapani bei Palermo. Ich bezog ein Zimmer in dem einzigen Gasthof des Ortes. Alle im Dorf wussten, dass ich wegen Rita gekommen war. Aber wenn ich jemanden nach ihr fragte, taten alle so, als hätte sie nie existiert. Ritas Mutter bedauerte keineswegs, ihre Tochter verstoßen zu haben, sie bereute auch nicht, den Grabstein zertrümmert zu haben. Der Verrat an der Familie musste getilgt werden.

Im Dorf hatten alle Verständnis für dieses Verhalten, einschließlich des Pfarrers. Ritas Mutter jammerte und klagte,

Damit der Bestand der Mafiafamilie garantiert wird und möglicherweise auch Herrschaftswechsel legitimiert werden können, verhalten sich Mafiosi oft dynastisch und heiraten untereinander: Wer nicht in einer Mafiafamilie aufgewachsen ist, gilt als wenig vertrauenswürdig und wird misstrauisch beäugt: Wer nicht mit den Werten der Mafia aufgewachsen ist, könnte sich im entscheidenden Moment auf die falsche Seite stellen.

Aus diesem Grunde hegte Ritas Mutter ein großes Misstrauen gegenüber ihrer Schwiegertochter Piera Aiello. Die Ehefrau ihres Sohnes war zwar im gleichen Dorf aufgewachsen, stammte aber nicht aus einer Mafiafamilie. Und nicht nur das: Pieras Vertrauen in den italienischen Staat war so groß, dass sie ihrem Mann sogar angekündigt hatte, eine Ausbildung als Polizistin absolvieren zu wollen. Er lachte über den für ihn so absurden Plan. Und wurde kurz danach vom gegnerischen Clan ermordet.

Letztlich bewahrheiteten sich für Ritas Mutter ihre schlimmsten Befürchtungen: Nachdem erst ihr Mann und dann ihr Sohn von der Mafia ermordet worden waren, entschloss sich ihre verhasste Schwiegertochter Piera, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Und kurz danach folgte ihre Tochter Rita dem Beispiel ihrer Schwägerin.

Nach dem Selbstmord von Rita Atria lebte Piera Aiello stets unter fremdem Namen an einem unbekannten Ort. Sie blieb im Antimafiakampf zwar stets engagiert, zeigte der

Die Perfidie der Mafia-Erziehung besteht darin, dass sie auf den ersten Blick lediglich Werte zu transportieren scheint, die auch von normalen süditalienischen Familien geteilt werden: Respekt vor den Älteren, Gehorsam, Zugehörigkeitsgefühl und Verschwiegenheit. (»Schmutzige Wäsche wird zu Hause gewaschen.«) Mafiakinder lernen von klein auf, die Welt in »wir« und »die anderen« zu unterteilen. Ihr Vater ist nichts anderes als ein Soldat im Krieg mit »den anderen«. Deshalb ist es auch normal, wenn er seinem Sohn zum zehnten Geburtstag eine Pistole schenkt. Wenn er ihn mit vierzehn auffordert, ein Pferd zu erschießen, ist dies der erste Schritt auf dem Weg, ein gehorsamer und kaltblütiger Diener der Mafia zu werden – und sich unter den »normalen« Mitschülern als »Auserwählter« zu fühlen.

Es war die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria, die als erste versucht hat, diesen Kreislauf zu durchbrechen, als sie einem