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2017

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-299-4

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INHALT

Zu diesem Buch

Die Idee zu diesem Roman basiert zwar auf einer wahren Begebenheit, aber die Handlung ist fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Orte und Namen wurden geändert.

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Sylvia Maria Zöschg

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1973–1976
Geboren, um zu sterben

Eins

Juli 1973 – Bozen

Helga Trafoier klappte die Mappe zu und legte sie auf einen der Stapel, die sich auf ihrem Schreibtisch angehäuft hatten. Akten, die an das Gericht weitergeleitet werden mussten, Anfragen um finanzielle Unterstützung für arme Familien, Bewilligungen des Ledigengeldes, Unterlagen über die Kinder, die in den Heimen und in Pflegefamilien untergebracht waren – die Arbeit schien einfach kein Ende zu nehmen.

Sie lehnte sich zurück, streckte die Arme nach oben und zur Seite, rollte den Kopf nach links und nach rechts, bis sie ein Knacken in ihrer Wirbelsäule spürte. Helga seufzte. Obwohl sie noch keine dreißig war, fühlte sie sich manchmal wie eine alte Frau. Schon zierten die ersten Sorgenfalten ihr junges Gesicht.

Mit gerunzelter Stirn wandte Helga sich wieder dem Aktenstapel zu. Die undurchschaubare, öde Mühle der italienischen Bürokratie – nein, mit diesem Teil ihrer Arbeit konnte sie sich nicht anfreunden. Ihr Blick blieb an dem Diplom hängen, das in einem schlichten Rahmen die Wand zierte. In den späten 1960er-Jahren wurde in der Provinz Südtirol ein eigener Sozialdienst innerhalb des Amtes für Kinderfürsorge eingerichtet. Helga und eine weitere Kollegin waren 1969 die ersten Sozialassistentinnen, die beim Land aufgenommen wurden.

Die junge Frau rümpfte die Nase. Frisch von der Schule hatte sie sich damals voll naivem Enthusiasmus und mit Eifer in die Arbeit gestürzt. Die kaum zu bewältigende Fülle an Aufgaben, der ständige Kontakt zu Menschen, die mit großen finanziellen, psychischen und physischen Problemen zu kämpfen hatten, waren mehr als ernüchternd gewesen. In den letzten Jahren waren zwar mehrere Sozialassistentinnen eingestellt worden, sie waren inzwischen zu sechst, trotzdem stießen die teilweise sehr jungen und unerfahrenen Mitarbeiterinnen oft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die Landespolitik war mit anderen Problemen beschäftigt. Die Gesetzgebung war unklar, den wenigen psychologischen Diensten im Lande fehlte es entweder an der Kompetenz oder am Willen, die Sozialassistentinnen zu unterstützen. Überhaupt schien dem öffentlichen Beamtenapparat immer noch das Bewusstsein dafür zu fehlen, wie wichtig die Arbeit war, die sie leisteten.

Die Sozialassistentinnen waren sich selbst überlassen. Sie mussten immer wieder Entscheidungen in schwierigen Fällen treffen oder Ressourcen finden, die einfach nicht da waren. So kam es auch bei ihnen hin und wieder zu Fehlentscheidungen. Für Helga war das Misstrauen, mit denen manche der Betreuten ihr und ihren Kolleginnen begegneten, zwar schmerzhaft, aber nicht überraschend. Sie konnte diese Leute sogar verstehen. Aber sie waren nun einmal keine Maschinen, sondern Menschen – und Menschen machen Fehler. Der Dienst, den sie anboten, war jedoch inzwischen ziemlich bekannt, und immer mehr Leute wandten sich mit ihren Problemen an die Sozialassistentinnen. Auch wenn es inzwischen mehrere Mitarbeiter gab, waren sie doch zu wenige. Die Verantwortung, die Helga mit dieser Arbeit übernommen hatte, lastete oft schwer auf ihr. Da sie unbedingt vermeiden wollte, Kinder in die Obhut der Heime zu geben, war es sogar schon vorgekommen, dass sie diese manchmal mit zu sich nach Hause nahm, bis sich eine Lösung gefunden hatte.

Wenigstens war das Arbeitsklima sehr gut. Sie konnte sich mit ihren Kolleginnen austauschen, sie berieten sich gegenseitig oder hörten manchmal einfach nur zu. Das war eine große Hilfe.

An ihre Eltern konnte sie sich mit ihren Sorgen nicht wenden. Lange Zeit waren sie mit ihrer Berufswahl nicht einverstanden gewesen. Über Klagen hätten sie nur den Kopf geschüttelt. Helga hatte das Humanistische Gymnasium in Meran besucht. Ihre Eltern waren überzeugt gewesen, ihre Tochter würde nach der Matura Jura oder Medizin studieren. Ihr Entsetzen, als diese beschloss, die Schule für Sozialdienst in Trient zu besuchen, war groß.

Helga bereute ihre Wahl keine Sekunde lang. Sie war Sozialassistentin mit Leib und Seele. Trotz der Ablehnung, die sie und ihre Kolleginnen oft erfuhren, trotz der vielen schweren Schicksale, die sie so sehr berührten, dass sie nachts manchmal nicht schlafen konnte, wusste die junge Frau immer noch, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Helga verbrachte ihre Zeit am liebsten mit den Menschen, die ihre Hilfe benötigten. So belastend ihre Schicksale auch sein mochten, das Gefühl, wenigstens ab und zu helfen zu können, war doch überwältigend.

Aber ihr blieb jetzt nichts anderes übrig, als endlich die Aktenberge abzuarbeiten, die sie dem Jugendrichter in ein paar Tagen vorlegen musste. Nach einer Weile lehnte sie sich erneut seufzend zurück und rieb sich die Augen. Heute konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Es war zu heiß und zu stickig in dem kleinen Büro.

Sie wusste nicht warum, aber ihre Gedanken schweiften ständig ab, hin zu einem ihrer ersten Fälle. Normalerweise mischte sich niemand, egal ob Verwandte, Freunde, Nachbarn oder Lehrer, ins Familiengeschehen ein. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Entscheidungen und Handlungen der Eltern niemals hinterfragt wurden. In diesem Fall hatte jedoch eine ehemalige Lehrerin Meldung erstattet, um auf die Vernachlässigung der Kinder ihrer Nachbarn hinzuweisen. Den Anblick der halb verhungerten Kinder, die im schmutzigen Stroh auf dem kalten Boden im Flur schlafen mussten, das Kleinkind, das mit einem Seil am Treppengeländer festgebunden war und im Kot vor sich hinvegetierte, diese Bilder verfolgten Helga immer wieder.

Aber nicht alle ihrer Fälle waren so klar wie dieser. Wer konnte den Eltern die Kinder mit gutem Gewissen entziehen, bloß, weil sie kaum über die finanziellen Mittel verfügten, ihnen das Notwendigste zu bieten? Waren sie etwa in den Heimen besser aufgehoben? Helga hatte nur zu gut die verstörten Blicke der Waisenkinder vor Augen, die niemanden hatten außer ihren Betreuern. Sie war sich bewusst, dass nicht alle Erzieher mit den Kindern so umgingen, wie sie es sollten. Ein Problem waren all die ledigen Mütter, von denen manche verzweifelt weinten, wenn sie ihre Kinder in die Obhut der Pflegefamilien geben mussten.

„Es ist eine Schande“, schimpfte Helgas Kollegin Martha oft, „dass sich diese Mütter ihrer Kinder schämen müssen.“

Helga kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bozen war mitten im Juli vor Schwüle kaum zu ertragen. Es war jetzt beinahe zwölf Uhr, Zeit für die Mittagspause. Entschlossen schob Helga den Aktenstapel zur Seite und räumte schnell den Schreibtisch auf. Gerade, als sie aufstand, klopfte jemand an die Tür.

Stirnrunzelnd seufzte sie. „Ja, herein.“

Eine junge Frau betrat den Raum. „Guten Tag“, murmelte sie leise. Sie sah Helga nur kurz an, dann senkte sie den Blick sofort wieder.

Helga öffnete den Mund, um die Frau darauf hinzuweisen, dass es Zeit für ihre Mittagspause war, dass ein anstrengender Vormittag hinter ihr lag und überhaupt … Aber was konnte denn diese arme Frau dafür, dass Helga einen schlechten Tag hatte? Der entmutigte Tonfall und der eingeschüchterte Blick der Frau sprachen Bände. Menschen wie sie kamen nicht zum Spaß hierher. Im Gegenteil, es erforderte eine große Portion Mut, den eigenen Stolz hinunterzuschlucken, und sich an die Autorität der öffentlichen Ämter zu wenden, von denen meistens nichts Gutes zu erwarten war. Noch dazu häufig in einer Sprache, die viele von ihnen kaum beherrschten.

Helga musterte die Frau eingehend. Wer wusste denn schon, welche Odyssee sie hinter sich hatte, wie lange sie gebraucht hatte, um nach Bozen zu kommen, das richtige Gebäude zu finden, und dann erst das richtige Büro? Hatte sie es gewagt, jemanden nach dem Weg zu fragen? Die Frau trug ein schlichtes grünes Sommerkleid, welches irgendwie sackartig an ihr herabhing, als hätte sie es sich extra für diesen Anlass geborgt.

Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus dem aschblonden Zopf gelöst und klebten an ihren verschwitzten Schläfen und auf ihrer Wange. Endlich wagte sie es, den Blick zu heben und Helga direkt anzusehen. Trotz und Verunsicherung flackerten in den traurigen dunkelblauen Augen.

„Setzen Sie sich“, Helga deutete auf den freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Die Frau seufzte leise. Etwas wie Dankbarkeit huschte über ihre Miene. Sie nahm auf der vordersten Stuhlkante Platz, legte sich ihre abgewetzte schwarze Handtasche auf die Knie und umklammerte sie mit beiden Händen. Helga bemerkte die kräftigen, von harter Arbeit geröteten Hände, die abgekauten Fingernägel, das Fehlen eines Eherings.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Ich musste arbeiten, und dann habe ich den Bus verpasst.“

„Sie arbeiten noch?“, fragte Helga mit Blick auf den gewölbten Leib der Frau. „Sie sind doch bestimmt im siebten oder achten Monat?“

Die Frau zuckte mit den Schultern. Ihre Miene verfinsterte sich, sie widersprach aber nicht.

„Ich bin froh, dass mein Chef mich nicht einfach rausgeworfen hat. Die Arbeit schaffe ich schon, ich helfe in der Küche aus, putze und mache den Abwasch. Ich habe dort auch ein Zimmer, da wohne ich mit meinem Jungen. Gemeldet bin ich zwar nicht, aber mein Chef sagt, wenn ich bald nach der Geburt wieder arbeiten komme, hält er mir die Stelle frei.“

Helga nickte und biss sich auf die Innenseite der Wange. Es war doch immer dasselbe. Diese jungen Dinger wurden ausgenutzt, wo es nur ging. Sie schluckte ihre Empörung hinunter.

„Woher kommen Sie denn?“, fragte sie stattdessen. Helga kannte den Ort, den die Frau ihr nannte. Es war ein kleines Dorf im Burggrafenamt. Die Sozialassistentin nahm einen Block zur Hand und machte sich Notizen.

„Eine Freundin sagte, dass mir jemand von euch vielleicht 12 weiterhelfen kann“, fuhr die Frau schnell fort. „Ich kann es nicht bei mir behalten, das Kind. Ich habe nicht das Geld und nicht den Platz …“ Ihre Stimme wurde hektischer und schriller.

Helga hob die Hand und nickte beschwichtigend. „Schon gut, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Beginnen wir von vorne, Frau … Wie ist denn überhaupt Ihr Name, und wie alt sind Sie?“

Helga lächelte aufmunternd, aber die Frau blieb wachsam.

„Angelika Mair, ich bin jetzt zweiundzwanzig Jahre alt.“

„Gut, Angelika. Möchten Sie ein Glas Wasser? Sie sehen ganz erschöpft aus, kein Wunder, nach der langen Fahrt, in Ihren Umständen.“

Die Frau nickte dankbar. Helga verließ kurz den Raum. Als sie mit dem Getränk zurückkam, saß sie immer noch so verkrampft da wie vorher. „Danke.“ Sie trank das Glas in einem Zug leer.

„Wann ist denn der Geburtstermin?“ Manchmal entspannten sich die Frauen, wenn sie über ihr Kind sprachen. Bei Angelika war das nicht der Fall. Sie warf einen Blick auf ihren Bauch, als wäre er ein Fremdkörper.

„Ende August, hat der Arzt gesagt.“ Sie wirkte seltsam unbeteiligt: Weder Angst noch Trauer oder Wut schwangen in ihrer Stimme mit. „Ich kann es nicht behalten“, wiederholte sie mit leiser Stimme.

„Ihre Eltern …“

Angelika schnaubte. „Zu denen habe ich schon lange keinen Kontakt mehr. Seit Paul …“

„Paul, ist das Ihr Junge?“

Angelika nickte und reckte ihr Kinn herausfordernd nach vorne.

Helga ging nicht darauf ein. Sie empörte sich schon lange nicht mehr über so etwas Banales wie uneheliche Kinder. „Wie alt ist er denn?“

„Paul ist vier Jahre alt. Sein Vater ist ein Carabiniere1. Ein Walscher2 eben.“ Angelika lächelte humorlos. „Schon längst wieder daheim bei seiner Mama irgendwo in Süditalien. Meine Eltern haben mich rausgeworfen, als ich schwanger war. Wir hatten schon vorher immer nur Streit. Mein Vater …“ Sie schwieg und schüttelte den Kopf. Dann rieb sie sich den linken Ellenbogen und verzog den Mund, wie in Erinnerung an ein Echo vergangener Schmerzen. „Ich bin ganz gut über die Runden gekommen. Den Paul konnte ich bei meiner Tante lassen, wenn ich gearbeitet habe. Jetzt schaut oft der Franz auf ihn.“

„Wer ist Franz?“, hakte Helga nach, obwohl sie es sich schon denken konnte. Helga empfand Mitleid, aber auch Ungeduld für Frauen wie Angelika, die sich immer wieder in dieselbe missliche Lage brachten.

Angelika errötete und warf einen Blick auf ihren Bauch.

„Der Franz ist ein guter Mann. Er mag den Paul. Wenn er wieder Arbeit findet, wenn wir beide etwas Geld zur Seite legen können, dann suchen wir uns eine kleine Wohnung, in ein paar Monaten … Im Zimmer ist doch kaum Platz für Paul und mich.“

„Wir achten normalerweise darauf, die Geschwister nicht zu trennen.“

Angelikas Miene wurde sofort wieder abweisend.

Helga nickte verstehend. Sie überlegte kurz, ob sie der jungen Frau das Kleinkinderheim vorschlagen sollte. Aber das wäre auch nur eine Übergangslösung. Entschlossen öffnete sie eine Schublade und holte ihr Adressbuch hervor. „Ich glaube, ich weiß, was Sie tun können. Es gibt da dieses Paar im Ultental, das nimmt immer wieder Pflegekinder bei sich auf. Sie sind sehr zuverlässig, kümmern sich gut … Ich schaue mal, ob die noch einen Platz frei haben. Wie kann ich Sie erreichen?“


1 Staatspolizist

2 vom keltischen „welsch“; ursprünglich für „keltisch“, später für „romanisch“, „französisch“, „italienisch“; veraltet für „fremdländisch“ – in Südtirol in der Bedeutung von „Italiener“, oft abwertend verwendet

Zwei

Oktober 1973 – St. Pankraz

Maria Schwienbacher warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war fast zwanzig Uhr. Im Haus, in dem es den ganzen Tag über vor Kindern wimmelte und in dem trotz des strengen Regiments, das sie führte, immer laute Stimmen, Gelächter und Geplärre zu hören waren, war es endlich ruhig. Luis saß in der Stube auf dem Sofa und unterhielt sich leise mit dem kleinen Baby, das in eine Decke eingewickelt auf dem Boden lag. Maria nahm sich einen Augenblick Zeit, dieses friedliche Bild zu beobachten, und lächelte. Anschließend ging sie zum Ende des Flurs und öffnete leise die Tür auf der linken Seite. Es war nichts zu hören außer dem Schmatzen und Schnarchen schlafender Kinder. Ihre fünfjährige Tochter Andrea teilte sich dieses Zimmer mit der gleichaltrigen Edith und deren Geschwistern, dem dreijährigen Hannes und der kleinen ein Jahr alten Ursula, die sich im Gitterbett hin und her wälzte. Maria konnte Hannes leise wimmern hören. Sie runzelte die Stirn und fragte sich, ob er in dieser Nacht wieder einnässen würde. Es war nicht leicht mit diesen Kindern. Sie lebten seit dem Frühsommer bei ihnen. Hannes war ein nervöses Kind, Edith ebenso weinerlich wie Andrea. Aber Maria empfand auch Mitleid mit ihnen. Seit sie hier waren, hatte ihre Mutter sie nur dreimal besucht. Auch mit der Bezahlung haperte es. Zwar bekamen Luis und Maria eine finanzielle Unterstützung vom Land, aber das Geld reichte kaum für all diese Mäuler, die es zu stopfen galt.

Maria schloss die Tür und ging zurück in die Küche. Das Feuer im Holzherd zu ihrer Linken war beinahe erloschen. Sie konnte bereits die kalte Herbstnacht in ihren Knochen spüren. Auf dem Gasherd rechts hinter der Tür blubberte das Wasser in dem Topf, den sie vorher dort hinaufgestellt hatte. Während sie darauf wartete, dass das Wasser etwas abkühlte, wischte sie noch einmal den Tisch ab und verräumte das letzte Geschirr.

Maria konnte vom oberen Stockwerk hören, wie Werner und ihr Sohn Stefan im Zimmer lachten, und Majas leise, ermahnende Stimme. Die zehnjährige Maja, die wie ihr zwölfjähriger Bruder Werner seit ihrer Geburt bei Maria und Luis lebte, war ihr inzwischen eine große Hilfe im Haushalt und mit den kleinen Kindern. Dann wurde eine Tür geöffnet und ihr sechzehnjähriger Sohn Alfons brummte einen Befehl. Sofort wurde es ruhig. Maria lächelte vor sich hin.

Bevor sie ins Bett ging, würde sie noch ein belegtes Brot vorbereiten und für Alfons auf dem Küchentisch liegen lassen. Er absolvierte eine Lehre bei einem Bäcker in St. Walburg und musste immer so früh aufstehen. Dass er in tiefster Dunkelheit mit seiner Vespa unterwegs war, bereitete Maria große Sorgen.

Das Wasser war inzwischen abgekühlt, und Maria bereitete das Fläschchen für die kleine Michaela vor. Eigentlich hatte sie keine neuen Kinder mehr aufnehmen wollen, aber Frau Trafoier konnte sehr überzeugend sein.

Ihre leibliche Mutter hatte Michaela vor Kurzem zu Maria gebracht, da war sie gerade drei Wochen alt. Die junge Frau hatte dunkle Ringe unter den Augen gehabt und gesagt, der Säugling würde Tag und Nacht schreien. Maria konnte das nicht glauben. Seit Michaela bei ihr war, war von dem kleinen Ding kaum ein Mucks zu hören. Die Nächte schlief sie durch, und wenn sie aufwachte, lag sie zufrieden glucksend in ihrem Bettchen, bis ihr jemand Beachtung schenkte. Egal wer sie gerade auf dem Arm hatte, fütterte oder ankleidete, Michaela schien sich über jede kleine Aufmerksamkeit zu freuen. Die Kleine erinnerte Maria an ihre älteste Tochter Gerda, die nicht mehr daheim wohnte. Auch Gerda war ein so unkompliziertes Kind gewesen.

Damals lebten sie noch auf dem Bergbauernhof. Auch Alfons und Stefan kamen dort auf die Welt. Es gab kein fließendes Wasser, das Plumpsklo stand ein paar Meter vom Haus entfernt. Im Winter war es bitterkalt. In einem Winter, Gerda war fünf und Alfons zwei Jahre alt, litten beide tagelang unter hohem Fieber. Maria hatte sich so hilflos gefühlt. Sie konnte nichts tun außer beten. „Wenn wir nur wenigstens eines von ihnen behalten dürfen, Herr“, hatte sie irgendwann völlig verzweifelt gefleht. Aber der Herr hatte Gnade walten lassen. Beide Kinder überlebten.

Später, als sie in einem neuen Gebäude im Dorf wohnten, war da Werner, ihr erstes und liebstes Pflegekind, der in den ersten drei Monaten unter furchtbaren Blähungen gelitten und kaum etwas bei sich behalten hatte. Vor drei Jahren hatten alle Kinder gleichzeitig die Masern bekommen.

Maria schüttelte den Kopf und die Erinnerungen ab. Sie murmelte ein kurzes Dankgebet, denn in letzter Zeit waren sie von Krankheiten zum Glück verschont geblieben.

Luis lag inzwischen auf dem Sofa und sah sich die Nachrichten im Fernseher an. Die kleine Michaela lächelte, als Maria sie auf den Arm nahm. Bevor sie dem Mädchen die Flasche gab, wechselte sie ihr noch die Windel. Sie streichelte der Kleinen über das flauschige Haar und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. So anstrengend die Arbeit auch war, Maria hatte noch keinen Tag daran gezweifelt, das Richtige zu tun. Schon ihre Mutter und ihre Großmutter hatten Kinder ärmerer Leute bei sich aufgenommen. Es gab so viele Familien, in denen es zu viele Kinder und zu wenig zum Essen gab – besonders in den Kriegszeiten. Auch sie und ihre Geschwister hatten es schwer gehabt, wenn sie bei jedem Wind und Wetter, bei kniehohem Schnee ins Dorf hinuntermussten, um in die Messe oder zur Schule zu gehen. Diese Zeiten waren zum Glück vorbei. Ihren Kindern und den Pflegekindern, die sie liebte wie die eigenen, blieben diese Entbehrungen Gott sei Dank erspart.

Maria brachte Michaela ins Bett. Dann setzte sie sich noch in die Stube. Marianne, Werners und Majas leibliche Mutter, war Schneiderin von Beruf und übernahm oft die Näh- und Strickarbeiten. Trotzdem gab es immer Socken zu stopfen und Hosen zu flicken. Aber schon bald brannten Marias Augen vor Müdigkeit. Luis schnarchte bereits leise auf dem Sofa.

Das Schlafzimmer befand sich gegenüber vom Kinderzimmer. Maria entkleidete sich im Dunkeln, um das Baby, das im Gitterbett neben ihrem Bett schlief, nicht zu wecken. Sie legte sich ins Bett und deckte sich zu. Michaelas leise Atemgeräusche waren das letzte, was sie hörte, bevor sie in einen traumlosen Schlaf glitt.

Drei

August 1975 – Lana

Die Wohnung war nicht besonders groß. Angelika störte das nicht. Seit sie denken konnte, hatte sie mit zu vielen Menschen auf zu engem Raum gelebt. Nun, auch wenn das Haus ihrer Eltern – das Haus, in dem Angelika aufgewachsen war – riesig wie ein Schloss gewesen wäre, hätte es immer noch nicht genug Platz gegeben für all die offenen und unterschwelligen Konflikte, die dort beständig brodelten. Da war es ihr hier schon viel lieber.

Sorgfältig kontrollierte Angelika noch einmal Raum für Raum. Das Wohnzimmer mit der Kochnische, die beiden Schlafzimmer, das kleine Badezimmer, selbst die Abstellkammer überprüfte sie. Alles war schön ordentlich und sauber, so wie sie es mochte. Wie Franz es mochte.

Die Geräusche aus dem Magazin waren bis hier ins oberste Stockwerk zu hören. Das Quietschen und Rattern der Maschinen, das Stimmengewirr der Arbeiter, aber auch der Verkehrslärm von der Hauptstraße direkt neben dem Lager drangen bis in die Wohnung hinauf.

„Daran gewöhnt man sich schnell.“ Die Frau, die mit ihrer Familie in der Wohnung unten wohnte, hatte Angelika bei ihrem Einzug vor ein paar Wochen auf der Treppe aufgehalten und versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Mit unverhohlener Neugierde hatte sie Angelikas Bauch gemustert.

„Hinter dem Haus gibt es diese große Wiese, auf der die Nachbarskinder immer spielen. Ihr werdet euch schnell einleben. Habt ihr noch mehr Kinder?“

Angelika, verschwitzt, mit pochenden Schläfen und schmerzenden Beinen, hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als die Frau endlich loszuwerden. Wie furchtbar all diese Leute mit ihrem nervtötendem Geschwätz doch waren. Sie beantwortete die Fragen so schnell und einsilbig wie möglich und flüchtete in die Wohnung, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab. Seit Sonja vor einem Monat auf die Welt gekommen war, verließ sie die Wohnung kaum noch und konnte so unliebsame Begegnungen dieser Art vermeiden.

Auch Franz betonte immer wieder, dass es ihm nur wichtig war, seine Arbeit ordentlich zu verrichten. Er hatte kein Interesse daran, sich mit seinen Kollegen oder Nachbarn zu unterhalten. Es ging niemanden etwas an, wie sie ihr Leben führten. Oder was vorher passiert war. Angelika hatte schon in ihrer Kindheit gelernt, dass das, was in den eigenen vier Wänden geschah, nicht nach außen zu dringen hatte.

Sie war sich bewusst, dass diese Zurückgezogenheit anderen Leuten nicht geheuer war. Sosehr sie sich bemühte, es zu ignorieren, sie hatte das Getuschel und die Seitenblicke mitbekommen.

Hauptsache ein Dach über dem Kopf, dachte Angelika. Alles, was zählt, ist, dass Franz eine anständige Arbeit hat und dass wir endlich zusammenleben können. Wie eine richtige Familie.

Die junge Frau stand in der Küche und blickte zum Fenster hinaus. Es war eine Erleichterung gewesen, als ihr Mann im Magazin angestellt wurde und man ihnen die Dienstwohnung anbot. Endlich raus aus dem ranzig stinkenden, viel zu kleinen Zimmer.

Endlich würde sie Michaela zu sich holen können.

Angelikas Finger konnten nicht stillhalten: Wie nervöse Vögelchen flatterten sie zu den Blumentöpfen auf dem Fensterbrett, zupften welke Blätter ab; zogen an der Nagelhaut am linken Daumen, bis diese einriss und es blutete und schmerzte; spielten mit dem schmalen Ring an Angelikas rechter Hand. Sie zupfte am Vorhang und schaute nach unten in den Hof. Ein paar Frauen verließen das Gebäude, setzten sich auf eine der Bänke und rauchten. Blickten nach oben.

Angelika wich vom Fenster zurück. Versteckte sich hinter dem Vorhang, der die fremden eindringenden Blicke abwehren sollte. Die Stimme der Mutter im Hinterkopf: „Was stehst du da rum und gaffst, hast du nichts zu tun?“ Aber nein. Das schäbige Heimathaus hatte sie schon lange verlassen. Sie war jetzt eine verheiratete Frau.

Stolz blickte Angelika auf den Ring. Eine ehrbare Frau – keine dieser ledigen Mütter mehr. Franz war jetzt Pauls Vater. Er liebte ihn, wie er seine eigenen Kinder liebte.

Beim Gedanken an den Säugling, der friedlich im Körbchen im Elternschlafzimmer schlief, glitten Angelikas Hände auf ihren Bauch. Noch war sie etwas füllig von der Schwangerschaft. Franz mochte das nicht. Angelika steckte den Daumennagel in den Mund und kaute daran, bevor sie sich besann. Franz mochte auch das nicht.

Angelika machte noch eine Runde durch die Wohnung. Franz mochte vieles an ihr. Besonders nachts. Angelika lächelte vor sich hin. Drehte sich wirklich alles um Franz? Oder waren es doch ihre eigenen Wünsche und Forderungen, die sie vergessen hatte, weil sie verwoben waren mit den seinen?

An der Wand im Flur hing ein Bild: Angelika und Franz an ihrem Hochzeitstag. Erst im letzten Winter hatten sie sich auf dem Standesamt in dem Tal, in dem sie auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, das Jawort gegeben. Als Kind hatte sie oft von ihrer Hochzeit geträumt. Sie hatte sich als strahlende Braut in Weiß vorgestellt, umgeben von Hunderten von Gästen, die sie bewundernd betrachteten. In Wirklichkeit hatten gerade einmal eine Handvoll Gäste mit ihnen gefeiert. Trotzdem war sie an diesem Tag unbeschreiblich glücklich gewesen. Auf dem Foto konnte man das gut erkennen. Franz, umwerfend gut aussehend in seinem Anzug, lachte breit. Angelika, die ein selbst genähtes cremefarbenes Kleid trug, strahlte Franz an. Paul grinste und zeigte stolz eine Zahnlücke. Nur Michaela auf Franz’ Arm guckte ganz ernst, mit ihren großen, fragenden braunen Augen.

Mit diesem Blick sah Michaela sie jedes Mal an, wenn sie sie besuchten oder für ein paar Tage nach Hause holten. Er machte Angelika immer ganz nervös. „Lach doch mal, sei doch glücklich“, wollte sie dem Mädchen dann zurufen und es schütteln.

Angelika betrat das Kinderzimmer, das Michaela sich von jetzt an mit Paul teilen würde. Auf dem Bett lag ein Paket. Angelika hatte lange gesucht, bis sie diesen rosaroten Plüschhasen gefunden hatte. Eigentlich war er viel zu teuer. Aber Michaela war erst vor ein paar Tagen zwei Jahre alt geworden. Sie würde sich freuen. Dieses Mal würde sie sich darüber freuen, nach Hause zu kommen.

Paul erschien mit verschwitztem Haar in der Tür. „Können wir nicht nach draußen gehen, Mama? Es ist so heiß.“

Angelika dachte an die Frauen unten im Hof und kaute wieder auf dem Daumennagel herum. Sie würden zu ihnen herübersehen, tuscheln. Vielleicht sogar versuchen, sich mit ihnen zu unterhalten. Nein, nicht heute. Nicht jetzt. Morgen, ja, morgen vielleicht. Morgen würde sie mit Paul und den beiden Mädchen hinüber ins Dorf gehen, um Paul die Schule zu zeigen, die er bald besuchen durfte.

Sie strich ihrem Sohn über die Wange. „Das geht jetzt nicht, Schätzchen. Bald kommt doch Gerd, der Cousin von deinem Papa, der bringt uns nach Ulten und wir holen Michaela ab.“

Pauls Augen leuchteten auf. „Bleibt Michaela dann bei uns? Geht sie nicht mehr fort?“

„Ja, mein Schatz“, lächelte Angelika. Pauls offensichtliche kindliche Freude steckte sie an.

„Toll, da wird sie aber froh sein“, rief er und umarmte seine Mutter.