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Sara Gruen

Wasser für die Elefanten

Roman

Aus dem Englischen
von Eva Kemper

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Für Bob,
meine Geheimwaffe

Ich mein, was ich sagte, von Anfang bis End,
Elefanten sind treu – einhundert Prozent!

Dr. Seuss, ›Horton Hatches the Egg‹, 1940

Prolog

Es befanden sich nur noch drei Menschen unter der rot-weißen Markise des Hamburgerstands: Grady, ich und der Schnellkoch. Grady und ich saßen an einem abgenutzten Holztisch, jeder mit einem Hamburger auf einem verbeulten Blechtablett vor sich. Der Koch kratzte hinter der Theke mit der Ecke seines Pfannenwenders das Blech sauber. Die Friteuse hatte er längst ausgestellt, aber der Fettgeruch hing noch in der Luft.

Der Rest der eben noch überfüllten Budengasse war leer bis auf eine Handvoll Angestellter und ein paar Männer, die darauf warteten, zum Muschizelt gebracht zu werden. Sie sahen sich nervös um, die Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Sie würden nicht enttäuscht werden:Weiter hinten erwartete sie Barbara mit ihren üppigen Reizen.

Die anderen Städter – Onkel Al nannte sie Gadjos – hatten sich bereits einen Weg durch die Menagerie ins Chapiteau gebahnt, das im Rhythmus der frenetischen Musik zu pulsieren schien. Das Orchester peitschte wie üblich ohrenbetäubend laut durch sein Repertoire. Den Ablauf kannte ich auswendig – gerade jetzt zogen die Letzten der Parade aus der Manege, und Lottie, die Seiltänzerin, erklomm ihre Leiter.

Ich starrte Grady an und versuchte zu begreifen, was er da sagte. Er schaute sich um, dann beugte er sich zu mir vor.

»Außerdem«, flüsterte er und blickte mir in die Augen, »kommt es mir so vor, als hättest du gerade ’ne Menge zu verlieren.« Er hob die Augenbrauen, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Im Zelt brandete tosender Applaus auf, und das Orchester wechselte nahtlos zum Gounod-Walzer. Ich drehte mich unwillkürlich nach der Menagerie um, denn der Walzer gab den Einsatz für die Elefantennummer. Marlena stieg entweder gerade auf oder saß bereits auf Rosies Kopf.

»Ich muss los«, sagte ich.

»Setz dich«, antwortete Grady. »Iss. Wenn du dich aus dem Staub machen willst, bekommst du vielleicht eine ganze Weile lang nichts mehr zu beißen.«

In diesem Augenblick brach die Musik mit einem Kreischen ab. Die Blasinstrumente und das Schlagzeug rasselten scheußlich zusammen – die Trompeten und Piccoloflöten schlitterten in ein Katzengeheule, eine Tuba rülpste, und das hohle Klirren eines Beckens waberte durch das Chapiteau über unsere Köpfe hinweg und verlor sich.

Grady erstarrte, über seinen Burger gebeugt, mit aufgerissenem Mund und abgespreizten kleinen Fingern.

Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand rührte sich – alle Blicke hingen am Chapiteau. Ein paar Büschel Stroh taumelten träge über die harte Erde.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte ich.

»Psst«, zischte Grady.

Das Orchester spielte jetzt »Stars and Stripes Forever«.

»O Gott. Verdammter Mist!« Grady warf seinen Hamburger auf den Tisch und sprang so hastig auf, dass die Bank umfiel.

»Was? Was ist los?«, schrie ich, denn er war bereits losgerannt.

»Der Katastrophenmarsch!«, rief er mir über die Schulter zu.

Ich wirbelte herum zum Koch, der eben seine Schürzenbänder aufriss. »Wovon zum Teufel redet er?«

»Vom Katastrophenmarsch«, sagte er und zerrte sich mühsam die Schürze über den Kopf. »Das heißt, es ist was Schlimmes passiert – was echt Schlimmes.«

»Was denn?«

»Könnte alles Mögliche sein – ein Feuer im Chapiteau, eine Stampede, irgendwas. Gottverdammt. Die armen Gadjos haben wahrscheinlich noch keinen Schimmer.« Er bückte sich unter der Klapptür hindurch und lief los.

Chaos – Süßwarenverkäufer hechteten über Theken, Arbeiter taumelten hinter Zelttüren hervor, Racklos rannten quer über den Platz: Wer auch immer etwas mit Benzinis Spektakulärster Show der Welt zu tun hatte, raste auf das Chapiteau zu.

Diamond Joe überholte mich in einer Art vollem Galopp.

»Jacob – die Menagerie«, rief er. »Die Tiere sind los. Schnell, beeil dich!«

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Marlena war in dem Zelt.

Als ich näher kam, spürte ich ein Grollen, das mir eine Heidenangst einjagte, denn es war tiefer als Lärm. Der Boden vibrierte.

Ich taumelte hinein und stand vor einem Yak – einer Wand aus gelocktem Fell mit stampfenden Hufen, roten, geblähten Nüstern und verdrehten Augen. Es galoppierte so nah an mir vorbei, dass ich mich nach hinten warf und gegen die Zeltwand drückte, um nicht von den gekrümmten Hörnern aufgespießt zu werden. An seine Schulter klammerte sich eine verängstigte Hyäne.

Der Verkaufsstand in der Mitte der Menagerie war dem Boden gleichgemacht worden, an seiner Stelle wogten gefleckte und gestreifte Flanken, Hufe, Schwänze und Klauen, alles knurrte, fauchte, brüllte oder wieherte. Ein Eisbär überragte alles andere und schlug blindlings mit den tellergroßen Tatzen um sich. Er erwischte ein Lama und warf es um – klatsch. Das Lama krachte zu Boden und streckte Hals und Beine von sich wie die fünf Zacken eines Sterns. Schimpansen hangelten sich schreiend und schnatternd an Seilen entlang, um außer Reichweite der Raubkatzen zu bleiben. Ein Zebra schlug mit aufgerissenen Augen Haken, dabei kam es einem kauernden Löwen zu nahe, der nach dem Zebra sprang, es verfehlte und dann dicht über dem Boden davonjagte.

Verzweifelt suchte ich das Zelt nach Marlena ab, aber ich sah nur eine Raubkatze durch den Verbindungsgang zum Chapiteau gleiten – es war ein Panther, und als sein geschmeidiger, schwarzer Körper im Tunnel verschwand, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Wenn die Gadjos jetzt noch ahnungslos waren, würde sich das bald ändern. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann kam er – der erste langgezogene Schrei, dann noch einer und noch einer, und schließlich explodierte alles unter dem Donnern der Menschen, die versuchten, an den anderen vorbei und das Gradin hinunterzugelangen. Das Orchester brach ein zweites Mal kreischend ab, diesmal blieb es still. Ich schloss die Augen: Gott, lass sie bitte hinten raus fliehen. Bitte, Gott, sie dürfen es nicht hier vorne versuchen.

Ich machte die Augen wieder auf und suchte weiter verzweifelt die Menagerie nach ihr ab. Wie schwer kann es denn sein, einen Elefanten und ein Mädchen zu finden, verdammt!

Als ich ihre pinkfarbenen Pailletten sah, schrie ich vor Erleichterung beinahe auf – vielleicht tat ich es sogar. Ich weiß es nicht mehr.

Sie stand mir gegenüber vor der Rundleinwand, so ruhig wie ein Bergsee. Ihre Pailletten glitzerten wie flüssige Diamanten, wie ein funkelndes Leuchtfeuer zwischen den bunten Fellen. Sie sah mich ebenfalls, und wir blickten einander eine Ewigkeit in die Augen. Sie wirkte gelassen und träge. Und lächelte sogar. Ich wollte mir einen Weg zu ihr bahnen, aber etwas in ihrer Miene ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.

Vor ihr stand dieser Dreckskerl, er drehte ihr den Rücken zu, brüllte mit hochrotem Kopf und schwang seinen Stock mit der Silberspitze. Sein Seidenzylinder lag neben ihm im Stroh.

Sie griff nach etwas. Eine Giraffe rannte zwischen uns hindurch – selbst in der Panik bewegte sich ihr Hals anmutig –, und als ich wieder freie Sicht hatte, erkannte ich, dass sie eine Eisenstange gepackt hielt. Sie umfasste sie ganz locker, das eine Ende ließ sie auf dem Boden aufliegen. Sie sah mich wieder an, tief in Gedanken. Dann richtete sie den Blick auf seinen bloßen Hinterkopf.

»Großer Gott.« Plötzlich verstand ich. Ich stolperte schreiend vorwärts, obwohl meine Stimme sie auf keinen Fall erreichen konnte. »Tu das nicht! Tu das nicht!«

Sie hob die Stange und schlug zu, dabei spaltete sie seinen Kopf wie eine Wassermelone. Sein Schädel platzte, er riss die Augen auf, und sein Mund erstarrte zu einem O. Dann fiel er auf die Knie und kippte vornüber ins Stroh.

Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte, noch nicht einmal, als mir ein junger Orang-Utan seine geschmeidigen Arme um die Beine schlang.

So lange ist es her. So lange. Und es verfolgt mich noch immer.

Ich rede nicht oft über damals. Habe ich noch nie. Ich weiß nicht, warum – fast sieben Jahre lang habe ich beim Zirkus gearbeitet, und wenn das keinen Gesprächsstoff liefert, was dann.

Ehrlich gesagt weiß ich, warum. Ich habe mir nie getraut. Ich hatte Angst, es würde mir herausrutschen. Ich wusste, wie wichtig es war, ihr Geheimnis zu hüten, und das tat ich auch – ihr Leben lang und darüber hinaus.

Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt.

Eins

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Wenn man fünf ist, weiß man auf den Monat genau, wie alt man ist. Auch in den Zwanzigern weiß man noch, wie alt man ist. Ich bin dreiundzwanzig, sagt man, oder: Ich bin siebenundzwanzig. Aber dann, so ab dreißig, geschieht etwas Seltsames. Anfangs ist es nicht mehr als ein Stolpern, ein kurzes Zögern. Wie alt bist du? Oh, ich bin … – man fängt zuversichtlich an, aber dann gerät man ins Stocken. Man wollte sagen dreiunddreißig, aber das stimmt nicht. Fünfunddreißig wäre richtig. Und das beunruhigt einen, denn man fragt sich, ob das der Anfang vom Ende ist. Genau das ist es, aber es dauert noch Jahrzehnte, bis man es zugibt.

Man fängt an, Wörter zu vergessen: Sie liegen einem auf der Zunge, aber anstatt sich schließlich von ihr zu lösen, bleiben sie kleben. Man geht nach oben, um etwas zu holen, und wenn man dort angekommen ist, weiß man nicht mehr, was man wollte. Man spricht sein Kind mit den Namen aller anderen Kinder und sogar mit dem des Hundes an, bevor einem der richtige einfällt. Manchmal vergisst man, welcher Tag gerade ist. Und schließlich vergisst man das Jahr.

Eigentlich habe ich es gar nicht vergessen. Man könnte eher sagen, ich habe nicht mehr darauf geachtet. Die Jahrtausendgrenze haben wir überschritten, so viel weiß ich – das ganze Tamtam wegen gar nichts, überall junge Leute, die ängstlich losschnattern und Konservendosen kaufen, weil irgendwer zu faul war, vier statt nur zwei Ziffern vorzusehen –, aber das könnte letzten Monat oder vor drei Jahren gewesen sein. Und außerdem, was macht es denn schon? Wo ist der Unterschied zwischen drei Wochen oder drei Jahren oder sogar drei Jahrzehnten Erbsenpüree, Tapioka und Windelhöschen?

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Entweder hat es einen Unfall gegeben, oder draußen ist eine Baustelle, denn eine Schar alter Damen steht wie gebannt vor dem Fenster am Ende des Flurs, wie Kinder oder Knastschwestern. Sie sind feingliedrig und zerbrechlich, ihr Haar ist so zart wie Nebel. Die meisten von ihnen sind gut zehn Jahre jünger als ich, und das erstaunt mich. Auch wenn der Körper einen verrät, der Geist will es nicht wahrhaben.

Ich parke im Flur, neben mir meine Gehhilfe. Seit meinem Hüftbruch habe ich Gott sei Dank gute Fortschritte gemacht. Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte ich nie wieder gehen – deswegen habe ich mich überhaupt überreden lassen, hierher zu ziehen –, aber jetzt stehe ich alle paar Stunden auf und mache ein paar Schritte, und jeden Tag komme ich ein Stückchen weiter, bevor ich umkehren muss. Es steckt doch noch Leben in diesen alten Knochen.

Jetzt stehen schon fünf weißhaarige alte Damen da, zusammengedrängt deuten sie mit gekrümmten Fingern auf die Scheibe. Ich warte einen Moment ab, ob sie wieder gehen, aber sie bleiben.

Ich schaue nach unten, um zu sehen, ob meine Bremsen angezogen sind, stehe vorsichtig auf und halte mich an der Armlehne meines Rollstuhls fest, während ich den Wechsel zur Gehhilfe wage. Sobald ich ordentlich stehe, umklammere ich die grauen Gummipolster an den Handgriffen und schiebe die Gehhilfe vorwärts, bis meine Ellbogen durchgedrückt sind, damit schaffe ich genau eine Bodenfliese. Ich ziehe den linken Fuß nach vorne, passe auf, dass ich sicher stehe, und ziehe dann den anderen Fuß nach. Schieben, ziehen, warten, ziehen. Schieben, ziehen, warten, ziehen.

Der Flur ist lang, und meine Füße wollen nicht mehr so wie früher. Zum Glück habe ich nicht die Lähmung, die Camel hatte, aber ich bin trotzdem langsam. Der arme, alte Camel – ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Seine Füße schlackerten so kraftlos, dass er die Knie hoch anheben und nach vorne schleudern musste. Ich schlurfe, als hätte ich Gewichte an den Füßen, und weil mein Rücken krumm ist, schaue ich ständig auf meine Hausschuhe zwischen den Beinen der Gehhilfe.

Es dauert seine Zeit, bis ich das Flurende erreiche, aber ich schaffe es – und zwar auf eigenen Füßen. Ich freue mich wie ein Schneekönig, aber als ich da bin, fällt mir auf, dass ich es auch wieder zurück schaffen muss.

Die alten Damen machen mir Platz. Sie gehören zu den Agilen, sie sind entweder selbst noch mobil oder haben Freundinnen, die sie herumfahren. Diese alten Mädels sind noch ganz klar im Kopf, und sie sind nett zu mir. Ich bin hier eine Seltenheit – ein alter Mann in einem Meer von Witwen, die sich noch immer nach ihren verstorbenen Männern sehnen.

»Oh, hier«, gurrt Hazel. »Lasst Jacob mal sehen.«

Sie zieht Dollys Rollstuhl ein Stück zurück und schlurft händeringend neben mich, ihre trüben Augen strahlen. »Ach, ist das aufregend! Sie sind schon den ganzen Morgen zugange.«

Ich arbeite mich zum Fenster vor, hebe den Kopf und blinzle in die Sonne. Es ist so hell, dass ich einen Augenblick brauche, um zu erkennen, was da vor sich geht. Dann nehmen die Schemen Gestalt an.

Im Park am Ende des Blocks steht ein riesiges Zelt mit breiten weißroten Streifen und einer unverkennbaren Spitze …

Meine Pumpe macht einen solchen Sprung, dass ich mir eine Faust an die Brust presse.

»Jacob! Oh, Jacob!«, ruft Hazel. »Du meine Güte!« Sie wedelt aufgeregt mit den Händen und dreht sich zum Flur um. »Schwester! Schwester, schnell! Mr. Jankowski!«

»Mir geht’s gut«, sage ich hustend und klopfe mir auf die Brust. Das ist das Problem mit den alten Damen. Sie haben ständig Angst, man würde umkippen. »Hazel! Es geht mir gut!«

Doch es ist zu spät. Ich höre das Quietsch-Quietsch-Quietsch von Gummisohlen und bin wenig später von Schwestern umzingelt. Offenbar muss ich mir keine Sorgen mehr machen, wie ich zu meinem Rollstuhl zurückkomme.

»Und, was steht heute Abend auf der Karte?«, brumme ich, als ich in den Speisesaal geschoben werde. »Porridge? Erbsenpüree? Babybrei? Oh, lassen Sie mich raten, es gibt Tapioka, richtig? Gibt es Tapioka? Oder nennen wir es heute Abend Reispudding?«

»Ach, Mr. Jankowski, Sie sind mir einer«, sagt die Schwester tonlos. Sie braucht nicht zu antworten, und das weiß sie auch. Da heute Freitag ist, gibt es das übliche nahrhafte, aber fade Menü aus Hackbraten mit Maispüree, Kartoffelbrei aus der Tüte und Bratensoße, die vielleicht irgendwann einmal neben einem Stück Rindfleisch gestanden hat. Und da fragen die sich, warum ich abnehme.

Ich weiß ja, dass einige hier keine Zähne mehr haben, aber ich schon, und ich will Schmorbraten. Den von meiner Frau, mit ledrigen Lorbeerblättern. Ich will Möhren. Ich will Pellkartoffeln. Und ich will das alles mit einem kräftigen, schweren Cabernet Sauvignon runterspülen, nicht mit Apfelsaft aus der Dose. Aber vor allem will ich einen ganzen Maiskolben.

Manchmal glaube ich, wenn ich zwischen einem Maiskolben und einer Nacht mit einer Frau wählen müsste, würde ich den Mais nehmen. Nicht, dass mir eine letzte Nummer im Heu nicht gefallen würde – ich bin immer noch ein Mann, und manche Dinge ändern sich nie –, aber die Vorstellung, wie die süßen Körner zwischen meinen Zähnen zerbersten, macht mir den Mund wässrig. Das sind Tagträume, ich weiß. Ich werde keines von beidem bekommen. Ich wäge nur gern die Möglichkeiten ab, so als stünde ich vor Salomo: Eine letzte Nummer im Heu oder ein Maiskolben. Ein wunderbares Dilemma. Manchmal ersetze ich den Mais durch einen Apfel.

Bei Tisch sprechen alle über den Zirkus – jedenfalls alle, die sprechen können. Die Stummen, Sprachlosen sitzen mit starren Gesichtern und verkümmerten Gliedmaßen oder mit Köpfen und Händen, die so stark zittern, dass sie ihr Besteck nicht halten können, entlang der Wände, neben sich Pflegerinnen, die ihnen löffelweise Essen in den Mund schieben und sie dann zum Kauen bewegen wollen. Sie erinnern mich an Vogeljungen, nur dass ihnen jeder Enthusiasmus fehlt. Bis auf ein leichtes Mahlen der Kiefer bleiben ihre Gesichter unbewegt und entsetzlich leer. Ich finde es so entsetzlich, weil ich genau weiß, was auf mich zukommt. Noch ist es nicht so weit, aber es kommt. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem zu entrinnen, und ehrlich gesagt gefällt mir die auch nicht besonders gut.

Die Schwester stellt mich vor meinem Teller ab. Die Soße auf dem Hackbraten hat schon eine Haut gebildet. Ich steche versuchsweise mit der Gabel hinein. Wie zum Hohn wabbelt die Soßenschicht. Ich blicke angewidert auf und sehe Joseph McGuinty direkt in die Augen.

Er sitzt mir gegenüber, ein Neuer, ein Eindringling – ein pensionierter Anwalt mit kantigem Kinn, zerfurchter Nase und großen Schlappohren. Die Ohren erinnern mich an Rosie, aber damit hat es sich auch schon. Sie hatte eine schöne, edle Seele, und er … Er ist eben ein pensionierter Anwalt. Mir ist schleierhaft, wo die Schwestern Gemeinsamkeiten zwischen einem Veterinär und einem Anwalt vermuten, aber am ersten Abend haben sie ihn mir gegenüber abgestellt, und seitdem sitzt er dort.

Während er mich anstarrt, bewegt er den Kiefer vor und zurück wie ein wiederkäuendes Rind. Unglaublich. Er isst das Zeug tatsächlich.

Die alten Damen schnattern in wonniger Ignoranz wie die Schulmädchen.

»Sie bleiben bis Sonntag«, sagt Doris. »Billy hat nachgefragt.«

»Genau, Samstag gibt es zwei Vorstellungen, und eine am Sonntag. Randall und die Mädchen gehen morgen mit mir hin«, erzählt Norma. Sie dreht sich zu mir um. »Jacob, gehen Sie auch hin?«

Ich setze zu einer Antwort an, aber ehe ich etwas sagen kann, sprudelt Doris los: »Und hast du die Pferde gesehen? Was für herrliche Tiere! Als ich klein war, hatten wir auch Pferde. Ach, was bin ich gerne geritten.« Sie blickt in die Ferne, und den Bruchteil einer Sekunde lang kann ich sehen, wie hübsch sie als junge Frau war.

»Erinnert ihr euch noch an die Zeiten, als der Zirkus mit dem Zug unterwegs war?«, fragt Hazel. »Ein paar Tage vorher sind immer die Plakate aufgetaucht – die ganze Stadt war damit zugekleistert! Kein Ziegelstein blieb frei!«

»Meine Güte, ja, natürlich erinnere ich mich«, sagt Norma. »In einem Jahr haben sie Plakate an unsere Scheune geklebt. Die Männer erzählten meinem Vater, sie hätten einen besonderen Leim, der sich zwei Tage nach der Vorstellung auflösen würde, aber diese verflixten Plakate hingen Monate später immer noch an der Scheune!« Sie schüttelt kichernd den Kopf. »Vater schäumte vor Wut!«

»Und ein paar Tage später fuhr der Zug ein. Immer im Morgengrauen.«

»Mein Vater hat uns dann mit runter zu den Gleisen genommen, damit wir ihnen beim Abladen zusehen konnten. Das war schon ein Anblick. Und der Umzug erst! Und der Duft nach gerösteten Erdnüssen …«

»Und Popcorn!«

»Und kandierten Äpfeln und Eis und Limonade!«

»Und das Sägemehl! Das hatte man immer in der Nase.«

»Ich habe damals den Elefanten Wasser geholt«, sagt McGuinty.

Ich lasse die Gabel fallen und blicke auf. Er trieft nur so vor Selbstgefälligkeit und wartet darauf, dass die Mädels ihn hofieren.

»Das haben Sie nicht«, sage ich.

Schlagartig wird es still.

»Wie bitte?«, fragt er.

»Sie haben den Elefanten kein Wasser geholt.«

»Doch, das habe ich ganz bestimmt.«

»Nein, haben Sie nicht.«

»Soll das heißen, ich bin ein Lügner?«, fragt er gedehnt.

»Wenn Sie behaupten, Sie hätten den Elefanten Wasser geholt, dann ja.«

Die Mädels starren mich mit offenem Mund an. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und ich weiß, ich sollte jetzt aufhören, aber irgendwie kann ich nicht anders.

»Wie können Sie es wagen!« McGuinty stützt die knorrigen Hände auf die Tischkante. An seinen Unterarmen treten zähe Sehnen hervor.

»Hören Sie, Freundchen«, sagte ich. »Seit Jahrzehnten muss ich mir anhören, dass alte Knacker wie Sie behaupten, sie hätten den Elefanten Wasser geholt, und ich sage Ihnen, das haben Sie nicht.«

»Alte Knacker? Alte Knacker?« Als McGuinty sich hochstemmt, schießt sein Rollstuhl nach hinten. Er deutet mit einem knorrigen Finger auf mich und fällt dann wie vom Blitz getroffen um. Mit ratlosem Blick und offenem Mund verschwindet er unter der Tischkante.

»Schwester! Schwester!«, rufen die alten Damen.

Das vertraute Getrappel von Kreppsohlen ertönt, und wenig später hieven zwei Schwestern McGuinty hoch. Er murrt und unternimmt einen kläglichen Versuch, sie abzuschütteln.

Eine dritte Schwester, eine junge Schwarze mit üppigem Busen und rosafarbener Uniform, steht am Tischende und stemmt die Hände in die Hüften. »Was in aller Welt ist denn hier los?«, fragt sie.

»Dieser alte Mistkerl hat mich einen Lügner genannt«, sagt McGuinty, der wieder sicher auf seinem Stuhl thront. Er zieht sein Hemd glatt, hebt das stoppelige Kinn und verschränkt die Arme vor der Brust. »Und einen alten Knacker.«

»Ach, das hat Mr. Jankowski bestimmt nicht so gemeint«, sagt die junge Frau in Rosa.

»Oh, doch, das habe ich«, sage ich. »Und es stimmt auch. Pfffft. Hat Wasser für die Elefanten geholt, na klar. Haben Sie eine Ahnung, wie viel so ein Elefant säuft?«

»Also wirklich«, sagt Norma, schürzt die Lippen und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, Mr. Jankowski.«

Aha, ich verstehe. So ist das also.

»So eine Frechheit!« McGuinty, der Oberwasser spürt, beugt sich leicht zu Norma hinüber. »Ich muss mich doch wohl nicht als Lügner bezeichnen lassen!«

»Und als alten Knacker«, erinnere ich ihn.

»Mr. Jankowski!«, ermahnt die junge Schwarze mich laut. Sie stellt sich hinter mich und löst die Bremsen an meinem Rollstuhl. »Sie sollten vielleicht eine Weile auf Ihrem Zimmer bleiben. Bis Sie sich beruhigt haben.«

»Jetzt warten Sie mal«, rufe ich, als sie mich vom Tisch weg und Richtung Tür steuert. »Ich muss mich nicht beruhigen. Außerdem habe ich noch nicht gegessen!«

»Ich bringe Ihnen das Essen nach«, sagt sie hinter meinem Rücken.

»Ich will nicht in mein Zimmer! Bringen Sie mich zurück! Das können Sie doch nicht machen!«

Offensichtlich kann sie das doch. Wie ein geölter Blitz schiebt sie mich den Flur entlang und biegt scharf in meine vier Wände ab. Sie stellt die Bremsen so abrupt fest, dass der ganze Stuhl quietscht.

»Dann gehe ich einfach zurück«, sage ich, als sie die Fußrasten hochklappt.

»Das lassen Sie schön bleiben«, entgegnet sie und stellt meine Füße auf den Boden.

»Das ist ungerecht!« Meine Stimme schlägt in ein Jammern um. »Ich sitze schon ewig an dem Tisch. Er ist gerade einmal seit zwei Wochen da. Warum sind alle auf seiner Seite?«

»Niemand ist auf irgendeiner Seite.« Sie beugt sich vor, um mich unterhalb der Arme zu umgreifen. Als sie mich hochhebt, sind unsere Köpfe direkt nebeneinander. Ihr Haar ist chemisch geglättet, und es riecht nach Blumen. Nachdem sie mich auf die Bettkante gesetzt hat, habe ich ihren rosafarbenen Busen direkt auf Augenhöhe. Und ihr Namensschild.

»Rosemary«, sage ich.

»Ja, Mr. Jankowski?«

»Er lügt wirklich, wissen Sie.«

»Das weiß ich keineswegs. Und Sie auch nicht.«

»Doch, ich schon. Ich war mal dabei.«

Sie blinzelt irritiert. »Wie meinen Sie das?«

Zögernd überlege ich es mir anders. »Schon gut.«

»Haben Sie beim Zirkus gearbeitet?«

»Ich sage doch, schon gut.«

Einen Herzschlag lang herrscht unangenehmes Schweigen.

»Wissen Sie, Mr. McGuinty hätte sich ernsthaft verletzen können«, sagt sie, während sie meine Beine zurechtlegt. Sie arbeitet rasch und effizient, aber nicht hastig.

»Der doch nicht. Anwälte sind nicht kleinzukriegen.«

Sie starrt mich lange an und nimmt mich plötzlich als richtigen Menschen wahr. Einen Augenblick lang meine ich, einen Riss in der Fassade zu spüren, bevor sie wieder geschäftig wird. »Geht Ihre Familie am Wochenende mit Ihnen in den Zirkus?«

»Oh, ja«, sage ich recht stolz. »Sonntags kommt immer jemand. Pünktlich wie ein Uhrwerk.«

Sie schüttelt eine Decke aus und legt sie mir über die Beine. »Soll ich Ihr Abendessen holen?«

»Nein«, antworte ich.

In der betretenen Stille wird mir klar, dass ich ein »danke« hätte hinzufügen sollen, aber jetzt ist es zu spät.

»Na gut«, sagt sie, »ich komme später wieder und sehe nach, ob Sie noch etwas brauchen.«

Sicher. Ganz bestimmt. Das sagen sie immer.

Aber Teufel noch eins, hier ist sie.

»Erzählen Sie es niemandem«, sagt sie, als sie hereinstürmt und meinen kombinierten Ess- und Frisiertisch über mein Bett schiebt. Sie legt eine Papierserviette hin, eine Plastikgabel und ein Schälchen mit Obst, das richtig verlockend aussieht, Erdbeeren, Melone und Apfel. »Das habe ich mir für die Pause mitgenommen. Ich mache Diät. Mögen Sie Obst, Mr. Jankowski?«

Ich würde ja antworten, aber meine Hand liegt auf meinem Mund, und sie zittert. Großer Gott, Apfel.

Sie tätschelt mir die andere Hand und geht, meine Tränen taktvoll ignorierend, hinaus.

Ich schiebe mir ein Stück Apfel in den Mund und schmecke genüsslich den Saft. Die brummende Neonlampe über mir wirft ein scharfes Licht auf die krummen Finger, mit denen ich Obststücke aus dem Schälchen klaube. Sie sehen so fremd aus. Das können doch nicht meine Finger sein.

Das Alter ist ein grausamer Dieb. Gerade wenn man das Leben halbwegs begreift, holt es einen von den Beinen und beugt einem den Rücken. Es bringt Schmerz und Verwirrtheit mit sich und lässt im Körper der eigenen Frau klammheimlich Krebs wuchern.

Metastatisch, hat der Arzt gesagt. Eine Frage von Wochen oder Monaten. Doch mein Liebling war so zart wie ein Spatz. Sie starb neun Tage später. Nach einundsechzig gemeinsamen Jahren umklammerte sie einfach meine Hand und verlosch.

Auch wenn ich manchmal alles darum geben würde, sie wiederzuhaben, bin ich froh, dass sie als Erste gegangen ist. Als ich sie verlor, zerriss es mich. In diesem Augenblick war für mich alles zu Ende, und ich hätte nicht gewollt, dass sie das durchmachen muss. Übrig zu bleiben ist widerlich.

Früher dachte ich, das Alter sei besser als seine Alternative, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Manchmal sind Bingo und Singstunden und uralte, angestaubte Menschen, die man in ihren Rollstühlen im Flur abstellt, so eintönig, dass ich mich nach dem Tod sehne. Vor allem, wenn mir wieder einfällt, dass ich einer dieser uralten, angestaubten Menschen bin, abgeladen wie wertloser Krempel.

Aber daran ist nichts zu ändern. Ich kann nur noch auf das Unvermeidliche warten und dabei die Geister der Vergangenheit im Auge behalten, wenn sie durch meine stumpfe Gegenwart poltern. Sie lärmen und rumoren und machen es sich gemütlich, größtenteils deshalb, weil sie keine Konkurrenz haben. Ich kämpfe nicht mehr gegen sie an.

Auch jetzt gerade lärmen und rumoren sie.

Fühlt euch ganz wie zu Hause, Jungs. Bleibt doch etwas. Oh, entschuldigt – ich sehe, das tut ihr sowieso.

Verdammte Geister.

Zwei

Ich bin dreiundzwanzig und sitze neben Catherine Hale. Genauer gesagt sitzt sie neben mir, denn sie kam nach mir in den Hörsaal, rutschte lässig die Bank entlang, bis sich unsere Oberschenkel berührten, und zuckte dann errötend zurück, als wäre die Berührung ein Zufall.

Catherine ist eine von lediglich vier Frauen im 1931er-Jahrgang, und ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon dachte o Gott, o Gott, endlich lässt sie mich, bis ein Mein Gott, JETZT soll ich aufhören? mich niederschmetterte.

Allem Anschein nach bin ich die älteste männliche Jungfrau auf Erden. Zumindest will sich sonst keiner meiner Altersgenossen bekennen. Sogar mein Mitbewohner Edward hat seinen Sieg verkündet, obwohl ich vermute, dass er nackten Frauen höchstens in seinen Achtseitern begegnet ist. Vor kurzem haben ein paar Jungs aus meiner Footballmannschaft einer Frau jeweils einen Vierteldollar gezahlt, damit sie es, einer nach dem anderen, in der Viehscheune mit ihr tun konnten. Sosehr ich auch gehofft hatte, meine Jungfräulichkeit in Cornell loszuwerden, ich konnte mich nicht dazu überwinden mitzumachen. Ich konnte es einfach nicht.

Und nun, nachdem ich sechs lange Jahre seziert, kastriert, beim Fohlen geholfen und meinen Arm öfter in Kuhhintern gesteckt habe, als ich zählen möchte, werden ich und mein getreuer Schatten, die Jungfräulichkeit, in zehn Tagen Ithaca verlassen, um in der Tierarztpraxis meines Vaters in Norwich mitzuarbeiten.

»Und hier sehen Sie eine Verdickung des distalen Dünndarms«, sagt Professor Willard McGovern ohne jede Satzmelodie. Mit einem Zeigestock stochert er träge in den Eingeweiden einer toten Milchziege mit schwarz-weißem Fell. »Zusammen mit den vergrößerten Mesenteriallymphknoten ergibt sich deutlich das Bild einer …«

Die Tür öffnet sich mit einem Quietschen, und McGovern, den Zeigestock noch immer im Leib der Ziege vergraben, dreht sich um. Dekan Wilkins marschiert in den Raum und erklimmt die Stufen zum Podium. Während die beiden Männer miteinander sprechen, stehen sie so dicht beieinander, dass ihre Köpfe sich beinahe berühren. McGovern hört sich Wilkins’ geflüsterte Dringlichkeiten an, dreht sich um und sucht mit besorgtem Blick die Reihen der Studenten ab.

Der ganze Saal wird zappelig. Catherine bemerkt, dass ich sie ansehe, schlägt die Beine übereinander und streicht sich gemächlich den Rock glatt. Ich muss schlucken, bevor ich den Blick abwende.

»Jacob Jankowski?«

Vor lauter Schreck lasse ich meinen Bleistift fallen. Er rollt unter Catherines Füße. Ich räuspere mich und stehe rasch auf. Über fünfzig Köpfe drehen sich nach mir um.

»Ja, Sir?«

»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«

Ich klappe mein Notizbuch zu und lege es auf die Bank. Catherine hebt meinen Bleistift auf; als sie ihn mir zurückgibt, lässt sie ihre Finger auf meinen ruhen. Auf dem Weg zum Gang stoße ich den Leuten gegen die Knie und trete ihnen auf die Zehen. Ihr Geflüster verfolgt mich, bis ich vorne bin.

Dekan Wilkins starrt mich an. »Kommen Sie mit«, sagt er.

Ich habe etwas angestellt, so viel steht fest.

Ich folge ihm auf den Flur. McGovern verlässt nach mir den Saal und schließt die Tür. Einen Augenblick lang stehen beide mit verschränkten Armen und ernsten Gesichtern da.

Meine Gedanken überschlagen sich, sie zerpflücken alles, was ich zuletzt getan habe. Haben sie das Wohnheim durchsucht? Haben sie Edwards Schnaps gefunden – oder sogar die Achtseiter? Großer Gott – wenn ich jetzt rausfliege, bringt mein Vater mich um. Ohne jede Frage. Ganz egal, was dann mit meiner Mutter wird. Na gut, ich habe ja vielleicht ein bisschen Whiskey getrunken, aber immerhin hatte ich nichts mit diesem Trauerspiel in der Scheune …

Dekan Wilkins holt tief Luft, schaut mir in die Augen und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Mein Junge, es hat einen Unfall gegeben.« Kurze Pause. »Einen Autounfall.« Eine weitere, längere Pause. »Ihre Eltern waren in ihn verwickelt.«

Ich fixiere ihn mit meinem Blick, er soll weiterreden.

»Sind sie …? Werden sie …?«

»Es tut mir leid, Junge. Es ging ganz schnell. Es war nichts mehr zu machen.«

Ich starre ihm ins Gesicht, will den Blickkontakt halten, aber das fällt mir schwer. Er entfernt sich immer weiter, bis ans Ende eines langen, schwarzen Tunnels, an dessen Wänden Sterne explodieren.

»Geht es Ihnen gut, Junge?«

»Was?«

»Geht es Ihnen gut?«

Plötzlich steht er wieder direkt vor mir. Ich blinzle und frage mich, was er meint. Wie zum Teufel könnte es mir gut gehen? Dann wird mir klar, dass er fragt, ob ich weinen werde.

Er räuspert sich und spricht weiter. »Sie müssen heute noch nach Hause fahren. Um sie zu identifizieren. Ich bringe Sie zum Bahnhof.«

Der Polizeipräsident – ein Mitglied unserer Kirchengemeinde – erwartet mich in Zivil auf dem Bahnsteig. Er begrüßt mich mit einem unbeholfenen Nicken und einem verkrampften Handschlag. Als wäre ihm der Gedanke erst nachträglich gekommen, zieht er mich in eine heftige Umarmung. Er klopft mir kräftig auf den Rücken und schiebt mich mit einem Schniefen wieder von sich. Dann fährt er mich in seinem eigenen Wagen zum Krankenhaus, einem zwei Jahre alten Phaeton, der ein Vermögen gekostet haben muss. Die Leute hätten vieles anders gemacht, wenn sie gewusst hätten, was in jenem schicksalhaften Oktober geschehen würde.

Der Leichenbeschauer führt uns ins Untergeschoss, wo er durch eine Tür schlüpft, während wir im Gang warten. Etwas später fordert uns eine Schwester wortlos auf einzutreten, indem sie uns die Tür aufhält.

Der Raum hat keine Fenster. Bis auf eine Uhr sind die Wände kahl. Auf dem Boden liegen Linoleumfliesen in Olivgrün und Weiß, und in der Mitte stehen zwei Bahren. Auf jeder liegt eine mit einem Tuch bedeckte Leiche. Ich begreife rein gar nichts. Ich erkenne nicht einmal, wo Kopf- und Fußende sind.

»Sind Sie so weit?«, fragt der Leichenbeschauer, als er zwischen sie tritt.

Ich schlucke und nicke. Eine Hand legt sich mir auf die Schulter. Es ist die des Polizeipräsidenten.

Der Leichenbeschauer deckt erst meinen Vater auf, dann meine Mutter.

Sie sehen nicht wie meine Eltern aus, und doch müssen sie es wohl sein. Alles an ihnen kündet vom Tod – die verfärbten Flecken auf ihren geschundenen Leibern, die sich blauviolett auf der blutleeren, weißen Haut abzeichnen, die eingesunkenen Augen. Meine Mutter, die im Leben so hübsch und gepflegt war, hat im Tod eine starre Grimasse. Ihr Haar drückt sich verfilzt und blutdurchtränkt in das Loch in ihrem zerstörten Schädel. Ihr Mund steht offen, das Kinn ist herabgesunken, als würde sie schnarchen.

Ich wende mich ab, als mir Erbrochenes aus dem Mund schießt. Jemand hält mir eine Nierenschale hin, aber der Schwall geht darüber hinaus, und ich höre es feucht auf den Boden klatschen und gegen die Wand spritzen. Ich höre es, denn meine Augen sind fest geschlossen. Ich übergebe mich immer wieder, bis nichts mehr da ist. Zusammengekrümmt würge ich, bis ich mich frage, ob man wirklich sein Innerstes nach außen kehren kann.

Sie bringen mich raus und verfrachten mich auf einen Stuhl. Eine freundliche Krankenschwester in einer gestärkten weißen Uniform holt mir einen Kaffee, der auf dem Tisch neben mir kalt wird.

Später kommt der Kaplan und setzt sich zu mir. Er fragt, ob er irgendwen anrufen soll. Ich antworte matt, dass alle meine Verwandten in Polen leben. Er fragt nach Nachbarn und Mitgliedern unserer Kirche, aber um nichts in der Welt will mir ein Name einfallen. Kein einziger. Ich bin nicht sicher, ob ich meinen eigenen Namen wüsste.

Nachdem er gegangen ist, stehle ich mich davon. Bis zu unserem Haus sind es gute drei Kilometer, und ich komme dort an, als das letzte Stück Sonne hinter dem Horizont versinkt.

Die Auffahrt ist leer. Natürlich.

Im Garten hinter dem Haus bleibe ich stehen und starre, die Reisetasche in der Hand, auf das langgestreckte, flache Gebäude im Hof. Über dem Eingang hängt ein neues Schild mit schwarzglänzender Schrift:

E. JANKOWSKI UND SOHN

Veterinärmediziner

Nach einer Weile drehe ich mich zum Haus um, steige die Veranda hinauf und öffne die Hintertür.

Der ganze Stolz meines Vaters, sein Philco-Radio, steht auf der Arbeitsplatte in der Küche. Der blaue Pullover meiner Mutter hängt über einer Stuhllehne. Auf dem Küchentisch liegen gebügelte Laken, daneben steht eine Vase mit welkenden Veilchen. Eine umgedrehte Schüssel, zwei Teller und eine Handvoll Besteck liegen zum Trocknen auf einem karierten Küchentuch neben der Spüle.

Heute Morgen hatte ich Eltern. Heute Morgen haben sie gefrühstückt.

Dort, auf der Veranda, falle ich auf die Knie, halte mir die Hände vors Gesicht und weine hemmungslos.

Durch die Frau des Polizeipräsidenten über meine Rückkehr alarmiert, stürzen die Damen des Kirchenkreises sich noch in der gleichen Stunde auf mich.

Ich sitze noch immer auf der Veranda, das Gesicht an die Knie gepresst. Ich höre, wie Reifen auf Kies knirschen und Autotüren zugeschlagen werden, und im nächsten Moment bin ich umgeben von üppigen Körpern, Blümchenstoffen und behandschuhten Händen. Ich werde gegen weiche Busen gedrückt, von Hüten mit Schleiern gepiekt und in eine Wolke aus Jasmin, Lavendel und Rosenwasser gehüllt. Der Tod ist eine förmliche Angelegenheit, sie tragen ihre Sonntagskleider. Sie tätscheln und hätscheln, und vor allem schnattern sie.

Was für ein Jammer, was für ein Jammer. Und dabei waren die beiden so gute Menschen. Eine solche Tragödie erscheint so sinnlos, gewiss, doch die Wege des Herrn sind unergründlich. Sie wollen sich um alles kümmern. Das Gästezimmer von Jim und Mabel Neurater ist schon hergerichtet. Ich soll mir um nichts Gedanken machen.

Sie nehmen meine Reisetasche und steuern mich zum laufenden Wagen. Jim Neurater sitzt mit grimmigem Gesicht hinter dem Lenkrad und hält es mit beiden Händen fest umklammert.

Zwei Tage, nachdem ich meine Eltern beerdigt habe, werde ich in das Büro des Anwalts Edmund Hyde gebeten, um die Einzelheiten ihres Nachlasses zu erfahren. Während ich dem Mann gegenüber auf einem harten Lederstuhl sitze, wird mir nach und nach klar, dass es nichts zu besprechen gibt. Zuerst denke ich, er macht sich über mich lustig. Offenbar hat mein Vater sich seit fast zwei Jahren mit Bohnen und Eiern bezahlen lassen.

»Mit Bohnen und Eiern?« Ungläubig überschlägt sich meine Stimme. »Bohnen und Eiern?«

»Und Hühnern. Und anderen Naturalien.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Etwas anderes haben die Leute nicht, mein Junge. Die Gemeinde ist ziemlich angeschlagen, und dein Vater wollte jedermann helfen. Er konnte es einfach nicht mit ansehen, wenn die Tiere leiden.«

»Aber … ich verstehe das nicht. Auch wenn er, hm, alles Mögliche als Bezahlung angenommen hat, wieso gehört dann alles der Bank?«

»Sie sind mit der Hypothek in Verzug geraten.«

»Meine Eltern hatten keine Hypothek.«

Ihm ist offenbar unbehaglich zumute. Er hält die Hände vor sich und presst die Fingerspitzen gegeneinander. »Nun ja, ehrlich gesagt, sie hatten eine.«

»Das stimmt nicht«, widerspreche ich. »Sie haben hier fast dreißig Jahre lang gelebt. Mein Vater hat jeden Cent gespart, den er verdient hat.«

»Die Bank hat Pleite gemacht.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Sie haben doch gerade gesagt, es geht alles an die Bank.«

Er seufzt tief. »Das ist eine andere Bank. Die Bank, die ihnen die Hypothek gegeben hat, als die andere schließen musste«, sagt er. Ich weiß nicht, ob er versucht, geduldig zu wirken, und dabei kläglich scheitert, oder ob er mich auf plumpe Weise dazu bringen will zu gehen.

Zögernd überlege ich, welche Möglichkeiten mir bleiben.

»Was ist mit den Sachen im Haus? In der Praxis?«, frage ich schließlich.

»Das fällt alles an die Bank.«

»Und wenn ich dagegen angehen will?«

»Wie?«

»Was ist, wenn ich herkomme, die Praxis übernehme und versuche, die Zahlungen zu leisten?«

»So funktioniert das nicht. Sie können die Praxis nicht einfach übernehmen.«

Ich starre Edmund Hyde an, in seinem teuren Anzug, hinter seinem teuren Schreibtisch, im Rücken seine ledergebundenen Bücher. Durch die Bleiglasfenster hinter ihm fallen Sonnenstrahlen herein. Mich packt plötzlich Abscheu – ich wette, er hat in seinem ganzen Leben noch keine Bohnen und Eier in Zahlung genommen.

Ich beuge mich vor und sehe ihm in die Augen. Das hier soll auch sein Problem sein. »Was soll ich machen?«, frage ich langsam.

»Das weiß ich nicht, mein Junge. Ich wünschte, ich wüsste es. Dem ganzen Land geht es schlecht, so ist das nun mal.« Er lehnt sich zurück, die Fingerspitzen noch immer gegeneinander gepresst. Dann legt er den Kopf schief, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Versuchen Sie Ihr Glück doch im Westen«, schlägt er vor.

Mir wird klar, dass ich sein Büro sofort verlassen muss, wenn ich ihn nicht verprügeln will. Also stehe ich auf, setze meinen Hut auf und gehe.

Als ich auf den Bürgersteig trete, wird mir noch etwas klar. Mir fällt nur ein einziger Grund ein, aus dem meine Eltern eine Hypothek gebraucht hätten: um meine Ausbildung an einer Elite-Universität zu bezahlen.

Diese plötzliche Erkenntnis trifft mich mit so schmerzhafter Wucht, dass ich die Hände auf den Magen presse und zusammenklappe.

Da mir nichts Besseres einfällt, kehre ich nach Ithaca zurück – bestenfalls eine vorübergehende Lösung. Kost und Logis sind zwar bis zum Ende des Universitätsjahrs bezahlt – aber das ist bereits in sechs Tagen.

Ich habe die komplette Repetitoriumswoche verpasst. Alle wollen mir unbedingt helfen. Catherine gibt mir ihre Mitschrift, und ihre anschließende Umarmung legt nahe, dass meine üblichen Bestrebungen diesmal ein anderes Ergebnis erzielen könnten. Ich mache mich von ihr los. Zum ersten Mal seit Menschengedenken interessiere ich mich nicht für Sex.

Ich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Und ich kann ganz entschieden nicht lernen. Eine Viertelstunde lang starre ich auf einen Textabschnitt, aber ich verstehe ihn nicht. Wie könnte ich auch, wo ich doch hinter den Wörtern, auf dem weißen Papiergrund, in einer Endlosschleife den Tod meiner Eltern sehe? Wo ich doch beobachte, wie ihr cremefarbener Buick die Leitplanke durchbricht und von der Brücke stürzt, weil er dem roten Lastwagen des alten Mr. McPherson ausgewichen ist? Des alten Mr. McPherson, der, als er von der Unfallstelle weggebracht wurde, zugab, er sei nicht ganz sicher, auf welcher Straßenseite er hätte fahren sollen, und der glaubt, er habe vielleicht auf das Gas statt auf die Bremse getreten? Des alten Mr. McPherson, der an einem denkwürdigen Ostertag ohne Hose in der Kirche erschien?

Der Aufsichtsführende schließt die Tür und setzt sich. Er beobachtet die Wanduhr, bis der Minutenzeiger vorrückt.

»Sie dürfen anfangen.«

Zweiundfünfzig Prüfungsmappen werden aufgeschlagen. Einige blättern sie durch, andere fangen direkt an zu schreiben. Ich mache keines von beidem.

Vierzig Minuten später habe ich noch keinen Strich auf das Papier gebracht. Ich starre die Mappe verzweifelt an. Da stehen Diagramme, Nummern, Linien und Tabellen – Wortketten mit Satzzeichen am Ende – manchmal mit Punkten, manchmal mit Fragezeichen, und nichts ergibt einen Sinn. Einen Moment lang frage ich mich, ob das überhaupt Englisch ist. Ich versuche es mit Polnisch, aber auch das funktioniert nicht. Es könnten genauso gut Hieroglyphen sein.

Eine Frau hustet, und ich zucke zusammen. Eine Schweißperle tropft von meiner Stirn auf die Mappe. Ich wische sie mit dem Ärmel weg, dann hebe ich die Mappe an.

Vielleicht muss ich sie näher an die Augen halten. Oder weiter weg – jetzt erkenne ich, dass der Text auf Englisch geschrieben ist, oder besser gesagt, ich erkenne die einzelnen Wörter als englisch, aber ich kann sie nicht als zusammenhängendes Ganzes lesen.

Eine zweite Schweißperle.

Ich sehe mich im Raum um. Catherine, der das hellbraune Haar ins Gesicht fällt, schreibt eifrig. Sie ist Linkshänderin, und weil sie einen Bleistift benutzt, glänzt ihr linker Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen silbrig. Edward neben ihr zuckt hoch, schaut panisch auf die Uhr und sackt wieder über seiner Mappe zusammen. Ich wende mich ab, zum Fenster hin.

Durch das Laub lugen Himmelsfetzen, ein Mosaik aus Blau und Grün, das sich sanft im Wind wiegt. Ich starre wie gebannt darauf, mein Blick verschwimmt, und ich sehe hinter die Blätter und Zweige. Ein feistes Eichhörnchen springt mit buschig aufgerichtetem Schwanz durch mein Blickfeld.

Mit lautem Quietschen schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf. Meine Stirn ist schweißbedeckt, mir zittern die Finger. Zweiundfünfzig Köpfe drehen sich zu mir um.

Ich sollte diese Menschen kennen, und bis vor einer Woche kannte ich sie auch. Ich wusste, wo ihre Familien wohnten. Ich wusste, was für Berufe ihre Väter hatten. Ich wusste, ob sie Geschwister hatten und ob sie sie mochten. Verdammt, ausgerechnet diejenigen, die nach dem Börsenkrach abgehen mussten, fallen mir ein: Henry Winchester, dessen Vater vom Dach der Chicagoer Börse gesprungen war. Alistair Barnes, dessen Vater sich in den Kopf geschossen hatte. Reginald Monty mit seinem erfolglosen Versuch, in einem Auto zu wohnen, nachdem seine Familie nicht mehr für Kost und Logis aufkommen konnte. Bucky Hayes, dessen arbeitsloser Vater einfach abgehauen war. Aber diese Menschen, die Leute, die hier geblieben sind? Nichts.

Mit wachsender Verzweiflung sehe ich in ihre konturlosen Gesichter, in ein leeres Oval nach dem anderen. Ich höre einen tiefen, erstickten Laut und merke, er stammt von mir. Ich ringe nach Luft.

»Jacob?«

Das Gesicht, das mir am nächsten ist, hat einen Mund, der sich bewegt. Die Stimme klingt schüchtern und unsicher. »Geht’s dir gut?«

Ich blinzle, mir verschwimmt alles vor Augen. Dann durchquere ich den Raum und werfe dem Aufsichtsführenden die Prüfungsmappe auf den Schreibtisch.

»Schon fertig?«, fragt er, als er die Hand danach ausstreckt. Auf dem Weg zur Tür höre ich Papier rascheln. »Warten Sie!«, ruft er mir nach. »Sie haben ja nicht einmal angefangen! Sie dürfen nicht gehen. Wenn Sie gehen, kann ich Sie nicht …«

Die Tür verschluckt seine letzten Worte. Während ich durch den Innenhof gehe, sehe ich zum Büro von Dekan Wilkins hinauf. Er steht am Fenster und beobachtet mich.

Ich gehe bis zum Stadtrand, schwenke dort ab und folge den Eisenbahnschienen. Ich gehe, bis es dunkel ist und der Mond hoch am Himmel steht, und dann laufe ich noch stundenlang weiter. Ich laufe, bis mir die Beine schmerzen und meine Füße Blasen bekommen. Und dann bleibe ich stehen, weil ich müde bin und hungrig und keine Ahnung habe, wo ich bin. Als wäre ich schlafgewandelt, aufgewacht und hätte mich plötzlich hier wiedergefunden.

Das einzige Anzeichen von Zivilisation sind die Schienen, die auf einem aufgeschütteten Schotterbett verlaufen. Auf ihrer einen Seite befindet sich Wald, auf der anderen eine kleine Lichtung. Irgendwo in der Nähe höre ich Wasser plätschern. Im Mondlicht suche ich mir einen Weg dorthin.

Der Bach ist höchstens einen Meter breit. Er verläuft am anderen Ende der Lichtung entlang den ersten Bäumen, bevor er im Wald verschwindet. Ich streife mir Schuhe und Socken ab und setze mich ans Ufer.

Als ich die Füße ins eisige Wasser tauche, ist der Schmerz zuerst so stark, dass ich sie mit einem Ruck wieder herausziehe. Ich lasse nicht locker und tauche sie immer wieder und immer länger unter, bis die Blasen schließlich durch die Kälte taub werden. Mit den Fußsohlen berühre ich den steinigen Grund und lasse das Wasser zwischen meinen Zehen durchfließen. Nach einer Weile ist es die Kälte selbst, die wehtut, und ich lege mich am Ufer auf den Rücken, den Kopf auf einen flachen Stein gebettet, während meine Füße trocknen.

In der Ferne erklingt das Heulen eines Kojoten. Das Geräusch klingt zugleich einsam und vertraut, und mit einem Seufzer lasse ich die Augen zufallen. Als es von einem Jaulen nur wenige Meter zu meiner Linken beantwortet wird, setze ich mich abrupt auf.

Der Kojote, der weiter weg ist, heult erneut, und diesmal antwortet ihm das Pfeifen eines Zuges. Ich ziehe Socken und Schuhe an, stehe auf und starre auf den Rand der Lichtung.

Der Zug kommt jetzt näher, er rattert und rumpelt auf mich zu: RATTER-da-ratter-da-ratter-da-ratter-da, RATTER-da-ratter-da-ratter-da-ratter-da, RATTER-da-ratter-da-ratter-da-ratter-da.

Ich wische mir die Hände an der Hose ab, gehe auf die Gleise zu und bleibe ein paar Schritte vor ihnen stehen. Der beißende Gestank von Öl steigt mir in die Nase. Wieder gellt die Pfeife …

Uuuiiiiiiiiiii –

Eine riesige Lok schießt um die Kurve und rast an mir vorbei, so groß und so nah, dass mir der Wind wie eine Mauer entgegenschlägt. Sie stößt dicht wallende Rauchwolken aus, ein breites, schwarzes Band, das über die nachfolgenden Wagen zieht. Der Anblick, der Lärm und der Gestank sind ungeheuer. Überwältigt sehe ich ein halbes Dutzend Flachwagen, die offenbar Fuhrkarren geladen haben; allerdings kann ich sie nicht deutlich sehen, weil der Mond hinter einer Wolke verschwunden ist.

Plötzlich erwache ich aus meiner Benommenheit. In diesem Zug sind Menschen. Es ist vollkommen egal, wohin er fährt, denn es geht auf jeden Fall weg von den Kojoten und in Richtung Zivilisation, Essen, möglicherweise Arbeit – vielleicht sogar zurück an die Uni nach Ithaca, obwohl ich keinen lausigen Cent habe und sie keinen Grund, mich wieder aufzunehmen. Und selbst wenn sie es tun, habe ich kein Zuhause, in das ich heimkehren, keine Praxis, in der ich mitarbeiten könnte.