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Grundkurs Philosophie

Band 23

Georg Sans

Philosophische Gotteslehre

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

Mein besonderer Dank gilt der Eugen-Biser-Stiftung sowie Frau Christa Balle, Herrn Prof. Dr. Martin Balle und dem Ehepaar Dr. Ulrich und Hannelore Wechsler, ohne deren großzügige Unterstützung die Arbeit an diesem Lehrbuch nicht möglich gewesen wäre.

Georg Sans SJ

 

 

1. Auflage 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

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ISBN 978-3-17-032561-6

 

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epub: ISBN 978-3-17-032563-0

mobi: ISBN 978-3-17-032564-7

 

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Inhalt

Einleitung

1.  Natürliche Theologie und Philosophie der Religion

2.  Die glaubensgeschichtliche Wende

I.  Lässt sich von der endlichen Wirklichkeit auf Gott ­schließen?

1.  Der unbewegte Beweger

2.  Das notwendige Wesen

3.  Der intelligente Planer

II.  Muss Gott als existierend gedacht werden?

1.  Der Gedanke Gottes

2.  Das vollkommene Wesen

3.  Denken und Sein

III.  Ist Gott jenseits der Welt oder in der Welt?

1.  Endliches und Unendliches

2.  Zeit und Ewigkeit

3.  Die Erschaffung aus nichts

IV.  Wo liegt der Ursprung des Übels?

1.  Allmacht und Güte Gottes

2.  Mögliche Welten

3.  Allwissenheit Gottes und menschliche Freiheit

V.  Ist Gott Person?

1.  Die Andersheit Gottes

2.  Substanz und Subjekt

3.  »Gott ist die Liebe«

Schluss

1.  Religiöse Erfahrung

2.  Wissen und Glauben

Literaturverzeichnis

Personenregister

Stichwortregister

Einleitung

Die Frage nach Gott hat ihren Sitz im Leben in der Religion. Oft ist es die fromme Seele, die wissen möchte, was es mit ihrem Glauben auf sich hat. Oder es ist ein Verächter der Religion, der nach Gründen für seine Ablehnung Gottes sucht. In beiden Fällen stehen nicht irgendein göttliches Wesen, sondern der Gott oder die Götter dieser oder jener Religion zur Diskussion. Das schließt die Beschäftigung mit der Frage nach Gott aus einem rein philosophischen, sozusagen akademischen Interesse nicht aus. Nichts verbietet der Metaphysikerin, im Ausgang von der erfahrbaren Wirklichkeit oder aus begrifflichen Erwägungen auf die Existenz und die Eigenschaften eines Gottes zu schließen. Es könnte sogar sein, dass nur der Gott der Philosophie wirklich existiert, während es sich bei den Göttern der verschiedenen Religionen um unzutreffende Vorstellungen handelt. Aber solange dem philosophischen Begriff von Gott der Bezug auf den religiösen Glauben fehlt, lässt sich nicht reflexiv klären, ob es den Gott einer bestimmten Religion gibt oder nicht. Die Frage des Gläubigen nach seinem Gott bliebe unbeantwortet.

Wenn in den folgenden Kapiteln der Versuch der Grundlegung einer philosophischen Gotteslehre unternommen werden soll, geschieht dies in der Überzeugung, dass sich philosophische Theologie und Religionsphilosophie zwar unterscheiden, aber nicht voneinander trennen lassen. Der Zusammenhang des in der Philosophie gedachten mit dem in der Religion geglaubten Gott darf nicht außer Acht gelassen werden. Ein von religiösen Vorstellungen gänzlich abgelöster philosophischer Gottesbegriff wäre ungefähr so sinnlos wie eine Auffassung von Kunst, der kein konkretes Gemälde und keine reale Skulptur jemals entsprechen. Obwohl hier von Gott aus philosophischer Sicht die Rede sein wird, soll stets mitbedacht werden, inwiefern es sich bei ihm auch um den Gegenstand des religiösen Bewusstseins handeln kann. Ein Gott, von dem nur die Philosophen, nicht aber die Gläubigen etwas wissen, wäre genauso ein Unding wie ein Gott, an den zwar einige Menschen glauben, der sich aber nicht denken lässt.

Der geforderte Zusammenhang der philosophischen Theologie mit dem religiösen Glauben kann freilich nicht dadurch hergestellt werden, dass sich die Philosophie ihren Begriff von Gott einfach durch die Religion vorgeben lässt. Die philosophische Gotteslehre darf sich nicht damit begnügen, die biblische Offenbarung oder die kirchliche Lehre auf ihre innere Konsistenz und sachliche Anschlussfähigkeit zu überprüfen. Eine Gotteslehre verdient das Attribut philosophisch erst dann, wenn sie ihre Kernaussagen nicht nur auf religiöse Tradition oder kirchliche Autorität stützt, sondern auf Vernunftgründe zurückführt. Deshalb beginnt die folgende Darstellung mit der Frage nach der philosophischen Erkennbarkeit Gottes (Kap. I und II). Am Anfang wird lediglich eine Art Vorverständnis davon, was Gott ist und was der Ausdruck ›Gott‹ bedeuten könnte, in Anspruch genommen. Erst im Anschluss an die Erörterung des Verhältnisses Gottes zur Welt (Kap. III und IV) soll auf die Frage nach dem wahren Wesen Gottes eingegangen werden (Kap. V). Doch zuvor wird es nützlich sein, die philosophische Gotteslehre etwas genauer von der Religionsphilosophie abzugrenzen.

 

Literatur: Flint/Rea 2009; Kreiner 2006; Schmidt 2003; Weischedel 1971; Werbick 2007; Zagzebski 2007.

1.  Natürliche Theologie und Philosophie der Religion

Die Zeit ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts wird in der Geschichtswissenschaft als ›Sattelzeit‹ bezeichnet. Wie sich dem Bergwanderer bei der Überquerung eines Sattels eine ganz neue Sicht auftut und die Landschaft, durch die er aufgestiegen ist, hinter dem Pass verschwindet, so wandelt sich in der Sattelzeit die Bedeutung wesentlicher Grundbegriffe. Wohlvertraute Ausdrücke ändern auf einmal ihren Sinn, und neue Begriffe übernehmen die Funktion, in der ungewohnten Umgebung Orientierung zu geben. Eine solche Sattelzeit gibt es nicht nur in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, sondern auch in der Geistes- und Ideengeschichte. Was das Stichwort ›Gott‹ anbelangt, vollzog sich der Übergang von der Vorstellung eines höchsten Wesens und Ursprungs der Welt hin zu einem vom Menschen nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gemachten Idol. Seitdem nagt an der Religion der Zweifel, ob es das, was wir uns unter Gott vorstellen, wirklich gibt, oder ob Gott bloß eine Einbildung und der Glaube gar Betrug ist.

Der große Diagnostiker dieses Wandels ist Friedrich Nietzsche (1844–1900). In seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft, dessen Titel die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeitgenossen parodiert, lässt Nietzsche einen »tollen Menschen« auftreten, der den Tod Gottes verkündet und den die anderen deswegen für verrückt halten: »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!« Das Verschwinden Gottes ist für Nietzsche nicht einfach gleichbedeutend mit dem Feststellen der Tatsache, dass es in Wahrheit nie einen Gott gegeben hat, so wie die Physiker eines Tages zu der Einsicht gelangten, dass kein Äther existiert. Nietzsche beschreibt das »ungeheure Ereignis« vielmehr aus der Perspektive des Menschen, dem Gott in der Vergangenheit als letzter Bezugspunkt gedient hatte und dem dieser Halt nun genommen wurde: »Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« (Nietzsche [1882] 1980, 481)

Der Religionsphilosoph und Theologe Eugen Biser (1918–2014) bringt Nietzsches Aphorismus vom tollen Menschen mit einer Passage aus Heinrich Heines Essay Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland in Verbindung (vgl. Biser 1971, 56–58). Dort schildert Heine den Eindruck, den die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft bei ihm hinterließ. Als er Kants Polemik gegen die Beweise vom Dasein Gottes las, berichtet Heine, habe sie ihn an einen Besuch in der Londoner Anstalt für Geisteskranke, dem Hospital ›New Bedlam‹ erinnert. Damals verlor er seinen Begleiter aus den Augen und fand sich plötzlich allein, »umgeben von lauter Wahnsinnigen« (Heine [1835] 1976, 206). Ein vergleichbares Gefühl von Beklemmung überkomme ihn jedes Mal, wenn jemand die Existenz Gottes bezweifle. Wenige Seiten später beschreibt Heine die Tat Kants als einen regelrechten Amoklauf: »Er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blut« (Heine [1835] 1976, 211–212). Was war geschehen?

Bis zum 18. Jahrhundert stellte die Gotteslehre einen integralen Bestandteil der Metaphysik dar. Diese Zuordnung der Themenbereiche geht zurück bis auf Aristoteles (384–322 v. Chr.). Der Philosoph gab sich nicht mit der Darstellung der Ordnung der sichtbaren Natur zufrieden, sondern fragte weiter nach dem ersten Prinzip alles dessen, was sich bewegt und verändert. Das metaphysisch Erste fand Aristoteles in einem unbewegten Beweger, den er wiederum als reines Denken seiner selbst beschrieb (vgl. Kap. I.1). Folgerichtig spricht er von der Metaphysik als einer »theologischen« Philosophie (Aristoteles, Metaphysik E 1, 1026a19; übers. Seidl 1, 253). Martin Heidegger (1889–1976) kennzeichnet die aristotelische Metaphysik als »Onto-Theo-Logie«, weil sie die Frage nach »dem Seienden als solchem und im Ganzen« mit der Frage nach dessen »hervorbringendem Grund« vermenge (Heidegger [1957] 2006, 63). Heidegger selbst bleibt der Ontotheologie gegenüber kritisch eingestellt, um die philosophische Seinslehre nicht mit der Gottesfrage zu belasten.

Nach der Begegnung der griechischen Philosophie mit dem Christentum musste das Verhältnis der vernünftigen Erkenntnis Gottes zu seiner Offenbarung in den heiligen Schriften bestimmt werden. Seit dem Mittelalter unterschied man zwischen dem Wissen von Gott, das der Mensch durch eigenes Nachdenken erlangen kann, und dem, was Gott dem Menschen aus freien Stücken von sich mitteilt. In der Neuzeit wurde das erste ›natürliche Theologie‹ genannt, weil es im Gegensatz zu dem zweiten keinen übernatürlichen Beistand der Gnade Gottes voraussetzt. Die natürliche Gotteserkenntnis war die Aufgabe der Philosophen, während die Ausdeutung der biblischen Offenbarung den Theologen zufiel. Seitdem besitzt das Wort ›Theologie‹ zwei Bedeutungen, je nachdem, ob von dem Gott der Philosophie oder der Offenbarungsreligion die Rede ist. Ich gebrauche den Ausdruck häufig im doppelten Sinn und differenziere nur an den Stellen, wo Missverständnisse drohen.

Die Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Theologie wurde von den Kirchen nicht nur anerkannt, sondern auf katholischer Seite sogar zum Dogma erhoben. Im Jahr 1870 lehrte das Erste Vatikanische Konzil, »dass Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann« (Denzinger/Hünermann 1997, 945). Die Festlegung erfolgt knapp einhundert Jahre, nachdem sich Immanuel Kant (1724–1804) in treuer Erfüllung seiner Pflichten als Professor für Metaphysik die philosophische Gotteslehre seiner Vorgänger vorgenommen und gezeigt hatte, dass alle ihre Versuche, das Dasein Gottes aus bloßer Vernunft zu beweisen, von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Doch entgegen dem, was bei Heine und anderswo über Kant zu lesen steht, verbannte er Gott keineswegs aus seiner Philosophie. Die kantische Kritik richtete sich zunächst gegen die rationale Theologie als Teildisziplin der Metaphysik seiner Zeit.

Ganz gleich, ob man Kants Ablehnung der Gottesbeweise für zutreffend hält oder nicht, darf nicht der Eindruck entstehen, es gebe bei ihm keine philosophische Gotteslehre. Was sich wandelt, ist die Stellung der Disziplin. Kant kritisiert den Anspruch der theoretischen Vernunft, ein sicheres Wissen von Gott zu erwerben, um seinerseits einen auf die praktische Vernunft gestützten philosophischen Glauben einzuführen. Gott ist für Kant ein Gegenstand nicht des theoretischen Erkennens, sondern des praktischen Glaubens. Eine bloß spekulative Beschäftigung mit der Gottesfrage beurteilt Kant wegen ihres negativen Ausgangs als nutzlos. In ihrer bisherigen Form dient die natürliche Theologie lediglich zur Vorbereitung der Einsicht, dass der sittlich handelnde Mensch nicht ohne die Annahme der Existenz Gottes auskommt. Denn nur, wenn ein vollkommener Wille den Lauf der Welt bestimmt, besteht Grund zu der Hoffnung, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Insofern die Erwägungen Kants nicht theoretischer, sondern praktischer Art sind, rückt die Gotteslehre näher zur Moral. Die Hoffnung auf Gott erwächst aus der sittlichen Pflicht, das Gute zu bewirken. Damit wird Kant zum Begründer einer rein philosophischen Religionslehre. Die biblische Offenbarung bestätigt nur noch den philosophischen Glauben, fügt ihm aber nichts Wesentliches mehr hinzu. Gotteslehre und Religionsphilosophie bilden für Kant eine unauflösliche Einheit.

Als indirekte Auswirkung der kantischen Vernunftkritik kam die natürliche Theologie derart in Verruf, dass Gott als Thema der Philosophie allmählich von der Religion verdrängt wurde. Für diese Entwicklung mitverantwortlich ist gewiss Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion die Frage nach Gott mit einer langen Abhandlung über die konkreten Gestalten des religiösen Glaubens verband. Doch ebenso wenig wie von Kant lässt sich über Hegel sagen, er habe die Existenz Gottes geleugnet und sich daher auf die Untersuchung der Religion als psychologisches, soziales oder kulturelles Phänomen verlegt. Insbesondere lag weder Kant noch Hegel an einer Subjektivierung der Religion in dem Sinn, dass sie Gott lediglich als ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft angesehen hätten. Andererseits waren beide überzeugt, dass die Gotteslehre letzten Endes auf Begriffe wie Geist und Vernunft angewiesen ist, auf Bestimmungen also, die außer Gott auch das menschliche Subjekt auszeichnen.

Daraus ergeben sich zwei eng miteinander verwandte Gründe, warum die philosophische Theologie nicht von der Religionsphilosophie getrennt werden darf. Erstens handelt es sich bei der Religion um die Weise, wie wir Menschen gegebenenfalls mit Gott in Beziehung treten. Die vertrackte Frage, ob es Gott auch gäbe, wenn niemand an ihn glaubte, ähnelt der Frage, ob der Himmel blau sein könnte, ohne dass jemand da ist, der Farben sieht. In Bezug auf die blaue Farbe des Himmels lautet die Antwort, dass sie zumindest so beschrieben werden muss, dass Wesen wie wir den Himmel als blau wahrnehmen könnten. Entsprechend muss Gott so gedacht werden, dass Klarheit über den epistemischen Zugang besteht, den Menschen, die an ihn glauben, zu ihm haben können. Der zweite Grund für die Zusammengehörigkeit von philosophischer Gotteslehre und Religionsphilosophie liegt in der Einsicht, dass zur Kennzeichnung des Wesens Gottes gewisse Merkmale erforderlich sind, von denen der Mensch einige auch sich selbst und seinesgleichen zuschreibt. In der Religion dienen solche aus der menschlichen Erfahrung gewonnenen Bestimmungen, allen voran der Begriff der Liebe, zur Darstellung des Verhältnisses der Gläubigen zu Gott (vgl. Kap. V.3).

 

Literatur: De Nys 2009a; Depoortere 2008; Kutschera 1990; Schaeffler 1983; Taliaferro 2005.

2.  Die glaubensgeschichtliche Wende

Einwände gegen die natürliche Theologie wurden nicht nur von Philosophen im Namen der Vernunft erhoben, sondern auch von Gläubigen im Namen Gottes. Den paradigmatischen Fall bildet Martin Luther (1483–1546), der die Reichweite der natürlichen Erkenntnis Gottes stark eingrenzte. Nicht schon derjenige sei wert, »ein Theologe zu heißen, der Gottes unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt«, sondern erst der, »der Gottes sichtbares und [den Menschen] zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt und erkennt« (Luther [1518] 1983, 388). Luther setzt allein auf den Glauben des Christen an den menschgewordenen Sohn Gottes. Da dieser, mehr noch als durch seine Geburt, durch seinen Tod zum Urheber des Heils geworden sei, nennt Luther seine Gotteslehre eine ›Theologie des Kreuzes‹. Der Mensch erkennt Gott nicht aus eigener Kraft, sondern muss ihn sich durch die christliche Offenbarung erschließen lassen.

Führt diese einseitige Betonung von göttlicher Gnade und Offenbarung nicht zu einer Geringschätzung der Anstrengungen und Fähigkeiten des Menschen? Seit jeher drückt sich die menschliche Produktivität in vielfältigen religiösen Vorstellungen und Praktiken aus. Der evangelische Theologe Karl Barth (1886–1968) knüpft an Luther an und kritisiert das Interesse des 19. Jahrhunderts an der Religion vom Standpunkt des Offenbarungsglaubens. Durch heilige Handlungen versuchten die Menschen, »sich vor einem eigensinnig und eigenmächtig entworfenen Bild Gottes selber zu rechtfertigen« (Barth 1938, 304). Deshalb sei Religion mit Unglaube gleichzusetzen und eine »Angelegenheit des gottlosen Menschen« (Barth 1938, 327). Indem Barth die Religion als ein Machwerk des Menschen ablehnt, stellt er den christlichen Glauben als souveräne Tat Gottes heraus, dem kein Geschöpf vorgreifen kann. Dabei unterschlägt Barth, dass auch der Offenbarungsglaube einsichtiger Kriterien bedarf, um den wahren Gott der biblischen Botschaft von einem Götzen zu unterscheiden. Gerade die Auffassung, der Gott des Alten und des Neuen Testaments sei nicht ebenfalls etwas von Menschen Gemachtes, mag einem Andersgläubigen als Idolatrie erscheinen.

Angesichts dessen brauchen Gläubige wie Ungläubige einen Maßstab, um zu beurteilen, von welchen Vorstellungen und Begriffen sich zu Recht der Anspruch erheben lässt, dass in ihnen Gott gedacht wird, und von welchen nicht. Diesem Zweck dient ein von religiösen Vorgaben unabhängiger metaphysischer Gottesgedanke. Die Aufgabe der Philosophie bestünde demnach in der »Formulierung von Kriterien für die Auslegung des Gottesverständnisses der religiösen Tradition« (Pannenberg 1988, 33). Die Notwendigkeit einer rationalen Verständigung über den Gedanken Gottes sollte jedenfalls davon abhalten, den religiösen Glauben gegen die philosophische Reflexion oder die Religion gegen den Glauben auszuspielen.

Außerdem darf der lebhafte Aufschwung nicht vergessen werden, den die Beschäftigung mit der existentiellen Dimension des religiösen Glaubens seit dem 19. Jahrhundert genommen hat. Nicht nur die Kritiker der Religion entdeckten auf einmal die anthropologischen Grundlagen des Glaubens an Gott. Angeregt durch Denker wie Søren Kierkegaard (1813–1855) und John Henry Newman (1801–1890) befassten sich auch die Verteidiger des Christentums mit der subjektiven Erfahrung des Glaubens und deuteten die Annahme religiöser Überzeugungen als lebendigen Vollzug des einzelnen Menschen. Im 20. Jahrhunderts prägte Eugen Biser das Schlagwort von einer ›glaubensgeschichtlichen Wende‹. Er bezieht sich damit auf die tiefgreifende Veränderung des Verständnisses der Religion, weg von einem Wissens-, Satz- und Gehorsamsglauben, hin zu einem Erfahrungs-, Vertrauens- und Verstehensglauben (vgl. Biser 1986, 171–199).

Im Hinblick auf das Erfahrungsmoment erinnert Biser an Romano Guardini (1885–1968), seinen Vorgänger auf dem Münchner Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie: »Was die religiöse Erfahrung als das Eigentliche, Ganz-Erfüllende, Endgültige und Heil-Gebende auffasst, ist das gleiche wie jenes, was das Denken als die erste Ursache, das in sich selbst Gründende und alles Übrige Begründende – mit einem Wort, als das Absolute versteht« (Guardini 1958, 157). Dass der religiöse Glaube weniger im Fürwahrhalten von Sätzen als im Vertrauen auf eine Person besteht, schärft unter anderem der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) ein. In ausdrücklicher Absetzung vom neutestamentlichen Gebrauch des griechischen Ausdrucks pistis, der mit einer Bekehrung verbunden sei, beschreibt Buber das bleibende Vertrauen Israels auf seinen Gott, dessen Führung das Volk einst in der Wüste erfahren hatte (vgl. Buber 1950).

Zur Erfahrung und zum Vertrauen tritt schließlich das Verstehen. Biser verweist auf die Verdienste Hans-Georg Gadamers (1900–2002) um die philosophische Hermeneutik. Ausgehend von der Einsicht, dass die Erkenntnis niemals beim Nullpunkt beginnt, sondern immer schon auf gewisse ›Vorurteile‹ gründet, plädiert Gadamer für die »Rehabilitierung von Autorität und Tradition« (Gadamer [1960] 1990, 260). Deren Anerkennung geschehe nicht in einem Akt der Unterwerfung, sondern sei »mit dem Gedanken verbunden, dass das, was die Autorität sagt, nicht unvernünftige Willkür ist, sondern im Prinzip eingesehen werden kann« (Gadamer [1960] 1990, 285). Auf den religiösen Glauben angewandt, liegt darin die Ermutigung des Menschen, »von der ihm zugesprochenen hermeneutischen Kompetenz Gebrauch zu machen und in immer neuen Anläufen verstehend in das ihm zugesprochene Gottesgeheimnis einzudringen« (Biser 1986, 197).

Wie sich aus dem bisher Gesagten ergibt, darf die philosophische Gotteslehre die subjektive Seite des religiösen Glaubens nicht außer Acht lassen. Kehren wir deshalb noch einmal zurück zu Hegel. Er lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Religionsphilosophie eine Angelegenheit des begrifflichen Denkens ist. Ebenso klar ist für Hegel aber auch, dass sich der religiöse Glaube nicht auf das begriffliche Denken reduzieren lässt. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion definiert er Religion als »die Beziehung des Subjekts, des subjektiven Bewusstseins auf Gott« (Hegel 1983–85, 1, 86), um dann die Formen aufzuzählen, die das religiöse Bewusstsein annehmen kann. Einem verbreiteten Vorurteil zum Trotz nennt Hegel neben dem begrifflichen Denken auch das Gefühl und die Vorstellung. Keines dieser Momente macht für sich genommen die Religion aus. Gott ist nicht bloß etwas vom Menschen Gedachtes, sondern er zeigt sich im Gefühl und in der Vorstellung. Dabei dürfen Vorstellung und Gefühl ihrerseits nicht als etwas bloß Theoretisches angesehen werden. In der Religion sind beide aufs engste mit der Praxis des Kultus verbunden, das heißt mit Gebet und mit gottesdienstlichen Ritualen.

Unter dem Gefühl versteht Hegel den Gemütszustand, in dem jeder Einzelne sich befindet. Im religiösen Gefühl erlebt sich der Mensch als unmittelbar eins mit Gott. Das Gefühl liegt der Trennung zwischen dem erkennenden Subjekt und seinem Gegenstand voraus. Wer etwas fühlt, ist vielfach außerstande, genau anzugeben und zu beschreiben, was es ist. Das ändert sich Hegel zufolge erst, wenn zu dem Gefühl eine Vorstellung tritt. »Die Vorstellung betrifft die objektive Seite des Inhalts, das Gefühl die Weise, wie der Inhalt in unserer Partikularität, der Partikularität des Bewusstseins ist« (Hegel 1983–85, 1, 297). Zu den religiösen Vorstellungen zählt Hegel alle Arten von Bildern, Symbolen und Metaphern. Die Vorstellung verknüpft einen Gegenstand oder ein Geschehen aus unserer sinnlichen Erfahrung mit einem geistigen Gehalt. Wer beispielsweise an die Erschaffung der Welt glaubt, stellt sich Gott zumeist nach dem Muster eines Künstlers oder Konstrukteurs vor. Im religiösen Glauben gehen Vorstellung und Gefühl eine Einheit mit dem Begriff ein. Zur Religion genügt weder das innere Gefühl unmittelbarer Gewissheit noch die Bezugnahme auf irgendwelche äußere Begebenheiten. Um Gott oder das Absolute zu erfassen, braucht es außerdem Begriffe.

Die Aufgabe der Philosophie besteht in der Verständigung über die Grundbegriffe der Religion. Hegel nennt als Ziel seiner Vorlesungen die »Erhebung des Menschen zu Gott« (Hegel 1983–85, 1, 308). Damit deutet er an, dass der Gedanke Gottes nicht nur unsere Gefühle und Vorstellungen übersteigt, sondern auch die gewöhnliche Ansicht von dem, was Begriffe leisten. Angesichts dessen kann man fragen, ob Hegels Philosophie der Religion selbst eine Art philosophischer Theologie darstellt (vgl. Sans 2016). Jedenfalls eignet sie sich – zusammen mit der Philosophie Kants – als Bezugspunkt für eine sachgemäße Gotteslehre, weil beide Denker, um die Metapher von der Sattelzeit wieder aufzugreifen, gleichsam auf der Passhöhe stehen. Anders als manche ihrer Nachfahren haben sie den Anspruch auf eine philosophische Bestimmung des Begriffs Gottes noch nicht zugunsten einer Untersuchung bloß der Religion aufgegeben. Trotzdem sehen beide in der Religion bereits ein unverzichtbares Element für die philosophische Gotteslehre.

Die folgenden Kapitel wollen einen Beitrag zur Verständigung über den Begriff Gottes leisten, der das Phänomen der Religion weder einfach außer Acht lässt, noch ein bestimmtes Glaubensbekenntnis bereits voraussetzt. Dennoch ist die Darstellung, was die Auswahl der Fragen und Themen betrifft, aus christlicher Perspektive verfasst. Der Grund dafür liegt im persönlichen Standpunkt und den begrenzten Kenntnissen des Autors. Welche Gestalt die philosophische Gotteslehre annimmt, wenn sie aus einer anderen religiösen Tradition stammt, muss den Versuchen anderer überlassen bleiben (vgl. Frank 2009; Leaman 2009).

Der Gedankengang beginnt mit der Frage nach der Erkennbarkeit der Existenz Gottes. Den Anlass zu dieser Frage geben herkömmlicherweise zwei Punkte. Das eine ist die Reflexion auf die Welt oder die Wirklichkeit im Ganzen. In verschiedenen Spielarten schließt diese kosmologische Überlegung auf Gott als den ordnenden Grund aller Dinge (Kap. I). Der andere Ausgangspunkt ist der Gottesgedanke selbst. Versucht man Gott als dasjenige zu begreifen, gemessen an dem nichts Größeres gedacht werden kann, so lautet ein gängiges Argument, lässt sich von Gott einsehen, dass er mit Notwendigkeit existiert (Kap. II). Mit der Annahme der Existenz eines letzten Grundes oder eines vollkommenen Wesens bleibt allerdings unbestimmt, welche weiteren Eigenschaften ein solcher ›Gott‹ besitzt. Um die für eine Klärung erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, muss das Verhältnis Gottes zur Welt erwogen werden.

Der Philosoph gerät in Schwierigkeiten, sobald er Gott entweder als in der Welt ganz enthalten oder als schlechterdings außerhalb der Welt stehend auffasst. Die Schwierigkeiten lassen sich durch einen angemessenen Begriff des Unendlichen vermeiden. Er verhilft zur Klärung des Verhältnisses zwischen Zeit und Ewigkeit sowie zur Bestimmung der Art, wie alles Endliche von Gott als dem Unendlichen abhängt (Kap. III). Der Gedanke der vollständigen Abhängigkeit wirft freilich das Problem der Unvollkommenheit der Welt auf. Wenn alles Geschaffene von Gott abhängt, erscheint Gott als der Ursprung alles Übels. Das Problem verschärft sich noch einmal angesichts des durch den Menschen begangenen Bösen. Ist Gott der letzte Grund von allem, wie kann der Mensch dann frei handeln oder für sein Tun verantwortlich gemacht werden? Wenn hingegen der Mensch sich unabhängig vom Willen Gottes selbst bestimmen kann, sind der Allmacht Gottes Grenzen gesetzt (Kap. IV).

Die Übel in der Welt und die Unbegreiflichkeit der Pläne und Absichten Gottes werden häufig als Einwand gegen den religiösen Glauben vorgebracht. Diesem Bedenken muss die Bestimmung des Wesens Gottes standhalten. Das verlangt, den Grad auszuloten, in dem gesagt werden kann, dass Gott das alle menschlichen Kategorien sprengende Andere ist. Weil jedoch eine ins Extrem gesteigerte negative Theologie dem Unglauben zum Verwechseln ähnlich sieht, soll schließlich ein personales Gottesverständnis entwickelt werden. Dabei wird Gott in sich selbst als Beziehung zum Anderen gedacht. Im Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen erscheint die gleiche Liebe, mit der die göttlichen Personen einander zugetan sind (Kap. V).

Zur Erleichterung des Überblicks ist jedes Kapitel mit einer Frage überschrieben, die in drei Schritten einer Antwort nähergebracht wird. Die Leserin soll die Meinung des Verfassers am Ende nicht unbedingt übernehmen, sondern einen Einblick in die Problemlage erhalten, der sie befähigt, selbst zu einer begründeten Überzeugung zu gelangen. Damit die Einbettung des Gedankengangs in die Geschichte der philosophischen Theologie und Religionsphilosophie klarer hervortritt, ist jedem Kapitel ein kurzer Primärtext vorangestellt, der den Leitgedanken in klassischer Form zum Ausdruck bringt. Bei der Auswahl habe ich mich bemüht, der philosophischen Tradition in ihrer Vielfalt und Breite Rechnung zu tragen und möglichst verschiedene Epochen und Strömungen zu Wort kommen zu lassen. Möge sich auf die Weise bestätigen, dass philosophische Überzeugungen in einem Personen und Zeiten übergreifenden Dialog reifen.

 

Literatur: Cottingham 2014; Deuser 2009; Splett 1973; Wendel 2010.