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Westend Verlag

Ebook Edition

Noam Chomsky
im Gespräch mit Emran Feroz

Kampf oder Untergang!

Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen

Westend Verlag

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-725-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Einleitung
1 Tucson, Arizona
2 Imperialismus, Krieg und Fluchtursachen
3 Donald Trump und die »freie Welt«
4 Gott, Religion und der Staat
5 Optimismus in der Dystopie
6 Wie wir die Herren der Menschheit das Fürchten lehren
Warum Optimismus angebracht ist
Wie der Wandel zu schaffen ist

* Siehe auch Robert Pollin: »Misleading Unemployment Numbers and the Neoliberal Ruse of «Labor Flexibility«, truthout.org, 19.9.2018

** Gemeint ist hier die in Texas ansässige PR-Agentur Harris Media; einige deutsche Medien wie die Süddeutsche Zeitung berichteten darüber: https://www.sueddeutsche.de/politik/gezielte-grenzverletzungen-so-aggressiv-macht-die-afd-wahlkampf-auf-facebook-1.3664785

Einleitung

Im Zeitalter der Renaissance gab es den »uomo universale« – Universalgelehrte, die verschiedene Gebiete gemeistert hatten und als Experten in Kunst, Wissenschaft und zahlreichen anderen Bereichen betrachtet wurden. Leonardo da Vinci war einer von ihnen, für manche Menschen sogar einer der letzten. Derartige Denker waren nicht nur im Okzident, sondern auch im Orient zugegen. Philosophen, Mathematiker, Ärzte, Dichter und Theologen waren unter ihnen. Derartige Alleskönner, deren Persönlichkeit in breiten Kreisen hohes Ansehen und Gewicht hat, sind in unserem gegenwärtigen, postmodernen Zeitalter kaum noch auffindbar. Man hat den Eindruck, dass die Menschen verdummen und sich immer weiter dem Abgrund nähern, während sie im Dunst der Globalisierung und des Kapitalismus ihren selbstzerstörerischen Tätigkeiten nachgehen. Ein Mensch, der sich alldem seit Jahrzehnten widersetzt, ist Noam Chomsky. Für viele Menschen steht außer Frage, dass Chomsky zu den bedeutendsten Intellektuellen der Welt, ja womöglich sogar der modernen Menschheitsgeschichte gehört. Sollte es in unserer Welt noch im Ansatz irgendwelche Personen geben, die man mit dem »uomo universale« der Renaissance in Verbindungen bringen kann, dann gehört Chomsky ohne jeglichen Zweifel dazu. Bereits in jungen Jahren revolutionierte er die Linguistik mit seinen Theorien, etwa mit der sogenannten Chomsky-Hierarchie, die formale Grammatiken und Sprachen klassifiziert und einordnet. Chomskys wissenschaftliche Arbeit spielt sowohl in der Mathematik als auch in der Informatik bis heute eine wichtige Rolle. Die mathematische Formalisierung von Sprachen gehörte unter anderem auch zu den Grundlagen der Computerlinguistik und maschineller Sprachübersetzung.

Es war auch die Sprachwissenschaft, die Chomsky zu seinem nächsten wichtigen Anliegen führte: dem politischen Geschehen. Als Linguist, Publizist, Aktivist und Philosoph veröffentlichte Chomsky zeit seines Lebens mehr als einhundert Bücher. Bedeutend sind in dieser Hinsicht insbesondere seine medientheoretischen Arbeiten, wie etwa Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media, in der er zusammen mit dem amerikanischen Medienanalysten Edward S. Hermann seine Theorie zum Propagandamodell darlegt. In dem Buch, das mittlerweile als Standardwerk gilt, belegen Chomsky und Hermann die umfassende Manipulation der amerikanischen Medien durch verschiedene politische und wirtschaftliche Interessengruppen. Was Chomsky sagt, das gilt und hat Gewicht – selbst in konservativen oder neoliberalen Kreisen, die ansonsten nicht viel von Menschen seines Schlages halten. Doch so traurig und womöglich auch makaber es klingen mag: Menschen wie Noam Chomsky gehören im 21. Jahrhundert zu einer aussterbenden Art. Viele intellektuelle Mitdenker und Gefährten Chomskys sind bereits gestorben, wie etwa der kritische US-Historiker Howard Zinn, der pakistanische Intellektuelle Eqbal Ahmad oder der palästinensische Literaturkritiker Edward Said. Die Arbeit und das politische Engagement dieser und vieler anderer Menschen werden von Chomsky allerdings nicht nur fortgeführt, sondern auch vereint. Der ehemalige MIT-Professor ist das Paradebeispiel eines Intellektuellen, der sich gegen das vorherrschende System stellt und dieses radikal infrage stellt. Da wundert es nicht, dass Chomsky im Laufe seines Lebens immer wieder heftig kritisiert wurde. Für einige gilt er nicht nur als »Anti-Amerikaner«, sondern aufgrund seines jüdischen Hintergrunds und seiner scharfen Kritik an Israels Politik als »selbsthassender Jude«. Doch Chomsky scheut den rhetorischen Schlagabtausch nicht und scheint stets die passende Antwort parat zu haben. In den meisten Fällen verblüfft er damit nicht nur seine Kontrahenten, sondern entzieht ihrer Argumentation die Grundlage. Gleichzeitig bleibt Chomsky dabei seiner Rolle als Intellektueller treu und ist sich auch der Verantwortung bewusst, die er damit trägt. Mehrere Generationen wurden von Chomskys Einfluss geprägt. Als ich damit begann, Chomskys Werke zu lesen, galt dieser bereits als ein Koloss, ja fast schon als eine Legende. Besonders auffallend ist allerdings Chomsky Unnachgiebigkeit. Er steht zu seinen Thesen, zu dem, was er sagt, und wird nicht müde, seine Gedanken immer wieder aufs Neue darzulegen. Wer Chomsky kennt, weiß oftmals im Voraus, was er zu dieser und jener Thematik zu sagen hat – und doch will man ihn abermals zuhören und lesen, denn er fasziniert sein Publikum wie kein Zweiter.

Immer wieder warnt Chomsky, dass sich die Menschheit derzeit in der bedrohlichsten Phase ihrer Geschichte befindet. Die massive Ungleichheit und Armut, der Klimawandel und der stets mögliche Nuklearkrieg haben die totale Selbstzerstörung menschlichen Lebens erstmals zu einer realen Gefahr werden lassen. Nur wenn die Probleme unserer Zeit richtig erkannt und gelöst werden, können wir den Sturz über die Klippe noch abwenden. Gewaltige Aufgaben, welche die Weltgemeinschaft nur gemeinsam lösen kann. Dennoch gibt es sehr wohl einige Staaten, denen eine besondere Rolle zufällt. Denn auch im gegenwärtigen internationalen Staatensystem gibt es einige, die im Orwell’schen Sinn wortwörtlich »gleicher« sind als andere. Dies betrifft in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika, dem größten Imperium der Geschichte. Noam Chomsky übt immer wieder scharfe Kritik an der Politik seines Heimatlandes, gerade weil er sich als US-amerikanischer Intellektueller in besonderem Maße für das Handeln seines Staates und dessen Regierung verantwortlich fühlt. Doch trotz seiner zahlreichen düsteren Prognosen ist Noam Chomsky ein überaus optimistischer Mensch geblieben, mit einem tiefen Glauben an das Gute im Menschen und an die Fähigkeit der Menschheit, ihre selbst geschaffenen Probleme auch selbst zu lösen.

Das vorliegende Buch besteht aus mehreren Interviews, die ich mit Noam Chomsky führten durfte. Es macht die Ansichten eines Mannes deutlich, der die Probleme unserer Welt deutlich erkennt und beschreibt. Noam Chomsky hat fast ein ganzes Jahrhundert erlebt, und seine Beobachtungen machen dies oftmals auch deutlich. Gerade in einer Welt im gegenwärtigen Zustand werden jene Menschen dringend gebraucht, die mit ihrem Denken und ihren Worten den Wandel anstoßen können.

2 Imperialismus, Krieg und Fluchtursachen

Viele wissen, dass Noam Chomsky zu den lautesten Kritikern des US-amerikanischen Imperialismus gehört. Seit mehreren Jahrzehnten macht Chomsky auf die außenpolitischen Aggressionen seiner Regierung aufmerksam und protestiert vehement dagegen. In den 1960er-Jahren protestierte der junge Chomsky gemeinsam mit zahlreichen anderen Aktivisten und Intellektuellen entschlossen gegen die Verbrechen in Vietnam. Selbiges geschah in den darauffolgenden Jahren, als Washington mehrere südamerikanische Staaten ins Chaos stürzte. In den Wirren des Kalten Krieges wurden dabei vor allem linksgerichtete, demokratische Regierungen in Chile und anderswo eliminiert, während rechten Hardlinern, die innerhalb kürzester Zeit brutale Diktaturen errichteten, an die Macht verholfen wurde. Die Auswirkungen der damaligen Politik zeigen sich in den Vereinigten Staaten bis heute. Weiterhin verlassen Menschen den südamerikanischen Kontinent und ziehen gen Norden, ins »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Dort werden sie allerdings von Mauern, Zäunen und brutalen Grenzwachen aufgehalten. Jene, die Nordamerika dennoch erreichen, leben oftmals in der Illegalität. Ihre Flucht nimmt praktisch kein Ende, denn sie fliehen weiterhin – vor einer möglichen Abschiebung. Chomsky ergreift nicht nur Partei für diese Menschen, sondern erinnert stets an den Gesamtkontext. Es liegt nämlich auf der Hand, dass die Menschen weiterhin vor den Auswirkungen der Politik Washingtons in ihren Heimatländern fliehen. Ähnlich verhält es sich auch in anderen Regionen der Welt, etwa im Nahen Osten oder in Afghanistan. Als Chomsky sich gegen die Af­ghanistan-Invasion der USA aussprach und daraufhin von Aktivisten in Pakistan zu Vorträgen eingeladen wurde, verwehrte ihm die mit Washington verbündete Regierung in Islamabad ein Einreisevisum. Ähnlich verhielt es sich mit dem illegalen Krieg in Irak, den Chomsky als eines der größten Verbrechen des 21. Jahrhunderts betrachtet. Ein besonderer Ruf eilt Chomsky allerdings aufgrund seiner Kritik an Israel voraus. In der westlichen Welt gibt es nur wenige Menschen, die sich derart lautstark für die Rechte der Palästinenser einsetzten wie er. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln pflegt Noam Chomsky ein ambivalentes Verhältnis zum israelischen Staat. Dieser führe auf palästinensischem Boden nicht nur eine kolonialistische Siedlungspolitik fort, sondern sieht sich auch im Recht, in regelmäßigen Abständen Palästinenser zu ermorden, während die von den USA geführte internationale Staatengemeinschaft meist damit beschäftigt sei, irgendwelche »Schurkenstaaten« zu verteufeln. Angesichts der aktuellen politischen Lage in Israel verwundert es kaum, dass Chomsky zuletzt die Einreise verweigert wurde, als er einen Vortrag im Westjordanland halten wollte. In unserem modernen Zeitalter übernimmt Chomsky dadurch mehr oder weniger die Rolle jener unerwünschten israelitischen Propheten, die einst verjagt und verteufelt wurden. In gewissen Kreisen wird er oftmals auch als »selbsthassender Jude« bezeichnet. Zum Schweigen konnte ihn dadurch allerdings niemand bringen. In gewohnter Manier steht Chomsky weiterhin gegen das »Imperium« auf und beschreibt kühl und gelassen jene Realitäten, die von vielen anderen politischen Beobachtern oftmals bewusst ignoriert werden.

Feroz: Die USA sind nicht nur das größte Imperium der Gegenwart, sondern auch der Menschheitsgeschichte im Allgemeinen. Doch die Geschichte hat uns auch gelehrt, dass jedes Reich letztendlich fallen wird. Werden wir den Fall des US-amerikanischen Imperiums in naher Zukunft erleben?

Chomsky: Aus der Tatsache, dass alle vergangenen Reiche gefallen sind, können wir nicht ableiten, dass dies auch mit dem nächsten Reich auf der Liste geschehen wird. Wenn man jedoch die globalen Umstände betrachtet, wäre es vernünftig und nachvollziehbar, daraus abzuleiten, dass dies auch mit eben­jenem Reich geschehen wird. Wir sollten dabei allerdings eine viel dringendere Frage nicht übersehen: Wird der Niedergang dieses Reiches, also des US-amerikanischen Imperiums, auch mit der Vernichtung jedweden organisierten menschlichen Lebens zusammenfallen? Die Antwort darauf ist nicht einfach. Selbst wenn das nukleare Monster sich in irgendeiner Art und Weise zähmen ließe, wäre der Anstieg des Meeresspiegels um einige Meter bis zum Ende des Jahrhunderts eine unvorstellbare Katastrophe.

Dabei sollten wir eine weitere Tatsache, die von historischer Bedeutung ist, nicht übersehen: Das Rennen um eine unbeschreibliche Katastrophe wird durch die Politik des mächtigsten Staates der Weltgeschichte beschleunigt. Die gegenwärtige US-Administration weigert sich nicht nur, sich der Krise zu stellen. Nein, sie will die Gefahr sogar bewusst eskalieren lassen. Es besteht in diesem Kontext auch kein Zweifel daran, dass die Verantwortlichen sich dessen bewusst sind, was sie tun. Trumps Sorgen – und das macht er sehr deutlich – sind nicht etwa die schlimmen Folgen der drohenden Erderwärmung, sondern die Errichtung einer hohen Mauer um seinen persönlichen Golfplatz, um diesen vor dem Anstieg des Meeres­spiegels zu schützen. Es ist schwer, für diesen Irrsinn die passenden Worte zu finden.

Feroz: Eine historische Tatsache, die weiterhin in den Hintergrund gedrängt wird, ist, dass der Aufbau der Vereinigten Staaten auf Sklaverei und Genozid beruht. Während man, zumindest in Europa, den Eindruck gewinnt, dass über Ersteres in vielen amerikanischen Schulen gelehrt wird, scheint der Genozid an der indigenen Bevölkerung des Kontinents weiterhin kein Thema zu sein. Was ist die politische Intention dahinter? In Deutschland und Österreich wird der Holocaust in Schulen sehr detailliert aufgearbeitet. Ohne den Holocaust, der historisch singulär ist, mit den Genoziden in Nordamerika vergleichen zu wollen, stellt man sich die Frage, warum eine ähnliche Aufarbeitung in US-Schulen nicht stattfindet.

Chomsky: Deutschland und Österreich wurden im Krieg geschlagen. Konstanter Sieg, wie ihn die Vereinigten Staaten kennen, schadet der eigenen Moral. Ich teile allerdings nicht die Meinung, dass die Geschichte der Sklaverei tatsächlich weitläufig bekannt ist. Vielmehr wird sie lediglich oberflächlich vermittelt. Nur wenige Menschen sind sich der einzigartigen und abscheulichen Form der amerikanischen Sklaverei bewusst. Selbiges gilt auch für die Tatsache, dass die Sklaverei als Grundlage für den Reichtum und die Entwicklung der USA und insbesondere Englands (in Form von Produktion, Finanzen, Handel, Einzelhandel) diente. Eine wirkliche Befreiung fand damals übrigens auch nicht statt. Nach einem Jahrzehnt der Freiheit wurde die Sklaverei unter einem anderen Label wiederhergestellt. Dies setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort und leistete einen wichtigen Beitrag für die US-amerikanische Wirtschaft. Die Geschichte der Kriege gegen die Nationen der Indianer und deren virtuelle Ausrottung und Vertreibung ist ebenfalls wenig bekannt, obwohl als Folge des Menschenrechtsaktivismus der 1960er-Jahre eine Verbesserung stattgefunden hat.

Ein Beispiel für die Vermeidung der Geschichtserzählung ist das »Second Amendment«, der 2. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten, der gegenwärtig als Schutz des »heiligen Rechts«, Waffen zu tragen, verstanden wird – eine Frage, die nach den jüngsten Massakern und Amokläufen in unserem Land regelmäßig auf den Titelseiten der hiesigen Medien behandelt wird. Doch nur wenige wissen, warum die Änderung damals eigentlich in Kraft getreten ist. Dabei sind die Gründe eigentlich ziemlich klar: Es war aufgrund des mörderischen Bestrebens, Sklaven zu kontrollieren und Indianer zu töten. Hinzu kam die Abwehr eines gefürchteten britischen Angriffs, da es so gut wie keine bereitstehende Armee gab. Dieser Umstand macht vor allem deutlich, dass der ursprüngliche Sinn jener Passage in der US-amerikanischen Verfassung und die damit verbundenen Absichten der Gründerväter in der gegenwärtigen modernen Welt ziemlich überholt sind. Dies sollten vor allem jene konservativen Originalisten, die sich weiterhin auf die Grundwerte der Verfassung berufen und diese in den Vordergrund stellen wollen, bedenken. Interessanterweise wurde die Entscheidung des rechten Vorsitzenden des Supreme Courts, John Roberts, dieses »heilige Recht« 2008 auszuweiten, von dem in weiten Kreisen respektierten Juristen Antonin Scalia verfasst, der sich stark auf den Originalismus beruft. Scalia zitierte dabei alle Arten obskurer Texte, aber es gelang ihm, alle Hauptmotive für eine Einschränkung des Rechts vollständig auszuklammern. Dasselbe gilt für die umfangreiche juristische Debatte über den 2. Verfassungszusatz, die sich auf die Bedeutung des einleitenden Satzes konzentriert: »Eine gut regulierte Miliz, die für die Sicherheit eines Freistaates notwendig ist«. Die umstrittene Frage ist also, ob die Änderung ein individuelles Recht verleiht, Waffen zu tragen, oder ob sie ein Milizkonditionsrecht ist. Aus juristischer Sicht ist das eine interessante Frage, aber die Frage nach dem Grund für den 2. Zusatzartikel und seiner heutigen Anwendbarkeit wird vollständig gemieden – zumindest von Seiten der Konservativen, die die leidenschaftlichsten Befürworter einer erweiterten Interpretation sind. Dies ist im Grunde genommen auch ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie die beiden schrecklichen »Ursünden«, Sklaverei und Genozid, selbst unter den gebildeten Klassen und dem liberalen Meinungsspektrum aus dem Bewusstsein verschwinden.

Feroz: Der Waffenwahn in den USA scheint ein großes Problem zu sein, das die gesamte Gesellschaft betrifft.

Chomsky: Die Ursprünge der fanatischen Waffenkultur werden unter anderem in einem jüngst erschienen, äußerst wichtigen Buch von Pamela Haag beschrieben. Haag macht deutlich, dass die Waffenkultur eine Kreation der Fabrikanten des industriellen Zeitalters gewesen ist. Dies war einer der ersten Erfolge der PR-Industrie. Im späten 19. Jahrhundert machten sich Waffenhersteller Sorgen um ihre Verkaufszahlen. Es gab fast keinen heimischen Markt. Waffen wurden als Werkzeuge betrachtet, ähnlich wie Schaufeln oder Heugabeln. Daraufhin fand eine große Werbekampagne statt, die Kämpfer mit Waffen romantisch inszenierte. Da gab es dann plötzlich den einsamen Cowboy, der den Wilden Westen gewann, oder falsche Helden wie »Wild Bill Hickok« und all den dazugehörigen Krimskrams, der vielen Menschen bekannt ist. Man erschuf den Mythos, dass jeder Junge zu einem echten Mann wird, wenn er einen Colt-Revolver umherschwingt, während er ein Winchester-Gewehr unter dem Arm trägt. Auch Frauen wurde eingetrichtert, eine Waffe unter dem Kopfkissen haben zu müssen. Immerhin bestünde stets die Möglichkeit, dass die bewaffneten Männer des Hauses draußen gegen plündernde, barbarische Indianer und andere bösartige Gestalten kämpfen. Zu all dem kam dann noch die Tabakindustrie, allen voran der Marlboro-Mann, hinzu. Andere folgten. Die Propagandakampagne war perfekt inszeniert – und sie funktionierte hervorragend. Bis heute gilt eine Waffe als ein geschätzter Gebrauchsgegenstand, und das Recht, eine Waffe in einem Café zu tragen, gilt als heilig und unantastbar. Es gilt als ein Recht, dass im 19. Jahrhundert von Farmern und Viehzüchtern während der Eroberung des Wilden Westens erstritten wurde. Das all dies mit sehr unschönen Mitteln geschah, wird ausgeblendet.

Feroz: Bezüglich der Sklaverei und des Rassismus stellen sich auch Fragen rund um die Situation von Afroamerikanern. Fand mit der Wahl Barack Obamas tatsächlich auch eine Veränderung statt und mit der Wahl Donald Trumps ein großer Rückschritt? Auch während der Ära Obamas hatten afroamerikanische Gemeinden mit großen Problemen zu kämpfen. Nie waren mehr Afroamerikaner in Gefängnissen eingesperrt als während Obamas Präsidentschaft. Ähnlich verhält es sich auch mit der Anzahl von afrikanischen Staaten, die in dieser Zeit von der US-Regierung bombardiert wurden. Geheime Kriege in Somalia und anderswo wurden ausgeweitet. Die amerikanischen Gründungsväter waren Rassisten und hielten Sklaven. Bestehen hier nicht einfach einige Grundprobleme mit der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft, über die niemand sprechen will?

Chomsky: Die Veränderung, die mit Obama eintrat, war in erster Hinsicht psychologisch. Für Afroamerikaner war es erfreulich, eine schwarze Familie im Weißen Haus, das von Sklaven erbaut wurde, zu sehen. In materieller und sozialpolitischer Hinsicht änderte sich allerdings nur wenig. Als die Rezession eintrat, traf es Afroamerikaner besonders hart. Sehr viele von ihnen verloren ihre Häuser, die für viele das Rückgrat ihres Wohlstands waren.

Das Programm des US-Kongresses zur Finanzkrise (TARP, Troubled Asset Relief Program) sah eine Rettungsaktion für jene Banken vor, die für das Desaster verantwortlich gewesen waren, und eine Unterstützung für jene Opfer, die ihre Häuser verloren hatten. Es ist nicht schwer zu erraten, welche Verpflichtung als wichtiger betrachtet und erfüllt wurde. Neil Barofsky, der beauftragte Generalinspektor für das TARP-Programm, äußerte sich sehr kritisch über die Obama-Adminis­tration und wie dank dieser große Banken reicher wurden als jemals zuvor, während wortwörtlich nichts für die Menschen, die alles verloren hatten, getan wurde.

Das Ergebnis war insbesondere für den afroamerikanischen Teil der Gesellschaft verheerend. Die durchschnittliche schwarze Familie hat in der Regel keine größeren Ersparnisse. Die langsam stattfindende wirtschaftliche Erholung, die 2009 unter Obama begann und nun unter Trump fortgesetzt wird, hat die Arbeitsmöglichkeiten für Schwarze tatsächlich verbessert. Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass Profite in den Himmel schießen, während die Reallöhne weiterhin stagnieren. Laut eines Berichts des US-Arbeitsministeriums aus dem Juni 2018 sank von Mai 2017 bis Mai 2018 der reale Durchschnittsstundenlohn um 0,1 Prozent, jahreszeitlich angepasst. Der Rückgang der realen durchschnittlichen Stundenlöhne kombiniert mit einem Anstieg der durchschnittlichen Arbeitswoche um 0,6 Prozent führte in diesem Zeitraum zu einem Anstieg des realen durchschnittlichen Wochenlohns um 0,5 Prozent. Die ist der Alltag seit dem neoliberalen Großangriffs Reagans. Die Reallöhne für einfache Arbeiter auf dem Höhepunkt der viel gepriesenen Great Moderation waren 2007 niedriger als im Jahr 1979 – bevor die neoliberale Phase endgültig eingeläutet wurde. Und seitdem hat sich die Situation verschlechtert.

Ansonsten muss man natürlich feststellen, dass sich die Situation durch den starken Aktivismus der Bürgerrechtsbewegung seit den 1960er-Jahren verbessert hat. Dies hatte einen wichtigen zivilisierenden Effekt.

Feroz: Auch die Situation vieler Staaten in Südamerika ist bis heute sehr problematisch. In Brasilien und anderen Staaten in der Region gibt es eine herrschende, weiße Klasse, die den Rest, also hauptsächlich Schwarze und Indigene, ausbeutet. Die Folgen des Kolonialismus europäischer Staaten und später des Imperialismus – vor allem während des Kalten Krieges – scheinen bis heute nachzuwirken. Welche Auswirkungen hat die US-amerikanische Außenpolitik auf die Lage in der Region?

Chomsky: Die US-Außenpolitik hat Südamerika gewiss in diese Richtung gelenkt, sprich, die Macht von weißen Eliten in diesen Ländern wurde verstärkt. Demnach wurde indirekt auch deren rassistische Politik, die sich gegen die unteren Klassen richtet, gefördert. Die grundlegende Ausrichtung der Politik ist nicht schwer zu verstehen. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wussten die Architekten der US-amerikanischen Politik, dass sie in einer Position waren, in der sie den Rest der Welt nach ihren Interessen formen konnten, und genau so haben sie auch gehandelt. Das allgemeine Ziel war – und das war nicht überraschend – eine Ausrichtung des internationalen Systems, das sich dem amerikanischen Wirtschaftssystem und deren politischer Kontrolle öffnet und sich davon aushöhlen lässt. Dies erkennt man auch ganz klar an geheimen Dokumenten, die später für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Ein Beispiel hierfür ist das PPS 23, was von George Kennan, einem führenden Staatsmann und Stabschef des State Departments, verfasst wurde. Kennan und seine Leute wiesen jeder Region der Welt eine Funktion in der US-dominierten Weltordnung zu. Die Rolle Südostasiens war etwa die Zulieferung von Rohstoffen an die ehemaligen Kolonialherren und an die Vereinigten Staaten. Kennan war der Meinung, dass die USA nur wenig Interesse an Afrika hätten, weshalb er den Kontinent den Europäern überließ. Diesbezüglich sprach er ganz klar von einer Ausbeutung, die seitens der Europäer in Afrika erfolgte, um den Wiederaufbau auf dem alten Kontinent in Gang zu bringen.

Südamerikas Rolle in dieser neuen Weltordnung war der Verkauf seiner Rohstoffe an die USA sowie die Absorbierung überschüssigen US-Kapitals. Der für die CIA tätige Historiker Gerald Haines zelebrierte die »Amerikanisierung Brasiliens« und erklärte, dass Washingtons Ziel »die Eliminierung jedweden ausländischen Wettbewerbs« in Südamerika gewesen sei, um dadurch die Region als wichtigen Markt für überschüssige US-Produktion und private Investitionen aufrechtzuerhalten. Ziel war in diesem Kontext natürlich auch die Ausbeutung der riesigen Rohstoffressourcen und der Kampf gegen den internationalen Kommunismus. Die Geheimdienste fanden keine Anhaltspunkte, dass der Kommunismus versuchte, nach Südamerika zu gelangen. Doch wir sollten uns dabei stets vor Augen halten, dass das stillschweigende Verständnis von »Kommunismus« alles betraf, was die Armen dazu verleiten könnte, »die Reichen auszuplündern«, wie die Administration von Präsident Eisenhower, allen voran sein Minister John Foster Dulles, regelmäßig beschwor.

Es war demnach alles andere als überraschend, dass die Südamerikaner andere Ziele hatten. Sie hatten sich einer Sache verschrieben, die die US-USA1945U-