3Chantal Mouffe

Für einen linken Populismus

Aus dem Englischen von Richard Barth

Suhrkamp

7Für Ernesto

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Menschen [können] das Schicksal nur unterstützen, sich ihm aber nicht widersetzen […]. Sie können seine Fäden spinnen, nicht aber zerreißen. Doch dürfen sie sich nie selber aufgeben. Da sie die Absicht des Schicksals nicht kennen und dieses auf krummen und unbekannten Pfaden wandelt, so sollen sie immer Hoffnung haben und nie sich selber aufgeben, in welcher Lage und in welcher Not sie auch sein mögen.

Niccolò Machiavelli, Discorsi1

11Einführung

Dieses Buch hat seinen Ursprung in meiner Überzeugung, dass die Linke dringend begreifen muss, wie sich die aktuelle Lage darstellt und welche Herausforderungen der »populistische Moment« mit sich bringt. Wir erleben derzeit eine Krise der hegemonialen neoliberalen Formation, und diese Krise eröffnet die Chance zum Aufbau einer demokratischeren Ordnung. Wenn wir diese Chance nutzen wollen, ist es unumgänglich, uns das Wesen der Umwälzungen der letzten dreißig Jahre und deren Konsequenzen für demokratische Politik bewusst zu machen.

Der Grund, weshalb so viele sozialistische und sozialdemokratische Parteien sich in einem desolaten Zustand befinden, liegt meiner Überzeugung nach darin, dass diese sich an ein inadäquates Politikverständnis klammern ‒ ein Verständnis, dessen Kritik seit vielen Jahren im Zentrum meiner Überlegungen steht. Ihren Anfang nahm diese Kritik in dem 1985 gemeinsam mit Ernesto Laclau veröffentlichten Buch Hegemonie und radikale Demokratie.2

Unsere Motivation für dieses Buch war die Unfähigkeit linker Politik, in ihrer marxistischen wie in ihrer sozialdemokratischen Variante, auf eine Reihe von Bewegungen zu reagieren, die im Zuge der Proteste von 1968 entstanden und mit einem Widerstand gegen verschiedene Formen von Unterdrückung einhergingen, der sich nicht in Klassenkategorien fassen ließ. Die zweite Welle des Feminismus, die Schwulen- und Lesbenbewegung, der Kampf gegen den Rassismus und Umweltthemen hatten das politische Panorama grundlegend verändert, doch die traditionellen linksgerichteten Parteien 12waren für derartige Forderungen unempfänglich, weil sie deren politischen Charakter nicht erkannten. Vor dem Hintergrund dieses Versagens versuchten wir, die Ursachen für die damalige Lage herauszuarbeiten.

Schnell wurde uns klar, dass die Hindernisse, die es zu überwinden galt, in erster Linie der essentialistischen Sichtweise entsprangen, die das linke Denken beherrschte. Nach dieser Sichtweise, die wir als »Klassenessentialismus« bezeichnet haben, waren politische Identitäten Ausdruck der Stellung gesellschaftlicher Akteure innerhalb der Produktionsverhältnisse, und ihre Interessen durch diese Stellung definiert. Dass eine solche Sichtweise außerstande war, Forderungen zu verstehen, die nicht auf dem Faktor »Klasse« basierten, war wenig überraschend.

Ein wichtiger Teil des Buches war dem Ziel gewidmet, diesen essentialistischen Ansatz mithilfe der Erkenntnisse des Poststrukturalismus zu widerlegen. Indem wir diese Erkenntnisse mit jenen von Antonio Gramsci verbanden, entwickelten wir einen alternativen, »antiessentialistischen« Ansatz, mit dem sich die Vielfalt der Widerstandsbewegungen gegen unterschiedliche Formen der Unterdrückung verstehen ließ. Um das, was diese Bewegungen artikulierten, mit einem politischen Ausdruck zu erfassen, schlugen wir vor, das sozialistische Projekt neu zu definieren, als eine »Radikalisierung der Demokratie«.

Ein solches Projekt erforderte die Bildung einer »Äquivalenzkette«, die neben den Forderungen der Arbeiterklasse auch jenen der neuen Bewegungen Ausdruck verleiht und so einen »gemeinsamen Willen« konstruiert, der auf die Errichtung dessen abzielt, was Gramsci eine »expansive Hegemonie« nannte. Indem wir das linke Projekt neu formulierten, im Sinne einer »radikalen und pluralen Demokratie«, 13verankerten wir es im weiteren Feld der demokratischen Revolution und wiesen darauf hin, dass die zahlreichen Emanzipationskämpfe auf der Vielfalt der gesellschaftlichen Akteure und ihrer jeweiligen Bemühungen beruhen. Das Feld für gesellschaftliche Konflikte wurde dadurch erweitert und war nicht mehr auf einen »privilegierten Akteur« wie die Arbeiterklasse beschränkt. Entgegen einigen unaufrichtigen Interpretationen unserer Argumentation heißt das wohlgemerkt nicht, dass wir die Forderungen der neuen Bewegungen auf Kosten derer der Arbeiterklasse privilegieren. Was wir betont haben, war, dass linke Politik die Auseinandersetzungen um die unterschiedlichen Formen der Unterordnung artikulieren muss, ohne irgendeiner davon a priori den Vorrang einzuräumen.

Außerdem wiesen wir darauf hin, dass die Ausweitung und Radikalisierung des Kampfes für mehr Demokratie niemals zu einer völlig befreiten Gesellschaft führen wird und man das emanzipatorische Projekt nicht mehr als gleichbedeutend mit der Eliminierung des Staates verstehen kann. Antagonismen, Konflikte und eine gewisse Undurchlässigkeit wird es in einer Gesellschaft immer geben. Daher gelte es, sich vom Mythos des Kommunismus als transparenter und versöhnter Gesellschaft ‒ eine Idee, die klarerweise ein Ende der Politik einschließt ‒ zu verabschieden.

Das Buch entstand in einer Situation, die von der Krise der sozialdemokratischen hegemonialen Formation charakterisiert war, wie sie sich in der Nachkriegszeit herauskristallisiert hatte. Sozialdemokratische Werte wurden durch die neoliberale Offensive infrage gestellt, waren für die Herausbildung des westeuropäischen Common Sense aber noch immer von Bedeutung, und unser Ziel war die Entwicklung einer Strategie, wie man sie verteidigen und radikalisieren 14könnte. Als indes im Jahr 2000 die zweite Auflage von Hegemonie und radikale Demokratie erschien, mussten wir in der neuen Einleitung feststellen, dass in den fünfzehn Jahren seit der Erstveröffentlichung eine bedenkliche Regression stattgefunden hatte. Unter dem Vorwand der »Modernisierung« hatte eine wachsende Zahl sozialdemokratischer Parteien ihre »linke« Identität abgestreift und sich euphemistisch als »Mitte-links-Partei« neu definiert.

Diese neue Lage habe ich in meinem 2005 veröffentlichten Buch Über das Politische analysiert.3 Darin habe ich die Folgen des von Anthony Giddens in der Theorie beschriebenen und von Tony Blair unter dem Schlagwort »New Labour« in der Praxis beschrittenen »Dritten Weges« untersucht. Ich habe aufgezeigt, wie die neue britische Mitte-links-Regierung durch die Akzeptanz der hegemonialen Ordnung, die Margaret Thatcher auf der Basis des Dogmas errichtete, die neoliberale Globalisierung sei »alternativlos«, letztlich etwas erschuf, was Stuart Hall als »sozialdemokratische Version des Neoliberalismus« bezeichnet hat. Indem die »radikale Mitte« das konfliktäre Politikmodell und die Links/rechts-Dichotomie für obsolet erklärte und den »Konsens der Mitte« zwischen Mitte-links und Mitte-rechts zelebrierte, trat sie für eine technokratische Spielart von Politik ein, der zufolge unter Politik nicht die konfrontative Auseinandersetzung zwischen Parteien, sondern das neutrale Management der öffentlichen Angelegenheiten zu verstehen war.

Tony Blair drückte es so aus: »Die Frage lautet nicht, ob wir eine linksgerichtete oder eine rechtsgerichtete Wirtschaftspolitik wollen, sondern ob wir eine gute oder eine schlechte Wirtschaftspolitik wollen.« Die neoliberale Globalisierung wurde als Schicksal betrachtet, in das wir uns zu fügen hätten, und politische Probleme wurden auf reine Sachfragen re15duziert, die von Experten gelöst werden müssten. Für eine echte Wahl, die die Bürger zwischen unterschiedlichen politischen Projekten hätten treffen können, blieb da kein Platz; deren Rolle beschränkte sich auf das Absegnen der »vernünftigen« politischen Maßnahmen, die diese Experten ausgearbeitet hatten.

Im Gegensatz zu jenen, die eine solche Lage als Fortschritt einer reifenden Demokratie verkauften, argumentierte ich, diese »postpolitische« Situation sei die Ursache für den Prozess der zunehmenden Entfremdung von demokratischen Institutionen, der sich in der wachsenden Zahl der Nichtwähler manifestiere. Zugleich warnte ich vor dem zunehmenden Erfolg rechtspopulistischer Parteien, die sich als Alternative darstellten, die den Menschen ihre von den etablierten Eliten konfiszierte Stimme zurückgebe. Ich beharrte darauf, dass es unumgänglich sei, sich vom postpolitischen Konsens zu verabschieden und das konfrontative Wesen der Politik wieder in den Vordergrund zu rücken, um so die Grundlage für eine »agonistische« Debatte über mögliche Alternativen zu schaffen.

Zu diesem Zeitpunkt war ich, wie mir heute bewusst ist, noch immer davon überzeugt, dass sozialistische und sozialdemokratische Parteien so umgestaltet werden könnten, dass sie das von uns in Hegemonie und radikale Demokratie propagierte Projekt der Radikalisierung der Demokratie umsetzen könnten.

Dies ist offensichtlich nicht geschehen, und während der Rechtspopulismus große Erfolge verbuchen konnte, hat bei den sozialdemokratischen Parteien in den meisten westeuropäischen Demokratien ein Niedergangsprozess eingesetzt. In der Wirtschaftskrise von 2008 traten die Widersprüche des neoliberalen Modells dann allerdings deutlich zutage, 16und mittlerweile wird die neoliberale hegemoniale Formation von einer Vielzahl gegen das Establishment gerichteter Bewegungen infrage gestellt, auf der Rechten wie auf der Linken. Das ist die neue Lage, die ich als den »populistischen Moment« bezeichne und die ich hier näher untersuchen möchte.

Die zentrale These dieses Buches lautet, dass eine erfolgreiche Intervention in dieser Krise der hegemonialen Ordnung den Aufbau einer klaren politischen Frontlinie voraussetzt und dass ein linker Populismus ‒ verstanden als diskursive Strategie, die auf die Errichtung einer politischen Frontlinie zwischen »dem Volk« und »der Oligarchie« abzielt ‒ in der derzeitigen Lage genau die Art von Politik darstellt, die zur Wiederherstellung und Vertiefung der Demokratie vonnöten ist.

In Über das Politische habe ich angeregt, die Frontlinie zwischen links und rechts wiederzubeleben. Heute bin ich überzeugt, dass eine solche Frontlinie in ihrer traditionellen Gestalt nicht mehr ausreicht, um einen kollektiven Willen zu artikulieren, der die Vielzahl der heute existierenden demokratischen Forderungen umfasst. Der populistische Moment ist Ausdruck einer Reihe heterogener Forderungen, die sich nicht einfach in Form von Interessen formulieren lassen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Kategorien verknüpft sind. Außerdem sind im neoliberalen Kapitalismus neue Formen der Unterordnung entstanden, die jenseits des Produktionsprozesses liegen. Daraus sind Forderungen entsprungen, die nicht länger mit gesellschaftlichen Sektoren korrespondieren, die man mit soziologischen Begriffen fassen oder über ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft definieren könnte. Derartige Forderungen ‒ der Schutz der Umwelt oder der Kampf gegen Sexismus, Rassismus und andere Formen der 17Unterdrückung ‒ haben immer größerer Bedeutung erlangt. Daher muss die politische Frontlinie heute auf eine »populistische«, transversale Art und Weise konstruiert werden. Demungeachtet werde ich allerdings auch argumentieren, dass die »populistische« Dimension nicht ausreicht, um die Art von Politik zu charakterisieren, die die aktuelle Lage erfordert. Um anzuzeigen, welchen Werten dieser Populismus verpflichtet ist, muss man ihn als einen »linken« Populismus beschreiben.

Indem sie anerkennt, welche zentrale Rolle der demokratische Diskurs für das politische Imaginäre unserer Gesellschaften spielt, und indem sie zwischen den mannigfaltigen Kämpfen gegen die Unterordnung eine Äquivalenzkette herstellt, mit der Demokratie als hegemonialem Signifikantem im Zentrum, spricht eine linke populistische Strategie die Aspirationen vieler Menschen an. Im Laufe der nächsten Jahre, so meine Argumentation, wird die zentrale Achse der politischen Auseinandersetzung zwischen einem rechtsgerichteten und einem linksgerichteten Populismus verlaufen. Und deshalb ist es die Konstruktion eines »Volkes«, eines kollektiven Willens, der der Mobilisierung gemeinsamer Affekte zur Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entspringt, die es ermöglichen wird, die vom Rechtspopulismus propagierte fremdenfeindliche Politik zu bekämpfen.

Insofern, als nun wieder politische Frontlinien hergestellt werden, deutet der »populistische Moment« nach Jahren der Postpolitik auf eine »Rückkehr des Politischen« hin. Diese Rückkehr kann den Weg für autoritäre Lösungen freimachen ‒ von Regimen, die die liberalen, demokratischen Institutionen schwächen ‒, sie kann aber auch zu einer erneuten Bekräftigung und Ausweitung demokratischer Werte führen. Alles hängt davon ab, welchen politischen Kräften es ge18lingen wird, die derzeitigen demokratischen Forderungen zu hegemonialisieren, und welche Art von Populismus aus dem Kampf gegen die Postpolitik siegreich hervorgehen wird.