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Ben Calvin Hary

Koshkin und die Kommunisten aus dem Kosmos

Das Titelbild fehlt!

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
September 2018

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Arndt Drechsler
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-620-1
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-631-7

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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www.atlantis-verlag.de
In Gedenken an Marek.
Schade, dass dein Raumschiff niemals flog.

Eins
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Der Schmuse-Nazi

11. Oktober 1957
19:48 Uhr
Pasadena, Kalifornien

Diese, blöde, piepende Blechdose! Professor Koshkin schloss die Finger um die Taschenuhr in seiner Jackentasche. Nervös strich er mit dem Daumen über den Deckel, blinzelte in das grelle Licht der Studioscheinwerfer. Es stach ihm genau ins Gesicht.

»Sputnik«, murmelte er kehlig, drehte das Wort im Mund herum wie ein Bonbon. Niemand hörte ihn. Seine Stimme ging im hektischen Gemurmel der Fernsehcrew unter.

Mit einem missmutigen Grunzen betrat er das Bühnenpodest und ließ seinen rundlichen Körper in den schmalen Ledersessel fallen, den man ihm zugewiesen hatte.

»Sputnik«, sagte er wieder, kopfschüttelnd. Wie hatten sie das Ding nur ohne ihn bauen können? Was zum Teufel sollte er der Welt über diesen Blechapparat erzählen, wenn gleich die Kameras liefen? Und, das Wichtigste von allem, was machte überhaupt der hier?

Grimmig linste Koshkin zu seinem Erzfeind, der ihm mit überschlagenen Beinen gegenübersaß und ihn angrinste: Wernher von Braun, der Schmuse-Nazi! Disneys Schoßhund, wie ihn die Amerikaner liebten und vergötterten. Bloß, wofür eigentlich? Was hatte der schon geleistet?

Koshkin schnaufte. Irgendwann würde er diesem Angeber schon noch beweisen, wer der genialere Wissenschaftler war! Der Professor rückte sich die zerknitterte Krawatte zurecht, wischte sich mit dem Handrücken dicke Schweißperlen von der Stirn. Ihm war heiß.

»Noch eine Minute«, drang die Stimme des Regisseurs aus der Schwärze jenseits der Scheinwerfer. Koshkin war zu geblendet, um ihn auszumachen.

Eine Maskenbildnerin tauchte neben ihm auf, blond, die Puderquaste in der Hand. Unaufgefordert machte sie sich daran, seine Wangen abzutupfen.

Mit wilden, hektischen Gesten versuchte er, das Mädchen zu verscheuchen. Sie ignorierte seinen Ausbruch. Unbeirrt tupfte sie weiter.

»Frau! Geh weg!«, rief der Russe zornig, in seinem akzentreichen, kaum zu verstehenden Englisch, und wischte sich den Puder wieder ab.

»Janine, was ist da los?«, rief der Regisseur in drohendem Tonfall.

Das Mädchen machte ein beleidigtes Gesicht, streckte beide Handflächen von sich.

»Er ist rot wie ein Apfel«, rechtfertigte sie sich in Richtung der Scheinwerfer. »Und kämmen lässt er sich auch nicht. Seine Haare stehen in alle Richtungen.«

Ein genervtes Stöhnen drang aus der Schwärze. Es folgte ein Patschen, als hätte sich jemand mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen.

In diesem Moment begann von Braun zu kichern.

Koshkin fuhr herum und senkte den runden, großen Kopf, wie ein Stier, der jemanden auf die Hörner nehmen wollte.

Von Braun ließ sich nicht beirren. Er lächelte, tat unschuldig.

Dieser falsche Hund! Koshkin klammerte sich an seine Taschenuhr. Dieses Grinsen machte ihn nervös, mehr noch als die Scheinwerfer und die Kameras. Von Braun wollte ihn wieder vorführen, kein Zweifel. Genau wie damals, vor zwei Jahren, als sie sich zuletzt bei diesem Symposium begegnet waren! Koshkins schlechte Laune wuchs. Er wischte die Erinnerung beiseite.

»Lass ihn, Janine«, rief der Regisseur schließlich.

Die Blondine zuckte mit den Schultern und steckte die Puderdose ein. Dann stakste sie brüsk von der Bühne, ihre Absätze klapperten über das Linoleum. Sie machte eine beleidigte Miene, als sie zwischen den Scheinwerfern verschwand. Koshkin achtete nicht weiter auf sie. Gut, dass die weg war!

»John, noch vierzig«, hallte die Stimme des Regisseurs durch das Studio.

John, das war niemand Geringeres als der Journalist John Weinstein – Moderator jener Fernsehsendung, in der Koshkin und der Deutsche gleich auftreten würden.

Im selben Moment trat dieser zwischen zwei Kameras hindurch in den Lichtkegel. Er bestieg das Podest schwungvoll, einen Stapel gelber Karteikarten in der Hand. Mit einem knappen Nicken begrüßte er seine beiden Gäste.

»Nehmen Sie die Hand aus der Jackentasche«, zischte er Koshkin im Vorübergehen durch die zusammengebissenen Zähne zu. »Das sieht blöd aus.« Er setzte sich auf den freien Platz in der Mitte.

Koshkin blinzelte ihn fragend an, bevor er begriff. Die Taschenuhr! Er hatte sie noch immer umfasst und spielte damit. Wie immer, wenn er kribbelig wurde. Inzwischen merkte er das schon gar nicht mehr.

Er zwang sich zu einem Lächeln, zog die Hand aus der Tasche seines goldbeknöpften Zweireihers und kratzte sich am Kopf. Bloß nichts anmerken lassen.

»Noch zwanzig«, rief der Regisseur.

Weinstein rückte die Brille auf der schmalen Nase zurecht und legte sich die Kärtchen auf den Schoß. In aller Seelenruhe begann er, sie zu sortieren – ganz der Profi, der er war.

»Sie kennen den Ablauf«, sagte der Journalist in geschäftsmäßigem Tonfall, ohne von seinen Kärtchen aufzusehen »Erst von Braun mit dem Stand unserer Raketenforschung, dann Sie, Koshkin, mit dem Insiderwissen zum Sputnik. So wie abgesprochen.«

Koshkin schluckte. An seinem Hals spürte er eine Ader pochen. Insiderwissen, dachte er. Klar. Ausgerechnet von ihm, der Russland schon vor fünfzehn Jahren verlassen hatte. Woher sollte er da noch irgendwelches Insiderwissen nehmen? Alles Idioten, diese Amerikaner!

»Wissen über Sputnik. Natürlich«, brachte er trotzdem hervor. Wieder grinste er, breit und mit gebleckten Zähnen. Hoffentlich kaufte man ihm die Zuversicht ab!

»Und Professor …« Weinstein drehte sich zu ihm um und blickte ihn über den Rand der Brille hinweg ernst an. »Langsam sprechen. Deutlich sprechen. Achten Sie auf Ihren Akzent. Denken Sie an Tante Martha aus Kentucky, die Sie auch verstehen möchte.«

»Sprech ist gut und zu verstehen«, versprach der Professor artig und bemühte sich, die R weniger stark zu rollen als sonst. Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her, wie ein Schuljunge, der dringend zur Toilette musste. Vergeblich versuchte er, sein hoffnungslos zerknautschtes Jackett zu glätten. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, überlegte er, wenn Weinsteins hypothetische Martha ihn nicht verstand. Dann würde wenigstens die seine Blamage nicht bemerken.

»Noch fünf«, rief wieder der Regisseur und begann im Sekundentakt herunterzuzählen: »Vier. Drei. Zwei.« Die Eins war stumm.

Bei Null setzte Koshkins Herz einen Schlag aus. Jetzt galt es, es gab kein Zurück mehr. Gleich würde ganz Amerika bemerken, dass sein Wissen erschöpft war, dass er dem Land nichts mehr zu geben hatte. Ob man ihn gegen irgendeinen gefangenen CIA-Spion austauschen würde?

Koshkins Finger verkrampften sich um die Armlehnen des Sessels, seine Knöchel traten weiß hervor. Er ärgerte sich, über das Schicksal und über sich selbst. Warum nur hatte er sich auf diesen dämlichen Termin eingelassen? Seine verdammte Eitelkeit war schuld, wieder mal. Er würde es nie lernen.

Die Titelmelodie der Sendung wurde über Lautsprecher eingespielt.

»Sie sehen das Thema des Tages«, erklang die Stimme eines Ansagers. »Ihr Gastgeber ist John Weinstein.«

Eine Kamera rollte auf die Sitzgruppe und auf Weinstein zu. Der Journalist blickte mit ernstem Gesicht ins Objektiv. Die Karteikärtchen hielt er unauffällig in den Händen.

»Guten Abend!«, begrüßte er sein Publikum. »Ganz Amerika ist schockiert über den künstlichen Mond, den die Sowjetunion vergangene Woche in eine Umlaufbahn um unseren Planeten gebracht hat. Wir fragen uns: Wird 1957 das Jahr, in dem die Russen das Wettrennen zu den Sternen für sich entscheiden? Was haben Amerikas Forscher ihren kommunistischen Kollegen und dem Sputnik entgegenzusetzen?«

Er machte eine Kunstpause, ließ seine sonore Stimme nachwirken und setzte einen betroffenen Blick dabei auf. Man musste es ihm lassen, Weinstein war ein Meister der Inszenierung. Koshkin verachtete ihn dafür.

»Bei mir im Studio sind als Experten heute Abend der Wissenschaftler und Raketenforscher Wernher von Braun, den sicher jeder kennen dürfte.«

Wieder folgte eine kurze Pause, die der Deutsche nutzte, um selbstgefällig in die Kamera zu lächeln.

Koshkin kämpfte den Drang nieder, aufzuspringen und den Moderator zu schütteln. Wissenschaftler, echote es in ihm. Galt jetzt etwa jeder, der bessere Feuerwerkskörper zusammenschrauben konnte, schon als Forscher? Wie deprimierend!

»Und zu meiner Linken«, fuhr Weinstein fort, »Professor Boris Koshkin, neunundfünfzig Jahre alt, ehemals Moskaus führender Astrophysiker. 1942 nach Amerika emigriert und seither wissenschaftlicher Berater des Pentagon und der CIA. Zu ihm kommen wir später.«

Eine zweite Kamera richtete sich auf den Professor. Das Objektiv bohrte sich förmlich in sein Gesicht.

Koshkin lächelte hilflos. Seine Hand fuhr in die Jackentasche, als hätte sie einen eigenen Willen, und fasste nach der Uhr.

Natasha, dachte er unwillkürlich. Mein Mädchen. Das Kind war alles, was ihm geblieben war. Nun würde er sich gleich um Kopf und Kragen reden und er würde schließlich auch sie verlieren. Es war ein Jammer.

Weinstein wandte sich dem Raketenforscher zu, legte in Denkerpose die Hand ans Kinn. »Doktor von Braun, Sie werfen der US-Regierung Zögerlichkeit vor und verurteilen das Vanguard-Programm der Navy als Irrweg.«

»Das ist richtig«, antwortete von Braun. Er richtete den Oberkörper auf und zeigte sein gewinnendes Lächeln. »Mein Team und ich hätten bereits vor einem Jahr mit unserer Jupiter-C-Trägerrakete einen Satelliten ins All schießen können. Man verweigerte uns die Zusage.«

Angespannt lauschte Koshkin dem Gespräch, hielt den Blick gesenkt. Unbewusst zog er die Uhr aus der Tasche, klappte den Deckel auf und wieder zu, steckte sie wieder weg und spielte mit der Kette, an der sie befestigt war. Die Ader an seinem Hals pochte.

Der Raketenbastler sprach zwar mit deutschem Akzent, doch in klarem Englisch. Besser jedenfalls als das seine. Es machte Koshkin wütend. Wie immer, wenn jemand etwas besser konnte als er.

»Aus informierten Kreisen wurde uns zugetragen, Sie hätten Verteidigungsminister McElroy versprochen, den Satelliten in sechzig Tagen starten zu können. Ist da etwas dran?«

Von Braun schmunzelte. Es wirkte bescheiden und charmant, aber Koshkin kaufte ihm die Geste nicht ab. Sie galt nur den Kameras, war genauso einstudiert wie seine »Ich war kein Nazi«-Show.

Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Zurück ins Jahr 1942, als Albert Speer ihm ein verlockendes Angebot gemacht hatte. Wenn er damals nur so skrupellos gewesen wäre, es anzunehmen, anstatt nach Amerika zu gehen – die Deutschen hätten den Krieg womöglich gewonnen und niemand würde heute über diesen unsäglichen von Braun sprechen.

Auf jeden Fall hätten sie besser bezahlt als die Kapitalisten, überlegte er.

»Das ist korrekt, Mr. Weinstein«, entgegnete von Braun, riss Koshkin wieder ins Hier und Jetzt. »Wir haben die Technologie praktisch auf Lager, wir müssen sie nur einsetzen.«

»Professor von Braun …«

Da platzte Boris Koshkin der Kragen. Hatte er richtig gehört?

»Professor?«, schrie er fassungslos. »Von Braun ist nix Professor!«

Was für ein Affront, dachte er.

Sofort ruckte eine Kamera zu ihm herum. Auch Weinstein wandte sich ihm zu, einen Augenblick lang offenbar unfähig, etwas zu sagen. Dann fing der Journalist sich wieder.

»Sie meinten, Professor Koshkin?«, fragte er ohne Vorwurf in der Stimme.

Koshkin krallte die Finger in die Luft. »Ich Professor. Er nur Doktor.«

Für Sekunden herrschte eisiges Schweigen. Koshkin hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen.

Von Braun entgegnete heiter: »Mein Kollege möchte darauf hinweisen, dass ich lediglich promoviert habe, während er in Moskau Astrophysik unterrichtet hat.«

»Das richtig!«, rief Koshkin und ballte die Hand zur Faust. Seine Rechte fasste wieder nach der Uhr.

»Aber ist es nicht so, werter Kollege«, legte der Deutsche nach, »dass Ihre Professur im Augenblick Ihres Überlaufens erloschen ist? Sind Sie streng betrachtet seit 1942 nicht auch ›nur Doktor‹?«

Einen Moment lang fühlte Koshkin sich überrumpelt. Dann klappte er den Mund zu und schüttelte heftig den Kopf. Das war natürlich blanker Unsinn, so funktionierte das nicht und von Braun war das sicher auch klar. Sein Gegner versuchte, ihn lächerlich zu machen. Aber so einfach würde er es diesem Ex-Nazi nicht machen!

»Einmal Professor, immer Professor«, stellte er richtig und schickte gleich hinterher: »Besserer Wissenschaftler bin ich auch.«

Von Braun hob die Augenbrauen, beugte sich zu ihm vor. Er gab sich interessiert. »Besser als ich?«, fragte er mit liebenswerter Freundlichkeit.

Koshkin nickte brummend. Innerlich verfluchte er sich. Er ahnte, welche Worte als Nächstes aus dem Mund seines Erzfeindes kommen würden, hoffte klammheimlich, dass Weinstein sich einmischen und den Streit unterbinden würde.

Die Hoffnung erfüllte sich nicht: Der Moderator verschränkte die Arme und hielt sich zurück, um dem Drama seinen Lauf zu lassen. Vermutlich freute er sich über das quotenträchtige Spektakel, das Koshkins Ausbruch darstellte.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, lachte von Braun. »Welche fundamentalen Entdeckungen oder wissenschaftlichen Erkenntnisse gingen in den letzten fünfzehn Jahren auf ihr Konto, Professor Koshkin?«

»Ich …«

»Soweit ich informiert bin, haben Sie nicht mehr geforscht, seit Sie in Amerika sind. Ein kritischer Beobachter könnte sagen, Ihre Karriere sei vorbei.«

Koshkin schwieg verbittert, kniff die Lippen zusammen. Das war er, der befürchtete Angriff. Mal wieder führte von Braun ihn vor, demütigte ihn. Im Fernsehen diesmal sogar!

Und das Schlimmste war: Eigentlich hatte er recht. Mit allem. Was hatte er schon geleistet, außer russische Forschungsgeheimnisse auszuplaudern und sich die Rückkehr nach Hause für alle Zeiten zu verbauen?

Wieder fasste er nach seiner Uhr, zum hundertsten Mal, diesmal jedoch ganz bewusst. Amanda hatte sie ihm geschenkt, als er ihretwegen nach Amerika gekommen war. Ein halbes Jahr später war sie tot gewesen und er alleine in einem fremden Land, mit einer Tochter, die kein Wort Russisch sprach. Und heute war er immer noch hier. Es war eine von vielen, vielen Fehlentscheidungen in seinem Leben. Ein metallischer Geschmack machte sich auf seiner Zunge breit.

»Ich verhinderte Drittes Weltkrieg mit Beraterjob«, machte er einen schwachen Rettungsversuch, während er den Deckel der Uhr auf- und wieder zuschnappen ließ. »Mein Wissen über Sowjetforschung sicherte Gleichgewicht der Kräfte«.

Von Braun lehnte sich zurück und verschränkte ebenfalls die Arme. Sein Blick war mitleidig. Das Gefühl mochte sogar echt sein.

»Das mag sein«, sagte er bedächtig. »Wenigstens haben Sie sich den Richtigen verkauft. Aber wie viel können Sie über den Sputnik schon noch wissen, so lange, wie Sie schon hier sind?«

Ihre Blicke trafen sich. Eine gefühlte Ewigkeit lang starrten sie einander in die Augen.

Der Deutsche hatte ins Schwarze getroffen und sie beide wussten es. Koshkin hatte seine Nützlichkeit verloren. Er konnte seinen Teil der Vereinbarung mit dem Pentagon nicht mehr einhalten.

Der Professor schluckte. Ein Bild der Zukunft zwang sich ihm auf. Sie würden ihn ausliefern, keine Frage. Und zu Hause würde er leiden. Dieser Bauer Chruschtschow mochte persönlich dafür sorgen. Im Kreml nahm man Verrat nicht auf die leichte Schulter.

Koshkin ließ die Schultern sinken. Er fuchtelte in der Luft herum, rang nach Worten. Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits in einem sibirischen Arbeitslager schuften, mit erfrorenen Gliedern, wenn Serows KGB-Schergen erst mit ihm durch waren. Er sah Natasha, sich selbst überlassen mit ihrem Verlobten Geoffrey. Diesem Bezdelnik, diesem Nichtsnutz, den sie heiraten wollte. Heiraten würde, wenn er nicht da war, um es zu verhindern.

Ausgerechnet einen Ingenieur hatte sein Mädchen sich ausgesucht. Einen Schrauber, genau wie von Braun! Von Koshkins persönlichen Niederlagen war das diejenige, die am schwersten wog.

Es musste einen Weg geben, sich wieder ins Spiel zu bringen. Zu beweisen, dass er immer noch das größte Genie der Welt war. Dass die Amerikaner nicht auf ihn verzichten konnten.

»Rakete kann jeder bauen«, wehrte er sich. Seine Hand schnitt durch die Luft. »Rakete ist nicht Sternenantrieb. Ist nur für Mond, nicht für andere Planeten gemacht.«

Von Braun lachte amüsiert. Diesmal war es bestimmt nicht gespielt. »Nein, das ganz sicher nicht. Aber solange Sie keinen solchen … Sternenantrieb erfunden haben, glaube ich nicht, dass das meine Leistung schmälert. Sie etwa?«

Koshkin zögerte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Sollte er vielleicht einfach …

Warum nicht?

Was hatte er noch zu verlieren? Er musste ja nur lange genug in Amerika bleiben, um zu verhindern, dass seine Tochter diesen Ingenieur heiratete. Länger nicht. Wenn sie ihm danach auf die Schliche kamen und ihn abschoben – das sollte ihm recht sein.

Seine Idee war schäbig, das war ihm klar. Ein Mittel zum Zweck. Aber sie konnte sein rettender Strohhalm sein.

Er ergriff ihn.

»Ich habe nicht erfunden«, sagte er und setzte sich gerade hin. Er legte die Hand auf die Hüfte, spürte die Uhr durch den Stoff. »Aber bin kurz davor.«

»Sie stehen davor, ein interplanetares Triebwerk zu erfinden?«, prustete von Braun und zeigte dem Russen ungeniert den Vogel. »Das ist lächerlich, das ist …«

Weinstein, der bislang schweigend zugehört hatte, riss unvermittelt den Zeigefinger nach oben. Er räusperte sich.

»Einen Augenblick, Doktor von Braun«, brachte er den Deutschen zum Schweigen. »Der Professor galt einst als mutmaßlich klügster Kopf der Erde. Ich möchte das gerne hören, Professor Koshkin. Erzählen sie uns von diesem … Sternentriebwerk.«

Koshkin rang noch einmal mit sich selbst. Dies war die letzte Chance, es sich noch einmal anders zu überlegen: Sollte er die Nummer durchziehen? Von Braun, Weinstein, ja die ganze Welt belügen? Noch konnte er alles als Missverständnis abtun, es auf sein schlechtes Englisch schieben.

Tu es!, sagte seine innere Stimme.

Rasch versuchte er, sich eine plausible Gleichung einfallen zu lassen, die er auf die Schnelle als Funktionsprinzip verkaufen könnte. Sein Gehirn ließ ihn im Stich. Ja, er hatte mal an so einer Hypothese gearbeitet, war aber nie zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt. Einsteins Theorien waren ihm im Weg gewesen, diese dämliche Masse-Energie-Äquivalenz. Jetzt und hier würde er dieses Problem auch nicht lösen. Nicht, wenn man ihm derart die Pistole auf die Brust setzte. Er würde improvisieren müssen.

»Jupiter und zurück in 48 Stunden«, hörte er sich sagen. »Lichtgeschwindigkeit in drei Tagen.« Er tippte sich gegen die Schläfe. »Ich habe theoretisches Grundlage in Kopf. Muss nur noch Raumschiff dazu bauen.«

»Sie sind ein Lügner!«, rief von Braun, jetzt gänzlich entrüstet, und sprang aus dem Sessel. Er baute sich vor dem Professor auf. Jeder Charme war aus seinem Gebaren gewichen.

Weinstein legte ihm die Hand auf den Ärmel, drückte ihn sanft in den Sitz zurück. »Doktor von Braun, mäßigen Sie sich!«

Koshkin hatte sich mittlerweile wieder in der Gewalt. Mit stolzer Brust saß er da und setzte sein breitestes Lächeln auf. »So sieht man, wie Sie sind, von Braun«, dozierte er triumphierend. »Sie sich sonnen in eigenes Erfolg, niemals gönnen Erfolg von anderen.« Tadelnd schüttelte er den Kopf.

Dabei konnte er dem Deutschen seinen Zorn gar nicht verübeln. Was er da gerade behauptet hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ein solches Triebwerk konnte man nicht bauen und von Braun wusste das. Aber wie er zufrieden feststellte – Weinstein wusste es nicht. Und bestimmt auch nicht die meisten Amerikaner.

»Sicher würde das Publikum gerne erfahren, wie der Koshkin-Sternenantrieb funktioniert. Können sie das kurz erläutern?«

Koshkin winkte ab. Irgendwie süß, fand er, dass der Journalist ihm diese Erfindung tatsächlich zutraute.

»Zu kompliziert für Tante Martha aus Kentucky«, entgegnete er jovial. Er wies auf den Deutschen, lachte dabei. »Und Wernher könnte klauen.«

Von Braun fiel die Kinnlade herunter. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Das Gespräch hatte wohl eine Wendung genommen, mit der er nicht gerechnet hatte.

Professor Koshkin genoss das ungewohnte Gefühl. Endlich, ein Sieg. Eine gewonnene Runde in ihrem endlosen Schlagabtausch.

»Das ist sensationell!«, plapperte Weinstein aufgeregt. Anscheinend glaubte er, einer großen Sache auf der Spur zu sein. »Nur um es klarzustellen: Bedeutet das, genug Geld und Personal vorausgesetzt, das amerikanische Volk könnte mit Ihrer Hilfe bald den Mars oder die Venus besiedeln?«

»Ja, das bedeutet es. Zwölf Monate, und Raumschiff fliegt.«

Er hatte es noch nicht ausgesprochen, da dämmerte Koshkin der Denkfehler in seinem Plan. Was er da gerade von sich gegeben hatte, war ein Versprechen. Vor laufenden Kameras, vor der ganzen Welt. Wenn er Pech hatte, trat er damit ein Medienereignis los. Das wäre übel. Er würde dieses Raumschiff bauen müssen, während die Menschheit zusah. Aber weit schlimmer: Sein angeblicher Sternenantrieb musste am Ende funktionieren. Wie auch immer. Sonst flog sein Schwindel auf.

Ich bin so ein verdammter Idiot!, dachte er, während er voller Zuversicht in die Kamera lachte.

Zwei
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Sputnik-Schock

11. Oktober 1957
20:08 Uhr
Irgendwo im Asteroidengürtel

Piep, piep, piep, piep.

Ein dünnes, regelmäßiges Pfeifen drang aus den Schallfeldern. Pokollon’Mi-Rotticam raschelte verwirrt mit den Blütenblättern. Er riss sämtliche Fünfaugen auf und lugte in das Halbrund seines unfreiwilligen Gefängnisses. Das Geräusch hatte ihn aus dem Dreijahresschlaf geweckt.

Was ist das nun wieder für eine Teufelei?, dachte er schlaftrunken und hangelte sich näher an die Armaturen heran.

Sein Adjutant wuselte aufgeregt vor dem Zentralbildschirm herum. »Heiliger Mutterbusch, du heiliger Mutterbusch!«, summte er hastig und schlug einen Salto unter der Decke. »So hören Sie doch, Pokollon’Mi-Rotticam!«

»Ich höre es, Mitbürger«, antwortete der Wissenschaftler streng und zwang sich zur Ruhe. Seine Müdigkeit verflog schlagartig. Bloß nicht von der Aufregung anstecken lassen!, befahl er sich. Gefasster fuhr er fort: »Es piept. Aber was bedeutet es?«

»Das fragen Sie noch, fragen Sie noch?« Tebo’Le-Pittgom hangelte zu seinen Vorgesetzten hinüber, übersprang in einem Satz mehrere Haltestreben, dann ließ er sich an zweien seiner vier Krallen von der Decke baumeln. Seine Blütenblätter zitterten wild. »Unser Ticket nach Hause, Pokollon’Mi-Rotticam, zurück zu den Gärten von Mokkossh.«

»Sie meinen …?« Er ließ den Satz unvollendet; gespannt und fassungslos lauschte er dem stetigen Piepen. Nach Hause, dachte er, mit wilder, plötzlich aufkeimender Hoffnung. Raus aus diesem strauchverlassenen Sonnensystem, nach all der Zeit.

Die Rückkehr aus dem unfreiwilligen Exil und das Ende der Beobachtungsmission, zu welcher der General sie verdonnert hatte – plötzlich schienen sie greifbar.

Nervös wiegte Pokollon’Mi-Rotticam sich hin und her. Sein Same würde doch im Boden der Heimat keimen, anstatt hier auf diesem Asteroiden, in dieser Gesteinswüste zu vertrocknen. Wie tröstlich!

»Sie haben es geschafft, diese widerlichen, abstoßenden Tierkreaturen«, sirrte Tebo’Le-Pittgom aufgeregt, das jugendliche Gelb seiner Schale nahm einen leichten Orangestich an. »Sie haben endlich die Technologie entwickelt. Bald werden sie ihren Planeten aus eigener Kraft verlassen.«

Ein säuerlicher Duft entströmte Pokollon’Mi-Rotticams Blütenstempel. Er war gerührt wie lange nicht mehr. Dreihundert Planetenumläufe der Verbannung, endlich vorbei.

Der Forscher hatte nicht mehr damit gerechnet. Zweimal hatten die Fauniden schon versucht, sich in sinnlosen Kriegen auszulöschen, zuletzt mit der Kraft des entfesselten Atoms. Zum Glück war es nicht so weit gekommen. Pokollon’Mi-Rotticam hatte sie recht lieb gewonnen, diese Menschen. Und nun, endlich, lieferten sie ihm sein Ticket nach Hause.

Selig ließ er den Blick durch die Zentrale streifen: kastenförmige Aggregate vor grauen Wänden und unter silbrigen Deckenstreben. Braungrüner Belag bedeckte den Untergrund. Kurz, der langweiligste Raum des Sonnensystems. Bald würde er das alles hinter sich lassen.

Mit dem Handlungsarm deutete der Wissenschaftler zum Schallfeld. »Was ist das für ein Piepen?«, fragte er seinen Adjutanten erneut. »Ist es ein Raumschiff?«

Tebo’Le-Pittgom stellte das Wuseln unvermittelt ein. Schlaff hing er da, wie vom Schlag getroffen, und schien zu überlegen.

»Nein«, gestand er schließlich, von neuerlicher Unruhe erfasst. »Nur ein Satellit. Sie nennen ihn Sputnik, Sputnik, ja. Schon vor einer Woche gestartet. Das Piepsen ist bis jetzt in der Statik untergegangen, deswegen empfangen wir es erst jetzt.«

»Oh!«, brummte Pokollon’Mi-Rotticam enttäuscht. So viel Aufregung nur wegen eines Satelliten? Das war weniger als erhofft. Genaugenommen war das fast nichts.

Er verspürte den Drang, seinen Mitarbeiter zu tadeln, beließ es aber bei einem schwachen, halbherzigen Summen. Im Grunde verstand er diesen jungen Heißsporn gut. Verzweiflung und Ungeduld mussten mit ihm durchgegangen sein. Schlimmer war, dass er selbst sich hatte anstecken lassen. Ein Anfängerfehler!

Pokollon’Mi-Rotticam gab sich einen Ruck und stieß einen tröstenden Moorduft aus: Halb so wild, hieß das.

»Wir sagen einfach, das wäre kriegswichtige Technologie, sagen wir einfach, hm?« Tebo’Le-Pittgom plusterte die Blüte auf. Er klammerte sich mit allen vier Krallen an die Deckenverstrebung. Sein Handlungsarm baumelte herausfordernd von der Körpermitte herab. Sein Blick war fordernd.

»Wie Sie meinen, Tebo’Le-Pittgom«, stimmte Pokollon’Mi-Rotticam widerwillig zu. Ihm stand nicht der Sinn nach einem Disput. Die im Oberkommando würden den Jungen für seinen Übermut schon in die Schranken weisen. Und selbst wenn nicht – einen Versuch war es vielleicht wert.

»Ich verständige den General«, summte Tebo’Le-Pittgom eifrig.

»Den …« Pokollon’Mi-Rotticams Duftdrüse zurrte zusammen. Das säuerliche Aroma verebbte sofort. Einen Moment lang war er zu keiner Regung fähig.

Ein Bild entstand vor seinem inneren Auge: eine winzige Gestalt, die Haut von kränklichem Grün, von furchtbaren Narben entstellt und ein Furcht einflößender, scharfer Metallhaken anstelle der vierten Klaue.

Ein Schauder überkam den Wissenschaftler. Bloß nicht!, dachte er. Alles, nur nicht der General! Lieber saß er noch dreihundert weitere Erdenjahre auf diesem kargen, atmosphärelosen Kleinstplaneten und in diesem langweiligen Asteroidengürtel fest, als diese Begegnung in Kauf zu nehmen.

»Wir sind Forscher. Der General hasst uns«, raschelte Pokollon’Mi-Rotticam leise, ohne auf seinen Adjutanten zu achten. Ängstlich schlang er sich den Handlungsarm um den Leib.

»Akkallah’Pi-Mennitah hasst jeden, der kein Krüppel ist wie er«, widersprach Tebo’Le-Pittgom mit kaum verhohlenem Zorn. »Aber er ist auch dumm genug, auf so was reinzufallen. Belügen wir ihn einfach!«

Piep, piep, piep, piep, kam es stoisch aus dem Schallfeld.

Pokollon’Mi-Rotticam blieb stumm, lauschte dem Funkfeuer. Die Bewohner des dritten Planeten fielen ihm ein. Nicht auszudenken, was der General mit ihnen anstellen würde, wenn er erst mal hier war. Durfte er das denn zulassen?

»Ich will nach Hause, Mitbürger, nach Hause!«, drängelte Tebo’Le-Pittgom.

»Das will ich auch«, kanzelte Pokollon’Mi-Rotticam ihn barsch ab. »Aber was wird aus den Eingeborenen?«

»Die Eingeborenen?« Wütendes Knistern mischte sich in Tebo’Le-Pittgoms Entgegnung. »Sie sorgen sich um die Fauna

Erschrocken zuckte der Forscher zusammen, wich einige Sprossen vor dem Jüngeren zurück. Diese Aggression, dieser Zorn, wo kamen die nur her? Was machte diese Regierung mit ihrer Jugend? Er rollte sich zusammen.

»Die Fauna, genau«, gab er zu und beinahe schämte er sich dafür. Wenn man es so ausdrückte, klang es natürlich absurd.

So ganz konnte Pokollon’Mi-Rotticam sich seine Zuneigung zu den eigentümlichen Tierwesen selbst nicht erklären. Allein der Gedanke war heikel, unanständig. Und dennoch … Es waren doch seine Menschen!

»Wir haben kein Recht, uns in ihre Entwicklung einzumischen«, behauptete er tapfer. »Sie sind Wissenschaftler wie ich, Mitbürger. Hören Sie auf Ihr Gewissen.«

Tebo’Le-Pittgom antwortete nicht. Regungslos hing er da, ließ den Handlungsarm baumeln, als würde er auf ein stichhaltiges Argument warten.

»Der General wird diese Wesen ausrotten«, insistierte Pokollon’Mi-Rotticam.

»Wie so viele vor ihnen«, raunte sein Mitbürger scheinbar ungerührt, doch seine Blüte zitterte. Ein unangenehmer Gestank strömte plötzlich durch die Enge der Zentrale, wie nach ranzigem Essig. Sein Adjutant roch nach Angst.

Pokollon’Mi-Rotticam registrierte den Stimmungsumschwung ohne Triumph, jedoch mit maßloser Erleichterung. Er hatte wieder einmal die richtigen Worte gewählt. Nach all der gemeinsamen Zeit kannte er die Schwächen seines linientreuen Mitbürgers eben genau, wusste, wie man ihm am geschicktesten manipulieren konnte. Jetzt galt es, sofort nachzusetzen, bevor sein Adjutant die Fassung wiedergewann und das verschrumpelte Ungeheuer alarmieren konnte.

»Sputnik ist ja auch nur eine piepsende Blechdose«, tröstete er ihn, »keine Waffe. Nichts, was uns gegen die Limme’Korsh helfen könnte.«

Wieder blieb sein Gefährte still. Er schien in Gedanken versunken.

Gut, dachte Pokollon’Mi-Rotticam, endlich hatte er den Jungen dort, wo er ihn haben wollte. Jetzt nicht lockerlassen. Keine Zeit zum Nachdenken gewähren. Hastig fuhr er fort: »Stellen Sie sich vor, was der General erst mit uns anstellt, wenn wir ihn wegen solch einer überflüssigen Blechdose rufen. Der Entkerner wäre harmlos dagegen.«

Das hatte gesessen! Wütend warf Tebo’Le-Pittgom sich herum, ließ ein frustriertes Brummen fahren. Er hangelte zu den Sensorkontrollen und deaktivierte das Schallfeld. Dabei gab er ein hämisches, fauliges Aroma von sich. Eine Beleidigung und eine plumpe obendrein.

Pokollon’Mi-Rotticam nahm sie gleichmütig hin. Keine Frage, er hatte den Jüngeren tief getroffen. Mehr, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Beinahe tat Tebo’Le-Pittgom ihm leid.

Aber nur beinahe.

»Wenn ich feststelle, dass es hier nur um die Fauniden geht, werde ich Sie verraten, Mitbürger, Sie verraten.«

»Ja. Natürlich werden Sie das.« Der Forscher überlegte, wie er die Demütigung etwas abschwächen konnte. Es war Zeit für ein Friedensangebot – zumindest einen Teilsieg musste er Tebo’Le-Pittgom gewähren, wollte er nicht die nächsten hundert Zyklen dessen Zorn ertragen müssen.

Großspurig schlug er vor: »Hören wir einfach eine Weile ihre Funkbotschaften ab und schauen, ob sich etwas Neues ergibt.«

Er wartete die Reaktion seines Adjutanten gar nicht erst ab, sondern hangelte gemächlich zurück vor den Zentralbildschirm. Dort aktivierte er die Armaturen und den Schirm. Er regelte die Frequenz nach, auf der Suche nach einem Fernsehbild von der Faunidenwelt.

»Wenn Sie meinen, Mitbürger«, knurrte Tebo’Le-Pittgom beleidigt.

Pokollon’Mi-Rotticam betete zu den Prone’Dos, dass der Jüngere ihm seine Gelassenheit abkaufte. Dessen Drohung, ihn zu verraten, ließ ihn nicht kalt: Galt man in den Augen des Volkes als Tierfreund, konnte man sich gleich freiwillig auf den Komposter schmeißen. Eine größere Schande gab es nicht. Alleine das Gerücht war gefährlich, wenn es erst mal in der Welt war.

Pokollon’Mi-Rotticam überließ seinem Adjutanten den Platz vor dem Bildschirm und zog sich zurück. Schließlich kuschelte er sich in die Ecke, den Bauch voll düsterer Ahnungen. Er schloss drei seiner Fünfaugen und brummte, so leise wie möglich, ein Mantra vor sich hin. Wachsamkeit, ermahnte er sich. In Zukunft musst du vorsichtiger sein. Und noch besser auf die Erdlinge achten.

Denn die Sache war noch nicht ausgestanden. Da machte er sich nichts vor. Der Sputnik war bloß der erste Schritt für die Menschen, ein zaghaftes Kratzen an der Grenze zum All. Raumschiffe würden folgen, Erkundungsflüge zu benachbarten Systemen. Sie würden bald Aufmerksamkeit erregen, diese Wesen. Mehr, als gut für sie war. Und spätestens dann würde der General kommen und sie für ihren Fortschritt bestrafen. Daran führte kein Weg vorbei. Pokollon’Mi-Rotticam graute jetzt schon davor.

Immer tiefer steigerte er sich in sein Mantra, sein Gebrumme wurde lauter und lauter. Doch seine Ruhe war verflogen. Die Sorge wuchs und quälte ihn, wie ein Stachel im Fruchtfleisch: Sputnik, dachte er bitter. Diese blöde, piepsende Blechdose!

Drei
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Nur Quatsch im Fernsehen

11. Oktober 1957
20:16 Uhr
Pasadena

»Elender Angeber!«, rief Natasha Koshkin und sprang aus dem Sessel. Mit ausladenden Schritten durchmaß sie das Wohnzimmer und schaltete kopfschüttelnd den Fernseher aus. Die Mattscheibe verblasste und mit ihr das Abbild ihres Vaters. Es wurde düster im Raum.

Ihr Verlobter Geoffrey saß auf der Couch, blickte sie aus großen, rehbraunen Augen an. Er rückte die Hornbrille zurecht, fegte sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn und versuchte, sie mit spitzen Fingern unter den restlichen Haaren festzuklemmen. Die Pomade musste ihm ausgegangen sein.

»Warum machst du das aus, Schatz?«, fragte er ungehalten. »Ich hätte das gern gesehen.«

Natasha stemmte die Arme in die Hüften. Keine Chance, sie konnte sich diese Sendung nicht mehr antun. Nicht, wenn Daddy diesem Weinstein weiter solche Lügen auftischte.

Sie schüttelte den Kopf – ein Sternentriebwerk, so ein Unsinn! So etwas hatte Boris Koshkin noch nie erfunden, das hätte sie schließlich mitbekommen.

»So typisch! Dieser Aufschneider! Diese blöde Angeberei!«, schnauzte sie und drehte sich zu Geoffrey herum. Ihr Ellenbogen streifte den vertrockneten Ficus auf der Fensterbank. Seine Blätter lösten sich, wirbelten durch die Luft und landeten auf dem Teppich, wo älteres Laub sich bereits in den Ecken sammelte.

»Angeberei?«, echote Geoffrey und seine Stimme nahm einen scharfen Klang an. »Wovon redest du?«

Sofort tat ihr die Ruppigkeit leid. Sie hatte sich im Ton vergriffen, wieder mal. Mühsam unterdrückte sie den Drang, sich die weißblonden Haare zu raufen. Es wäre eine klassische Daddy-Geste gewesen und im Augenblick war sie nicht sonderlich stolz auf ihren Vater. Außerdem, für eine Dame geziemte sich so etwas nicht.

»Du hast es doch auch gehört«, erwiderte sie anstelle einer Erklärung. »Diese Farce!«

Geoffrey antwortete nicht, in rascher Folge wechselten die Emotionen auf seinem Gesicht: Ärger, Verwunderung – und ein bisschen Angst, vermutlich vor ihr. Unentwegt schaute er sie an, als könnte er auf ihrer Nasenspitze eine Erklärung für ihr Verhalten finden.

»Welche Farce? Welchen Teil meinst du?«, fragte er schließlich, als wollte er sie ärgern. Die störrische Strähne fiel ihm ins jugendliche Gesicht zurück. Diesmal wischte er sie nicht weg.

Natasha entfuhr ein Ächzen, dann gab sie dem Drang nach und raufte sich tatsächlich die Haare. Es war zum Verzweifeln. Ihr Verlobter konnte so begriffsstutzig sein, wenn er wollte!

Sie zählte langsam bis fünf. Dann lächelte sie, wenn auch gezwungen. Hatte ja keinen Wert. Geoff war eben kein Physiker wie ihre Eltern und sie selbst. Noch nicht mal Wissenschaftler.

Die Stimme ihres Vaters hallte in ihren Gedanken wider, eine seiner üblichen, akzentreichen Tiraden: Ingenieure! Schrauber, bessere Handwerker. Daddy hasste Handwerker.

Vielleicht, kam ihr, hatte sie sich genau deshalb für Geoff entschieden. Leider war er wirklich nicht der Hellste.

Natasha machte einen Schritt auf ihn zu und faltete die Hände wie zum Gebet. Mit ernstem Blick erklärte sie: »Diese Show zieht er doch nur wegen von Braun ab. Er kann es nicht ertragen, dass der ihn überflügelt.« Sie winkte ab. »Die beiden hassen sich seit Jahren.«

»Stell dich nicht so an.« Geoffrey fasste sich an die Brust, wirkte ehrlich ergriffen. »Wenn ich so ein Supertriebwerk erfunden hätte, wäre ich auch stolz. Das ist doch keine Angeberei!«

»Geoff …« Sie verdrehte die Augen, warf in gespielter Verzweiflung die Arme in die Luft. Erlaubte er sich einen Spaß mit ihr? So naiv konnte selbst er nicht sein! Ihre Blicke sprühten Gift.

Sie sah den Glanz in seinen Augen, das entrückte Lächeln auf den schmalen Lippen.

Die Zurechtweisung blieb ihr im Hals stecken. Kein Zweifel, er meinte das wirklich ernst. Geoffrey kaufte Daddy die Geschichte mit dem Wundertriebwerk voll und ganz ab. Und eigentlich war das auch kein Wunder.

Natashas Verlobter verehrte den Professor. Offenbar traute er ihm alles zu. Oder vielleicht wollte er ihm auch einfach glauben und ignorierte absichtlich alle Ungereimtheiten. Irgendwie schon niedlich, fand sie, und trotzdem – sie konnte es ihm nicht durchgehen lassen. Dies war der Mann, den sie einmal heiraten würde, verdammt noch mal! Er durfte kein Schwachkopf sein, und damit basta!

Kraftlos setzte sie sich neben ihn. Eine Staubwolke wirbelte auf, als sie ins Polster plumpste. Flusen tanzten durch einen einsamen Lichtstrahl, der vorwitzig durchs Fenster fiel.

»Geoffrey«, begann sie von Neuem, in einem Tonfall, in dem man einem sechsjährigen erklärt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. »Diese Superrakete existiert nicht. Vater hat sie sich bloß ausgedacht.«

»Aber natürlich, Schatz«, erwiderte Geoffrey stirnrunzelnd. »Genau das hat er doch auch gesagt: Er hat das Funktionsprinzip im Kopf, aber die Rakete muss er noch bauen.«

Ihre Finger krallten sich um seine Hosenträger. Jeder Physikstudent – selbst einer im ersten Semester wie sie selbst – wusste, dass keinerlei theoretische Grundlagen für ein solches Triebwerk existierten, dass Daddy gelogen haben musste. Sie atmete tief ein. »Nein, Geoffrey, das meinte ich nicht, sondern …«

»Du denkst wieder mal, ich wäre naiv, nicht wahr, Natasha?«

»Nein, ich …«

»Meinst du, er lässt mich mitmachen, Schatz?«

»Was?« Einen Augenblick lang fühlte sie sich, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst.

Geoffrey nahm ihre Finger von seinen Schultern und führte sie zu seinem Schoß. Der penetrant süßliche Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase, einen Augenblick lang kämpfte sie mit dem Niesreiz.

Geoffrey grinste. »Ich habe dir doch erzählt«, begann er stockend, »wie ich als Kind mit dem Teleskop meines Onkels zu den Sternen geschaut habe.«

Sie hörte sich leise seufzen. Da war er wieder, dieser weiche, anschmiegsame Blick, der sie von Anfang an so sehr in seinen Bann gezogen hatte. In den sie sich verliebt und der ihren Beschützerinstinkt geweckt hatte. Verdammte Urtriebe!

»Jaaa«, machte Natasha gedehnt. Sie ahnte, worauf er hinauswollte, wie das Gespräch sich entwickeln würde. Das war nicht gut, überhaupt nicht. Er verrannte sich da in was.

»Und wie ich heimlich Astounding Magazine und so’n Kram gelesen habe.«

»Hm.«

Er führte ihre Hände an seine Brust. Abwechselnd rieb er die Füße aneinander. Es machte Natasha ganz konfus. Das wirkte mädchenhaft, wollte nicht zu ihm passen.

»Mein Traum war es immer, eines Tages selbst ein Raumschiff zu bauen. Eines, das wirklich zu den Sternen reisen könnte. Nur deshalb wollte ich Ingenieur werden.«

»Das weiß ich doch alles schon, Geoffrey«, entgegnete sie leise. Sie würde ihn verletzen müssen, wenn sie ihn gleich von seiner Wolke holte. Es tat ihr jetzt schon leid, aber so lagen die Dinge nun mal. Warum musste sie immer die Erwachsene sein? Wieso durfte er ein großer Junge, ein Träumer bleiben und sie nicht?

»Und jetzt hat dein Vater ein Triebwerk erfunden und er braucht das passende Raumschiff dazu. Also was denkst du, Schatz, würde er es mich bauen lassen?«

Die Tochter des Professors ächzte. Sie zwang sich einmal mehr zu einem Lächeln, legte sich die Worte zurecht. »Ich weiß nicht«, begann sie zögerlich.

Das war streng betrachtet schon eine Notlüge, sie wusste natürlich genau, was Daddy dazu sagen würde: nichts. Stattdessen würde er ihn wortlos auslachen, ihn als Fantasten beschimpfen. Es blieb dabei, sie musste diesen Quatsch beenden. Hier und jetzt. Geoffrey zuliebe.

Andererseits … es könnte sie auch zusammenbringen.

Die Idee war plötzlich in ihrem Kopf, als hätte sie ihr jemand eingegeben. Sie legte die Hand ans Kinn, musterte ihren Verlobten abschätzig.

Aus der Idee wurde ein Plan. Langsam nahm er in ihren Gedanken Gestalt an. Ja, das konnte funktionieren. Es würde klappen: Daddy brauchte jemanden, der diesen Schwindel mit ihm durchzog. Ein Faktotum, einen willigen, fähigen Helfer. Alles, was Geoffrey dafür tun musste, war, sich ein bisschen zum Affen zu machen. Das konnte er immerhin gut. Und dann würde der Professor sehen, dass sein Schwiegersohn in spe doch zu etwas taugte.

»Ich finde, du solltest ihn fragen«, vollendete sie ihren Satz. Aufmunternd lächelte sie ihn an, mit gekräuselter Oberlippe. »Bring dich ein, bau ihm die beste Rakete, die je ein Mensch gebaut hat. Eine, die von Braun alt aussehen lässt.«

»Au, ja, Schatz!«, sagte der Ingenieur grinsend und rieb sich die Hände dabei. Die Vorfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Beweis ihm, dass du nicht der Nichtsnutz bist, für den er dich hält.«

»Tut er das?«, fragte Geoffrey und sein Lächeln war plötzlich wie von seinen Lippen gefegt. »Das wusste ich gar nicht.«

Natasha presste die Kiefer zusammen. Ich und mein großes Maul!, ärgerte sie sich und schnitt eine Grimasse.

Hastig stieß sie ein Lachen aus und legte den Kopf an seine Schulter. Eine Weile atmete sie seinen Rasierwasserduft.

»Bist du ja auch nicht«, tröstete sie ihn. »Aber du kennst Vater, du weißt doch, wie er ist. Keine Menschenkenntnis. Er hält ja sogar Mr. Saizew von nebenan für einen KGB-Spion. Wegen dieses Lederkästchens, das er immer um den Hals trägt.«

Sie deutete durch das verschmierte Wohnzimmerfenster auf ein Haus in der Nachbarschaft. Dabei lächelte sie, spöttisch wie stets, ließ dann eine Fingerspitze vor der Stirn kreisen – die universelle Geste für »bekloppt«.

»Ja«, hauchte Geoffrey sanft, während er die Arme um sie legte und sie an sich drückte. Seine Gedanken waren ganz klar woanders, stellte sie fest. Vermutlich malte er sich schon aus, wie es sein würde, mit Daddy an der Rakete zu schrauben. Oder er stellte im Kopf schon erste Statikberechnungen an, wie es halt seine Art war. Er war eben ein Träumer. Ein großer Junge, dachte sie und zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Irgendwie liebte sie ihn ja auch genau deswegen.

Geoffrey küsste sie auf die Stirn. Sie schloss die Augen und genoss es.

»Ich will nur, dass er mich mag«, meinte er. »Dass er weiß, dass ich gut genug für dich bin.«

»Hm.«

»Aber was soll’s? Dein Vater ist nun mal ein Genie und Genies sind eben so.«

Vor allem aber, fügte Natasha in Gedanken stur hinzu, ist er ein aufgeblasener, egozentrischer Angeber. Rakete hin oder her – sie würde dem alten Dickkopf ins Gewissen reden müssen, wenn er nach Hause kam. Und zwar gehörig.

Das hieß, sobald er und Geoffrey die Rakete gebaut und sich zusammengerauft hatten.

Und das kann Monate dauern, schloss sie bitter.