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Rolf Schönberger

Thomas von Aquin zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1998 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung : Florian Zietz

Titelfoto : Archiv Gerstenberg

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-046-6

Basierend auf Print-Ausgabe

ISBN 978-3-88506-351-3

4., ergänzte Auflage Oktober 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

Thomas – ein Philosoph?

Lebensgang und Kontext

2. Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie

3. Die Metaphysik

Begriff und Begründung der Metaphysik

Der Begriff des Seins

Sein und Form

Transzendentalien

Grundzüge der Gotteslehre

4. Der Mensch

Die Einheit von Leib und Seele

Die Individualität des Intellektes

Die Kraft des Denkens

Die Funktion des Intellektes

Die Unsterblichkeit der Seele

5. Die Praxis

Vernunft und Wille

Die Struktur der Handlung

Vernunft und Leidenschaft – das Gesetz

Elemente der Staatslehre

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

Es bedarf keiner eigenen Versicherung, daß eine Einführung in das Werk des Thomas von Aquin eine schwierige Aufgabe darstellt. Das Werk ist von beträchtlichem Umfang, seine Form im Verhältnis zu den Texten der antiken und der neuzeitlichen Philosophie fremdartig und in mancher Hinsicht vielleicht zunächst auch abweisend, seine historischen Umstände sind in unübersehbar vielen Details nur sehr lückenhaft bekannt. Und nicht zuletzt: Der Autor dieses Opus hat sich selbst sicherlich nicht als Philosoph bezeichnet.

Zu größeren methodischen Erörterungen ist hier nicht der Raum. Doch einige Hinweise mögen gleichwohl nützlich sein: Es werden hier einige, für das Thomasische1 Denken kennzeichnende Konzepte herausgegriffen. Eine zusammenfassende Gesamtdarstellung seiner Lehren kann hier nicht geboten werden – auch wenn sie in deutscher Sprache dringend zu wünschen wäre. Es soll hier nicht zu anderen Einführungen und Darstellungen des Thomas einfach eine weitere hinzugefügt werden, sie kann und will aber auch die derzeit greifbaren nicht ersetzen. Die beiden großen Werke von James Weisheipl (Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, Graz/Wien/Köln 1980) und Jean-Pierre Torrell (Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg/Basel/Wien 1995) haben ihr Schwergewicht in der Darstellung des Lebensganges und des historischen Umfeldes seiner Werke. M.-D. Chenu (Das Werk des Hl. Thomas von Aquin, 2. Aufl., Graz/Wien/Köln 1982) legt das Schwergewicht auf historische Beobachtungen und geistesgeschichtliche Deutungen. Daß insbesondere seine Untersuchungen zu Terminologie und Sprache des Thomas keine adäquate Fortsetzung gefunden haben, kann man nur bedauern. Die vor wenigen Jahren erschienene Einführung von G. Mensching (Thomas von Aquin, Frankfurt/M./New York 1995) versucht, Thomas im Gesamtgang der europäischen Denkgeschichte zu situieren. R. Heinzmann (Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1994) legt den Akzent auf Thomas’ schöpfungstheologische Option für den Aristotelismus. Durch seine kulturphilosophische Weite und seine Sensibilität für die Persönlichkeit des Thomas bleibt das vielgelesene Werk von Josef Pieper (Thomas von Aquin. Leben und Werk, 4. Aufl., München 1990) immer noch eine unersetzliche Eröffnung.

Wer eine umfassende Darstellung der Lehren des Thomas sucht, dem wird man vielleicht H. Meyer (Thomas von Aquin. Sein System und seine geistesgeschichtliche Stellung, 2. Aufl., Paderborn 1961), weit besser noch A.D. Sertillanges (Der hl. Thomas von Aquin, 2. Aufl., Köln/Olten 1954) empfehlen. Daß É. Gilsons Buch (Le Thomisme. Introduction à la philosophie de saint Thomas d’Aquin, 5. Aufl., Paris 1944) im Unterschied zu seinen anderen Einführungsschriften niemals ins Deutsche übersetzt worden ist, wird auch der bedauern, der seiner Thomas-Deutung nicht durchweg folgen kann. Es ist diejenige Einführung, für die man, eine Ausdrucksweise des Aristoteles verwendend, sagen kann, sie sei philosophischer als alle anderen.

Sie ist zugleich nicht nur eine monographische und damit systematische Darstellung, sondern macht darüber hinaus einen prägnanten Vorschlag, das Denken des Thomas in den theoretischen Alternativen seiner Zeit, insbesondere im Augustinismus, zu situieren.

In der vorliegenden Einführung sollen nur einige zentrale Konzeptionen eingehender behandelt werden. Daß sie aus einem weitaus umfangreicheren Werk herausgegriffen sind, läßt sich allenfalls dadurch einigermaßen aufwiegen, daß sie sowohl als grundlegend wie als charakteristisch gelten können. Die Zahl der Textverweise ist bewußt knapp gehalten worden, vieles ließe sich zumeist mit einer längeren Reihe von Belegen dokumentieren. Das Gelingen einer solchen Einführung hängt davon ab, ob durch sie jemand angeregt wird, dieses staunenswerte Œuvre auch selbst zu studieren – entweder weil er etwas von Interesse verstanden hat oder weil er Interesse entwickelt hat, es besser verstehen zu wollen.

1. Einleitung

Thomas – ein Philosoph?

Eine Einführung in das philosophische Denken des Thomas von Aquin muß sich auch damit beschäftigen, daß er selbst gewiß weit davon entfernt war, sich als einen Philosophen zu bezeichnen. Nicht wenige Denker seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts haben die Überzeugung geäußert, es gebe im Mittelalter generell keine Philosophie, die der Rede wert sei (Hegel) oder die es gegenüber der Macht von Kirche und Theologie zur Selbständigkeit gebracht habe (Russell, Heidegger, Jaspers etc.). Allenfalls Anselm von Canterbury gestehen manche einen ursprünglich philosophischen Gedanken zu.

Es ist eine Tatsache, daß Thomas wie jeder andere, der an der mittelalterlichen Universität ein Studium absolviert hat, auch eine philosophische Ausbildung durchlaufen hat. Daß Thomas aber nicht allein von philosophischer Kompetenz und Bedeutung, sondern im Hinblick auf die europäische Denkgeschichte ein philosophischer Kopf ersten Ranges ist, ergibt sich jedoch überhaupt nicht aus seiner institutionellen Zugehörigkeit oder gar aus seinem Selbstbewußtsein, sondern aus einer interpretierenden Beurteilung der von ihm hinterlassenen Texte. Er selbst aber war seit ungefähr seinem dreißigsten Lebensjahr »Magister in sacra pagina«: Professor der Theologie. Wer die Existenz der Philosophie im Mittelalter generell leugnet, begibt sich der Möglichkeit, den Unterschied zwischen der Theologie und denjenigen Bemühungen, die an der allen anderen vorgeschalteten Fakultät der »Artes« unternommen worden sind, genauer fassen zu können. Er verschenkt auch die Möglichkeit, den Unterschied der sehr verschieden strukturierten Theologien eines Bonaventura, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Johannes Duns Scotus, William Ockham etc. zu verstehen. Wie immer man heute die Bedingung der Möglichkeit für die Verschiedenheit von Theologien ansetzen mag, Thomas von Aquin selbst hat sie bei den frühen Lehrern der Kirche mit der Verschiedenheit ihrer jeweiligen philosophischen Ausrichtung erklärt: »Die Ausleger der Heiligen Schrift sind dadurch unterschieden, daß sie Anhänger der verschiedenen Philosophen gewesen sind, durch die sie in Philosophie gelehrt worden sind.« (Sent. II d. 14 q. 1 a. 2)

Die denkerische Statur, die sich etwa in Bonaventuras Sentenzenkommentar, in Alberts Aristoteles-Kommentierung, in Thomas’ Aneignung und Transformation der Aristotelischen Philosophie, in der Neukonzeption der Metaphysik bei Duns Scotus oder in der Neukonzeption der Logik bei Ockham zeigt, hat in der Artes-Fakultät, an der ja auch in diesem Zeitraum jeweils jüngere Kollegen tätig waren, keine Parallele. Man kann aber auch schon aus historischer Perspektive zeigen, daß die neuzeitliche Philosophie in ungleich stärkerem Maße von den Theorien der mittelalterlichen Theologie profitiert hat als von denen aus der philosophischen Fakultät. Nicht allein dem sachlichen Gehalt, auch der historischen Wirksamkeit nach haben – zumindest was das 13. Jahrhundert betrifft – die aus der theologischen Fakultät kommenden Erörterungen zu Fragen von Einsicht und Selbstbestimmung, Wissen und Glauben, Notwendigkeit und Kontingenz, Bild und Repräsentation, Beurteilungskriterien für Handlungen etc. ungleich größeres Gewicht als die aus der Artes-Fakultät. Mag mitunter die Selbstbegrenzung auf die exegetische Bemühung durch Köpfe wie Siger von Brabant, einem der führenden Artes-Lehrer (unter sehr vielen anderen, die uns unbekannt sind), auch eine gewisse Schutzfunktion haben, die mit einer positiven Aneignung der Aristotelischen Philosophie verbundene denkerische Anstrengung hat doch zu im ganzen interessanteren, vor allem aber philosophisch gewichtigeren Konzeptionen geführt. Nicht zuletzt die internationale Konkurrenz in den theologischen Fakultäten der großen Universitäten des Mittelalters hat eine ungeheure intellektuelle Potenz entfaltet.

Es bleibt jedoch gleichwohl die Frage bestehen: Wie kommt dort Philosophie vor? Die Wirklichkeit von Philosophie in einer historischen Epoche oder Kultur läßt sich nicht wie eine Gesteinsart in einer Erdschicht feststellen. Etwas als Philosophie anzuerkennen setzt schon einen bestimmten Begriff von Philosophie voraus, und dieser ist notorisch kontrovers.2 Dieser Begriff muß jedoch der Minimalanforderung genügen, nicht die eigene Geschichte der Philosophie zu etwas anderem zu verfremden. Denn ohne diese Geschichte gäbe es die Philosophie heute gar nicht. Nicht allein, daß Philosophie in der Gegenwart primär eine Angelegenheit von Professoren der Universität ist, hat seine Wurzeln im Mittelalter, die Universität selbst, die der Gewinnung und der Vermittlung des Wissens gewidmete Institution, ist eine mittelalterliche Institution. Deren Entstehung hat zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich etwas mit der Philosophie und ihren Reflexionen darüber zu tun, worin Wissen besteht, wie es zu gewinnen ist, und vor allem darüber, was sich zu wissen lohnt.

Nicht zuletzt vollzieht sich im 13. Jahrhundert ein Kampf um die Philosophie selbst. Wer die Existenz der Philosophie im Mittelalter bestreitet, könnte diesen mitunter dramatischen Konflikt nur ignorieren. Gerade die mittelalterliche Theologie erhebt den Anspruch, eine als verbindlich anerkannte Wahrheit sowohl in ihrem internen Zusammenhang wie im übergreifenden Kontext menschlichen Wissens verstehen und durchdringen zu wollen. Sie greift deshalb nicht bloß auf die antike Philosophie zurück, sie muß die Kraft des philosophischen Denkens, theoretisch die Dinge und praktisch das Leben des Menschen bestimmen zu können, von Grund auf neu durchdenken. Dies geschieht jedoch bei den größten Denkern der Scholastik auf eine Weise, daß sie nicht allein in der späteren Philosophie wirksame, sondern eben auch dem eigenen Anspruch nach philosophische Gedanken entwickeln – aber nicht bloß so, wie auch Dichter, Staatsmänner, Maler und Physiker gelegentlich grundsätzlich werden, sondern so, daß jene Denker in der Assimilation antiker Traditionen philosophische Gedanken von eigener Substanz und Originalität entwickeln. Es handelt sich also nicht bloß um Gedanken, die man philosophisch nennen kann, sondern um philosophische Theorien im eigentlichen Sinne. Gewiß sind hierfür vielfach religiöse Überzeugungen der Anlaß, aber daß man sie zum Anlaß nimmt und wozu sie zum Anlaß werden, ist nicht mehr Religion oder Theologie, sondern eben Philosophie. Dies gilt natürlich jeweils in unterschiedlichem Maße – bei Thomas in einem besonderen. Anders als mancher moderne Thomas-Kritiker haben dies im Mittelalter – unter den erschwerenden Bedingungen zeitlicher Nähe – sogar solche anerkannt, die, wie Siger von Brabant oder Dante, Gottfried von Fontaines oder Meister Eckhart, gewiß keine Thomisten waren.

Die Leistungen des Thomas von Aquin in der Geschichte des Denkens zu verstehen suchen heißt, ihn zunächst in seinen historischen Kontext zu stellen. Denn wie kommt es, daß ein »Magister in sacra pagina« nicht nur zu einem Kirchenlehrer – sogar dem »doctor communis« –, sondern auch – allerdings erst im 20. Jahrhundert wieder – zu einem der großen Klassiker der Philosophiegeschichte wird?

Diese unvermeidlich allgemein gehaltenen Fragen und Überlegungen lassen sich nun unschwer konkretisieren, wenn wir uns dem Lebensgang des Thomas von Aquin und in sehr gedrängter Form dem Zeitkolorit dieser Biographie zuwenden.

Lebensgang und Kontext

Wie bei allen großen Gestalten des mittelalterlichen Denkens ist auch bei Thomas von Aquin das Geburtsdatum nicht bekannt; trotz aller Forschungsbemühungen – und wohl bei keinem anderen Scholastiker waren diese so intensiv – hat sich das Geburtsjahr nur näherungsweise bestimmen lassen: 1224/25. Thomas stammt aus der Grafschaft (nicht: Ortschaft) Aquino, etwa dreißig Kilometer von Neapel entfernt. Seine Eltern gehörten dem Adel an; sein Vater trug aber lediglich den Titel »miles« (Ritter). Thomas hatte mindestens acht Geschwister: drei Brüder und fünf Schwestern. Von einem seiner Brüder sind Gedichte überliefert. Ob sein Vater auch zuvor schon einmal verheiratet war oder ob es mehrere Träger des Namens seines Vaters gibt, hat sich bis heute nicht vollständig klären lassen. Der zweitälteste Sohn Rinaldo, der zunächst ein Anhänger des Kaisers war, wechselte auf die Seite des Papstes Innozenz IV., nachdem dieser 1245 den Kaiser für abgesetzt erklärt hatte. Rinaldo ist deshalb zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Immer wieder stand die Familie im Spannungsfeld der Konflikte zwischen Kaiser und Papst.

Wie damals üblich, wurde Thomas als jüngstes Kind im Alter von fünf oder sechs Jahren dem benachbarten Kloster übergeben. Ob der Vater damit die Hoffnung verband, sein Sohn werde dort wie sein Bruder eines Tages Abt werden, wissen wir nicht. Dieses Kloster war Monte Cassino. Von Benedikt 529 gegründet, ist es lange Zeit einer der wichtigsten Orte des abendländischen Mönchstums gewesen. Mittlerweile stand dort aber auch ein kaiserliches Kastell. Zu den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Friedrich von Hohenstauffen und dem Papst gehörte u.a. der Streit um die Herrschaft über das immer noch mächtige Mutterkloster des Benediktinerordens. Als sich nach einer Zeit relativer Ruhe wieder Konflikte ankündigten, beschlossen die Eltern, Thomas nach Neapel zu schicken. Dies war 1239, Thomas war nach knapp einem Jahrzehnt im Kloster inzwischen ungefähr vierzehn Jahre alt. Dafür, daß Thomas damals bereits Benediktinermönch gewesen ist, gibt es keine zwingenden Beweise.

Der Wechsel nach Neapel ist für den geistigen Werdegang des Thomas von ungeheurer Bedeutung: Die dortige Universität hatte Friedrich II. 1224 als Konkurrenz zu Bologna gegründet. Seine Untergebenen durften nirgends sonst studieren. Thomas kam durch äußere Umstände hier in Kontakt mit jenem Wissen, das in der lateinischen Kultur keine Entsprechung hatte: mit griechischer Philosophie, insbesondere der des Aristoteles, und mit arabischer Astronomie. An keinem anderen Ort in Europa war zu dieser Zeit ein so unmittelbarer Kontakt mit der Wissenschaft der Antike und Arabiens möglich.

Was auf individueller Ebene für den jungen Thomas zunächst der Kontakt mit einer anderen Welt war, erweist sich als die Spiegelung eines globalen Vorganges: Die Rezeption des Aristotelismus läßt sich einerseits in ihrer Bedeutung nur schwer überschätzen, sie läßt sich aber andererseits auch nur schwer mit anderen kulturübergreifenden Kontaktnahmen vergleichen. Thomas’ denkerische Leistung ist jedoch kein bloßes Element innerhalb einer geistigen Kontinentalverschiebung. Worin die Bedeutung dieser Rezeption liegt, war zu dieser Zeit noch nicht entschieden, sondern wurde vielmehr durch die denkerische Leistung des Thomas wesentlich mitbestimmt.

Aristoteles bietet auf der Grundlage weniger rationaler Prinzipien – Vernunft, Natur, Erfahrung – im Kontext des mittelalterlichen Weltwissens eine damals praktisch konkurrenzlose Gesamt- und Detaildeutung der natürlichen Wirklichkeit. Zugleich wird eigentlich erst durch den Aristotelismus ein ausgearbeiteter Begriff von Wissen zugänglich. Man wird zwar die exegetischen Bemühungen eines Origenes oder Hieronymus als wissenschaftlich bezeichnen. Aber ist das Unternehmen eines Augustinus, eines Eriugena oder eines Anselm »Wissenschaft«? Erst jetzt entsteht eine wissenschaftliche, weil scholastische (schulmäßige) Theologie, die einen legitimen Ort an den aufkommenden Universitäten hat.3

Die Rezeption des Aristoteles ist im ganzen gesehen nur ein Element in der sog. Renaissance des 12. Jahrhunderts. Zunächst entstand eine Übersetzungsbewegung, die bis zum Ende des Jahrhunderts nahezu das gesamte Werk des Aristoteles dem lateinischen Mittelalter zur Verfügung stellte. Nur ein ganz geringer Teil der Aristotelischen Philosophie, nämlich wiederum nur ein Teil seines Organons, war durch die Übersetzertätigkeit des Boethius am Anfang des 6. Jahrhunderts bekannt. Aristoteles war über Jahrhunderte zwar fremd geworden, aber eben nicht exotisch. Wie sollte man jetzt diese Inhalte und diese Art zu denken unmittelbar verstehen können?

Aristoteles wurde erst durch die mittelalterliche Rezeption zu einer Gestalt, die für Denker vom Rang eines Leibniz, Hegel oder auch Heidegger inspirativ werden konnte. Seine antike Rezeptionsgeschichte ist wechselvoll und in Anbetracht des Gewichtes dieser Philosophie auf eine merkwürdige Weise unproportioniert. Eine Philosophie, die im Raum der griechischen Polis entwickelt wurde, ist natürlich in Städten, in denen die Grundsteine für die Kathedralen gelegt werden, ein Fremdkörper. Doch gehörten wie gesagt auch zur frühmittelalterlichen Tradition immerhin schon Teile der Aristotelischen Logik und deren Vermittlung durch Boethius. Aber die großen Pragmatien – Über die Seele, die Nikomachische Ethik, die Physik, die Metaphysik etc. – wurden doch erst jetzt zugänglich.

Hier wuchs den Leistungen der muslimischen Kultur eine unersetzliche Funktion zu. Nicht die Übersetzungen über die arabischen Übersetzungen, die auch ihrerseits zum Teil bereits über das Syrische vermittelte Übersetzungen waren, waren entscheidend; die meisten Aristoteles-Übersetzungen waren solche aus dem Griechischen, und wenn beide vorlagen, wurden diese in der Regel vorgezogen. Zeitlicher und »geistiger« Abstand zu diesem Denker der Antike sagen etwas darüber, welcher Anstrengung es bedurfte, sich das Denken des Aristoteles wieder verständlich zu machen. Entscheidend ist daher, daß der muslimische Kulturkreis bereits seit Mitte des 10. Jahrhunderts, also zwei Jahrhunderte vor dem lateinischen Westen, nahezu über das gesamte Corpus des Aristoteles verfügte. Dies bedeutete naturgemäß einen immensen Vorsprung in der Aneignung und in der Erfahrung bei den damit verbundenen Konflikten. Nirgends war die Konfrontation der biblischen Religion mit der Antike problemlos, weder in der Patristik noch in der jüdischen Kultur, ebensowenig im Islam. Das Christentum des Mittelalters wiederholte dabei nicht bloß die Konflikte, die der Islam schon vorher ausgetragen hatte. Es setzte sich auch seinerseits damit auseinander, wie man dort diesen Konflikt ausgetragen und intellektuell verarbeitet hatte.

Es bedeutet eine erhebliche Inanspruchnahme der Imaginationskraft, wenn man sich die Bedeutung dessen vor Augen führen soll, was sich in der mittelalterlichen Geistesgeschichte im Hinblick auf die Orientierung an Denkern aus dem islamischen Kulturbereich zugetragen hat. Die großen mittelalterlichen Theologen und Philosophen – Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Meister Eckhart etc. – verfassen ihre Werke und haben dabei ständig die Opera (oder doch die handlicheren Zitatensammlungen) islamischer Autoren zur Hand! Man kann wohl – ganz ohne rhetorische Übertreibung gesagt – keine zehn Seiten eines beliebigen scholastischen Autors lesen, ohne auf irgendein Zitat, einen Verweis oder eine sonstige Spur jener Autoren zu stoßen. Maßgebliche konzeptionelle Entwicklungen im mittelalterlichen Denken sind ohne die Konfrontation mit Denkern aus der muslimischen Kultur nicht verstehbar. Es sind darüber hinaus gerade diejenigen, in denen das Denken des Mittelalters Leistungen erbracht hat, die in manchem auf die Neuzeit oder doch auf das, was man gemeinhin dieser als charakteristisch zuordnet, vorausweisen.

Die Aristoteles-Rezeption verläuft grob gesprochen in zwei Phasen: Während im 12. Jahrhundert die erste Übersetzungswelle erfolgte, war die geistige Auseinandersetzung im wesentlichen ein Werk des 13. Jahrhunderts. Jetzt erst wurden auch die Werke – faktisch natürlich nur ein Teil des jeweiligen Œuvres – der arabischen Autoren selbst bekannt; vor allem Avicenna und Averroes sind hier zu nennen. Die eindringlichen Kommentare des letzteren wurden bis ungefähr 1245 zugänglich. War die arabische Aneignung zunächst eine unersetzliche Erschließungshilfe, so hat sich das Denken des lateinischen Westens nach und nach verselbständigt und das eigene Verständnis des Aristoteles gegen das der arabischen Autoren gestellt und verteidigt.

Neapel ist der Ort, an dem Thomas mit einer zweiten, damals ebenfalls modernen Bewegung in Kontakt kam: dem Orden der Prediger. 1215 hatte das Laterankonzil beschlossen, keine Ordensneugründungen mehr zuzulassen. Aber kurze Zeit später entfalteten zwei Bewegungen eine so ungeheuere Kraft der Erneuerung, daß die Kirche sich ihnen nicht verschließen konnte: zum einen die vom Hl. Franziskus von Assisi ausgehende Gemeinschaft der Minderbrüder, zum anderen die vom Hl. Dominikus gegründete Gemeinschaft der Predigerbrüder. Die Angehörigen waren nicht im traditionellen Sinne Mönche, sondern bloß Brüder. Sie verzichteten nicht nur wie die Mönche zugunsten der Gemeinschaft auf persönlichen Besitz. Wie die Bezeichnung »Bettelorden« sagt, lebten diese vom Betteln (was dem Kleriker verboten war). Die Anziehungskraft und daher auch das Tempo ihrer Ausbreitung waren ungeheuer.

Den Entfaltungsraum dieser neuen Gemeinschaften bildete nicht mehr die klösterliche Abgeschiedenheit, sondern die Stadt, nicht selten solche mit Universitäten. Auch die Organisationsstruktur war neu – nicht mehr feudal, sondern eher demokratisch: Der Vorsteher der Communität wurde auf Zeit gewählt; er hieß nicht mehr Abt, sondern nur noch Prior. Auch hier kann man beobachten, daß sich Thomas mit einer Sache identifiziert hat, die alles andere als unumstritten war. Immer wieder kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen, die um keine geringere Frage als die kreisten, ob das Leben als Bettelmönch überhaupt eine legitime Form christlichen Lebens ist. Thomas hat dazu wiederholt und auch erkennbar vehement Stellung genommen.4 Manche wollten die Bettelorden mit den Prophezeiungen des Joachim von Fiore für eine neu anbrechende Zeit, die geistgewirkt und institutionsfrei sein sollte, zusammenbringen. Für derlei war Thomas natürlich zu nüchtern, doch gehörte diese Deutung zu den großen Erschwernissen in dem Jahrzehnte währenden Kampf um ihre Anerkennung.

Dominikus widmete seinen Orden der Predigt. Der Aufgabe, missionarische Überzeugungskraft zu entfalten, sollten die Prediger durch hochqualifizierte theologische Ausbildung gerecht werden. Welche Stellung die Studien, namentlich die philosophischen, hierbei haben sollten, war eine Frage, die bei Thomas’ Eintritt in den Orden noch nicht entschieden war. Er hat neben Albertus Magnus und anderen 1259 an einer entsprechenden Studienordnung mitgewirkt. Die Intensität, mit der die Existenz durch das Leben in einem Orden geprägt wird, schließt ein, daß man Thomas nur sehr äußerlich verstehen kann, wollte man ihn sich nicht im Habit des Predigers vorstellen.

Der Eintritt in den Predigerorden erfolgte in Neapel. Einer der beiden Dominikaner, denen Friedrich II. nach einer allgemeinen Vertreibung den Verbleib in Neapel gestattet hatte, war es, der Thomas zu dem Entschluß brachte, ebenfalls Dominikaner zu werden. Man kann sich nach dem Gesagten ungefähr ein Bild davon machen, was es für seine Familie bedeutet haben mag, ihren neunzehnjährigen Thomas statt Abt von Monte Cassino Bettelmönch werden zu sehen. Chesterton hat es – ohne jede Political Correctness! – mit dem Geständnis des Sohnes aus vornehmer Familie verglichen: Ich habe eine Zigeunerin geheiratet.5

Die Familie des Thomas war mit diesem Entschluß natürlich keinesfalls einverstanden. Mit einer Entführung, die erfolgreich war, und einer Verführung, die es nicht war, wollte man ihn davon abbringen. Thomas jedoch blieb fest entschlossen. Nach ungefähr einem Jahr, im Sommer 1245, beugte sich die Familie seinem Entschluß. Auch wenn Thomas später in der Abhandlung der theologischen Summa zum Stand des Ordenslebens den möglicherweise hinderlichen Einfluß der Familie vermerkt hat (Sth. II-II, 189.6), sein Entschluß hat der Verbindung zu seiner Familie keinen Abbruch getan.

Wie es ein Teil der Quellen – dem aber die Forschung mittlerweile recht gegeben hat – überliefert, wurde Thomas von seinem Orden zunächst nach Paris geschickt, und man darf annehmen, daß er dort auch studiert hat. Paris hatte damals die berühmteste und angesehenste theologische Fakultät. Albertus Magnus sprach von der »Stadt der Philosophen«.6 Und genau diesem Gelehrten, auch er Dominikaner, begegnete Thomas damals.

Durch sein Studium in Neapel kam Thomas – früher als dies in Paris wegen der dort geltenden Aristoteles-Verbote möglich gewesen wäre – in Kontakt mit der Aristotelischen Philosophie, noch bevor er Schüler des Albertus Magnus wurde. Als Student und schließlich »Assistent« von Albertus Magnus verfolgte er die Anfänge dessen, was sich Albert ausdrücklich zum Programm gemacht hat. Nachdem er von den verschiedenen Teilen der theoretischen Philosophie gesprochen hat – Naturphilosophie, Metaphysik und Mathematik –, sagt Albert zu Beginn seiner 1251/52 entstandenen Physik: »Unsere Absicht ist, alle genannten Teile den Lateinern verständlich (intelligibiles) zu machen.« (Physica I, 1, 1; ed. Col. IV/1, 1, 48-49) Dies war nicht bloß anspruchsvoll (und nach knapp zwei Jahrzehnten auch tatsächlich gelungen), es war auch mit erstaunlichem Bewußtsein von der epochalen Aufgabe formuliert.

Nun wurde es also insofern mit Aristoteles Ernst, als Thomas jetzt sah, daß ein Theologe von dem bereits damals anerkannten Rang Alberts sich jenem zuwandte. Aristoteles schied die Geister: Ist Aristoteles eine Gefährdung der christlichen Identität oder eine in Grenzen legitime und sogar unerläßliche Weise, die Wirklichkeit ohne religiöse Vorgaben zu verstehen? Schon 1210 wurde in Paris die Lektüre des Aristoteles verboten. Diesen später mit dem kuriosen Wort »Aristoteles-Verbot« bezeichneten Vorgang darf man nicht damit gleichsetzen, daß ein Buch – wie etwa im 17. Jahrhundert die Werke des Descartes – auf »den Index« gesetzt wird. Es heißt vielmehr: Die öffentliche Lektüre – und die Vorlesungen an den Ordenshochschulen (studium generale) waren öffentlich – wurde verboten; zudem hatte dies nur eine regionale Bedeutung. In Südfrankreich oder auch in England galt dieses Verbot nicht; die Universität Toulouse hat dies zu Werbezwecken entsprechend hervorgekehrt. Es galt, wenn man so sagen dürfte, erst recht nicht an der kaiserlichen Universität in Neapel – wo Thomas sein Grundstudium absolvierte. Wie wenig erfolgreich jene Verbote waren, kann man aus der Häufigkeit ersehen, mit der sie bekräftigt werden mußten. Der Wunsch des Papstes, die Bücher des Aristoteles im christlichen Sinne zu purgieren, blieb unausgeführt. Er war auch unausführbar. Die Stellung zu Aristoteles bleibt unvermeidlich so lange bloß eine Sache der Vorurteile der Mentalität, als seine umfänglichen Schriften nicht wirklich durchdrungen und angeeignet sind. Dies hatte Albert seit einigen Jahren bereits in Angriff genommen, als Thomas bei ihm in Paris Student wurde.

Der Streit um Aristoteles war nicht bloß ein Streit von Modernen mit Konservativen. Selbst der einzelne wirkte hier mitunter zwiespältig. Robert Grosseteste etwa hat nicht nur im allgemeinen ein beachtliches Werk hinterlassen; er ist einer der respektabelsten Übersetzer griechisch schreibender Autoren: des Dionysius Areopagita und des Aristoteles. Auch zu Werken des letzteren hat er kurze Erläuterungen verfaßt. Grosseteste schreibt in seiner Auslegung der Genesis mit dem Titel Hexaëmeron von 1235:

»Dies führen wir an gegen einige Zeitgenossen, die versuchen, gegen Aristoteles selbst wie seine Ausleger und zugleich gegen seine heiligen Kommentatoren aus dem Heiden Aristoteles einen Katholiken zu machen; in wunderlicher Blindheit und Anmaßung glauben sie, sie könnten Aristoteles klarer verstehen und zutreffender auslegen – und dies auf der Basis verdorbener lateinischer Übersetzungen – als sowohl die heidnischen wie die katholischen Philosophen, welche dessen unverdorbenen ursprünglichen griechischen Text vollständig gekannt haben. Sie mögen sich nicht täuschen und vergeblich ihren Schweiß vergießen, um aus Aristoteles einen Katholiken zu machen, damit sie nicht sinnlos ihre Zeit und ihre geistigen Kräfte vergeuden und dann aus Aristoteles einen Katholiken machen und aus sich selbst Häretiker.«7

Thomas ging nach kurzer Zeit mit Albert nach Köln; dieser sollte dort eine neue Ordenshochschule gründen. In Köln hat Albert aber auch damit begonnen, erstmals das gesamte Œuvre des Dionysius Areopagita vollständig zu kommentieren. Dessen Werk gibt sich, als sei es von jenem Dionysius geschrieben, den Paulus durch seine Predigt vor dem Areopag bekehren konnte. Eindrucksvoll, aber schwierig zu verstehen, ist es immer wieder übersetzt worden. Mit Dionysius machte sich im Mittelalter neben Augustinus ein Korrektiv gegen eine allzu unkritische Anwendung der griechischen Rationalitätsstandards geltend.