ROBERTO YÁÑEZ | THOMAS GRIMM

Ich war der letzte Bürger der DDR

Mein Leben als Enkel der Honeckers

Insel Verlag

Inhalt

Abschied im Pfarrhaus

Schulzeit: Der 15. Geburtstag

Auf Reisen als Liebling der Großeltern

Weihnachten in Hubertusstock

Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Tod der Schwester Mariana

Das Haus 11 in der Waldsiedlung Wandlitz

Robertos Vater, Chile, Allende und Pinochet

Exilland DDR

Großvaters Jagdhaus Wildfang

Robertos Hund Klecks

Die »großen« Sommerferien 1989

Perestroika und Glasnost – Großvater erkrankt

Bürgerprotest und Krankenbesuch in Groß Dölln

Der Sturz des Großvaters

Zwei Worte öffnen die Mauer

Kamerateam in Wandlitz – Verhaftung des Großvaters

Ankunft in der neuen Welt

Das Colegio Alemán in Santiago

Die Familie lebt sich ein

Die erste große Liebe

Bald volljährig – Auslieferung des Großvaters aus Moskau

Reise in die Atacama-Wüste

Das letzte Territorium der DDR

Die Wohngemeinschaft mit der Großmutter

Tod der Großmutter

Das Leben danach

Letzter Akt

Nachwort

Dank

Zeittafel

Karten

Anmerkungen und Quellen

Bildnachweis

Ortsregister

Personenregister

Abschied im Pfarrhaus

Es wird sein Abschiedsbesuch sein, das weiß Roberto, als er mit seiner Familie am 25. Februar 1990 in den kleinen Ort Lobetal nördlich von Berlin fährt. Hier haben seine Großeltern Margot und Erich Honecker seit Ende Januar ein Obdach im Pfarrhaus gefunden. Vor wenigen Monaten noch bewohnten sie keine zwölf Kilometer von Lobetal entfernt ein komfortables Haus in der Funktionärssiedlung Wandlitz. Als die neue Regierung ihnen hier den Mietvertrag gekündigt hatte, suchten die Großeltern für sich eine neue Bleibe und fanden sie in Lobetal im Wohnhaus von Pfarrer Uwe Holmer.

Die Auto-Route zum neuen Wohnort führt wie all die Jahre zuvor über Berlin-Pankow auf die Autobahn Richtung Bernau. Roberto kennt diese Straßenführung im Schlaf. Unzählige Male absolvierte er auf dem Rücksitz eines Volvos die gesicherte Regierungsstrecke. Einer von Großvaters Personenschützern steuerte den Dienstwagen.

Als Kind empfand Roberto jede Fahrt auf der sogenannten Protokollstrecke als Abenteuer: »Wenn man zu Hause abgeholt wird und alle Ampeln auf Grün springen, zeigt der Tacho schnell 160 km pro Stunde an. Mit einem Trabant kommt man mit Glück auf 110. Wir haben niemals länger als vierzig Minuten von Berlin-Mitte über die Greifswalder Straße und die Autobahn bis zum Wohnhaus der Großeltern in Wandlitz benötigt. Mein Lieblingsfahrer war Addi. Einmal zeigte er mir seine Pistole im Handschuhfach. Ihn mochte ich von allen Bodyguards am meisten. Erschüttert hat mich sein früher Tod. Er musste sich – wie alle anderen Personenschützer – nach dem Ende der DDR einen neuen Job suchen und arbeitete im Wachschutz für Geldtransporte. Bei einem Raubüberfall wurde er erschossen. Ein aufgesetzter Brustschuss aus nächster Nähe, durch die Schutzweste hindurch und völlig unerwartet. Der Bandit hat ihn förmlich hingerichtet.«

Familie Yáñez ist im eigenen Auto »Marke Wartburg 1.3 mit Sonderausstattung« nach Lobetal unterwegs. Das Modell, mit einem VW-Viertaktmotor ausgerüstet, ist erst 1988 auf den Markt gekommen. Es war bedeutend teurer als ein normaler 353er Zweitakter und wurde auch nur in kleiner Stückzahl produziert.

»Vater war ein bisschen stolz auf den Wagen. Bis heute hält sich ja das Gerücht, meine Familie hätte einen Volvo besessen, mit Fahrer. Nein, sogar Großmutter fuhr privat einen Wartburg, mit dem sie mich oft von der Schule abholte.«

Nach einer halben Stunde verlässt die Familie die Protokollstrecke an der Autobahnabfahrt Bernau-Süd in Richtung Eberswalde. Würden die Großeltern noch in Wandlitz wohnen, müsste man lediglich eine Ausfahrt später nehmen. Vater Leonardo konzentriert sich auf Nebenstraßen, damit er den Abzweig vom Biesenthaler Weg in die Bodelschwinghstraße nicht verpasst. Links abbiegen und schon kommt das Pfarrhaus auf der rechten Straßenseite ins Blickfeld.

Roberto darf die gesamte Wegstrecke auf dem Beifahrersitz logieren. Einerseits freut er sich auf das Wiedersehen, auf der anderen Seite füllt sich sein Herz mit Angst und Wehmut. In Vorbereitung der Ankunft zieht Mutter auf dem Rücksitz der einjährigen Schwester Vivian einen Overall an. Durch das vom Hausherrn bereits geöffnete Gartentor chauffiert der Vater das Auto auf die Rückseite des Kirchenhauses. Man soll den Besuch möglichst nicht von der Dorfstraße aus erkennen. Pfarrer Holmer schließt die Pforte, riegelt sie sorgfältig ab. Für den Nachmittag sind Demonstranten angekündigt.

Seit einigen Wochen leben die Großeltern nun schon im Pfarrhaus der evangelischen Gemeinde Lobetal. Pfarrer Uwe Holmer und seine Frau gewähren dem einst mächtigsten Ehepaar der DDR ein privates Asyl in ihrem Haus. Roberto war schon einige Male zu Besuch hier und kennt die Pfarrersfamilie. Die Großeltern wohnen im Obergeschoss in zwei Zimmern mit einer Kochplatte und einem kleinen Bad. Er empfindet die Atmosphäre im Pfarrhaus durchaus als angenehm. Großvater sitzt an einem schmalen Schreibtisch, liest Zeitung, notiert sich für ihn Wichtiges. Er sei erschüttert gewesen über seine Lage, traurig, aber Angst hat Roberto bei ihm nicht bemerkt.

Großmutter kocht das Essen für die Besucher. Den Kuchen haben die Eltern aus Berlin mitgebracht.

Für Familie Holmer war es keine leichte Entscheidung, den Chef-Atheisten der DDR bei sich aufzunehmen. Von ihren zehn Kindern konnte keines in der DDR ein Abitur machen, weil Pfarrer Holmer seine Abneigung gegen das SED-System nie verhehlt hatte. Aber die Pfarrgemeinde versteht sich im Geiste des Gründers der Stiftung Lobetal, des Pfarrers Friedrich von Bodelschwingh. Der hatte 1905 die Stiftung als Zufluchtsort für Obdachlose ins Leben gerufen. Dem fühlt sich das Pastoren-Ehepaar verpflichtet und nimmt gegen alle Anfeindungen die Honeckers in seinen Privaträumen auf. Von dessen Kindern leben noch zwei Söhne bei den Eltern.

Mit zweistelligen Plusgraden sind die Temperaturen Ende Februar ungewöhnlich mild. Nach einigen Stunden in der kleinen Stube bei den Großeltern drängt es Roberto ins Freie. Im Garten gesellt er sich zu Holmers Söhnen, die Fußball spielen. Erst nach geraumer Zeit bemerkt er, dass sich mehr und mehr Menschen um das Pfarrhaus versammeln. Sie halten Plakate hoch mit Aufschriften wie »Hängt Honecker« oder »Keine Gnade für Honecker«. Dann skandiert die Menge: »Honecker raus! Hängt ihn auf.« Die sich aufheizende Dynamik der Situation wirkt zunehmend gefährlich. Nur der Zaun hält die Menschenmenge davon ab, das Grundstück zu fluten. Roberto konzentriert sich ganz auf das Fußballspielen, schaut nicht mehr in Richtung der Demonstranten, verschließt seine Ohren. Zornige Rufe der aufgeputschten Demonstranten erreichen ihn nur noch als brummendes Geräusch. »Damals hat der Fußball mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich habe mich so auf den Ball fixiert, dass keine Angst bei mir einkehrte.«

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1 Margot und Erich Honecker im Pfarrhaus Lobetal, 1990.

Das Ehepaar Holmer verhindert die drohende Eskalation. Es geht auf die aufgebrachten Menschen zu und erklärt, warum es die Fliehenden bei sich aufgenommen hat. Später berichtet Pfarrer Holmer den Honeckers von einer bewegenden Szene mit einem Mann, der sich empört habe: »Sie haben überhaupt kein Recht, dem Honecker zu vergeben, Sie haben ja auch nichts erlebt. Ich war fünf Jahre in Bautzen, eigentlich war ich zum Tode verurteilt, dann haben sie mich auf 15 Jahre begnadigt, und fünf Jahre habe ich dort gelitten. Was ich durchgemacht habe, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Seine Frau, die neben ihm stand, habe hinzugefügt: »Was eine Frau durchmacht, wenn sie den Mann abholen und man nicht weiß, wo er bleibt, das können Sie sich nicht vorstellen.« Darauf hatte Holmer geantwortet: »Ich habe Herrn Honecker nur vergeben, was er mir an Unrecht getan hat. Was er Ihnen an Unrecht getan hat, kann ich ihm nicht vergeben.« Dann schaute er dem Mann ins Gesicht und sah seine wirklich verbitterten Züge: »Was Ihnen Honecker an Unrecht angetan hat, müssen Sie ihm selbst vergeben. Wenn Sie ihm nicht vergeben, frisst die Bitterkeit Ihres Herzens Sie auf.« Und da hat der Mann einen Augenblick überlegt und dann gesagt: »Ja, Sie haben vielleicht recht, ich muss vergeben, und ich will vergeben.« Abschließend resümiert Pfarrer Holmer vor den nicht unbeeindruckten Honeckers, dass ihm bei dieser Begegnung sehr deutlich geworden sei, dass das biblische Wort von der Vergebung ein ganz lebenspraktisches Wort ist.

Die Worte des Pfarrers erreichen Roberto wie aus einem dichten Nebel, in Gedanken ist er bereits ganz woanders. In wenigen Minuten schon muss er sich von seinen Großeltern verabschieden. Doch diesmal ist es nicht das übliche »Auf Wiedersehen!«. Gleich am nächsten Tag wird er mit seiner Familie ins Flugzeug steigen und nach Santiago de Chile fliegen, in die Heimat seines Vaters.

Leonardo Yáñez war von Allendes Regierung 1972 zum Studium in die DDR geschickt worden. Als Student an der TU Dresden verliebte er sich in Sonja, Robertos Mutter. Sie ist die einzige Tochter des DDR-Parteichefs und dessen Frau, der Ministerin für Volksbildung Margot Honecker. Leonardo und Sonja heiraten 1974, kurz vor Robertos Geburt.

Die Auswanderung der jungen Familie nach Chile ist seit einiger Zeit geplant. Bereits 1987, als das Pinochet-Regime Robertos Vater von der Todesliste streicht und für ihn das Einreiseverbot aufhebt, schmiedet das Paar erste Pläne. Jedoch muss es den Ausreisewunsch aus der DDR immer aufs Neue zurückstellen. Man will warten, bis die Großeltern alle Staatsfunktionen aufgegeben haben, damit es im Volk nicht heißen würde: Honeckers Tochter darf ausreisen, und wir nicht.

Als sich zu Beginn des Jahres 1988 deutlich abzeichnet, dass der Großvater keine Anstalten macht, sein Amt auf dem nächsten Parteitag aufzugeben, vermehren sich die Spannungen innerhalb der Familie bezüglich der Übersiedlung nach Chile erheblich. Roberto ist oftmals dabei, wenn sich Mutter und Großmutter über eine solche Ausreise streiten. Sonja Yáñez vertritt als Frau eines chilenischen Staatsbürgers in dieser Frage eine eigene Position: Ausreise für jedermann! Oma argumentiert stets dagegen: Die DDR habe ja immerhin die teure Ausbildung bezahlt, und dann würden diese Ärzte und Ingenieure vom Westen abgeworben. Das könne man doch schließlich nicht zulassen! Bei dieser Meinung bleibt Margot Honecker ihr ganzes Leben lang.

Jetzt, im Winter 1990, ist die Situation jedoch eine ganz neue. Robertos Eltern haben die Möglichkeit angenommen, die ihnen eine UNHCR-Hilfsaktion geboten hat. Das UNO-Hilfswerk stellt chilenischen Flüchtlingen für einen begrenzten Zeitraum kostenlose Flüge und ein größeres Gepäckkontingent für die Rückkehr in die Heimat zur Verfügung.

Mutter und Vater sind nach dem Mauerfall arbeitslos geworden. Die finanzielle Lage der jungen vierköpfigen Familie ist nicht gerade rosig. Auch die Konten der Großeltern sind gesperrt. Für Familie Yáñez bietet sich daher jetzt die einmalige Chance, in das Land des Vaters überzusiedeln.

»Ich wollte hierbleiben.« Dieser Moment der endgültigen Verabschiedung von seiner Berliner Heimat, von den Großeltern und Freunden ist Roberto noch heute allgegenwärtig: »Ich habe meinen Eltern gesagt: ›Ich will dableiben‹. Der Vater einer meiner Freunde hat vorgeschlagen, ich könne bei seiner Familie wohnen und weiter in meine alte Schule gehen. ›Nein, das geht nicht, du musst jetzt mit uns fliegen‹, höre ich noch meinen Vater. Es ging alles sehr schnell, sozusagen zack, zack und weg.«

Vor dem Pfarrhaus ist es still geworden, die meisten Demonstranten haben sich mit gecharterten Bussen auf die Heimreise begeben. Familie Holmer hat sich zum Abendgebet zurückgezogen. Roberto ist vom Fußballspielen an den Familientisch zurückgekehrt. Der Moment des Abschieds und des Aufbruchs ist gekommen. Die Großeltern tragen es angespannt, aber mit Fassung. Robertos Mutter ist gezeichnet von der Sorge, was nun aus ihren Eltern, vor allem dem kranken Vater, werden wird, wenn sie und ihre Familie ins ferne Chile ausreisen. In der Presse wird es später heißen, Honeckers Tochter fliehe nach Chile und lasse die Eltern allein zurück. Auf die Frage, ob er, Roberto, beim Abschied geweint habe, erinnert er sich:

»Nein. Hab ich nicht. Wir haben uns umarmt und uns ein Wiedersehen in Chile gewünscht.« Ob in diesem Augenblick alle daran geglaubt haben, wolle er nicht beschwören: »Aber Großvater meinte noch mit verschwörerischem Gestus, dass ihm die sowjetischen Genossen helfen würden. Ich selbst hatte nicht das Gefühl, dass mein Leben in Gefahr wäre. Mein Leben war erst in Gefahr, als ich die Kultur gewechselt hatte.«

Am Tag der Ausreise aus der DDR ist Roberto 15 Jahre und fünf Monate alt. Er landet Anfang März mit seiner Familie in Santiago de Chile, 12 000 km von seiner Heimat entfernt. Eines seiner schönsten Gedichte könnte diesen Wendepunkt in seinem Leben poetisch aufgehoben haben.

Einmal auf der Frühlingsstraße

Stiehlt der Maulwurf unsere Seele

Es sind Angelegenheiten die aus einem Fenster

ein Fenster machen

Ein Lied das der Gärtner singt um nicht zu schlafen

Und die tote Wahrheit küsst die Blumen

Durchs Fenster kann man die Landstreicher sehen

Es ist der Schlaf des Frühlings

In dem die Tiere an uns denken

Schulzeit: Der 15. Geburtstag

Robertos 15. Geburtstag fällt auf einen Dienstag im Oktober 1989. In Berlin herrscht typisches Herbstwetter mit Wolken, Sonne und ab und an ein paar Regentropfen. Das stört ihn nicht auf seinem kurzen Schulweg. Er muss nur die stark befahrene Leipziger Straße in einem Fußgängertunnel durchqueren, dann ist die Schule in Sichtweite. Es ist – wie ganz normal in der DDR – eine zehnklassige allgemeinbildende Polytechnische Oberschule. Was sie von anderen unterscheidet, ist ihre Lage direkt hinter der Mauer in Berlin-Mitte, und ihr Name: Reinhold-Huhn-Oberschule.

Reinhold Huhn war 1962 während seines Wehrdienstes als Grenzposten an der Berliner Mauer von einem Fluchthelfer erschossen worden. Dieser hatte ab der Baugrube der zukünftigen Zentrale des Springer-Konzerns einen Fluchttunnel gegraben, um seine im Ostteil der Stadt wohnende Familie in den Westen zu holen. Die Flucht durch den Tunnel zurück zur Baustelle in West-Berlin gelang. Huhn war auf der Stelle tot. Die DDR-Führung errichtet später in der Zimmerstraße nahe dem ehemaligen Tatort ein Denkmal zur Erinnerung an den getöteten Grenzsoldaten.

Mit Beginn der Einschulung müssen die Schüler der Reinhold-Huhn-Oberschule einmal jährlich die Gedenkstätte besuchen. Das Denkmal besteht aus drei übereinanderliegenden Sandsteinquadern. »Ihr Tod ist unsere Verpflichtung« steht auf dem obersten Stein, darunter an erster Stelle der Name Reinhold Huhns. Auch Roberto absolviert mit seiner Klasse das Ritual und wird belehrt, dass die Imperialisten Klassenkampf mit Lügen, Hetze und Mord führen, um den Aufbau des Sozialismus zu verhindern. Von den durch Grenzsoldaten bei der Flucht in den Westen getöteten Menschen erfahren die Schüler nichts. An einem normalen Schultag geschieht vor den Fenstern ihres Klassenzimmers eines Tages ein besonderer Vorfall. Die Kinder können zuschauen, wie ein Mann mit einem selbstgebauten Segler von einem Hochhaus über die Mauer hinwegfliegt. Der Flüchtling erleidet bei seiner Landung Knochenbrüche, aber er überlebt den Sturzflug. Im Sportunterricht wird Roberto am Nachmittag Granatenwerfen üben. Abends spielt er Handball.

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2 Roberto (2. v. re.) auf dem Schulweg an der Unterführung Leipziger Straße, 1983.

Roberto wächst, umgeben von der Berliner Mauer, nicht weit entfernt vom Checkpoint Charlie auf. Vom Balkon der Wohnung im zwölften Stock schaut er über die Grenzanlagen hinweg auf einen kleinen Platz mit einer Telefonzelle.

»Ich habe geträumt, ich könnte jetzt zu dieser Telefonzelle gehen und dann von da aus meine Freunde in Ost-Berlin anrufen. Das Thema der deutschen Teilung gehörte von Kindheit an zu meinem Leben. Ich weiß noch, wie ich Großvater fragte, ob ich denn sein Elternhaus in Wiebelskirchen im Saarland besuchen könne. Für mich war das eine ganz natürliche Frage, da ich ja wusste: Dort lebt Opas Schwester Gertrud. Die Antwort war ein deutliches ›Nein, das geht nicht.‹ Ich habe gefragt warum, aber darauf gab es keine Antwort, nur ein Kopfschütteln. Damit war das Thema erledigt.

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3 Roberto (3. v. li.), 18. POS »Reinhold Huhn«.

In der Schule habe ich als Erich Honeckers Enkel unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Von meinem Vater muss ich ein Stück südamerikanisches Temperament geerbt haben, denn die vorgeschriebene Disziplin habe ich selten eingehalten. Bei Verstößen kamen die Lehrer immer mit derselben Leier: ›Du als Enkel von Honecker musst ein Beispiel sein und darfst dich nicht so benehmen, wie du dich benimmst.‹ Viele waren lieb zu mir. Meine Klassenkameraden, die haben sich nicht daran gestört, dass ich der Enkel vom Staatschef war.

Nerviger war meine Großmutter, die als Volksbildungsministerin mit der Direktorin gut befreundet war. Zwei bis drei Mal in der Woche rief sie bei ihr an, um nach meinen Leistungen zu fragen. Man kann sagen, dass ich unter Beobachtung stand, aber verbogen habe ich mich deshalb nicht.

Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich mir einen Maulkorb auferlegt habe. Trotzdem ist da im Inneren so ein Gefühl, dass man jemand Besonderes ist, dass einem im Grunde nichts passieren kann. Wer will sich schon mit dem Staatsratsvorsitzenden anlegen? So konnte ich mir manches Verhalten leisten, was anderen mehr Ärger eingebracht hätte. Zum Beispiel als wir im Unterricht gefragt wurden, ob wir an der militärischen Ausbildung in der GST teilnehmen möchten. Großmutter hatte ja durch ihr Ministerium einen Wehrkunde-Unterricht einführen lassen. Da hab ich mit einigen gesagt: ›Nein, keine Lust.‹ Der Lehrer war verblüfft, aber was will er machen, er hatte ja eine Frage gestellt.

Mich hat man in der Pause ins Direktorenzimmer geschickt. Um mich herum stehen die Direktorin und der Fachlehrer. Es kommt, was kommen musste: ›Deine Großeltern sind Antifaschisten, und du willst nicht mit zur Wehrausbildung. Das geht nicht. Du musst gerade in dieser Sache Vorbild sein.‹ Das Argument vom Antifaschismus hat mich meistens einsichtig gemacht.«

Der Kampf der Großeltern gegen Hitler spielt im Leben Robertos eine dominierende Rolle. Schon als Fünfjährigem wird ihm die offizielle Geschichte über den kommunistischen Widerstand des Großvaters gegen Faschismus und Krieg erzählt.

»Ich hatte aber den Eindruck, er mochte es nicht, von sich selbst zu berichten. Dabei hätte ich gern mehr erfahren über sein Leben im Zuchthaus. Wie lebt man da, wie hält man zehn Jahre hinter Mauern und Gitter aus? Wie war der Moment, als 1945 die Freiheit kam? Von ihm habe ich wenig über diese Zeit erfahren. 

Mit meiner Großmutter war das anders. Sie hat mir wiederholt Anekdoten aus der Hitler-Zeit erzählt. Immer wenn ich am Morgen in ihr Bett kroch, begann sie, sich zu erinnern. Zum Beispiel war da die Geschichte einer Razzia in ihrer Hinterhofwohnung in Halle. Beim Erscheinen der Gestapo-Leute ist sie allein mit ihrem kleinen Bruder. Alle Ecken werden durchsucht nach kommunistischem Propagandamaterial. Als die Beamten in ein höheres Küchenmöbel schauen wollen, benötigen sie einen Stuhl. Bevor sie mit den Stiefeln die Sitzfläche betreten, sagt sie: ›Moment, bitte machen sie den Stuhl nicht schmutzig …‹, und sie legt die offizielle Nazizeitung ›Der Stürmer‹ darüber. Oder als sie ein wenig Brot einkaufen geht und ein Nazi, der das Wohngebiet überwacht, sie mit ›Heil Hitler, Fräulein Feist!‹ begrüßt, da antwortet sie ›Guten Morgen, Herr …‹ Nach der Kriegsniederlage Deutschlands und dem Tod Hitlers kommt sie zufällig an ebendiesem vorbei und begrüßt ihn: ›Heil Hitler, Herr …‹

Am meisten hat mich beeindruckt, wenn Oma über die letzten Tage des Krieges sprach. Hitler hatte aufgerufen, Meter für Meter von Berlin gegen die ›Russen‹ zu verteidigen. Dabei beschrieb sie, wie Jugendliche als ›Kanonenfutter‹ missbraucht wurden, weil diese fest an die Nazi-Ideologie, an den Endsieg glaubten. Auch Erzählungen über ihren Vater, der eine Zeit lang in einem Konzentrationslager eingesperrt war, gehörten zum Repertoire.«

Besonders spannend sind Margot Honeckers Schilderungen vom Einsatz der Sowjet-Panzer gegen »Konterrevolutionäre«. Dass damit die Niederschlagung der Arbeiterdemonstrationen am 17. Juni 1953 gemeint ist, erfährt der Enkel nicht. All diese historischen Ereignisse werden Roberto aus der Sicht einer zutiefst gläubigen Kommunistin vermittelt. Frühzeitig bekommt er ein dogmatisches Weltbild vermittelt, das Freund und Feind wie Weiß und Schwarz trennt. In der historischen Betrachtung der DDR wird der Begriff des »verordneten Antifaschismus« benutzt. Zumindest in der Familie Honecker braucht es diese Doktrin nicht.

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4 Das Gebäude des ZK der SED.

Von der Schule sind es Luftlinie gute 500 Meter bis zum Arbeitsplatz von Erich Honecker. Der Generalsekretär der SED hat sein Büro im Gebäude des Zentralkomitees der Partei. Das Haus am Werderschen Markt ist an der Vorderfront mit dem Emblem der SED geschmückt. Der sich lang hinziehende Gebäudekomplex steht gegenüber der Friedrichswerderschen Kirche. Auf seiner Rückseite residiert in einem Anbau die Bezirksleitung der Berliner Parteiorganisation, die Günter Schabowski viele Jahre leitet. Der SED-Bezirkschef wohnt mit seiner Familie im selben Haus wie Roberto, nur ein Stockwerk höher. Mit dessen jüngerem Sohn Jan verbindet ihn eine Kinderfreundschaft. Das »Große Haus« wie es parteiintern genannt wird, ist das absolute Machtzentrum der DDR. Roberto kann vom zwölften Stock des Etagenkorridors vor seiner Wohnung direkt auf Großvaters Bürohaus schauen. Dazwischen liegen grüne Hofflächen und ein Sport- und Spielplatz. Als er mit seinen Freunden an einem heißen Sommertag dort einmal Fußball spielt, fühlen sich Funktionäre bei geöffneten Fenstern von der Bolzerei der Jungen gestört. Sie schicken den Wachschutz, der den Kindern das Fußballspielen ab sofort untersagt. Roberto und seine Mitspieler sind wütend … Die unmittelbare Nähe zu Opas Arbeitsplatz gereicht in diesem Falle zum Vorteil. Roberto rennt ins ZK-Gebäude und verlangt seinen Großvater zu sprechen. Der Generalsekretär hört sich den Enkel an und pfeift den Wachschutz zurück.

»Wir konnten weiterspielen. Da fühlt man sich schon ziemlich großartig, wenn man vor Spielkameraden furchteinflößende Männer in Uniform, mit Waffen ausgestattet, auf diese Art und Weise wegschicken kann.«

Zuhause haben die anderen bestimmt erzählt, dass Robertos Opa geholfen hat, dass sie weiterspielen durften.

Der Dienstag ist im Politikbetrieb der DDR der wichtigste Tag der Woche. Dienstags finden stets die Zusammenkunft der Parteispitze und die Beratung des Politbüros statt. Erich Honecker hat als Generalsekretär der Partei den Vorsitz im Gremium und leitet die Versammlung vom Kopfende eines langen Eichentisches aus. Links und rechts sitzen zweiundzwanzig meist ergraute Funktionäre, die sich auch an diesem Dienstag des 10. Oktober nicht trauen, mit ihrem Chef über die realen Vorgänge im Lande unverblümt zu diskutieren. Seit dem Sommer hat eine anschwellende Fluchtbewegung eingesetzt. Tausende Bürger reisen offiziell zum Urlaub nach Ungarn und in die ČSSR, um von dort aus nach Österreich oder in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. In Leipzig gibt es jeden Montag massive Demonstrationen, die einen Politikwechsel der Staatsführung fordern. Doch der Staatsratsvorsitzende schweigt.

Das gilt auch für Robertos Geburtstagsrunde. Wenn Opa zu Besuch kommt, hat der Personenschutz diskret zu sein. Bewacht werden alle Hauseingänge, ebenso der Eingang zum Aufzug, in dem Honecker stets allein nach oben fährt. An diesem Dienstag ist er nur kurz bei der Familie seiner Tochter. Er übergibt Geschenke an den Enkel, und auch in dieser privaten Situation werden keine Worte mit den Anwesenden zu den bedrückenden Ereignissen ausgetauscht.

Was Großvater und Enkel an diesem Geburtstag nicht ahnen, ist, dass bereits eine Woche später, an einem Dienstag, der Generalsekretär der SED Erich Honecker seinen letzten Arbeitstag absolvieren wird. Für Roberto beginnen in drei Tagen die Herbstferien. Die wird er wie so oft in den letzten Jahren auch im Jagdhaus des Großvaters verbringen.

»Über Politik haben wir mit ihm generell nicht gesprochen«, so Roberto. »Das war so ein Tabu, was sich die Familie auferlegt hatte. Bei Großmutter war das anders, sie wollte ja ständig ›erziehen‹, ganz besonders mich. Da war sie um Beispiele nicht verlegen, was alles passieren kann, wenn die richtige sozialistische Erziehung fehlt. So wie im Kapitalismus, wo Kinder Drogen nehmen und ohne Schulbildung auf der Straße leben müssen.«

Nachdem die Großeltern die Geburtstagsfeier verlassen haben, beginnen natürlich alle Gäste über Politik zu diskutieren. »Wir Kinder spielten kaum eine Rolle, so heftig und hitzig ging es unter den Erwachsenen zu. Vor allem Vaters chilenische Freunde nehmen kein Blatt vor den Mund.«

Nebenbei flimmert das Westfernsehen mit den sich laufend wiederholenden Bildern vom Jubel der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft, nachdem Bundesaußenminister Genscher am 30. September die Worte verkündet hatte: »Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise (Aufschrei und Jubel der fast 4000 Botschaftsflüchtlinge) […] in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.«

Seit zehn Tagen geht dieser Jubelschrei durch die Medien. Roberto hat ihn im Kopf und die Bilder der leeren, abgestellten PKWs, auf die man in der DDR zehn Jahre warten muss.

»Wenn man 15 wird, denkt man ja schon an das erste eigene Auto. Und dort stehen die einfach so zurückgelassen herum. […] Westfernsehen habe ich auch mit meinem Großvater gemeinsam gesehen, also die Nachrichten. Davor die ›Aktuelle Kamera‹ des DDR-Fernsehens. Mit Großmutter saß ich vor dem Fernseher und schaute den ›Schwarzen Kanal‹ mit Karl-Eduard von Schnitzler. Sie sagte jedes Mal zu mir: ›Der Mann ist intelligent, und diese Sendung macht er nicht für uns, sondern für die Seher im Westen. Damit die Menschen dort erfahren, was wirklich in ihrem Land passiert und wer es beherrscht.‹«

In den DDR-Medien wird Erich Honecker konsequent mit all seinen Partei- und Staatsfunktionen genannt. Ganz gleich ob im Fernsehen, Radio oder der Presse, ist der vorgeschriebene Wortlaut bei Nennung seines Namens: Der Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Staatsratsvorsitzender der DDR, Genosse Erich Honecker. Immerhin hat sich in der Vorrede zu seinem Namen der ungeliebte Begriff »Deutschland« erhalten. Seit Roberto denken kann, wird sein Großvater so angekündigt. In der Schule wird der lange Vorspann schon aus Zeitgründen, eine Unterrichtsstunde dauert 45 Minuten, abgekürzt. Dann heißt es nur »… wie der Genosse Erich Honecker richtig sagte.« Für Roberto ist der Name des Großvaters omnipräsent. Doch für ihn ist er eben nur der Opa. Umgekehrt hat der Enkel einen festen Platz im Herzen des Großvaters.

Auf Reisen als Liebling der Großeltern

Als erster Enkel der Honeckers avanciert er schnell zum Liebling der Großeltern. Vor allem Margot Honecker lässt dem Jungen eine fast mütterliche Fürsorge zuteilwerden. Nicht nur die meisten Wochenenden verbringt Roberto bei den Großeltern, selbst die Ferienplanung liegt fest in Großmutters Hand. Einen Teil des Sommers verbringt die gesamte Familie gemeinsam mit den Großeltern im Urlaub auf der Ostsee-Insel Vilm, die vor der Küste Rügens liegt.

Das Eiland ist seit Ende der 1950er-Jahre für die öffentliche Nutzung gesperrt und untersteht dem Ministerrat der DDR. Der lässt für den Urlaubsort elf Wohngebäude im Stil einer Fischersiedlung sowie Wirtschaftsgebäude errichten. Es ist ein gern genutztes Feriendomizil führender Staatsfunktionäre. Wenn Familie Honecker ihren Urlaub auf der Insel verbringt, dürfen andere Personen hier nicht logieren. Die Großeltern wohnen im Haus 2, die anderen Familienmitglieder teilen sich mit dem Betreuungsstab des Staatsratsvorsitzenden die restlichen Gebäude.

Auf einer Insel kann es für ein Kind schnell langweilig werden, wenn der Großvater einen derart streng geregelten Tagesablauf vorgibt. Deshalb sorgt er für Unterhaltung und Spaß des Jungen. 

»Ich habe noch ein Foto, auf dem sieht man, wie ich einen fetten Hecht in der Hand halte. Um mich herum stehen Personenschützer, die beim Fischfang das Boot gesteuert hatten. Ob ich den Fisch selbst gefangen habe oder ich ihn nur für das Foto präsentiere, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Letztere Variante dürfte die wahrscheinlichere sein. Mit Oma unternahm ich Ausflüge aufs Festland. Zum Beispiel nach Stralsund ins Meeresmuseum. Dort konnte ich Unterwasserwelten bestaunen. Die bunte Vielfalt der Fischarten, Skelette von Raubwalen. All das habe ich im Gedächtnis gespeichert. Später kehren die Wassertiere in meinen Träumen zurück. Aus den Träumen wandern sie weiter in die Malerei, auf die Leinwand meiner Bilder. Die Ostsee war für mich ein Ozean und sie war doch nur ein Teich.«

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Roberto in der Waldsiedlung Wandlitz mit den Großeltern.

Von den Winterferien, die in der DDR im Februar liegen und drei Wochen lang dauern, sind mehr Fotos erhalten als vom Sommerurlaub. Roberto an der Seilbahnstation oder Oma beim Langlauf.

»Während meine Eltern arbeiten mussten, hat Großmutter als Volksbildungsministerin in den Schulferien immer Zeit für mich gehabt. Das Ferienziel im Winter war Oberwiesenthal im Erzgebirge. Übrigens, die erste Eisenbahnfahrt meines Lebens habe ich zu diesem Winterferienort erlebt. Bis dahin kannte ich nur das Reisen mit Autos. Oma und ich hatten ein Abteil für uns. Begleitet wurden wir nur von einem Personenschützer. Er war ausgebildeter Fallschirmjäger und machte auf mich einen nachhaltigen Eindruck. Die letzten Kilometer bis zur Endhaltestelle in Oberwiesenthal fuhren wir mit einer Dampflok. Wenn die Bahn um Kurven ratterte, sah man den Rauch in die Landschaft ziehen. Schnee mit weißem Rauch. Was für ein Bild!«

Mit 1214 Metern ist die Seilbahnstation auf dem Fichtelberg oberhalb der Stadt der höchste Punkt des Landes. Oberwiesenthal gilt als das Ski-Eldorado der DDR. Neben der Seilbahn gibt es mehrere Sessel- und Schlepplifte für die Urlauber. Nachdem man die spektakuläre Westabfahrt am Brocken wegen der Grenzanlagen geschlossen hat, wird der Erzgebirgsort zum letzten verbliebenen alpinen Skigebiet.

»Stolz bin ich gewesen, dass mich ›Ebs‹ Riedel das Skifahren gelehrt hat. Der war zehnfacher Meister in der Abfahrt, ist Riesenslalom in Adelboden und zur Olympiade 1960 in Squaw Valley gefahren. Zuhause hab ich dann erst mal nachgeschaut, wo die Orte überhaupt liegen.«

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6 / 7 Bei den Großeltern in der Waldsiedlung, 1977.

Eberhard Riedel ist die Alpin-Legende der DDR. Er gehört zur DDR-Nationalmannschaft, als diese 1968 – nach Olympia in Grenoble – aufgelöst wird. Professioneller Skirennsport ist wie der westliche Profifußball bei den sozialistischen Sportfunktionären verpönt. Die Bekanntschaft zwischen Margot Honecker und dem Skirennsportler stammt aus den 1960er-Jahren, als beide Mitglieder der DDR-Volkskammer waren.

»Natürlich hab ich gewusst, dass meine Alpinschuhe aus dem Westen sind. Kinder lernen früh, mit den Augen zu unterscheiden, was an einem Produkt anders ist. Farben und Formen verraten viel über die Herkunft. Mit Ebs hab ich später sogar kleine Rennen veranstaltet.«

Nicht jeder Tag der Ferien ist für den Abfahrtslauf reserviert. Margot Honecker mag keine Abfahrten, sie liebt den Langlauf. Da muss der Enkel dann mit und quält sich durch die Loipen im verschneiten Erzgebirgswald zwischen Fichtelberg und Tellerhäuser. Seine Unlust an dieser Sportart kann man sogar auf den Urlaubsfotos entdecken.

»Den letzten Abfahrtslauf habe ich vor ein paar Jahren in den Kordilleren gewagt. Bin die Pisten prima runtergejagt. Skifahren ist wie Schwimmen, wenn man es mal gelernt hat, kann man es ein Leben lang. Klar, eine gute Grundausbildung ist Voraussetzung. Und meine war bei Ebs erstklassig. Trotzdem hatte ich mir in den Ferien einmal bei einem Sturz die Knochen gebrochen und musste mit Gipsbein durch die Welt humpeln.«

Roberto kennt Oberwiesenthal nur verschneit. Der Schnee ist bis heute eine wichtige Quelle seiner Vorstellungskraft geblieben.

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8/9 Mit Oma in den Winterferien in Oberwiesenthal.

»Im Februar wird es bekanntlich früh dunkel und vor dem Abendessen habe ich gelesen. Ich mochte eine Erzählung ›Der Schleicher und der Lauscher‹. Es war eine Geschichte von einem Mann, der alles hört. An den Autor kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Meine Lieblingsbücher waren die Wolkow-Bände, die russische Version des Zauberers im Wunderland Oz, ein mystisches Land, abgeschottet und umgeben von hohen Bergen. Die Tiere konnten reden, auch die Vögel. Ich habe auch die Mehrzahl der Bücher von Karl May gelesen, aber nicht in den Ferien bei Oma. Den mochte sie nicht, der war in ihren Augen ein Rassist und Chauvinist, dessen Bücher den Nazis halfen. Dann hab ich auch einige Karl-May-Filme gesehen und angefangen, die Verfilmungen mit den Büchern zu vergleichen.«

Die literarische Begegnung mit Karl May verdankt Roberto dem nicht nachlassenden Verlangen der DDR-Bürger nach dessen Abenteuerromanen über den Wilden Westen. Lange Zeit unterstellt Margot Honeckers Volksbildung dem sächsischen Schriftsteller, dass seine Werke junge Leser »in vielfacher Hinsicht antihumanistisch beeinflussen und ihnen ein völlig verzerrtes Bild der Welt malen«.

Der alltägliche Umgang mit den Abenteuergeschichten des Schriftstellers widerlegt jedoch diese Einschätzung. Alte Bücher und vom Westen eingeschmuggelte Exemplare gehen in der DDR von Hand zu Hand. Das Karl-May-Museum auf dem ehemaligen Wohngrundstück des weltberühmten Autors in Radebeul bei Dresden kann von jedermann besucht werden. Allerdings trägt das Museum nicht mehr den Namen des früheren Bewohners der »Villa Shatterhand« und der »Villa Bärenfett«. Es heißt schlicht »Indianermuseum«.

Das Druckverbot von Karl-May-Romanen wirkt zu Beginn der 1980er-Jahre selbst für die DDR-Zensur antiquiert und wird fallengelassen. Im Verlag Neues Leben erscheinen ab 1984 hintereinander die »Winnetou«- und »Old Surehand«-Bände, »Der Schatz im Silbersee« und »Der Ölprinz«. Im DDR-Fernsehen konnte Roberto bereits zwei Jahre zuvor die Verfilmung vom »Schatz im Silbersee«, den Kampf von Winnetou, Old Surehand und dem Häuptling der Utah im Wilden Westen gegen hinterhältige Banditen, verfolgen. Mit der Veröffentlichung der Schriften kommen gleichzeitig die Westfilme mit Pierre Brice und Lex Barker ins Kino. Aus der Zeitschrift »Filmspiegel« bringt ein Bekannter von Robertos Eltern dem jungen Karl-May-Fan ein Poster von Winnetou und Old Surehand hoch zu Ross mit. Seine Mutter ist dagegen, dass er es im Kinderzimmer aufhängt. »Westfilme haben da nichts zu suchen«, so ihre ultimative Begründung.

»Am meisten mochte ich bei Karl May einen kleinen witzigen Begleiter von Old Shatterhand, der immer sagte: ›Wenn ich mich nicht irre …‹ Das war lange Zeit das Schlagwort bei mir und meinen Freunden: ›Wenn ich mich nicht irre …‹ Karl May behauptete ja, dass er vieles selbst erlebt hatte, was in seinen Romanen vorkommt. Das hat man später zu Recht in Frage gestellt. Aber beim Lesen dachte man echt, der Typ war dort. Um die Person des Schriftstellers, wer das nun wirklich war, habe ich mich nicht weiter gekümmert.

Unterdessen lebe ich bald dreißig Jahre in Südamerika und da gehören die Ureinwohner, die Mapuche, zum Straßenbild. Hier in Chile gibt es noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Mapuche und der Polizei. Die Mapuche haben den Stolz der Ureinwohner. Sie empfinden sich als indigenes Volk und nicht als Chilenen. Der bewaffnete Kampf zwischen Indios und Spaniern dauerte mehr als 300 Jahre, seitdem Pedro de Valdivia Chile 1541 erobert hatte und die Hauptstadt Santiago gründete. Der Konquistador verlor die Schlacht bei Tucapel 1553 und wurde von den Mapuche geköpft und aufgespießt. Vom Norden bis zum Süden Chiles gibt es viele Völker, die den nordamerikanischen Stämmen sehr ähnlich sind, wie zum Beispiel die Diaguita, Ona oder Selk’nam, Qechua, Yagan und andere. Aber Karl May hat vor allem über Winnetou aus dem Stamm der Apachen geschrieben.

Relativ unbekannt sind die sogenannten Mescalero-Apachen, die einen halluzinatorischen Kaktus zu sich nehmen bei ihren Gottesdiensten. Diese Bräuche findet man sogar in den Bergen Mexikos bei den Tarahumara. Ausführlich schrieben darüber Antonin Artaud und Carlos Castañeda. ›La Araucana‹ ist ein episches Gedicht von Alonso de Ercilla über die Mapuche. Es gibt viel Literatur über das Thema der Begegnungen der Indios mit den europäischen Eroberern.«

In den Skiferien freut sich Roberto, dass die tschechoslowakische Grenze so nah ist. Mit Großmutter unternimmt er seine ersten Auslandsbesuche ins benachbarte Boží Dar. Der Ort heißt auf Deutsch Gottesgabe und liegt am Fuße des Keilberges, tschechisch Klínovec, der dem Fichtelberg südlich gegenübersteht. In den Geschäften gibt es für Kinder besondere Leckereien, die in der DDR nicht erhältlich sind: Fruchttaler am Stiel, süße Milch in Dosen und Oblaten: runde, dünne Waffeln mit Vanille- oder Schokogeschmack.

In Chile überkommt die Großmutter regelmäßig Sehnsucht nach Schnee und weißen Wäldern. Das schreibt sie später von Chile aus wiederholt an Bekannte, wenn diese fragen, ob sie denn in Santiago nicht Deutschland vermisse: »Deutschland nicht, aber den deutschen Winter.«