Lerko Taron

Umbratia

Der große Vertrag

Es wütete einmal, vor beinahe 1000 Jahren, eine gewaltige Schlacht in Umbratia. Die mächtigsten Hexer dieser Zeit, Bonraillios und Malraillios, führten einen Kampf, um herauszufinden, wessen Überzeugung die richtige sei.

Malraillios erschuf die Horden des Hasses, Schattengestalten, nicht greifbar und nur von einem Ziel getrieben: Hass zu schüren, um dadurch alle Lebewesen zu kontrollieren.

Bonraillios konterte mit Hoffnungs- und Mutzaubern und er schmiedete ein Bündnis zwischen Hexern, Menschen, Tiermenschen, Riesen und Zwergen. Bonraillios, die junge Menschenkönigin Denvinja, die Tiermensch-Anführer Ruko und Shaja, der Held der Riesen, Vilmidor der Starke, der Zwergenkönig Holm der Mächtige und alle übrigen Kämpfer für das Gute hielten Malraillios, den Horden des Hasses und den von ihnen Verblendeten stand.

Es gab Verluste auf beiden Seiten, Zerstörung und großes Leid.

Schließlich griffen die Hüter des Waldes ein.

Diese besaßen die gewaltige, unerschöpfliche Macht der Natur. Und die galt es, vor weiterem Schaden zu bewahren.

So kam es zum großen Vertrag.

Bonraillios verpflichtete sich, die Hoffnungszauber zu stoppen, denn wahre Liebe, wahrer Mut und wahrer Zusammenhalt müssen aus dem innersten jedes Lebewesens selbst kommen.

Malraillios verpflichtete sich, die Horden des Hasses einzuschließen. Denn auch Gier, Neid und Hass existierten weiter in den Lebewesen.

Doch jedes von ihnen soll unbeeinflusst von mächtigen Zaubern seine Entscheidungen treffen.

Alle 1000 Jahre muss der Vertrag im Eisschrein durch die fünf Artefakte der fünf Völker erneuert werden. Dies soll den Zusammenhalt der verschiedenen Lebewesen beweisen.

Im Laufe der Zeit geriet der große Vertrag in Vergessenheit.

Die Lebewesen treffen ihre mehr oder weniger freien Entscheidungen, doch die Horden des Hasses regen sich.

Am Nebelberg

Die Prophezeiungen der Schwestern des Nebels galten als unfehlbar. Könige, Fürsten, Häuptlinge, Kriegsherren und sogar gut betuchte Bürger suchten die abgelegene Burg auf einem Hügel im Osten Dominioports auf, um eine Entscheidungshilfe zu bekommen.

Dafür bezahlten sie mit Geld, Edelsteinen, oder Naturalien. Sobald sie mit den Schwestern über den Preis einig geworden waren, durften sie ihre Frage stellen. Und obwohl nur wenige der Nebelschwestern die Gabe der Sicht besaßen, wurde doch immer geantwortet. Beschwerden hatte es noch nie gegeben. Denn irgendein Teil der Antwort stimmte immer.

Dinka gehörte seit fünf Jahren zu den Nebelschwestern. Zuvor war sie als jüngstes Kind in einer Räuberbande aufgewachsen, hatte danach einige Jahre mit ihren beiden älteren Geschwistern auf den Straßen Dominioports gelebt, bis sie ihr Bruder hierher gebracht hatte. Damals hatte sie das nicht verstehen können und viel geweint. Nun, da sie beinahe so alt war, wie ihr Bruder damals, hatte sie es nicht nur verstanden, sondern sich sogar gut eingelebt.

Die Gabe der Sicht besaß sie zwar nicht, aber sie lernte schön zu schreiben und hatte ein Talent für schöne und dennoch klare Zeichnungen. Bei offiziellen Prophezeiungen wurde sie dazu eingeteilt, den Spruch aufzuschreiben und wenn die Schwester eine bestimmte Person oder einen Gegenstand zu erkennen glaubte, malte Dinka das gewünschte Bild neben den Spruch.

Echte Prophezeiungen waren selten. Seit sie hier war, hatte sie erst zweimal erlebt, dass diese spezielle Mischung aus Verwirrtheit und Macht herrschte. In diesen Tagen hing der Nebel, der den Frauen ihren Namen gab, sogar in der kleinen Burg. Ansonsten verhüllte er alles, was sich unter ihr befand. Wenn Dinka nach unten blickte, sah sie fast ständig Nebel. In den ersten Jahren, als sie noch mehr Kind als junge Frau gewesen war, träumte sie von der Rückkehr zu ihren Geschwistern, einem netten Mann und eigenen Kindern. In den letzten Jahren war dieser Traum verblasst. Diese Wünsche lagen unter dem Nebel, und so schlecht lebte sie nicht bei den Schwestern. An diesem Morgen wurde sie von der Mutter geweckt. Die Mutter war die älteste der Nebelschwestern und besaß die Gabe der Sicht. Bei großen Entscheidungen hatte sie das letzte Wort. Allerdings gab es seit Jahren nicht viel zu entscheiden.

Dinka bemerkte den Nebel sofort. Aufgeregt erhob sie sich. Wahrscheinlich durfte sie eine echte Prophezeiung schreiben und mit Zeichnungen schmücken.

Die Mutter bestätigte ihren Verdacht. „Dinka, diese Prophezeiung war die eindrucksvollste, die ich jemals gesehen habe. Ich werde dir einen Einblick gewähren.“

Sie hatte von dieser Fähigkeit gehört. Jemand mit der Gabe der Sicht konnte einem anderen ebenfalls seine Vision erleben lassen. Noch nie war das in den letzten Jahren geschehen.

Dinka nickte freudig. „Es ist mir eine Ehre, Mutter.“

Die Mutter lächelte sanft und Nebel zog auf. Dinka konnte nur mehr die Mutter sehen. Diese griff nach ihren Händen, der Nebel wurde noch dicker. Dinka konnte nur mehr weiß sehen. Sie schloss die Augen und öffnete sie erneut. Obwohl sie spürte, dass ihre Hände gehalten wurden, spazierte sie über einen schneebedeckten Berg. Vor ihr befand sich ein Schrein aus Eis. Auf einem Tisch im inneren des Schreins befanden sich fünf ähnlich geformte Vertiefungen von der Größe einer halben Handfläche. Dinka drehte sich um und sah fünf sehr unterschiedliche Wesen auf den Schrein zukommen. Eines war sehr groß, eines eher klein, eines war eine große Frau mit langen hellen Haaren, ein anderes eine kleinere Frau mit auffälliger Kleidung, und eines ein Wolf. Dinka näherte sich den fünf und konnte nun genau die Gesichter erkennen. Als sie einen Schritt auf den Wolf zuging, verwandelte sich dieser in einen Mann. Sie erkannte ihn sofort. Das war ihr Bruder. Aus dem halbstarken, fast ständig grinsendem Jugendlichen war ein muskulöser, noch immer fröhlicher Mann geworden. Dinka hätte ihn gerne umarmt, beinahe hätte sie vergessen, dass sie sich in einer Vision befand. Sie betrachtete die verschiedenen Gefährten und den Schrein noch einmal genauer, denn bald würde sie das zeichnen, was sie hier gesehen hatte. Und schreiben würde sie dan Satz, den sie von Anfang an in Dauerschleife im Hintergrund der Szene klar und deutlich gehört hatte: Auserwählte mit besonderen Gaben in Stärke, Mut und Herzenswillen, werden Niederlagen, Angst und Schmerz überwinden, um den Kreis das Lebens aller zu bewahren.

Ihr Werk konnte beginnen. Hier ging es um die Zukunft der Welt, das musste ein Meisterwerk werden.

Embra

Ich liebe meine Mutter. In all meinen Erinnerungen ist sie das Vertrauen, der Trost und der Mut, den ich brauchte.

Daran muss ich denken, als ich die klemmende Tür zu unserer zugigen Arme-Leute-Wohnung eindrücke, um hineinzugelangen. Schon im muffigen Gang konnte ich das Gestöhne hören.

Man kann sagen, dass ich sehr aufgeklärt aufwuchs. Während meine Freundinnen vom Kleingaunermarkt und vom Hafen nur gerüchtweise von ficken, Schwänzen und Mösen gehört hatten, hatte ich gefühlte tausend verschiedene Arten von bezahlter Liebe gesehen, oder zumindest gehört.

Das verschaffte mir Ansehen unter den Mädchen. Bis wir älter wurden, dann war ich zum Nuttenmädel geworden, mit dem die anderen nicht mehr gesehen werden wollten. Allein kamen sie immer wieder und wollten Informationen über das Liebesspiel.

Ich seufze und schleiche an die Wand gedrückt ins zweite Zimmer, wo mein aufwendig verziertes Bett steht. Ein Geschenk eines Kunden meiner Mutter. Ich schäme mich nicht für meine Mutter, ich wünschte nur, unsere Nachbarn und Bekannten würden uns menschlicher behandeln. Zwischen uns ist eine Art unsichtbare Mauer. Dieses ständige Gefühl von Abwertung trifft mich, auch wenn ich mir nichts anmerken lasse.

„Embra, guten Morgen, mein Schatz.“

Die freundliche Stimme meiner Mutter. Ich lasse die Augen noch geschlossen und genieße es, sie zu hören. Behutsam streicht sie mir die hellbraunen Haare aus dem Gesicht.

„War es spät gestern?“, fragt sie mich.

„Nicht spät genug, entgegne ich unwirsch und drehe mich weg. Ich lasse die Augen noch fester geschlossen und schäme mich, dass ich so unfreundlich bin. Es kommt zwar nur selten vor, aber es tut mir jedes Mal leid. Warum fällt es mir so schwer, mich wie eine liebe Tochter zu benehmen? Besonders wo ich doch meine Ma so gerne habe.

„Tut mir leid“, beschwichtigt meine Mutter.

Warum schreit sie mich nicht an? Warum verpasst sie mir keine Ohrfeige, wie jede andere Frau, wenn sie freche Antworten von ihrem Kind bekommt. Ich öffne meine Augen, das rechte wehrt sich noch etwas dagegen, und drehe mich wieder zu meiner Mutter. „War nicht so schlimm.“

Ich versuche ein schiefes Grinsen zustande zu bringen, und sehe vermutlich wie ein Betrunkener mit Zahnschmerzen aus. Ma lacht herzlich und jetzt fällt mir auf, wonach es riecht: nach angebruzelten Eiern

Sofort setze ich mich auf und atme noch einmal tief ein. Wir müssen zwar nicht hungern, aber Eier zum Frühstück sind eine Seltenheit.

„Ybrill hat mir von deinen Fortschritten erzählt. Und ich dachte, dass du etwas besonderes verdienst. Also einfach so, als Überraschung. Du bist für mich immer etwas besonderes.“

Ich springe auf und umarme meine Ma. „Danke.“

Ybrill ist meine Lehrmeisterin in Hexerei. Sie sagt gerne, dass ich ihre beste Schülerin sei. Dabei bin ich die einzige. Dann lacht die alte Frau im Körper einer Dreißigjährigen und sagt verschmitzt: „Momentan, Embra. Aber du bist die beste seit Jahrhunderten.“

Das war gruselig.

Brek

Ich liebe mein Leben. Die Sonne, das Laufen durch den Wald, die Verfolgungsjagden und Schlägereien mit den Schergen des Königs oder den Handlangern von den reichen Fieslingen, und das Kampftraining mit meinen Freunden.

Wir sind eine gefürchtete Bande von Rebellen.

Randel ist unser Anführer. Er ist der richtige für diese Position. Er kann Mut machen, gut reden und strategisch denken. Aber er kämpft auch echt gut. Darum respektiere ich ihn und bin der 2. Mann. Mir liegt nichts am Befehlen, ich trainiere lieber oder bin im Wald unterwegs.

Aber wir haben einige Ziele, für die wir alle hier einiges riskieren. Unser Leben, unsere Unversehrtheit und unsere Freiheit. Also so ziemlich alles, was von Bedeutung ist.

Allerdings gibt es etwas größeres als unsere einzelnen Leben. Wer weiß, wie es den Menschen in Umbratia geht, vor allem in Dominioport, und einen Funken Ehrgefühl besitzt, kann nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Schon gar nicht, wenn schlaue Leute wie Randel Pläne geschmiedet haben, wie wir es ändern können.

Und wenn Leute wie ich Gaben haben, die besonders sind.

„Hat dich jemand gesehen?“ Randel ist groß und massig muskulös.

Ich bin etwas kleiner und auf eine schlanke Art muskulös. Und ungefähr zehnmal so stark wie er.

„Nur mit Fell“, antworte ich grinsend.

Randel lacht kurz. „Sicher?“

Arkin taucht neben uns auf. „Ich kann es bestätigen. Die Schergen haben ihn nicht erkannt.“

Arkin ist groß und dünn. Und er macht sich gern wichtig. Ich mag ihn trotzdem, er ist sogar einer meiner besten Freunde, ich kenne ihn seit Jahren.

„Beschattest du mich, Geierheini?“

Arkin hebt eine Augenbraue. „Adler. Ich bin ein Adler, du Fellbündel!“

„Im Moment bist du nervig.“ Ich lache.

Arkin zieht die Nase hoch. „Und du riechst nach nassem Hund.“

Ich zucke noch immer lachend die Schultern. „Na und?“

Randel hebt die Hand, bevor Arkin wieder etwas sagen kann und nickt zufrieden. „Wir werden Umbratia befreien. Wir brauchen aber auch weitere Verbündete.“ Er hat wieder so einen nachdenklichen Augenausdruck und Arkin schließt sich ihm an. Bevor sie zum Planen anfangen, schlage ich mich in die Büsche und laufe durch den Wald. Die Erde ist vom Regen letzter Nacht feucht, und meine Zehen hinterlassen Abdrücke. Ich spüre diese starke Energie, Wärme flutet meinen Körper und der nächste Abdruck am Waldboden ist eine Wolfpfote.

Ich liebe mein Leben!

Velton

„Schwert hoch!“, befiehlt mein Ausbilder. Ich gehorche, obwohl mir die Doppelaxt lieber ist. Ich habe dieses tödliche Kunstwerk vor acht Jahren in der Waffenkammer gefunden. Wobei „gefunden“ bei diesem 2-Meter-Schmuckstück nicht das richtige Wort zu sein scheint.

Damals starrte ich also auf diese wunderbare Doppelaxt und berührte etwas zitternd ihren Griff. Es war, als hätte ich einen neuen Freund gefunden. Weil ich als halbwüchsiger Bengel in Ausbildung zum königlichen Soldaten kein Recht darauf hatte, ließ ich meinen neuen Freund zurück.

In den nächsten Wochen meldete ich mich immer freiwillig zum Reinigen der Waffenkammer. So schnell es möglich war, machte ich sauber, ordnete die Übungswaffen und lehnte mich anschließend neben der Doppelaxt an die Wand. Dora hatte ich sie genannt. Dora wusste, wer mich gehauen hatte, Dora wusste, wen ich verdroschen hatte, sie wusste, dass ich bei einer Familie lebte, die mich zwar recht gern mochte, aber die nicht meine wirkliche Familie war. Aber auch sie wusste nicht, warum mir ein unbekannter Mann die schulische und militärische Ausbildung bei den besten Lehrern Dominioports ermöglichte.

Remo fand mich eines Tages, als ich wieder neben Dora saß. Remo ist alt, mit grauen Haaren und Bart, und trotzdem besiegt er die meisten der jüngeren Männer bei den Übungskämpfen. Mit seinen typischen leisen und fließenden Bewegungen springt er über einige Schilde, taucht unter Seilen durch und stellt sich neben mich. Zuerst hatte ich Angst. Bestimmt war es verboten, mit einer Doppelaxt zu reden, und sie auch noch „Dora“ zu nennen. Wenn ich wenigstens „zerschmetternde Klinge“ zu ihr gesagt hätte, oder „Verderben-über-meine-Feinde-bringender-Todesalbtraum“…

Ich zuckte zusammen, als Remo seine sonnengebräunte und kräftige Hand hob. Weil kein Schlag kam, öffnete ich meine Augen wieder und sah Remo lächeln. Seine Finger fuhren über Dora.

„Die gefällt dir, was?“

Nicken war alles, was ich zustande brachte. Remo setzte sich neben mich. „Diese Doppelaxt hat Hauptmann Tjark von einer Schlacht gegen einige Riesen mitgebracht.“

Deswegen ist sie so groß… Ich wusste schon, dass es Riesen gibt, und Zwerge, und angeblich auch Tiermenschen und Hexen, und noch mehr solche Wesen. Irgendwie waren das bisher aber nur Geschichten für mich gewesen. Und nun hatte ich mich mit der Waffe eines Riesen angefreundet. „Interessant, dass ausgerechnet diese Axt dich so verzaubert“, meinte Remo nachdenklich.

Inzwischen hatte ich meinen Mut wiedergefunden und stand auf. „Ich bin gar nicht verzaubert! Ich will mit Dora kämpfen!“

Remo schimpfte nicht, und er lachte mich auch nicht aus. Stattdessen stand er auf, nahm Dora aus der Halterung und stellte sie mit der Doppelschneide nach unten auf den Boden. Sie war die größte von uns.

Remo ließ sie hin und her wippen. Ich schaute zu und konnte es nicht erwarten, sie zu führen. Irgendetwas in mir sagte schon damals, dass wir zusammengehören.

Remo nickte, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Velton, ab heute werde ich dich trainieren. Und sobald du so groß wie Dora bist, wirst du mit ihr umzugehen lernen.“

Noch nie war ich in meinem zwölfjährigem Leben so glücklich gewesen. Denn es fehlte mir nur noch ein Zentimeter.

Und heute muss ich erst wieder mit Schwertern trainieren. Ich fühle mich mit diesen „leichten Stecken“ ungeschützt und irgendwie zahnlos. Remo meint, ich muss auch mit den Waffen der normalen Menschen umgehen können. Als ob ich mir Dora wegnehmen lassen würde! Niemals!

Trotzdem gehorche ich meinem Lehrmeister. Er hat teilweise Recht, das gebe ich zu. Ich wirke ungelenk mit dem Schwert und zumindest im Notfall will ich auch ohne Dora meine Gegner besiegen können. Obwohl eine Geheimaktion bei meiner Körpergröße von über drei Metern schwierig werden könnte…

Kenja

Ich bin die zweite der Thronfolge. Sobald mein geliebt-gefürchteter Vater verstirbt, übernehme ich Umbratia.

Vorher muss nur noch Pontian Paidraig, dieser unfähige, vollgefressene Möchtegern-König gestürzt werden. Paidraig hortet den Reichtum, stopft sich bei Banketten voll und ignoriert die Bedrohungen aus den Nachbarreichen genauso, wie jene aus dem eigenen Land.

Mein Vater, Rexton Neronville, ist da ganz anders. Wir sind eine starke Familie und wir haben Einfluss auf einige der Stadträte. Denn diese gierigen Dickwänste fressen meinem Vater aus der Hand. Ein paar leere Versprechungen hier, ein paar Lügen da – und schon bald werden wir im Königsschloss in Dominioport leben.

Unsere Feinde richten wir hin. Mein kleiner Bruder ist für Körperteile abhacken, meine kleine Schwester für Enthaupten und meine Eltern schwanken zwischen Aufhängen und Vierteilen. Was habe ich nur für eine sadistische Familie? Hauptsache vorher verraten sie uns alles, was wir wissen wollen. Sterben können sie von mir aus auch im Kerker. Aber mein Vater ist Politiker, er inszeniert sich gerne.

Mich interessiert nicht, was andere von mir denken. Ich weiß, dass ich intelligent, eine starke Kriegerin und äußerst gut aussehend bin. Kein Wunder, dass sich all die reichen Schnösel-Söhne der Stadträte bei uns vorgestellt haben. Aber ich habe sie alle mit „gebrochenem Herzen“ und blauen Flecken heimgeschickt. Ich will keinen Schwächling an meiner Seite. Auch keinen, der mich besiegen könnte, denn ich traue keinem. Daher ist es schwierig einen Mann zu finden. Zum Glück muss ich mich nicht damit beschäftigen. Wenn ich erst einmal herrsche, werden noch ganz andere Kaliber anklopfen. Ich muss grinsen.

Wieder einmal laufe ich, die Wurfmesser bereit, über die Treppe in unserem höchstem Turm hinauf. Immer wieder tauchen „Gegner“ aus den Mauern auf. Die erledige ich mit gezielten Würfen. Diese Trainingsmethode verdanke ich unserem Erfinder Clem. Der knochige Schlaukopf entwickelt Dinge, die man sich beim besten Willen vorher nicht hätte erträumen können. Einige unserer besten Soldaten werden mit den neuen Erfindungen ausgerüstet, und damit haben wir nicht nur die brutalsten Krieger, sondern auch den Überraschungseffekt auf unserer Seite. Wenn zum Beispiel aus einem Seil fesselnde Ketten werden, die dem Gefangenen zusätzlich Schmerzen bereiten, dann haben wir alle was zu lachen.

Diese Fesseln musste Sandolph ausprobieren. Mein kleiner Bruder hat nämlich eine Wette gegen mich verloren, und irgendjemand ist immer dran. Meine Eltern, meine kleine Schwester Orella, und natürlich der Erfinder des fiesen Spielzeugs haben neugierig zugesehen. Ich warf das Seil und Sandy konnte sich nicht mehr bewegen. Er fiel zu Boden und zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht hin und her. Orella war schon ganz blass. Sie ist die Sensible in unserer Familie. Sie träumt von einem starken Ehemann und liest gerne Gedichte und spielt ein Musikinstrument. Aber wenn es drauf ankommt, kann auch sie Gefangenen die Fingernägel ausreißen. Sie ist eben auch eine Neronville.

Sandy wimmerte und Clem klatschte fanatisch in die Hände. „Welches Genie denkt sich nur so was aus?“ Dieser Irre passt perfekt zu uns.

Nachdem ich meinte, dass mein Bruder genug Zeit in den quälenden Ketten verbracht hätte, drückte Clem auf eine markierte Stelle auf den Fesseln. Einen Augenblick später lag ein unscheinbares Seil am Boden. Clem erklärte uns den Mechanismus, während sich mein kleiner Bruder aufrappelte. Er atmete schwer und hatte einige wunde Stellen am Körper. Trotzdem grinste er. „Ich freu mich schon darauf, wenn ich auf der anderen Seite des Seils stehe!“ Sandy ist ganz schön gestört…

Einen Augenblick war ich abgelenkt und verfehle meinen nächsten „Gegner“. Es sind zwar nur optische Täuschungen, trotzdem hat meine Unaufmerksamkeit schmerzhafte Folgen. Eine fiese Hitzewelle kommt mir entgegen, und danach schlägt mich etwas gegen die Turmmauer. „Clem, du Arschloch“, murmle ich.

Ich freue mich auf die Rebellion, die mein Vater anzetteln wird. Unsere Mitläufer und Unterstützer verbreiten die richtigen Geschichten im Volk. Und dann gehört uns der Thron. Wenn ich ein Oberbösewicht wäre, würde ich jetzt mein hämischstes Gelächter erschallen lassen. Aber ich bin nur ein Mensch mit ehrgeizigen Zielen und einer gewaltverliebten Familie.

Von nichts kommt nichts, darum absolviere ich den Turm noch einmal. Dieses Mal erwische ich alle.

Mitten ins nicht vorhandene Herz.

Embra

Manches Mal bin ich über meine eigenen Kräfte erstaunt. Vor einigen Monaten war ich von meinen damaligen Kräften schockiert. Und vor noch mehr Monaten habe ich vor meinen Kräften Angst gehabt.

Weil ich einige weitere Monate zuvor noch keine Kräfte bemerkt hatte. Ich war ein ziemlich hübsches Mädchen, meine Mutter hatte mich in eine städtische Schule geschickt. Mittlerweile weiß ich, dass sie dafür ein paar „Ehrengäste“ empfangen musste.

Als Kind wollte ich lieber mit meinen Freundinnen durch den Hafen toben, am Gaunermarkt verlorene Kleinigkeiten sammeln, und manches Mal ein Geldstück dafür zugesteckt bekommen.

Aber vor allem: Fremde beobachten. Reiche Händler, die dich ein feines Seidentuch vor das gepuderte Gesicht hielten, wenn sie ihr Schiff oder ihren Luxusgüterladen verließen, exotische Reisende, mit Ringen in den Ohren und fremder Kleidung.

Ich mochte immer, wenn etwas passierte. Raufereien, Taschendiebstähle, Verfolgungsjagden… Während meine Freundinnen ängstlich waren, oder kreischend das Weite suchten, sah ich aufgeregt zu. Ich mochte es schon damals, zu beobachten, wie Menschen reagieren. Und ich hatte eine Freundin, die auch nicht ängstlich war: Gliss

Etwas älter als ich, lange braune Locken, braune Augen, hübsch und wild zugleich. Auch sie besaß eine gute Menschenkenntnis. Ihre Eltern waren vor wenigen Jahren hingerichtet worden. Sie waren Räuber gewesen, mit ihren Kindern und einigen anderen Erwachsenen überfielen sie Reisende und raubten reiche Bürger aus. Die meisten anderen Mädchen hatten Angst vor ihr.

„Feige Pudernäschen“, lachte sie darüber. Mich mochte sie. „Du bist ihnen auch nicht geheuer“, sagte sie.

Ich zuckte die Schultern. „Weil ich weiß, wie ficken geht.“

Gliss lachte schallend auf. „Ja, wahrscheinlich. Schau, wie sie tuscheln!“ Sie zeigte mit dem Finger nach unten. Wir saßen auf einem Mauervorsprung, einige Meter über dem Boden, und naschten stibitzte Beeren. „Trauen sich nicht rauf hier, haben Angst um ihre Kleidchen.“ Grinsend stopfte sich sich weitere Beeren in den Mund.

Plötzlich kam Bewegung in die Menschenmenge. Gliss schien damit gerechnet zu haben und streckte ihre Beine durch. „Bis zum nächsten Mal, Embra.“

Gliss stand auf, schüttelte sich und sprang elegant von der Mauer. Genau in dem Moment, als zwei Stadtwachen vorbeiliefen. Die beiden verfolgten zwei Burschen. Einer war groß und dünn, der andere etwas kleiner und kräftiger. Der Kleinere war Gliss' älterer Bruder. Einige meiner Freundinnen schwärmten für ihn. Er hatte das selbe Wilde an sich wie Gliss, war witzig und stark. Aber ich kannte ihn nicht näher. Wahrscheinlich hatte er einem reichen Sohn das Taschengeld geraubt, mit dem er, die Bande und seine beiden kleinen Schwestern einige Tage gut würden leben können.

Gliss fiel den Wachen vor die Füße. Jeder von uns wusste, dass sie sich nicht verletzt hatte, Gliss doch nicht! Aber das wussten die Wachen nicht, und Gliss war sehr hübsch.

„Hast du dich verletzt?“, fragte einer. Die Verfolgung der Straßenjungen gaben sie auf.

Gliss rieb sich ihren Knöchel und stand langsam auf. „Alles in Ordnung.“ „Was machst du nur da oben?“ Beide Wachen drehten sich zu mir. „He! Hast du sie etwa geschubst?“

„Glaubt ihr, so eine Dürre kann mir was?“

Gliss starrte wütend zu den Stadtwachen. Ich war ihr nicht böse, sie sagte das ja nur, um mich zu schützen. Die Wachen zuckten die Schultern. „Na, du scheinst dir ja zu helfen zu wissen.“

Selbstbewusst lachte Gliss: „Danke für eure Sorge, aber ich bin ein starkes Mädchen.“

Wie ich sie bewunderte. Ich traute mich nicht, frech zu sein. Bei Erwachsenen war ich meistens still.

Einer der Wachen warnte sie: „Pass nur auf, dass du nicht von diesen Rüpeln blöd angemacht wirst!“

Gliss lächelte höflich. Die Stadtwachen hatten ja keine Ahnung, dass sie mit „diesen Rüpeln“ unter einer Decke steckte.

Die Situation beruhigte sich und Gliss hangelte sich wieder über eine Mauer zu mir hoch, nachdem sich die Wachen umgedreht hatten. „Wenn die wüssten“, lachte sie und nimmt sich eine Handvoll Beeren.

Wir haben uns leider aus den Augen verloren. Ich musste regelmäßiger in die Schule gehen und seit zwei Jahren bin ich eine Hexe in Ausbildung unter Ybrill.

Meine Meisterin ist über 300 Jahre alt. Sie ist eine von den wenigen wirklich starken Hexen. Normale Hexer sind schon selten, und die werden keine 300 Jahre alt.

Heute braue ich einen Heiltrank, den wir danach im Armenhaus bei der Suppenverteilung den Kranken und Verletzten hineinmischen.

Die meisten der Hexer tun Gutes, hat mir Ybrill erklärt, aber es gibt auch einige Fanatiker, die sich als eine höhere Rasse sehen und die Macht an sich reißen wollen. Dabei wissen die meisten Menschen gar nichts von Hexen, Tiermenschen, Riesen und Zwergen.

Ich bin etwas in Gedanken versunken, aber merke sofort die Aufregung unter den Armen. Ein Mann, dessen Rechtes Bein unter dem Knie abgetrennte gewesen war, und sich auch um Suppe angestellt hatte, lehnt an der Wand und atmet schwer. Erschrocken sehen schon fast alle im Hof zu ihm. Ich habe Angst, dass ich etwas falsch gebraut habe, und blicke zu Ybrill. Sie zückt bereits ihren Kristall und umschließt ihn mit ihrer rechten Hand, aber wartet ab. Keiner kann glauben, was er sieht. Wir sehen zu, wie dem Mann, der durch seine Verstümmelung vermutlich älter wirkt, als er tatsächlich ist, das Bein wieder wächst. Innerhalb von Sekunden ist es vollbracht. Vorsichtig steht er auf und macht unbeholfene Schritte. Er weint vor Freude und strahlt vor Glück. Er kommt, inzwischen schon sicher gehend, auf Ybrill und mich zu. Nimmt zuerst ihre Hände, danach meine. „Ich danke euch.“ Er umarmt uns. Ich bin auch glücklich. Es freut mich, dass mein Trank dafür verantwortlich ist. Nur: Das war bisher nicht möglich. Kleine Verletzungen, oder leichte Krankheiten konnten wir heilen, aber noch nie zuvor ist so etwas geschehen. Auch Ybrill wirkt ein wenig erschrocken. Die Armen um uns herum müssen beruhigt werden. Besonders, da eine blinde Frau wieder sehen kann, ein tauber Junge wieder hören, der verbrannte Arm eines alten Mannes wieder gesund wird, und ein Mädchen, das grünen Schleim gespuckt hat und Schmerzen hatte, wieder fröhlich lacht.

Ybrill zaubert eine unsichtbare Kuppel über alle Anwesenden. Sie lässt ihnen das Glück und die Freude, trübt aber die Erinnerung an uns und die Suppe. Ich bin ihr dankbar.

Und wieder einmal überrascht von meinem Können. Aber auch so unbeschreiblich glücklich. Die Gesichter der Menschen, die geheilt wurden, begleiten mich noch tageang und machen mir noch mehr Mut.

Brek

Es gibt auch diese Tage, an denen alles schief läuft. Heute ist so einer. Gemeinsam mit Ava und Skender, zwei mutigen Menschen aus der Rebellentruppe, soll ich in der Stadt einen Berater des Königs entführen. Randels neuer Verbündeter, ein uralter Hexenmeister namens Maynard, dem man seine 310 Jahre nicht ansieht, hat uns eine gruselige Geschichte erzählt.

Von einem alten Vertrag, den Angehörige der fünf größten Völker, also der Menschen, Tiermenschen, Hexer, Riesen und Zwerge, alle 1000 Jahre erneuern müssen. Sonst mischen sich Schattengestalten in unser Leben ein. „Die Horden des Hasses werden das Leben, wie wir es kennen, mit zerstörerischen Zaubern in Angst und Qual verwandeln.“

Bei Maynard hört sich jeder Satz wie eine Horrorgeschichte an. Und die 1000 Jahre sind bald um. Während Maynard und ein paar andere Hexer, und inzwischen auch einige Tiermenschen und Rebellen darüber Bescheid wissen, wehrt sich der König von Umbratia gegen diese Vorstellung. Denn er müsste dafür ein wertvolles Artefakt aus seiner Schatzkammer hergeben. Denn die fünf Artefakte, die an verschiedenen Orten von verschiedenen Völkern bewacht oder versteckt wurden, müssen zusammengebracht werden, sonst wird’s finster.

Maynard will den königlichen Berater, der ein Gelehrter ist, an die alten Schriften erinnern. Danach soll er den König überreden, uns das Artefakt der Menschen zur Verfügung zu stellen.

Arkin, misstrauisch und logisch denkend, fragte: „Und warum überredest du ihn nicht einfach? Hypnose oder so?“

Maynard akzeptierte den Einwand und erklärte uns, dass einer seiner Rivalen für den König arbeitete und verhindern will, dass der Vertrag erneuert wird. „Aber mit euch rechnet er nicht. Und ihr seid talentiert“, lobte er uns.

Arkin war nicht ganz zufrieden, aber Randel war einverstanden. Und er ist der Anführer.

Ich bin dabei, denn ich liebe Herausforderungen, und meine Tiermensch-Kräfte sind außergewöhnlich, das hat der Hexenmeister mit einem Blick erkannt und war sogar etwas überrascht. Freut mich.

Zurück zu heute: Morgens hat Arkin den Schinken weggefuttert. Grinsend sagte er: „Du kannst dir ja ein Reh jagen.“ Hab ich dann aber nicht gemacht. Am Vormittag hat sich Brenda, ein Pferde-Tiermensch, beim Trainieren das Bein gebrochen. Maynard kann den Knochenbruch zwar heilen, und bei uns Tiermenschen heilen Verletzungen sowieso etwas schneller als bei Menschen, aber trotzdem braucht sie mindestens noch einen Tag, bis sie voll einsatzfähig ist. Darum kann sie abends nicht mitkommen.

Trotzdem werden wir das schaffen, es ist ja kein besonders schwerer Auftrag, einen alten Bücherwurm zu entführen. Ava ist beweglich und leise, sie hat sich noch nie verwandelt, aber einige gute Tiermensch-Anlagen. Skender ist ein sehr starker Mensch, und wie jeder in der Rebellentruppe mutig, loyal und ein guter Freund für mich.

Maynard hat uns gesagt, wo wir den Gelehrten heute Abend finden werden. Tatsächlich spaziert er alleine von der Bibliothek zum Schloss. Er ist zwar alt, aber noch kein Tattergreis. Skender bleibt im Hintergrund und hält uns den Rücken frei, Ava und ich stellen uns dem Alten in den Weg.

Ava lächelt: „Dürfen wir Euch einen Augenblick entführen?“

Der königliche Berater wirft uns verwirrte Blicke zu. Ich halte mich an Randels Plan und schlage ihm gegen den Hals. Mit der richtig dosierten Kraft, dass er zusammenbricht, von Ava aufgefangen wird, und später ausgeruht aufwachen wird. Neben Randel und Maynard.

So dachten wir. Aber kaum drehen wir uns um, der Berater hängt über meiner Schulter, hören wir Skender aufschreien. Kurz darauf das Klirren von Schwertern. Sofort lasse ich den Berater auf den Boden sinken und bin Kampfbereit. Ava zückt ihr Schwert, ich kämpfe ohne Waffen.

Vier königliche Wachen kommen uns entgegen, Schwerter gezückt, Helme mit Visier. Ava und ich nicken uns zu. Sie legt sich mit den beiden auf ihrer Seite an, ich nehme die anderen zwei. Nr. 1 will mich verletzen, und verletzt sich dabei selbst, weil ich mit Tiermensch-Instinkten einfach stärker bin. Nr. 2 schlage ich als nächsten zu Boden. Auch Ava hat ihren Teil der Arbeit erledigt und wir wollen Skender suchen. Bevor ich den Berater wieder aufheben kann, klatscht jemand in die Hände.

„Ihr seid wirklich, nun ja, speziell.“ Ich konnte ihn nicht hören, das mich Menschen überraschen, passiert sonst nie. Und dafür höre ich jetzt weitere Wachen. Zwölf kreisen uns ein.

Der Mann, der applaudiert hatte, tritt in den Schein der Straßenlaterne. Eindeutig der Rivale, von dem Maynard gesprochen hat. Er hat also doch mit uns gerechnet. Auch ohne Tiermensch-Instinkte hätten wir das erkannt. Überhebliche Ausstrahlung, aber auch mit mächtigen Kräften ausgestattet. Seine weißblonden Haare leuchten tatsächlich im Dunkeln, ob das auch ein magischer Trick ist?

„Lasst den alten Mann hier. Und versucht gar nicht erst, mir zu entkommen!“

Ava und ich sind energiegeladen und angriffslustig. Aber ich bin auch aufmerksam und inzwischen besonnener. „Wo ist Skender?“, frage ich. Keiner von uns bewegt sich, jeder ist angespannt. Bis auf den Zauberer. Der stolziert einen Schritt weiter auf uns zu und erwidert: „Ihr meint euren Mitverschwörer? Den haben wir überwältigt. Aber er lebt. Ihr kommt alle gemeinsam in eine schöne Zelle im königlichen Kerker.“

Ava sieht zu mir und faucht. Aber leider verwandelt sie sich nicht heute Nacht zum ersten Mal. Wenn wir angreifen und vielleicht entkommen können, haben sie immer noch Skender. Noch dazu ist der Typ ein Hexer. Entkommen fast unmöglich. Darum hebe ich meine Arme und Ava tut es mir nach.

Der Hexer lacht höhnisch. „Ich habe mir mehr erwartet. Bist du nicht ein blutrünstiges Monster?“

Ich lasse mich nicht provozieren. Arkin beobachtet uns von oben und er wird Randel und Maynard davon berichten. Er sollte dem Fiesling auf den Kopf machen… Aber nichts passiert.

Bis blitzschnell – Hexenkräfte sind im Spiel – der Zauberer eine Klinge in Avas Herz wirft. Sie stirbt neben mir.

Jetzt gebe ich besonnen bleiben auf und werde instinktiv. Verwandlung im Sprung und Biss in die Kehle. Leider nicht ganz, der Hexer wehrt ab und ich lande unverletzt neben ihm und bin bereit für den nächsten Angriff. Dachte ich! Die Straßensteine unter mir kleben plötzlich an meinen Pfoten fest und ich bin durch diesen Zaubertrick gefangen.

Hämisch grinsend streicht der Hexer über meinen Rücken. Mein Fell sträubt sich, ich will ihn abbeißen, aber bin wie festgefroren.

„Übrigens, deinen Freund haben wir auch schon abgestochen“, sagt er sanft. Ich will ihn noch mehr abbeißen. So genüsslich habe ich noch keinen übers Töten reden hören.

Die Hitze in mir wird noch stärker und ich bemerke, dass ich meine Pfoten wieder bewegen kann. Ich bin stärker als der Hexer, warum auch nicht! Ich muss auf meine Kräfte vertrauen!

Mein Gegner ist arrogant. Er prahlt vor seinen Wachen und wird unaufmerksam.

Jetzt! Ich springe ab und verpasse dem Zauberer einen Hieb mit meiner Vordertatze. Meine Krallen schneiden durch sein Fleisch. Er schreit auf. Ich öffne mein Maul und meine Zähne beißen in seinen Arm.

Der Hexer zaubert aber schon wieder. Aus dem Nichts erscheint ein Netz und fixiert mich am Boden. Neben mir liegt Ava in ihrem Blut. Ich mochte sie gerne. Und Skender genauso. Einige der Wachen nähern sich mir und wollen sicher nicht „Hol's Stöckchen“ mit mir spielen.

Bevor sie mich zu Tode treten, befielt der Zauberer: „Weg von ihm!“

Ich verwandle mich zurück in meine menschliche Gestalt. Trotzdem hält das Netz. Mit bösartigem Ausdruck im Gesicht legt mir der Hexer Fesseln an – durch das Netz hindurch.

„So etwas wie dich müsste es von mir aus gar nicht geben! Obwohl ich von Kreaturen wie dir auch ein wenig fasziniert bin.“ Ich zucke die Schultern. Der Magier gibt den königlichen Wachen weitere Befehle:

Die Leichen verschwinden lassen.

Den königlichen Berater in dessen Gemach bringen.

Die verletzten Wachen zum Heiler schaffen.

Mich in eine „besonders schöne“ Zelle sperren.

Kenja

„Attacke! Sie haben uns entdeckt!“ Ich gebe den Befehl, vierzehn der besten Männer meines Vater gehorchen mir. Innerhalb von Minuten richten wir ein Blutbad in einem der Verteidigungsposten der Hauptstadt an. Wenn der König Dominioport nicht schützen kann, verliert er weitere Anhänger und wird geschwächt.

Lanvis killt den nächsten Verteidiger. Ein Typ wie Lanvis würde mir gefallen. Er ist brutal und stark. Und er würde mich niemals hintergehen. Aber andererseits, etwas besser könnte er aussehen, ich wundere mich, dass er so eine hübsche Frau erwischt hat. Na ja, nicht mein Problem, ich habe einen Auftrag auszuführen.

„Sieben“, prahlt einer meiner Männer.

Lanvis grinst mitleidig. „Neun.“

Fast alle Krieger drehen sich zu mir. Fast alle, weil wir fünf Mann verloren haben.

„Zehn“, stelle ich klar.

Gejohle.

„Ja, danke, Männer. Aber wir haben noch was zu erledigen“, befehle ich. Sofort sind alle still. Vor mir haben sie Respekt. Korrigiere: Vor mir und den mindestens zwanzig königlichen Soldaten, die uns mit gespanntem Bogen und gezückten Schwertern bedrohen.

„Ergebt euch, Rebellen!“, fordert deren Befehlshaber. Und dieser Typ ist wirklich speziell. Über drei Meter hoch, mächtig muskulös und mit einem tödlichen Spielzeug bewaffnet. Eine frisch geschliffene Doppelaxt, größer als ein Mensch.

Normalerweise halte ich Kämpfer, die ihre Waffen polieren, bis sie glänzen, für Angeber, die meistens im wahren Kampf versagen. Jede Waffe sieht am besten mit dem Blut der Feinde aus.

Aber dieser Königshandlanger kann kämpfen. Meine Männer erwarten den Befehl zum Angriff. Wir haben schon eine größere Übermacht bezwungen. Auch wenn die einen Koloss dabeihaben.

Mit einer tödlichen Axt. Die will ich haben!

„Angriff! Wir schlachten weiter!“, schreie ich.

Drei meiner Männer fallen von Pfeilen getroffen zu Boden. Bleiben mehr für uns! Ich will mit dem Großen kämpfen. Zwei sterben durch meine Hand. Drei weitere erledigt Lanvis. Jetzt komme ich an den Befehlshaber ran. Clems spezielles Seil soll mir einen Überraschungsmoment sichern.

Aber der Koloss zerhackt es in der Luft und die Falle aktiviert sich nicht. Hinter mir wird es ruhig. Sind etwa alle meine Männer besiegt worden? In dem Moment ist mir alles bis auf den Kampf gleichgültig.

Der Koloss holt mit der Axt aus und ich habe ihn unterschätzt. Ich dachte, der ist massig und behäbig, aber der ist flink. Im letzten Moment kann ich ausweichen. Er holt gleich wieder aus und erwischt Lanvis. Allerdings mit der breiten Seite, anscheinend will der Weichling nicht alle abschlachten. Durch die Wucht des Schlages kracht Lanvis gegen eine Mauer und rutscht zu Boden, wo ihn schon zwei weitere königliche Handlanger mit gezückten Schwertern erwarten.

Ich lasse mich davon nicht ablenken. Es geht hier um meine Zukunft, nicht um irgendeinen Bauern, der ganz gut kämpfen kann, da kommen immer wieder neue nach.

„Ergib dich, Kenja Neronville“, fordert der Riese.

Welch eine Ehre, er kennt mich.

Ich sehe ein, dass die Situation nicht günstig ist. Lanvis und zwei weitere Männer sind leicht verwundet und überwältigt, die übrigen tot. Lanvis sieht mich an und nickt kaum merklich. Mir fällt ein weiterer Grund ein, warum ich nichts von ihm wissen will, abgesehen davon, dass er kleiner ist als ich. Wenn der Kampf verloren ist, ergibt er sich einfach. So etwas kann ich nicht verstehen. Wenn ich mich schon ergebe, dann auf meine Art.

Mit List.

Also lasse ich das Schwert fallen. Ein dumpfes Klirren ertönt. Dann stürme ich auf den Koloss zu und setze eine weitere Erfindung von Clem ein: einen als Armband getarnten Flammenwerfer. Jetzt wird es heiß!

Aber zum zweiten Mal kontert der Befehlshaber der königlichen Soldaten erfolgreich. Die Flammen erwischen ihn nicht, weil er seine Doppelaxt so schnell wirbelt, dass die Flammen wie durch einen Schild gestoppt werden. Fast gemütlich tritt er die Funken aus. Dann ballt er seine mächtige Faust. Damit will er mich erwischen?

Da muss ich einfach grinsen.

Velton

Die Tochter des rebellischen Fürsten bricht vor mir zusammen. Ein harter Schlag auf den Kopf mit meiner Faust. Normalerweise mache ich so etwas nicht, aber die ist durchtrieben und wer weiß, was sie noch für hinterhältiges Spielzeug versteckt hat.

Meine Männer haben tapfer gekämpft. Das macht mich als Befehlshaber stolz. Und ich werde meinen Vater stolz machen, Loran Tjark, Hauptmann aller königlichen Soldaten.

Inzwischen kenne ich meine Geschichte. Meine Mutter war, oder ist, eine Riesin. Bei den Aufständen wurde ich geboren und mein Vater nahm mich mit nach Dominioport. Er erzählte mir, dass er meine Mutter geliebt hätte. Aber da er bereits Frau und Kind hatte, und in den Rängen aufsteigen wollte, störte ich. Nachdem wir gesprochen hatten, fühlte ich mich besser. Keiner ist gerne ahnungslos über sich selbst. Besonders, wenn alle anderen irgendetwas über einen wissen.

Mittlerweile bin ich anerkannt und beliebt. Talentiert und fleißig, und nun habe ich meinen ersten Auftrag als Kommandant einer Einheit erfolgreich ausgeführt. Über die Toten bin ich traurig. Ich kannte die meisten seit Jahren. Wir haben gemeinsam trainiert, gelacht, und Angst gehabt. Aber damit muss ich umzugehen lernen.

„Bringt die Verletzten zum Heiler. Kolby, Mako und Quinn, ihr begleitet mich mit den Gefangenen zum Kerker.“

Vor dem Posten stehen genug Pferdewägen des königlichen Heeres bereit. Die drei Männer wehren sich nicht, und Kenja Neronville ist noch bewusstlos. Ich lege sie gefesselt am Wagen ab und bewache sie während der Fahrt. Kurz bevor wir am Kerker ankommen, regt sie sich.

„Gerade rechtzeitig“, lacht Quinn.

„Du siehst den Kerker des Königs vor dir“, erklärt Kolby hämisch. Aber auch Kenja grinst schon wieder höhnisch.

Denn einer der Gefangenen springt auf und entreißt Kolby sein Schwert. Er muss sich während der Fahrt befreit haben. Aber bevor er Kolby verletzen kann, hat ihn Mako erledigt. Er sieht unsicher zu mir. Kolby umarmt ihn dankbar. „Ich war abgelenkt, der hätte mich abgestochen. Ich danke dir.“

Mako grinst erleichtert. Er redet nicht viel, ist aber einer meiner besten Krieger. Ich lobe seine Reaktion und lasse die drei noch lebenden Rebellen in den Kerker schaffen.

Der Wachposten verlangt, dass ich mit hinein komme. Irgendetwas unterschreiben.

Ich hasse den Kerker. Nicht nur, dass ich fast dauernd gebückt durch die dunklen Gänge gehen muss, auch der spezielle Geruch und der Lärm von Ketten und Geschrei lässt mich auf ein baldiges Hinauskommen hoffen.

Die Wärter sperren die beiden Männer in eine Zelle und dann müssen wir noch weiter hineingehen. Dort erwartet uns der Kerkermeister persönlich. Irvin Raug liebt seinen Posten, und deswegen kann ich nicht viel mit ihm anfangen. Mir sind Leute unheimlich, die anderen gerne Leid zufügen. Voller Vorfreude betrachtet er Kenja Neronville.

„So so, das Mädel vom alten Rexton.“ Er betrachtet sie genüsslich von den hellen Haaren bis zu den Stiefeln. Dann sieht er mich mit einem fiesen Blick an und fragt: „Soll sie ganz bleiben?“

Kenja macht er damit keine Angst, die weiß sich zu wehren. Trotzdem bestehe ich darauf, dass den Gefangenen keine Schmerzen zugefügt werden. „Sie haben sich ergeben. Bis der König entschieden hat, was mit ihnen geschehen soll, bleiben sie hier. Und zwar ganz!“, befehle ich.

Raug grinst weiterhin höhnisch. „Ihr habt es gehört, Männer. Na dann, geben wir dem Killermädel ein Einzelzimmer. Neben unserem Spezialgast.“

Zwei Wärter übernehmen Kenja und Raug und ich folgen ihnen. Spezialgast? Wer es auch sein mag, der hat sicher nichts zu lachen.

Raug führt mich an einem Käfig vorbei. Er schlägt mit dem Knüppel auf das Gitter. Ich hätte in diesem Käfig keinen Platz, der Gefangene schon, er ist nicht besonders groß, er kann gerade drinnen stehen, liegen und drei Schritte gehen. Im Moment hockt er in der Mitte des Käfigs und hält sich die Ohren zu.

Raug erklärt mit wissenschaftlicher Miene: „Das ist ein halber Wolf. So ein Monster von Tiermensch. Darum hört er auch besser als wir.“ Er schlägt wieder auf das Gitter.

Mein Gesicht spricht vermutlich für sich. Raug erzählt weiter: „Aber wir schlagen ihn natürlich auch.“

Das sehe ich. Blutkrusten, Platzwunden, Striemen, die jedoch alle fast verheilt sind. Obwohl ich mich nicht einmischen wollte, frage ich, was er verbrochen hat.

„Der wollte mit zwei anderen einen Berater des Königs entführen. Der Zauberer hat ihn überwältigt und hergebracht. Jetzt muss er noch verraten, wo sich seine Bande versteckt. Drei Tage hat er schon durchgehalten. Aber du weißt ja, Velton, ich krieg sie alle.“

Schon wieder eine fiese Lache von Raug.

Auch Kenja betrachtet den Eingesperrten. Wir sind alle drei im ähnlichen Alter. Sind jung, aber haben schon viel erlebt. Trotzdem: Unsere Wege werden sich wohl bald wieder trennen. Nun schaut auch der Tiermensch zu uns. Er sieht aus wie ein Mensch, hat dunkle, zusammengewachsene Augenbrauen, ist von der Sonne gebräunt und hat einige Narben. Ich merke, dass er mich und Kenja mit einem ehrlich, neugierigem Blick beobachtet. Mich länger, vermutlich hat er noch nie einen Riesen gesehen. Wie übrigens fast niemand in der Hauptstadt.

Raug sperrt Kenja in den Nebenkäfig. Sie stößt beinahe oben am Gitter an, für einen Menschen ist sie groß.

„Muss das sein, Raug? Kannst du sie nicht in eine Zelle sperren?“, verlange ich.

„Das ist zu ihrem eigenen Schutz. Damit ihr keiner etwas antut“, erklärt der Kerkermeister mit ernster Stimme.

Ich will mich nicht länger streiten und bin froh, dass ich den Kerker verlassen kann. Ich unterschreibe, dass ich drei Gefangene leicht verletzt überbracht habe und atme draußen tief durch.

Später ertappe ich mich dabei, dass ich mir Gedanken um Kenja und den Tiermenschen mache.

Aber sie hätten ja nicht den König angreifen müssen, rede ich mir ein.