Sigismund Krzyżanowski

Münchhausens Rückkehr

Roman

Aus dem Russischen übersetzt
und mit Anmerkungen versehen
von Dorothea Trottenberg

Mit einem Nachwort
von Thomas Grob

DÖRLEMANN

Textvorlage Sigizmund Krżiżanovskij: Vozvraščenie Mjunchgauzena. In: ders., Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom 2.
Sankt-Peterburg: Izd. Simpozium 2001, S. 133–262.


eBook-Ausgabe 2018
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2002 Editions Verdier
© 2018 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Illustration von Strels/Shutterstock.com
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-959-1
www.doerlemann.com

Autorenbild

Sigismund Krzyżanowski

Kapitel I

Jeder Baron phantasiert nach seiner Façon

Der Passant hatte den Alexanderplatz überquert und streckte die Hand nach der geschliffenen Eingangstür aus. In dem Moment drangen aus den sternförmig zusammenlaufenden Straßen die schreienden Münder der Zeitungsjungen:

»Aufstand in Kronstadt!«

»Aus mit den Bolschewiki!«

Der Passant zog in der Frühjahrskühle fröstelnd die Schultern hoch und steckte die Hand in die Tasche: Die Finger tasteten von Naht zu Naht – Teufel auch, kein Pfennig. Er riss die Tür auf.

Jetzt stieg er über den langen Treppenläufer nach oben, ihm hinterher zog sich, immer eine Stufe überspringend, eine schmutzige Spur.

Am Treppenabsatz:

»Wen darf ich melden?«

»Sagen Sie dem Baron: der Dichter Unding.«

Der Bediente ließ den Blick von den schief getretenen Halbstiefeln des Besuchers hinauf zur zerdrückten Krone des roten Filzhutes gleiten und fragte nach:

»Wie?«

»Ernst Unding.«

»Moment.«

Die Schritte entfernten sich, kehrten dann zurück, und der Bediente sagte mit aufrichtiger Verwunderung in der Stimme:

»Der Baron erwartet Sie im Kabinett. Treten Sie bitte näher.«

»Ah, Unding.«

»Münchhausen.«

Die Handflächen berührten einander.

»Endlich! Kommen Sie doch zum Kamin.«

Wie man es auch betrachtete, Gast und Hausherr zeigten wenig Ähnlichkeit: nebeneinander, die Sohlen zum Kamingitter hin, ein Paar makelloser Halbschuhe aus Lackleder und die uns schon bekannten schmutzigen Stiefel; nebeneinander, in die gotischen Rücken der Sessel gelehnt, ein langes, glattrasiertes Gesicht mit schweren Lidern und edlem, schmalem Nasenhöcker und ein breitwangiges Gesicht mit roter Knopfnase und einem von stachligen Wimpern umrahmten Paar Pupillen unter struppigen Zotteln.

Die beiden saßen da und betrachteten wohl eine Minute lang den Tanz der blauen und roten Funken.

»Auf dem kleinen Tisch sind Zigarren«, sagte der Hausherr schließlich.

Der Gast streckte den Arm aus: Der Hand hinterher kroch seine zerknitterte, farbig gestreifte Manschette; der Deckel der Zigarrenkiste klapperte – dann das Geräusch des Zigarrenabschneiders auf dem trockenen Tabak, dann ein graues, aromatisches Rauchwölkchen.

Der Hausherr blickte aus dem Augenwinkel auf das flackernde Flämmchen.

»Wir Deutschen wissen nicht einmal mit Rauch umzugehen. Wir schlucken ihn hinunter wie den Schaum von einem Bierkrug, ohne ihn im Pfeifenrohr so recht zirkulieren und sich ausbreiten zu lassen. Menschen mit einem Stumpen zwischen den Zähnen haben auch eine gestutzte Phantasie. Gestatten Sie …«

Der Baron erhob sich, trat zu einem altertümlichen Schrank an der Wand, der kleine Schlüssel klirrte, die schweren, geschnitzten Türflügel öffneten sich – und der Gast, der ihm mit den Augen und der Zigarrenglut gefolgt war, erblickte hinter dem langen, hageren Rücken des Barons an hölzernen Haken im Schrank einen Rock, wie man ihn seit wohl hundert Jahren und länger nicht mehr trug, alt und zerschlissen, einen langen Degen in einer mit Beschlägen versehenen Scheide, eine gebogene Pfeife in einem perlenbestickten Futteral und schließlich einen schütteren, seines Puders verlustig gegangenen Zopf, die Schnittstelle nach unten, die Schleife am Haken.

Der Baron nahm die Pfeife herunter, inspizierte sie und kehrte an seinen Platz zurück. Einen Augenblick später sprang sein Adamsapfel aus dem Hemdkragen hervor, und seine Wangen zogen sich nach innen zusammen, dem Rauch entgegen, der aus dem Tschibuk heraus- und in die Nasenlöcher hineinströmte.

»Noch weniger verstehen wir von Nebeln«, fuhr der Raucher zwischen zwei Zügen fort, »zumindest von metaphysischen Nebeln. Im Übrigen ist es gut, Unding, dass Sie heute vorbeigeschaut haben: Morgen beabsichtige ich den Londoner Nebeln einen Besuch abzustatten. Und denjenigen, die darin leben. Ja, der fahle Flor, der von der Themse aufsteigt, kann Konturen verwischen, Landschaften und Weltanschauungen verschleiern, Fakten schraffieren und … kurzum, ich fahre nach London.«

Unding spreizte die Schultern:

»Sie sind ungerecht Berlin gegenüber, Baron. Wir verstehen uns auch auf so einiges, zum Beispiel auf Ersatzstoffe und die Metaphysik des Fiktionalismus.«

Doch Münchhausen fiel ihm ins Wort:

»Wir wollen diesen alten Streit nicht wiederaufnehmen. Er ist im Übrigen älter, als Sie glauben: Ich erinnere mich, dass Tieck und ich vor etwa hundert Jahren eine ganze Nacht lang über dieses Thema gestritten haben, mit anderen Worten zwar, aber ändert das vielleicht den Kern der Sache? Tieck saß da, so wie jetzt Sie, rechts von mir, klopfte seine Pfeife aus und drohte, die Wirklichkeit mit Träumen zu schlagen und sie zu verwehen. Aber ich erinnerte ihn daran, dass auch Krämer Träume haben und ein Seil im Mondlicht zwar wie eine Schlange aussehen mag, aber nicht beißen kann. Fichte und ich hingegen lagen weit weniger über Kreuz: ›Doktor‹, sagte ich zu dem Philosophen, ›seit das Nicht-Ich aus dem Ich herausgesprungen ist, muss es sich häufiger nach seinem Woher umsehen.‹ Zur Antwort lächelte Herr Johann höflich.«

»Gestatten Sie, dass ich nicht so höflich lächle, Baron. Das hält der Kritik nicht mehr stand als eine Pusteblume dem Wind. Mein Ich wartet nicht, bis das Nicht-Ich sich nach ihm umsieht – es wendet sich ab von jeglichem Nicht. So ist es erzogen. Meinem Gedächtnis sind keine Jahrhunderte beschieden«, er verneigte sich zu seinem Gesprächspartner hin, »doch unsere erste Begegnung vor fünf Wochen erinnere und sehe ich noch wie heute. Die marmorierte Platte des kleinen Tisches, die zufällige Nachbarschaft der beiden Bierkrüge und der beiden Augenpaare. Ich trank Schluck um Schluck, Sie hingegen saßen da, ohne das Glas auch nur mit den Lippen zu berühren, und manchmal brachte der Kellner – auf ein Nicken von Ihnen – ein anderes Glas, das ebenfalls unberührt blieb. Als mein Kopf schon sachte benebelt war, fragte ich, was Sie von Glas und Bier denn eigentlich hätten, wenn Sie doch nicht trinken. ›Mich interessieren die zerplatzenden Bläschen‹, entgegneten Sie, ›und wenn sie alle zerplatzt sind, muss ich eine neue Portion Schaum bestellen.‹ Na wennschon, jeder amüsiert sich auf seine Weise. Mir gefällt die Falschheit, der Surrogatcharakter dieser Brühe. Achselzuckend musterten Sie mich – ich erinnere Sie daran, Münchhausen –, als sei ich ein Bläschen, das am Rand Ihres Bierkrugs klebt …«

»Sie sind nachtragend.«

»Ich trage so mancherlei im Gedächtnis: Noch heute dreht sich in meinem Kopf das bunte Karussell, das sich damals, bei den zwei nebeneinanderstehenden Gläsern, zu drehen begann. Wir beide haben Meere und Kontinente überquert, schneller als die Erde sich dreht. Und nachdem ich wie ein Ball zwischen zwei Tennisschlägern von einem Land ins andere geschlagen, aus der Vergangenheit in die Zukunft und wieder zurück in die Vergangenheit, per Zufall aus dem Spiel herauskatapultiert wurde und Sie fragte: ›Wer sind Sie, und wie konnte Ihnen ein Leben für so viele Wanderungen genügen?‹, stellten Sie sich mit einer höflichen Verbeugung vor. Falsches Bier macht auch den Rausch falsch und verwirrend, die Realitäten zerplatzen wie Blasen, und Phantasmen drängen sich an ihre Stelle – Sie schütteln ironisch den Kopf? Aber wissen Sie, Münchhausen, – unter uns gesagt – als Dichter bin ich bereit zu glauben, dass Sie Sie sind, als vernünftiger Mensch aber …«

Ein Telefonanruf bohrte sich in das Gespräch. Münchhausen streckte seine langfingrige Hand mit dem Mondsteinoval am Ringfinger zum Apparat aus:

»Hallo! Wer spricht da? Ach, Sie sind es, Herr Botschafter! Ja, ja. Ich bin in einer Stunde da.«

Der Hörer fiel zurück auf die Metallgabel:

»Sehen Sie, lieber Unding, die Anerkennung meiner Existenz durch einen Dichter ist überaus schmeichelhaft. Doch selbst wenn Sie aufhörten, an mich, Hieronymus von Münchhausen, zu glauben – die Diplomaten würden nicht aufhören. Jetzt ziehen Sie die Augenbrauen hoch: Warum? Weil ich für sie unerlässlich bin. So einfach ist das. Eine De-jure-Existenz ist von ihrem Standpunkt aus nicht schlechter als eine De-facto-Existenz. Wie Sie sehen, ist in diplomatischen Verträgen weit mehr Poesie als in all Ihren Reimereien.«

»Sie scherzen.«

»Keineswegs: Für das Leben gibt es, genau wie für jede Ware, Angebot und Nachfrage. Haben Zeitungen und Kriege Sie das etwa nicht gelehrt? Und die Lage der politischen Börse ist so, dass ich nicht nur auf das Leben hoffen kann, sondern auch auf eine blühende Gesundheit. Sie sollten mich nicht vorschnell zu den Gespenstern zählen, mein Freund, und in ein Bibliotheksregal stellen. Ja, ja!«

»Nun ja«, grinste der Dichter und musterte die hochaufgeschossene Gestalt seines Gesprächspartners, der die Ellbogen auf den Armlehnen des Sessels abstützte. »Wenn die Aktien der Münchhausiade steigen, bin ich bereit, à la Hausse zu spekulieren, einschließlich der Existenz. Aber mich interessiert das konkrete Wie. Natürlich anerkenne ich eine gewisse Diffusion zwischen wahren und erfundenen Geschichten, zwischen Wirklichkeit im Ich und Wirklichkeit im Nicht-Ich, aber dennoch – wie konnte es geschehen, dass wir ohne jede akustische und visuelle Halluzination hier sitzen und plaudern? Das ist mir wichtig zu wissen. Wenn das Wort Freund, das mir von Ihnen verliehen wurde, auch nur irgendeinen Sinn enthält, dann …«

Münchhausen schien unschlüssig.

»Eine Beichte? Das ist eher der Stil des Heiligen Augustinus als der des Baron Münchhausen. Aber wenn Sie darauf bestehen … nur gestatten Sie mir wenigstens von Zeit zu Zeit – ich kann nicht anders –, aus dem Schlick der Wahrheit ins freie Phantasma zu entfliehen. Also, fangen wir an: Denken Sie sich ein gigantisches Zifferblatt der Jahrhunderte; die Spitze des schwarzen Zeigers wandert von Teilstrich zu Teilstrich über die Abfolge der Daten; sitzt man ganz am Ende des Zeigers, sieht man unter sich die Jahreszahlen vorübergleiten: 1789–1830 – 1848–1871 – und weiter und weiter, mir flimmert es noch immer vor Augen vom Lauf der Jahre. Jetzt stellen Sie sich vor, lieber Freund, dass Ihr gehorsamer Diener eben diesen über dem Wechsel der Jahre (und über allem, was sich darin befindet) schwebenden Pfeil mit den Knien umklammert und sich auf dem Zifferblatt der Zeit im Kreise dreht. Ach, übrigens werden die Haken im Schrank, den ich zu schließen vergessen habe, Ihnen mein damaliges Ich klarer und mit mehr Einzelheiten vor Augen führen: der Zopf, der Rock, der Degen, der vom Rucken des Zeigers über dem Zifferblatt schwankt. Das Rucken des Zeigers wird stärker und stärker: Auf der Ziffer 1789 presse ich die Knie fest zusammen, auf der Ziffer 1871 muss ich mich mit Händen und Füßen an den Rand des Zeigers klammern, und ab der Ziffer 1914 wird das Rütteln unerträglich: Ich stoße gegen 1917 und 1918, verliere das Gleichgewicht und falle Hals über Kopf nach unten.

Mir kommen zunächst verschwommene und dann in der Luft immer deutlicher hervortretende Punkte von Meeren und Kontinenten entgegen. Ich strecke den Arm aus, suche Halt; Luft, nichts als Luft. Plötzlich ein Schlag gegen die Handfläche, ich presse die Finger zusammen – und halte eine Turmspitze in der Hand, stellen Sie sich vor, eine ganz gewöhnliche Kirchturmspitze, wie eine Nadel über einem Fingerhut. Und zwei oder drei Fuß oberhalb von meinem Kopf sitzt ein Wetterhahn. Ich hangele mich mit reiner Muskelkraft hoch. Im leichten Wind dreht der Wetterhahn sich von Seite zu Seite – und ich kann in aller Ruhe die zwei, drei Dutzend Meter unter meinen Füßen liegende Erde betrachten: die strahlenförmig auseinanderlaufenden Wege, die marmornen Treppenfluchten, die langen Reihen kunstvoll beschnittener Bäume, die durchscheinenden, sprudelnden Hyperbeln der Springbrunnen – das alles kommt mir bekannt vor, scheint mir nicht zum ersten Mal zu begegnen. Ich gleite die Turmspitze hinunter, setze mich auf einen Kamin und inspiziere die Gegend genauer: Versailles, aber natürlich! Das ist Versailles, und ich sitze auf dem Dach des Trianon. Aber wie soll ich hinunterkommen? Die wallenden Rauchschwaden, die meinen Rücken entlanggleiten, zeigen mir einen einfachen, bequemen Ausweg. Bedenken Sie: Auch wenn ich heute sozusagen etwas zugelegt und eine gewisse Gewichtigkeit erworben habe, aber an jenem allerersten Tag war ich nur wenig schwerer als der Rauch. Ich lasse mich also in den Rauchschwall fallen wie ein Taucher ins Wasser, sinke sanft hinab und befinde mich alsbald auf dem Grund, das heißt, wenn man die Metaphern beiseitelässt, im Innern eines Kamins – eines ebensolchen wie dieser hier.« (Der Lackschuh des Erzählers stieß mit der Spitze gegen das gusseiserne Gitter, hinter dem das Feuer mittlerweile erloschen war.) »Ich sah mich um: niemand da. Ich trat hinaus. Der Kamin befand sich, den mit Büchern und Aktendeckeln gefüllten langen, durchgehenden Regalen nach zu urteilen, in der Bibliothek des Palasts. Ich horchte: jenseits der Wand Stühlerücken, dann Stille, unterbrochen nur durch das rhythmische Ticken eines Pendels, dann eine durch die Wand gedämpfte, monotone Stimme, die über die Worte schlurfte wie Pantoffel über Dielenbretter. Ich, der ich gerade vom Zeiger auf das Zifferblatt gefallen war, hatte natürlich noch keine Ahnung, dass es sich um eine Sitzung der Versailler Konferenz handelte. Auf dem Bibliothekstisch befanden sich eine Kartothek, die neuesten Ausgaben der Zeitungen und Akten mit Protokollen. Ich vertiefte mich sogleich in die Lektüre und verschaffte mir rasch einen Überblick über den politischen Moment, als plötzlich jenseits der Wand Stühle auseinandergeschoben wurden, undeutliche Stimmen erklangen und man jemanden auf die Tür der Bibliothek zukommen hörte. Da habe ich … nein, offenbar muss ich noch einmal den alten Schrank aufsuchen.«

Ernst Unding, mit seinem ganzen Körper der Erzählung entgegengeneigt, verfolgte mit ungeduldigen Augen, wie der Baron seine Erzählung unterbrach, sich gemächlich den aus der Tiefe des Schrankes ragenden Haken näherte und mit der Hand in die ausgebeulte Tasche des altertümlichen Rocks fuhr.

»Hier ist es.« Münchhausen wandte sich zu seinem Gast um. In seiner ausgestreckten Hand schimmerte in rotem Saffian ein Büchlein im Oktavformat mit Goldschnitt und ledernen Eckverzierungen. »Das ist etwas, von dem ich mich selten trenne. Schauen Sie: die Londoner Erstausgabe von 1783.«

Er bog den brüchigen, abgegriffenen Buchdeckel zurück. Undings Pupillen sprangen auf das Titelblatt und glitten über die Buchstaben: Erzählungen des Barons Hieronymus von Münchhausen über seine wunderbaren Abenteuer und Feldzüge in Russland.1 Der Buchdeckel wurde zugeklappt, und das Buch fand neben dem Erzähler auf der ausladenden Armlehne des Sessels Platz:

»Da ich befürchtete, für einen Spion gehalten zu werden, der sich auf obskure Weise Zugang zu diplomatischen Geheimnissen verschafft hat«, fuhr Münchhausen fort, der mit seinen Schuhsohlen inzwischen wieder die Kante des Kamingitters ausfindig gemacht hatte, »versteckte ich mich schnellstens: Ich schlug mein Buch auf – sehen Sie, so –, machte den Rücken krumm, zog die Knie zum Kinn und den Kopf zwischen die Schultern, kauerte mich zusammen, wie ich nur konnte, sprang zwischen die Seiten und schlug hinter mir den Einband zu, so wie Sie zum Beispiel die Tür einer Telefonkabine hinter sich zuschlagen. In dem Moment traten die Schritte über die Schwelle und kamen auf den Tisch zu, auf welchem ich mich befand, flachgedrückt zwischen Seite achtundsechzig und neunundsechzig.«

»Ich muss Sie unterbrechen.« Unding war vom Sessel aufgesprungen. »Wie konnten Sie sich so klein machen wie dieses Büchlein hier? Das zum Ersten, und …«

»Und zum Zweiten«, der Baron schlug mit der flachen Hand auf das Saffian, »dulde ich es nicht, wenn man mich unterbricht … Und zum Dritten sind Sie, das schwöre ich bei meiner Pfeife, ein schlechter Dichter, wenn Sie nicht wissen, dass Bücher, vorausgesetzt, es sind richtige Bücher, bisweilen der Wirklichkeit vergleichbar sind, ihr aber niemals gleichkommen

»Meinetwegen«, murmelte Unding vor sich hin.

Die Erzählung ging weiter.

»Der Zufall wollte es, dass derjenige, der mich beinahe überrascht hätte (übrigens eine der Trumpfkarten des zerfledderten diplomatischen Kartenspiels), sich selbst und mich zu einem neuen Handstreich führte: Die Finger des diplomatischen As, die auf der Suche nach einer Auskunft von einem Buchdeckel zum anderen glitten, hielten unverhofft an der Saffiantür meines Verstecks inne, die Seiten fielen auseinander, und ich, das gestehe ich mit einer gewissen Verlegenheit, wusste nicht ein noch aus und wurde bald dreidimensional, bald wieder flach. Das As ließ die Zigarre aus dem Mund fallen, riss die Arme hoch, sank in einen Sessel und starrte mich mit runden Augen unverwandt an. Es war nichts zu machen: Ich trat aus dem Buch heraus, steckte es mir unter den Arm – sehen Sie, so –, setzte mich in einen Sessel gegenüber dem Diplomaten und rückte näher an diesen heran, so dass unsere Knie sich fast berührten. ›Die Historiker werden schreiben‹, sagte ich mit einem aufmunternden Nicken, ›dass Sie es waren, der mich entdeckt hat.‹ Er suchte nach Worten und fragte schließlich: ›Mit wem habe ich die Ehre?‹ Ich griff in meine Rocktasche und hielt ihm schweigend das hier hin.«

Unmittelbar vor den Augen des in den Sessel zurückgelehnten Unding materialisierte sich eine quadratische Visitenkarte mit gotischer Schrift auf dickem Karton:

Baron

Hieronymus von Münchhausen

Lieferant für Phantasmen und Sensationen.

Scheue nicht den Weltmaßstab.

Seit 1720.2

Die fünf Zeilen schwebten einen Moment in der Luft, schlugen dann in den langen Fingern des Barons einen Salto und verschwanden. Das Pendel der Wanduhr hatte noch keine zehnmal getickt, als die Erzählung wiederaufgenommen wurde.

»In der folgenden Pause, die nicht länger währte als diese hier, konnte ich bemerken, dass die Miene der diplomatischen Persönlichkeit sich zu meinen Gunsten veränderte. Während sein Gedanke von der großen zur kleinen Prämisse glitt, lieferte ich ihm zuvorkommend die Schlussfolgerung: ›Einen nützlicheren Menschen als mich werden Sie nicht finden. Vertrauen Sie dem Ehrenwort des Baron von Münchhausen. Im Übrigen …‹, ich zog mein Oktavbüchlein hervor und machte mich bereit zum Rückzug, sozusagen aus einer Welt in die andere, aber der Diplomat packte mich geschwind am Ellbogen: ›Um Gottes willen, ich bitte Sie.‹ Nun denn, ich überlegte kurz und beschloss zu bleiben. Und mein altvertrauter Ort, genau hier, zwischen Seite achtundsechzig und neunundsechzig – wenn Sie vielleicht einen Blick hineinwerfen möchten –, ist verwaist, ich glaube, auf lange Zeit, wenn nicht auf immer.«

Unding warf einen Blick hinein: Auf der Seite befand sich zwischen zwei Absätzen ein länglicher Rahmen aus feinen typographischen Linien: In diesem Rahmen aber war lediglich die leere, weiße Fläche der Buchseite – die Illustration war verschwunden.

»Nun also. Meine Karriere, wie Sie wahrscheinlich wissen, begann mit einer bescheidenen Sekretärstelle in einer Botschaft. Danach … Übrigens wird der Minutenzeiger uns gleich trennen, mein lieber Unding. Es ist Zeit.«

Der Baron drückte auf einen Knopf. Der Backenbart eines Lakaien erschien in der Tür.

»Ich möchte mich ankleiden.«

Der Backenbart verschwand. Der Hausherr erhob sich. Der Gast ebenfalls.

»Ja«, sagte Münchhausen gedehnt, »sie haben mir den Rock weggenommen und den Zopf abgeschnitten. Sei’s drum. Aber denken Sie daran, mein Freund, es kommt der Tag, da man diesen Plunder«, (der lange Finger mit dem aufblitzenden Mondsteinoval wies prophetisch auf den geöffneten Schrank) »diesen modrigen Tinnef vom Haken nehmen, auf Brokatkissen legen und wie heilige Reliquien in einer feierlichen Prozession zur Westminster Abbey tragen wird.«

Ernst Unding aber wandte den Blick ab:

»Sie überflügeln Ihre eigene Phantasie. Ich zolle Ihnen Tribut – als Dichter.«

Der Mondstein sank herab. Zur Überraschung des Gastes legte sich das Gesicht des Hausherrn in eine Kaskade von Lachfalten und schien sogleich um Jahrhunderte zu altern; die Augen verengten sich zu listigen Schlitzen, und der schmale Mund öffnete sich und entblößte lange gelbe Zähne:

»Ja, ja. Zu der Zeit, als ich noch in Russland lebte, kursierte ein Sprichwort über mich: Jeder Baron phantasiert nach seiner Façon. Das ›jeder‹ wurde erst später hinzugefügt – schließlich gehen Namen, wie alles andere auch, einmal vergessen. Zumindest gebe ich mich der Hoffnung hin, das Recht auf Phantasie umfassender und besser genutzt zu haben als alle anderen Barone. Ich danke Ihnen, auch von Dichter zu Dichter.«

Eine sehnige, hagere Hand umklammerte Undings Finger:

»Wie es Ihnen beliebt, mein Freund: Sie können Münchhausen – und an Münchhausen – glauben oder auch nicht. Aber wenn Sie an meinem Händedruck zweifeln, kränken Sie einen alten Mann zutiefst. Leben Sie wohl. Ach, ein winziger Ratschlag noch: Sie sollten nicht alle und alles mit den Augen durchbohren – wenn man ein Fass anbohrt, fließt der Wein heraus, und unter den Fassreifen bleibt nichts als tumbe, hallende Leere.«

Unding lächelte von der Schwelle her und ging hinaus. Man brachte dem Baron seine Kleider. Ein eleganter Sekretär kam ins Zimmer gehuscht, machte einen Kratzfuß und hielt seinem Herrn eine schwere Aktentasche hin. Münchhausen zupfte das Revers seines Fracks zurecht und glitt mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand über die Kanten der Mappen, die aus der Aktentasche herausstaken: Protokolle des Völkerbunds, Originaldokumente zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk, Sitzungsstenogramme der Amsterdamer Konferenz und viele, viele andere Verträge und Abkommen, darunter diejenigen von Washington, Versailles und Sèvres.

Baron Münchhausen kniff abschätzig die Augen zusammen, packte die Aktentasche an den beiden unteren Ecken und schüttete ihren gesamten Inhalt auf den Boden. Während der Sekretär und der Diener die Papierstöße aufräumten, ging der Baron zu dem Saffianbändchen, das auf der Sessellehne geduldig gewartet hatte; das Bändchen verschwand blitzschnell in der leergeräumten Aktentasche, deren Schloss geräuschvoll über ihm zuschnappte.