Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Schäfchen im Trockenen
Weiß man doch
Selbst schuld
Weiß man nicht
Wie man’s macht
Der Aufstieg
Die richtig großen Dosen
Pech
Bewahren
Die Wahrheit
Das Elendscasting
Die Liebe
Der Wille
Die Scham
Das Elend
Der Sprung
Opfer
Impressum und Copyright
Klappentext
Über dieses Buch
Über die Autorin
Anke Stelling
SCHÄFCHEN IM TROCKENEN
Roman
signet
Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz zu Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. Und vermutlich vergesse ich es deshalb, weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. Aber gleichzeitig ist sie auch tröstlich.
Wie kann etwas, das weh tut, mich trösten? Da hast du’s schon. Genau so was meine ich.
Wenn ich zum Beispiel sage: Ich liebe dich. Oh ja, ich liebe dich. Es ist unglaublich. Du bist unglaublich! Du bist so schön und klug und lebendig, du bist zum Küssen und zum Streiten und zu allem bist du die Beste. Du bist das Beste, was mir je passiert ist, und gleichzeitig wär’s mir lieber, du würdest nicht existieren, denn ich halte dich, und dass du da bist, nicht aus. Wie ich um dich fürchte, wie ich um mich fürchte, nur, weil du gebor en bist. Und ich muss dir ganz im Ernst auch raten, dass du deinerseits schleunigst das Weite suchst. Renn, so schnell du kannst, bring Platz zwischen dich und mich, werde nur schnell erwachsen. Ich bin Gift für dich, verstanden? Die Familie ist der Hort der Neurosen, und die Herrscherin im Hort, in unserm Horst, das bin ich. Ich bin der Adler mit den Krallen und dem warm-weich brütenden Hintern, mit der krächzenden Stimme und der enormen Spannbreite, ich hacke jedem, der dir zu nahe kommt, die Augen aus, ich kreise über dir, bringe dir das Fliegen bei und bin dir in allem voraus. Ich zeige dir die Schönheit dieser Welt und die Gefahren, und wenn du alleine losfliegst, warte ich im Horst auf dich: voller Güte und Missgunst und Stolz.
Du weißt ja längst, wovon ich rede.
Neulich hast du dich geschüttelt, als du nach Hause kamst. »Ehrlich, Mann, das stinkt hier so!«
Und du hast recht, mein Schatz. Es stinkt. Nach uns. Nach Familie. So köstlich, geborgen und eklig, hau ab! Komm an mein Herz. Und erinnere dich, dass du da weg musst.

Über dieses Buch

Resi hätte wissen können, dass ein Untermietverhältnis unter Freunden nicht die sicherste Wohnform darstellt, denn: Was ist Freundschaft? Die hört bekanntlich beim Geld auf. Die ist im Fall von Resis alter Clique mit den Jahren so brüchig geworden, dass Frank Lust bekommen hat, auszusortieren, alte Mietverträge inklusive. Resi hätte wissen können, dass spätestens mit der Familiengründung der erbfähige Teil der Clique abbiegt Richtung Eigenheim und Abschottung und sie als Aufsteigerkind zusehen muss, wie sie da mithält. Aber Resi wusste’s nicht. Noch in den 80ern hieß es, alle Menschen wären gleich und würden durch Tüchtigkeit und Einsicht bald auch gerecht zusammenleben. Das Scheitern der Eltern in dieser Hinsicht musste verschleiert werden, also gab’s nur drei Geschichten aus dem Leben ihrer Mutter, steht nicht mehr als ein Satz in deren Tagebuch. Darüber ist Resi reichlich wütend. Und entschlossen, ihre Kinder aufzuklären. Sie erzählt von sich, von früher, von der Verheißung eines alternativen Lebens und der Ankunft im ehelichen und elterlichen Alltag. Und auch davon, wie es ist, Erzählerin zu sein, gegen innere Scham und äußere Anklage zur Protagonistin der eigenen Geschichte zu werden.

Über die Autorin

Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2004 wurde ihr gemeinsam mit Robby Dannenberg verfasster Roman »Gisela« verfilmt, 2010 die Erzählung »Glückliche Fügung«. Weitere Veröffentlichungen: »Nimm mich mit« (2002, gemeinsam mit Robby Dannenberg), »Glückliche Fügung« (2004) und „Horchen“ (2010).
 Anke Stelling stand mit ihrem im Verbrecher Verlag erschienenen Roman »Bodentiefe Fenster« (2015) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. Zudem wurde der Roman mit dem Melusine-Huss-Preis 2015 ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman »Fürsorge« (2017).

Impressum und Copyright

Schäfchen im Trockenen

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2018

www.verbrecherei.de

Einbandillustration, Buchsatz und Ebook: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-95732-338-5

ISBN Epub: 9783957323514

ISBN Mobipocket: 9783957323521


Die Autorin dankt Daniela Plügge und Nathalie Schmid für ihre Mitarbeit und ihren Beistand.

Die Arbeit an diesem Roman wurde durch ein Stipendium des Berliner Senats unterstützt.

Der Verlag dankt Anja Roefe, Lisa Raunitschka, Mona-Darleen Schlachtenrodt und Clara Funk.

Der Aufstieg

Vom Turm der Gethsemanekirche her läutet es zu Mittag. Das höre ich sogar durchs geschlossene Kammerfenster; beste Lage ist das hier inzwischen. Die alten Bomben- und Sprenglücken des Gründerzeitviertels sind gefüllt mit diskret eingepassten Neubauten, am Gehweg locken kleine Läden und hübsche Cafés mit Freisitz sowie besondere Eisdielen, die im Winter besondere Schokolade verkaufen. Kleine Kinder fahren auf Laufrädern, große Kinder auf Skateboards umher. Halbstarke haben Schwierigkeiten, bedrohlich zu wirken, selbst wenn sie auf den Plätzen Bierball spielen und betrunken sind – sie sind zu gut gekleidet und zu empfindlich, werden sich schon nicht im Dreck wälzen oder mit Blut besudeln wollen. Es ist keine Mutprobe, hier zur Schule zu gehen. Sondern sehr friedlich. Oder sagen wir besser: geschmackvoll gedämpft.
Man kann darüber lästern. Es ist sogar Mode, darüber zu lästern, doch dieses Lästern ist nicht ernst gemeint in dem Sinne, dass sich etwas ändern sollte, es ist eher eine zeremonielle Beschwerde zum Beweis der eigenen Urteilskraft und zur Beschwichtigung potentieller Neider. Denn natürlich möchten mehr Menschen hier leben, als Platz ist. Und keiner denkt im Traum daran, freiwillig zu gehen.
Es gibt kein Recht auf Wohnen im Innenstadtbezirk. In Paris können das nur noch reiche Russen, und Marzahn ist – beispielsweise – ja auch völlig in Ordnung. Die Grundrisse in den Plattenbauwohnungen sind für Familien sogar vorteilhafter als die im Altbau, überhaupt sind Plattenbauwohnungen schon längst wieder in, man kann sie wunderbar ausstatten mit Siebziger-Jahre-Deko. In der Wohnreportage, in der ich das gelesen habe, stand die Platte allerdings direkt am Alex, aber bis zum Alex sind’s von Marzahn aus auch nur fünfundzwanzig Minuten mit der S-Bahn. Direkte Verbindung! Und grün ist es da draußen. So schön grün.
Der Stempel auf Franks Kündigungsschreiben an den Vermieter ist auch grün. Grün und aggressiv prangt er auf der Kopie »Zur Kenntnis«. Aufgrund dieses Stempels musste Frank mich nicht anrufen, auch keinen Begleittext formulieren, etwa: »Hi Resi, hier sieh mal, das hab ich dem Vermieter geschickt.« Der Stempel sagt alles.
Bleibt nur noch die Frage, woher Frank ihn hat. Das ist ein Juristen- oder Verwaltungsstempel, so was besitzen doch freie Changemanagementberater nicht. Frank hat keine Sekretärin, kein Vorzimmer, er verschickt normalerweise keine Kopien zur Kenntnis, muss sich den Stempel von irgendwem geliehen oder gar extra im Schreibwarenladen in Auftrag gegeben haben. Wie groß war der Aufwand, um mich nicht persönlich ansprechen zu müssen?
Ich bin ein Tier, Bea. Unberechenbar. Gefährlich.
Gefangen und eingehegt in meiner Kammer, könnte man meinen, aber von wegen: Erst hier drin entsteht das, was mich gefährlich macht.
Da, wo ich sitze, stand früher Veras Waschmaschine, noch früher stand dort Franks, aber als Vera zu ihm gezogen ist, hat sie ihre Waschmaschine mitgebracht, Miele-Qualität, und Franks alte Privileg auf die Straße gestellt.
Das war nicht der einzige Übergriff, den Frank hinnehmen musste; Vera hat auch das grafisch gemusterte, olivgrün grundierte Ost-PVC rausgerissen in Küche und Flur, obwohl Frank dagegen war.
»Hilf mir!«, hat er mich gebeten. »Du siehst doch auch, dass es demnächst der totale Kult sein wird!«, aber ich hab ihm nicht geholfen, sondern Vera, beim Rausreißen.
Juli 2005. Vera und ich auf Knien in Franks Küche.
»Man soll was verändern, bevor man zusammenzieht«, sagt Vera. »Damit die Wohnung zum gemeinsamen Zuhause wird.«
Wir treiben unsere Spachtel unter das vollverklebte PVC.
»Aber er hängt daran«, sage ich.
Vera lacht. »Er hängt an vergangenen Zeiten. An den Überresten eines untergegangenen Systems! Am WG-Leben und am Singledasein.«
Wir schwitzen bereits nach zehn Minuten, es ist Juli, die Sonne knallt durch die vorhanglosen Fenster, im Radio läuft Sarah Connor. Es macht Spaß, mit Vera zu arbeiten, sie ist voller Tatendrang, nachdem sie ein halbes Jahr hindurch gezweifelt hat.
»Ich hab zu lang allein gewohnt«, meinte sie. »Ich verderb’s bestimmt.«
»Wenn ihr Familie wollt, müsst ihr mal üben.«
»Wollen wir Familie?«
»Du hast die Pille abgesetzt.«
Unter dem PVC kommen Dielen zum Vorschein, Dielen, zwischen denen zentimeterbreite Lücken klaffen. Frank rauft sich die Haare.
»Durch die Lücken kann der Boden atmen!«, sagt Vera. Sie will Frank küssen, aber er wehrt ab.
»He«, sagt sie, »ehrlich jetzt? So schlimm?«
Frank geht zurück in sein Büro; wir gehen Ochsenblut kaufen im Baumarkt.
Da, wo einst die Küchenhexe gestanden hat, sind nicht mal Dielen, nur eine schlampige Füllung aus Zement. Der Pinsel sträubt sich, als wir drübermalen.
»Wird nicht der letzte Kompromiss sein, den Frank eingehen muss«, sagt Vera, schon weniger beschwingt als am Morgen.
»Er hat’s halt gerne ordentlich«, sage ich.
»Er hat ’n Putzfimmel«, sagt Vera. »Ehrlich.«
Wir malen schweigend weiter. Ich finde, am Ende sieht’s okay aus.
Frank nickt, als er erneut zum Gucken kommt. »Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt.«
»Wenn’s dir zu eklig wird«, sage ich, »streichst du einfach wieder drüber.«
Frank weiß, dass ich das alles noch weiß.
Ich kenne die Geschichte dieser Wohnung, die Wandlungen, die ihr Küchenfußboden durchlaufen hat, ich kenne Veras Zweifel an der Beziehung, ihre Zweifel am Kinder-in-die-Welt-setzen.
»Was soll ich ihnen vererben? Oder gar vorleben? Mich selbst, jawoll, schönen Dank auch.«
Hier in der Wohnung hab ich sie besucht, als sie schließlich mit Willi im Wochenbett lag – erst mit Willi, später dann mit Leon.
»Sieh sie dir an, was soll ich denn jetzt tun?«
Leon frisch geboren und Willi vorwurfsvoll daneben: mit diesem Blick, den du auch hattest, Bea, dem tapferen, nach innen gerichteten Erstgeborenenblick.
»Du musst das Heft in die Hand kriegen«, hab ich zu Vera gesagt, denn genau das war ihr Ratschlag an mich gewesen, damals, als du drei warst und Jack eins.
November 2006. In unserer alten Küche in der Winsstraße.
Vera ist zu Besuch, doch wir können nicht reden. Stattdessen sieht sie mir dabei zu, wie es ist, Kinder zu haben – und es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen.
Du lässt mich Jack nicht füttern, und Jack heult, und ich trau mich aber auch nicht, dich einfach rauszujagen oder in dein Zimmer zu sperren oder mich sonst wie gegen dich zu behaupten. Das ist lächerlich, vor allem weil klar ist, dass du in erster Linie ausprobieren willst, wie weit du gehen kannst: ob du tatsächlich die Macht besitzt, mich dazu zu bringen, Jack verhungern zu lassen. Und ich weiß das auch, denn es ist mehr als offensichtlich: dass du die Grenze gezeigt bekommen willst und selbst am meisten darunter leidest, mich derart in der Hand zu haben. Aber ich kann mich trotzdem nicht gegen dich durchsetzen, du bist stärker als ich.
Da sagt Vera: »Das geht nicht, Resi, das muss anders werden.«
Wie genau, weiß sie natürlich nicht, woher denn auch, doch sie sieht die vollkommen irrsinnige Situation und wiederholt mehrmals: »Du musst das Heft in die Hand kriegen, hörst du?«
Was für ein seltsamer Ausdruck – welches Heft? –, aber genau deshalb so passend und einprägsam.
Ich hatte keine Ahnung, was, und erst recht nicht, wie ich es in die Hand bekommen sollte, aber dass ich es musste, war klar. Daran hielt ich mich fest. Und an Veras Stimme, die ziemlich nüchtern klang in dem Chaos aufgewühlter Emotionen und weichgekochter Möhren; »Du musst und du wirst auch«, hörte ich, denn wenn es hoffnungslos wäre, hätte sie nichts gesagt.
Und genau so habe ich dann auch versucht, ihr beizustehen bei dem Unmöglichen, hier in dieser Wohnung, als schließlich sie dran war mit dem mütterlichen Nicht-Schaffen und Trotzdem-Müssen.
Das stundenlange Reden, Pläne schmieden und Lösungen suchen vergangener Zeiten war nicht mehr drin, doch wir hatten ein paar gute Kurzformeln, und vor allem hatten wir schwesterliche Solidarität und Zeuginnenschaft.
Dachte ich.
Doch die Zeuginnenschaft hat sich genauso in eine Bedrohung verwandelt wie die Kritik; was uns Halt gab, ist inzwischen Zündstoff; wer weiß, was ich noch alles weiß und vor allem: wem ich es erzähle.
Ich klappe den Rechner zu und gehe in die Küche.
Zu Mittag mache ich mir meistens nur ein Fertiggericht oder eine Tütensuppe; ungesundes Zeug, dessen Verpackungen ich unten im Müllbeutel vergrabe, damit mir keiner auf die Schliche kommt, vor allem Bea nicht, wenn sie abends noch durch die Wohnung schleicht und bereit ist, mich zur Rede zu stellen: dass ich Wasser predige und Wein trinke, nein: Vitamine hochhalte und Konservierungsstoffe reinschiebe.
Ich gehöre auch zu den Menschen, die Widersprüche und Verfehlungen gerne verbergen.
Frank hat Angst, der Fußboden könne mir was flüstern. Von dem Tag, als das Ost-PVC weichen musste, von den Zweifeln, die Vera hatte. Von den täglichen Waschmaschinenladungen, weil Willi ewig in die Hose machte, und von den Schritten, die dagegen eingeleitet wurden, dann deren Rücknahmen, gegenteiligen Annahmen, weiteren Maßnahmen. Von dem Tag, an dem die Farben für die Front der neuen Küche bestimmt wurden: Vera wollte Weiß, Frank Grün, wer hat sich durchgesetzt? Es ist alles gut geworden, ja. Ich war Zeugin.
Auch davon, dass so ein Haus in dem Moment, indem es fertig ist, bereits wieder verfällt; wie kann es sein, dass die Möbelträger derart unvorsichtig sind?
Schon gibt’s Macken im Parkett und Schrammen in den Schranktüren, und auch Willi und Leon beißen sich ein bisschen mit den Oberflächen und den zartblättrigen Grünpflanzen im Garten. Aber hey!, tauscht man’s irgendwann halt aus. Es gibt Sanierungsrücklagen.
Wir stoßen an auf die Kücheninsel, die Sofalandschaft, das Abenteuerbett. Auf Frank, der tatsächlich immer noch mit den Jungs am Spielen ist, jedes Wochenende mit ihnen ins Schwimmbad geht, unglaublich, diese Ausdauer, und auf Vera, die so müde aussieht, aber sich hüten wird, jemals jemanden rauszuwerfen, weinen oder alleine einschlafen zu lassen.
Es ist gut so. Es ist schön.
Wir sind am Ziel unserer Träume, haben unsere Fronten und Fassaden, Katzen und Kinder; wir sind Meisterinnen des schönen Scheins, der Beschwörung des heilen und heilenden Familienlebens, darauf sind wir trainiert, darin wurden wir von unseren Müttern geschult und zu ihren Komplizinnen gemacht, und inzwischen sind wir es, ohne es noch zu bemerken. Glauben wirklich, es sei gut so, sei zumindest unsere eigene Entscheidung. Weshalb wir uns selbst und einander nicht mehr daran erinnern dürfen, wer und wie wir einmal waren.
Herbst 1998.
Vera ist faul und depressiv, hat keine Lust, lässt alles liegen. Liegt selbst im Bett, neben dem sich Keksschachteln und ausgelöffelte Joghurtbecher stapeln, trinkt lauwarme Fanta aus der Flasche, fade Fanta ohne Kohlensäure.
Und glotzt Videos die ganze Zeit.
Während ihre Bude verrottet, im wahrsten Sinn des Wortes, da ist dieses Loch im Küchenfußboden. Und wo das Wasser hinfließt, das hinten aus dem Waschmaschinenschlauch austritt, interessiert auch keinen, genauso wenig wie die Herkunft der kleinen schwarzen Käfer in der Küche. Es lohnt sich nicht, irgendwas zu wollen, weil sowieso alles Scheiße ist.
Wenn es dunkel wird, steht Vera auf und wirft sich in Schale. Herpes hat sie damals schon, doch der wird knallrot übermalt.
Vera ist wunderschön und morbide. Für zwei, drei Stunden außer Haus, irgendwo unter Leuten, die vage dasselbe wollen wie sie, nämlich alles. Wenigstens heute Nacht und für immer! Das ist das Gegenteil von Schwabenalter, komplett ungerichtet und widersprüchlich: Wieso alles, wenn sowieso alles Scheiße ist? Weil halt.
Wie Vera schwankt.
Ja, ist schon klar, das kann man sich nur leisten, wenn man jung ist. Weil das eklig ist, dieses hemmungslose, haltlose Rumgemache. Wo schwappt das hin, wer wischt das auf? Solange man jung ist, stinkt’s noch nicht so.
Ich weiß, dass Vera daran nicht erinnert werden will. Weder an das Sein noch an das Wollen. Heute will sie nichts mehr, als dass es allen gut geht. Und dass es jetzt mal gut ist, so, wie es ist!
»Noch ein Stück Melone?«
Auweia, wie das tropft.
Vera winkt ab, aufwischen wird sie später. Jetzt ist Party! Vera lässt sich nicht dabei erwischen, dass sie ans Aufwischen denkt.
Aber ich.
Weil ich mich erinnere, wie das war, als Vera Kind war und ihre Mutter glaubte, dass sie nur hinter ihr herwischen müsste, dann würde alles gut. Dann wäre Vera glücklich und mit ihr sie auch. Doch das hat damals schon nicht funktioniert, keiner kann allein im Hinterherwischen glücklich werden, Wischen ist mühsame Drecksarbeit.
Vera war nicht so glücklich, dass es außer für sie selbst auch noch für ihre Mutter gereicht hätte; Vera war nicht dankbar genug, als dass das der Lohn ihrer Mutter hätte sein können; Vera war nur irgendwann weg, mit diesem Schuldenberg im Rücken, der jetzt abgetragen wird, indem sie hinter Willi und Leon herwischt, damit die glücklich sind, herrje. Das kann doch echt nicht wahr sein!
Ist es aber. Und bei mir und unzähligen anderen genauso, weil das die Idee ist, die irgendwer in unsere Gehirne gepflanzt hat, wer denn, verdammt noch mal, Jane Austen? Die deutsche Wirtschaft?
Botschaft an Vera: Sorry, Sis, dass ich dich sehe in Willi, in seiner Wut auf dich, die du mit dem Lappen in der Hand dastehst. Auch wenn du’s tropfen und festtrocknen lässt, vorerst, und Willi im Kinderzimmer im Zaum gehalten wird von Frank. Willi kämpft gegen dich, genau wie du damals gegen deine Mutter: »Wetten, dass sie niemals alles wird aufwischen können?«
Ich war dabei, meine Augen sehen seit jeher in deine, und du hast die von Willi, nein, umgekehrt, er sie von dir.
»Jetzt brauch ich nur noch zwei Katzen, dann ist mein Glück perfekt«, sagt Vera an jenem Tag des Einzugs hinten im Garten, wo die Nachbarn ein Feuer in der Feuerschale entzündet haben zur Feier, dass die K 23 nun komplett ist.
Die Phase der Unwägbarkeit und Improvisation ist vorbei; hier sind sie, hier bleiben sie; sie sind angekommen, und ich kann’s nicht lassen, will vom Eingesperrtsein und von leeren Heilsversprechen reden.
»Wo nimmst du die her?«, frage ich.
Vera versteht nicht.
»Die Katzen!«, sage ich, und Vera: »Wieso? Ist doch egal.«
Also erinnere ich sie an Käthe, die arme Katze meiner Kindheit, die ihr wildes Leben hinter sorgsam geschlossenen Fenstern fortsetzen musste.
»Okay«, sagt Vera, »verstehe. Ich hol sie aus dem Tierheim. Ich rette sie vor einem noch traurigeren Leben, ist das dann okay?«
Und ich nicke, und Ingmar fügt hinzu, dass es hier ja auch den Garten gäbe, für die Katzen und die Kinder, und wer nach vorne raus wolle, sei selbst schuld, und ich sage: »Selber schuld, Katapult«, und die Runde lacht.
Ein schöner Tag ist das. Noch ist nichts geschrieben, nicht der Artikel und schon gar nicht dieses böse Buch. Die Sonne scheint nicht mehr, doch das Feuer brennt munter, die Katzen sind noch nicht da und deshalb auch noch nicht in der Gefahr, überfahren zu werden; wo Frank steckt, weiß keiner – bei den Kindern oder doch noch schnell was andübeln, damit dann endgültig alles fertig ist.
Botschaft für Bea: Warte nicht auf bess’re Zeiten.
Hat Wolf Biermann gesagt, nein: geschrieben, inzwischen ist das zum geflügelten Wort geworden, aber vor vierzig Jahren war es eine Liedzeile, die ihm eingefallen ist, an der er weiter rumgedacht hat und eine Melodie dazu erfunden, und dann hat er sie gesungen und aufgenommen und ist damit getourt.
Find ich gut. So hab ich jetzt, hier für dich, eine Zeile, die diese fiese Verunsicherung ausdrückt: Ob der Leidensdruck schon stimmt? Ob man das Recht hat, sich zu beschweren?
Vielleicht, wenn der Artikel nicht gewesen wäre.
Oder der nächste Auftrag, von der Fernsehproduzentin, die folgende Idee für den Freitagabend hatte: »Eine Mutter, die ihre Armut vor ihrer Tochter verbirgt.«
Sie rief mich an und fragte, ob ich mir das vorstellen könne, und ich sagte: »Soll der Freitagabend die Zuschauer nicht entspannt ins Wochenende entlassen?«
Doch, meinte sie, sicher, und: »Das soll nichts Schweres werden. Das komödiantische Versteckspiel ist der Kern der Geschichte.«
»Es ist lustig, dass die Mutter arm ist?«
»Nein, natürlich nicht. Wobei sie jetzt auch nicht so arm ist, dass einem allein bei ihrem Anblick schon die Tränen kommen.«
»Mehr so arm, aber stolz, und äußerst tüchtig und gerissen?«
»Ja, genau! Das wär doch was für dich, hab ich gedacht.«
Sven meinte: »Du wolltest nicht mehr fürs Fernsehen schreiben«, und ich: »Und die Kinder wollen Weihnachten Geschenke.«
Tut mir leid, Bea, dass ich immer euch vorschiebe, wenn’s um Jobs geht. Was Kinder wollen, können Eltern überhaupt nicht wissen, kennen nur den eigenen Wunsch, die Wünsche ihrer Kinder zu erfüllen – weshalb es dann so was wie Weihnachten gibt.
Jedenfalls saß ich da und dachte über diese Mutter nach, die ihre Armut vor der Tochter verbirgt, und mir fiel auf, dass ich sie selbst war, also schrieb ich ein Exposé über eine Frau, die wie bekloppt Do it Yourself betreibt, damit ihre Tochter alles hat, was sie sich wünscht – und zwar in ganz besonders cool, weil auch noch selbst gemacht im Gegensatz zu dem Zeug der lahmen andern –, aber beim Tablet gerät die Mutter dann doch an ihre Grenze und behauptet, dass eine Laterna Magica aus Tonpapier so ungefähr dasselbe sei, und die Tochter meint: Na ja.
Die Produzentin meinte auch, na ja, das Exposé sei nicht ganz das, was sie sich vorgestellt habe, sie fänd’s schöner, wenn die Mutter zum Beispiel Cupcakes backen und damit dann doch Geld verdienen würde, wovon sie der Tochter zum Schluss ein echtes Tablet kauft, doch das fand ich wiederum unrealistisch, weil man für den Cupcake-Verkauf ja ein Ladenlokal braucht, und wovon soll die Mutter das bezahlen? Und die Produzentin meinte, egal, so genau würden’s die Leute am Freitagabend nicht nehmen.
Da hab ich dann gemerkt, wie scheiße fucking genau ich es aber inzwischen nahm, und das war das Ende der Zusammenarbeit mit der Produzentin und das Ende dieses Auftrags und der Anfang der Arbeit an meinem bösen Buch.
Irgendwo müssen die Ideen ja bleiben.
Nein, Bea, das ist Quatsch, dahinter werde ich mich nicht verstecken. Hörst du, Ulf? Auftrag hin oder her, ich hätte das nicht machen müssen. Oder wenn, dann einfach die Cupcakes aufgreifen.
Ich mache mir ein Unterschichtenmittagessen, Ravioli aus der Dose, und verspeise es auf gehobene Art mit frisch geriebenem Parmigiano von einem Iittala-Teller.
Ich bin eine Wandlerin zwischen den Welten, eine Mutter, die ihre Armut verbirgt. Sie im Müllbeutel vergräbt und mit ein paar Tricks auf gut bürgerlich macht. Dass man Parmesan aus der Tüte nicht Käse nennen darf und mit skandinavischem Design Geschmack beweist, hab ich schon als Kind von meinen aufstiegswilligen Eltern gelernt, allerdings nicht, wie man beim Tomaten­soße­essen nicht kleckert. Also trage ich lieber keine teuren Blusen, und schon bin ich nackt und entlarvt. Weil echte Bürgerstöchter entweder mit Servietten umgehen können oder genügend Geld besitzen, um ihre verfleckten Klamotten zu entsorgen.
Keine Sorge um die Dinge, eine von klein auf gerade Haltung, geschicktes Hantieren mit Servietten – das sind so Details, die den Unterschied erkennen lassen.
Sieh dir Carolina an. Gut, sie hat auch diese große, nach allen Seiten hin offene Wohnung mit samtweich geschliffenen, dunkel gebeizten Böden und begehbarem, automatisch beleuchtetem Kleiderschrank, aber das hätte ich auch haben können, hätte ich mir Mühe gegeben und was Ordentliches studiert. Ingmars Geld angenommen. Oder Ulf geheiratet.
Was ich nicht haben kann, nie gelernt habe, nicht mehr lernen werde und deshalb auch dir nicht weitergeben kann, Bea, ist die Art, wie Carolina ihren Kleiderschrank betritt, so selbstverständlich und gedankenlos, und wie die Kleider, die sie dort anzieht, an ihrem aufrechten Rücken hinunterfließen und ihr Haar nur mit zwei Haarnadeln am Hinterkopf zusammenhält. Keine Ahnung, wie sie das macht! Caro weiß sich zu kleiden, zu frisieren, zu bemalen; sie weiß sich mit unaufdringlicher Weiblichkeit in Szene zu setzen, kann Kellner kommandieren und an Putzfrauen delegieren und Praktikantinnen statt Aufgaben nur ihr eigenes Vorbild geben.
Ulf findet diese Fähigkeiten nicht weiter erwähnenswert; seine Mutter und Großmutter, Schwester und Cousinen können und konnten das auch.
Vielleicht ist’s ihm tatsächlich egal.
Vielleicht hat er niemals bemerkt, dass ich all das nicht konnte, damals, als ich mit ihm zusammen war. Oder er hat es gesehen und fand es attraktiv, so eine ungehobelte Gespielin zu haben, eine Wilde, mit der man sich ein Weilchen vergnügt, die man dann aber entweder schleifen und polieren oder wieder fallenlassen muss, weil sie als Mutter für die Kinder, die sich dann entsprechend bewegen und benehmen können sollen, ja nun doch nicht in Frage kommt –
Ulfs Mutter hat meine Defizite bemerkt, da bin ich sicher. Hat nichts gesagt, weil es ihr Projekt war, nichts zu sagen. Ulfs Mutter wollte sich gerne hinabbeugen, sich nicht abschotten, sondern mit sogenannten einfachen Leuten in Kontakt sein. Ulfs Mutter hat ihre Türen geöffnet, die Freunde ihrer Kinder empfangen, ganz egal, wer sie waren, woher sie kamen, was sie konnten. »Kommt rein und seht! Ich werde nichts sagen.« Anders als ihre Schwiegermutter, die sofort was gesagt hat.
Dezember 1987 in Stuttgart.
In Ulfs Familie wird Weihnachten musikalisch gefeiert. Seine Eltern singen im Chor, üben mehrmals die Woche fürs Oratorium; Ulf und seine Schwester beherrschen diverse Instrumente und auch die unterschiedlichen Stimmen der Weihnachtslieder.
Bevor ich Ulfs Familie kenne, weiß ich nicht, dass Weihnachtslieder überhaupt mehrere Stimmen haben, aber jetzt bin ich zum Kaffeetrinken, Plätzchenessen und Musizieren am vierten Advent zu ihm nach Hause eingeladen, und da höre ich die Stimmen, da treffe ich zum ersten Mal auch seine Oma – die ich mir vorgestellt hatte wie meine eigene: alt.
Ulfs Mutter sitzt am Flügel. Ulfs Schwester singt sich schon mal ein, Ulfs Vater grinst mich an – muss dann aber die Basslinie singen. Und Ulfs Oma ist alt, ja. Und sie singt auch Alt.
»Was singen Sie?«, fragt sie mich, noch bevor sie guten Tag sagt.
Ich habe keine Antwort. Ich habe keine Ahnung, mir ist fremd, was sie da machen, wie sie um den Flügel im Halbkreis stehen in sehr gerader Haltung. Ich halte der Oma die Hand hin, das gehört sich so.
»Guten Tag, ich bin die Resi.«
»Und was spielen Sie?«
Instinktiv weiß ich, dass meine zwei Jahre Blockflötenunterricht in der Grundschule nichts gelten in diesem Rahmen, dass die allenfalls so was sind wie ein Seemannsköpper im Spaßbad.
»Äh, nichts«, sage ich also.
Ulf schenkt mir Tee ein. Muss dann aber zurück in den Kreis, den Tenor bestreiten.
Da stehen sie und singen, ein Lied nach dem anderen; die Oma auf ihren Stock gestützt, der Papa mit einem ironisch falschen Ton hier und da, für den er von seiner Tochter einen Ellenbogen in die Seite kriegt. Und ich sitze am Tisch, trinke Tee und bin das Publikum; lächle, weil sich zumindest meine Zähne sehen lassen können nach einer kieferorthopädischen Behandlung auf Kosten der solidarisch organisierten Krankenkasse, zu der zwar weder Ulfs Eltern noch seine Oma als Privatversicherte jemals etwas beigetragen haben, die es aber noch gibt, sodass zumindest kein schiefes oder gar zahnloses Lächeln einen weiteren, schwer überwindbaren Graben zwischen uns aufreißt. Noch sind die Achtziger.
Also lächele ich und hüte mich, in den Gesang miteinzustimmen. Ich erkenne die Lieder am Text und an der Melodie des Soprans, den Ulfs Schwester und seine Mutter singen, doch ich weiß, dass ich diese Stimme nie im Leben mitsingen könnte: Nie im Leben komme ich da rauf.
Es ist okay. Und es ist wirklich längst vorüber.
Ging auch damals, vor dreißig Jahren, irgendwann vorbei – obwohl die Weihnachtslieder nicht nur vier Stimmen, sondern auch erstaunlich viele Strophen hatten auf den mir unbekannten Notenblättern.
Ich habe nicht zu sehr gelitten. Anderen ging es viel schlechter, andere wären gar nicht erst vorgelassen oder überhaupt als Menschen betrachtet worden, apropos, ich glaube, die Oma war nicht nur Rüstungsproduzentin, sondern auch in den Kolonien aufgewachsen, doch das kann ich mir auch einbilden, darüber wusste nicht mal Ulf so recht Bescheid.
Jedenfalls habe ich mich, weil ich nicht mitsingen konnte, an anderen Dingen hochgezogen – etwa an den Plätzchen, die Ulfs Mutter versucht hatte zu backen. Trocken und steinhart! Backen konnte ich tausendmal besser.
Oder am fortgeschrittenen Alter der Oma. Da stand sie mit ihrem Stock, dem faltigen Hals und den hängenden Ohrläppchen – ich würde sie um Tausende von Tagen überleben!
Dass die Ringe, die ihr die Ohrläppchen hinunterzogen, zum Pfandhaus getragen den Gegenwert eines neuen Hüftgelenks, eingesetzt durch den Chefarzt plus acht Wochen Pflege im Einzelzimmer bedeuteten, hatte ich noch nicht kapiert, genauso wenig wie den Grund für die fehlenden hauswirtschaftlichen Fähigkeiten von Ulfs Mutter: dass die einen die ersten in der Familie sind, die studieren, und die anderen die ersten, die keine Köchin mehr beschäftigen.
Ich habe mit niemandem darüber geredet. Kann dir nur sagen, dass ich mir jetzt, dreißig Jahre später, wünsche, jemand hätte mich gewarnt.
Es gab die zweite Geschichte meiner Mutter von Werner, ihrem ersten Freund, der zwar mit ihr schlafen, sie dann aber doch nicht heiraten wollte. Diese Geschichte fand ich immer seltsam, wunderte mich, warum sie überhaupt erzählt wurde.
»Na und?«, habe ich gedacht, »weg mit Schaden« und »wer nicht will, der hat schon«.
Dass es die Geschichte von Mariannes verpasstem Aufstieg war, darauf wäre ich nie im Leben gekommen.
Die Geschichte war sehr kurz.
»Der Werner, ja.« Darauf ein unlustiges Lachen. »Hat ihm nichts genützt, mich fallen zu lassen. Glücklich ist er nicht geworden.«
Anders als sie selbst, die dann Raimund geheiratet und uns bekommen hatte.
Marianne war glücklich. Weil die Liebe wichtiger ist als die Aussicht auf materielle Sicherheit und gesellschaftliches Ansehen. Das hat Werner nicht kapiert, aber im Verlauf seines Lebens schmerzlich erfahren müssen.
Woher meine Mutter das wusste – dass Werner nicht glücklich war – hat sie nicht gesagt. Und doch war es in meinen Ohren der Kern der Geschichte: Werners Unglück, das darauf folgte, dass er sich falschem Standesdenken unterworfen hatte, und Mariannes Glück, in das sich die kurze Schmach, von ihm fallengelassen worden zu sein, verwandelt hatte.
Wie genau dieses Fallenlassen ausgesehen hatte und was ihm vorausgegangen war, dass Marianne Werner doch wohl ihre Unschuld sowie den ein oder anderen Traum geschenkt hatte und wie es ihr gelungen war, diese Träume wieder zu begraben – davon kein Wort.
Mag sein, dass die Geschichte als Warnung gemeint war, aber wenn, dann hatte sie ihre Wirkung verfehlt. Sie war zu kurz und zu abstrakt, zu sehr aufs Ende hin erzählt, wo sie dann wiederum viel zu konkret wurde. Ich selbst war das Ergebnis der glücklichen Wendung, ohne Werners Schlussmachen hätte es mich und meine Geschwister nie gegeben. Also konnte ich mich nicht mit meiner Mutter identifizieren, war ich in meiner Vorstellung immer nur das leibhaftige Ende der Geschichte und niemals die Marianne des Anfangs, die naiv in die falschen Kreise geraten war.
Eine Warnung aus ihrem Mund hätte anders klingen müssen: »Okay, mein Schatz, geh ruhig hin zu diesem Weihnachtssingen, aber sei auf der Hut. Ulfs Eltern gehören einer anderen Gesellschaftsschicht an als wir, und du bist zwar eingeladen, kennst aber die Voraussetzungen und die Spielregeln nicht. Erinnerst du dich an Werner? Der kam aus einem Pfarrershaushalt, wo ich zwangsläufig fehl am Platz war. Ganz egal, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, mich angemessen zu verhalten – und gebetet wurde bei uns vor dem Essen ja auch. Doch bei Werner wurde vor und nach dem Essen gebetet, und es gab Servietten, die über den Schoß gebreitet werden mussten, und ein Mädchen, das serviert hat. Das kommt stets von rechts, woher sollte ich das wissen? Ich hatte keine Chance, aber du hast vielleicht eine, du bist die nächste Generation, also ist Ulfs Vater jetzt quasi Werner, hatte vielleicht auch schon mal eine Freundin wie mich. Bevor er Ulfs Mutter geheiratet hat. Ist er nicht Anwalt und Mitglied bei der SPD? Bestimmt schämt er sich ein bisschen seiner Vorrechte, die Mutter ist jedenfalls immer unverhältnismäßig nett zu mir. Dass sie sich schämen, verschafft dir eine Chance, ist aber gleichzeitig ziemlich gefährlich, schlägt nämlich gerne mal um: wenn sie meinen, du würdest ihnen was vorwerfen. Also pass gut auf. Alles, was dir fremd ist, musst du selbstverständlich finden. Beobachte, wie Ulf und seine Schwester sich benehmen; allerdings bist du nicht das Kind, also sei auch nicht zu vorlaut. Was Ulf und seine Schwester in Frage stellen dürfen, solltest du gar nicht bemerken. Oder vielleicht sogar verteidigen? Wäre auch eine Möglichkeit. Sicherer ist: einfach darüber hinwegzusehen. Sei am besten still. Allerdings nicht zu still! Ein bisschen was musst du schon sagen, stell ein paar Fragen, hör dann aber vor allem zu. Und lächle. Nicht so dümmlich, sondern wirklich interessiert! Dreh der unbekannten Oma nie den Rücken zu. Du musst wissen: Sie ist noch mal dreißig Jahre älter, also im Alter von Werners Vater. Und bestimmt kein SPD-Mitglied. Aber egal, es ist nicht ihre Einladung. Du kommst über Ulf, quasi auf Ulfs Empfehlung. Er hat dich ausgesucht, vielleicht auch nur, um seine Eltern zu ärgern – das war jedenfalls ein Teil von Werners Motiv, glaube ich inzwischen, obwohl’s ihm vielleicht selbst gar nicht bewusst war – egal, krieg auf jeden Fall raus, was jeder will. Was ihre Haltung zu dir ist. Haben sie heimlich noch Hoffnung auf was Besseres? Krieg raus, ob sie dich mögen. Setz eventuell auf den Beschützerinstinkt von Ulfs Vater, lass dich aber nicht auf Flirtereien mit ihm ein. Ulfs Mutter musst du knacken, wenn schon. Wessen Mutter ist die Oma? Ihre oder seine? Wenn du das nicht weißt, ist es schlecht. Dreh ihr nicht den Rücken zu! Versuche rauszufinden, wie die Familienmitglieder zueinander stehen und wo du vielleicht vermitteln kannst oder vielleicht auch herhalten und Aggressionen, die nicht dir gelten, auf dich umleiten. Gib dich ruhig für so was her, das kriegst du später wieder. Krieg raus, wer von ihnen dich nun eigentlich dabei haben will und warum, und nimm denjenigen für sein Projekt in die Pflicht. Du bist auf jeden Fall nur das Objekt, sprich: Du entscheidest und du willst dort gar nichts. Außer: dich im Extremfall ganz schnell zurückzuziehen. Bevor sie dich rauswerfen, trittst du selbst den Rückzug an, okay?«
Ich wasche den Ravioliteller ab. Verstecke die Dose ganz unten in der Tüte. Giere nach den Zigaretten zur Verdauung; tut mir leid, Bea, ich kann damit nicht aufhören, kann dir kein Vorbild sein. Rauchen ist ein deutliches Zeichen, dass man noch nicht an die eigene Sterblichkeit glaubt, dass man meint, endlos weitermachen zu können, sich täglich zu regenerieren. Daran muss ich glauben, das kann ich nicht aufgeben, ich hab doch keine Alterssicherung, verstehst du? Ich muss ewig jung bleiben, und sag jetzt nicht, dass Rauchen das Gegenteil bewirkt, ich weiß schon, aber hier kommt’s auf den Glauben an, sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich muss glauben, dass ich so weitermachen kann.
Ich darf meine Trümpfe nicht vorschnell aus der Hand legen:
Dass ich jung bin – also keine Altersvorsorge brauche.
Dass ich kochen, backen, handarbeiten, tapezieren, putzen, Haare schneiden und egal was für einfache, unliebsame Aufgaben übernehmen kann – also immer den anderen dienen.
Dass ich selbst so gut wie gar nichts brauche, mich von Ravioli aus der Dose und billigem Toastbrot ernähren kann – also unkompliziert überleben.
Dass ich nicht so verwöhnt und verweichlicht bin wie die andern aus der Clique, Caro und Ulf und ihre pseudodemokratische Baugruppe; nun, ich fürchte, das stimmt nicht, Bea, ich fürchte, dass ich mich fürchterlich fürchte und nichts schlimmer finde als die Einsicht, den Aufstieg zu ihnen endgültig verpasst zu haben und fortan mit meinesgleichen auskommen zu müssen, draußen, in Marzahn.
Denn zu denen da gehöre ich ja auch nicht.
Das ist das Fiese am gescheiterten Aufstieg: dass der Weg zurück versperrt ist.
Marianne und Raimund haben mir ihre Ablehnung des Pöbels, jedoch nicht das Geld, ihn mir vom Leibe zu halten, vererbt; sie haben alles auf die Karte des Aufstiegs gesetzt, die jetzt nicht sticht – und ich muss sehen, wie ich mich arrangiere.
Wenn sie mich doch nur Karate oder Poledance hätten lernen lassen, anstatt Blockflöte. Blockflöte! Kommt in keinem Orchester vor, kann man für keine Band gebrauchen. Stopft einem einfach nur das Maul.
Statt des zum Scheitern verurteilten Vorhabens, mit der Blockflöte im Mund zu den sorglos in Seide gewandeten Sopransängerinnen aufzusteigen, hätte ich lieber schon im Kindergarten sagen sollen: »Leckt mich.« Dann könnte ich jetzt in aller Ruhe rechten Rand wählen und es denen da oben mal so richtig zeigen.
Den Rest der Zeit ginge ich zum Jobcenter – was ich ja jetzt auch tue, zwecks Aufstockung und BuT – und wenn ich mal was übrig hätte, ins Solarium oder zur Fingernägelmodellage. Nägel geben fast so viel her wie Möbel, wenn’s um Distinktionsgewinn geht; ich könnte zum Beispiel immer nur »French« machen lassen – alles andere fände ich billig.
Doch nachdem ich mich jahrzehntelang darin geübt habe, meine Defizite zu verbergen, muss ich jetzt versuchen, meine Privilegien geheim zu halten. Das Wort »Privileg« nicht mehr benutzen. Statt »benutzen« »benützen« sagen. Gar nichts mehr sagen. Unsichtbar sein.
Damit sie mir da draußen nichts tun.
Wegen ihres Mangels an Bildung sind die einfachen Leute nämlich dumm und deshalb so gefährlich. Haben überhaupt keine Vorstellung davon, was sie anrichten, und ihre Impulse nicht unter Kontrolle. Sie sind wie wilde Tiere; bist du mal nachmittags um fünf mit der Straßenbahn Richtung Ahrensfelde gefahren? Übergewichtige, in Polyester mit Aufdruck gekleidete Leute, die ihre Kinder im Buggy Red-Bull-Imitate trinken lassen und ab und zu aus Langeweile ohrfeigen.
Ich müsste schnell, stark und sportlich sein, um ihnen entgegenzutreten oder zu entkommen, stattdessen bin ich eingerostet und verweichlicht. Kann argumentieren, aber nicht zuschlagen. Stelle mir reflexartig vor, was dabei alles kaputtgeht – in ihren Körpern, in meinem – und zögere deshalb. Ich weiß zu viel.
Das muss ich irgendwie verbergen.
Doch sie spüren, dass ich viele Jahre lang woanders war, sie können das riechen.
Seit der Grundschule, seit ich mit zehn zum letzten Mal bei Micha Stadler zu Besuch war, und sein Vater, der Schicht arbeitete, in Unterhosen in Michas Zimmer auftauchte und ihn anfuhr, wir sollten verschwinden; seit ich Michas Gesicht in dem Moment gesehen habe und dann das seiner Mutter, die uns eilig die Tür nach draußen aufhielt; seit mir vor Michas Haus schlagartig klar wurde, dass diese beiden Erwachsenen tatsächlich seine Eltern waren – also diejenigen, die er zu lieben und überdies auch als einzige zum Lieben zur Verfügung hatte –; seit mich das Grauen, das mich daraufhin erfasste, davon abhielt, ein weiteres Mal mit ihm nach Hause zu gehen – und ich dann ja auch bald aufs Gymnasium kam, wo solche wie Micha nicht hindurften – bin ich nicht mehr mit den einfachen Leuten auf Tuchfühlung gewesen. Sondern nur noch mit den besseren. Die ihren Kindern auch Angst einjagten – aber auf zivilisierte Art und vollständig angezogen.
Christians Vater zum Beispiel, der Typ mit dem Autotelefon und der Tiefgarage. Hat seine Softwarefirma verkauft, bevor wir Abitur gemacht haben, und dann allerhand Alternatives probiert: Psychotrainings, Heilmethoden.
Mit ihm mussten wir nachmittags im Hobbyraum mal eine Familienaufstellung nach Bert Hellinger durchführen; ich war die ältere Schwester, die mit drei Monaten den plötzlichen Kindstod gestorben war, und Christian war Christian.
Und jetzt fragst du dich natürlich, wie ich glauben kann, dass solche Leute weniger gefährlich sind als die Dumpfbacken in der M8. Und du hast Recht, Bea: Das sind sie nicht. Im Gegenteil. Aber sie und ihre Methoden habe ich studiert all die Jahre, vor ihnen meine ich, in Sicherheit zu sein. So sehr, dass ich sogar dachte, sie würden mich inzwischen als ihresgleichen anerkennen und deswegen schonen –
Ich hätte Ulf heiraten müssen. Statt zu glauben, ein Abiturzeugnis würde irgendwen außer meine eigenen Eltern, die selbst keines hatten, beeindrucken.
Dezember 1987. Bei Ulfs Familie zum Weihnachtssingen.
Resi hält sich daran fest, dass sie jünger ist als Ulfs Oma. Zieht sich daran hoch, dass sie besser Plätzchen backen kann als Ulfs Mutter. Bildet sich was darauf ein, dass sie besser in Französisch ist als Ulf, auch in Mathe, Deutsch und Biologie – ihr Zeugnis ist makellos, was schert sie die Musik.
Resi lächelt.
Nachdem das Singen vorbei ist, setzt sich die Familie zu Resi an den Tisch.
Die Oma fragt, aus welchem Hause sie denn komme.
»Emil-Nolde-Straße 62, gegenüber vom Supernanz, das große Graue. Ist Ihnen vielleicht schon mal aufgefallen, unten drin ist eine orthopädische Praxis.«
»Emil Nolde war ein Günstling meines Mannes«, sagt die Oma.
Resi denkt, die Oma rede wirr.
Von den andern vier am Tisch fühlt sich keiner bemüßigt, etwas zu sagen – weder zu Resis Missverständnis, was mit »Hause« gemeint ist, noch zu irgendwelchen Malern der Moderne und wie man zu ihnen im Verhältnis steht.
Das Bild, das bei Ulf und Caro neben der Balkontür hängt, weißt du, Bea? Das mit dem Kirchturm und der Kuh und dem wilden lila Himmel. Das ist ungefähr hundertfünfzigtausend Euro wert, und ich will Carolina nichts unterstellen: Ulf ist auch ohne sein Erbe eine klasse Partie.

Weiß man doch

Ich bin ein echter Spätzünder. Oder geht das allen so, dass ihnen mitten im Leben plötzlich auffällt, was sie nicht kapiert haben, all die Jahre über, obwohl es doch mehr als offensichtlich ist?