FRANK HARPER

 

 

Der Mitternachtsengel

 

 

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 9

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DER MITTERNACHTSENGEL 

 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

23. 

24. 

25. 

26. 

27. 

28. 

29. 

30. 

31. 

32. 

33. 

34. 

35. 

36. 

37. 

38. 

39. 

 

 

Das Buch

 

Er hatte keine Vorsichtsmaßnahme vergessen, als er in dieser Nacht der Entscheidung die Lexington Avenue hinaufging: Seine Verkleidung war ebenso überlegt wie der Plan, den er bereits seit langer Zeit hegte. Nichts Außergewöhnliches ging in ihm vor. Die Gefühle hatte er ausgeschaltet, aber sein Kopf arbeitete gleich einer Präzisionsmaschine. Diesen Mann trieb keine Leidenschaft an – weder Hass noch Verzweiflung, weder Neid noch Gier; nur kalte, logische Berechnung und die feste Absicht, das perfekte Verbrechen zu begehen.

Er spürte den Ehrgeiz eines Schachmeisters, dem ein fehlerfreies Spiel gelingen muss. Er empfand keine Mordlust, und dennoch war er im Begriff, jemanden umzubringen...

 

Der Mitternachtsengel - erstmals im Jahr 1969 erschienen – ist ein geradezu klassischer Thriller, der tief in die Psyche des Täters vordringt und der die Grausamkeit und Kälte des Mörders gefährlich nah an den Leser heranführt... 

Ein düsteres, spannungsgeladenes Meisterwerk aus der Feder von Frank Harper!

  DER MITTERNACHTSENGEL

 

 

 

 

 

  1.

 

 

Oft hatte ich mich gefragt, was wohl in einem Mörder kurz vor der Ausführung seiner Tat vor sich gehen mag. Es erstaunte mich, dass ich auch jetzt, auf meinem Weg die Lexington Avenue hinauf, keine klare Antwort darauf finden konnte. In mir ging nichts Außergewöhnliches vor; nichts, was auf eine besondere Triebphase oder auf Mordlust hindeutete - und doch war ich gerade im Begriff, jemanden umzubringen.

 

Diese Nacht sollte die Entscheidung herbeiführen. Es war die Nacht zum 23. März.

Ich war in keiner Weise erregt. Meine Gefühle hatte ich ausgeschaltet. Mein Kopf arbeitete klar wie eine Präzisionsmaschine. Mit kalter und logischer Berechnung machte ich mich daran, einen längst gefassten Plan in die Wirklichkeit umzusetzen. Wenn ich überhaupt etwas empfand, so war es Genugtuung.

Der Mord, schon seit Jahren geplant, hatte keinerlei Motiv. Keine der Leidenschaften, die zu so einer Tat verleiten können, bewegte mich; weder Hass noch Verzweiflung, weder Furcht noch Eifersucht, weder Geld noch Gier. Es war ganz einfach ein Plan. Der Plan, ein perfektes Verbrechen zu begehen. Ich spürte eine Art Ehrgeiz - wie ihn ein Schachmeister vielleicht empfinden mag, der versucht, ein absolut fehlerfreies Spiel zu machen.

Es war selbstverständlich, dass das Opfer aus den Reihen der Prominenz stammen musste. Die Tat musste genügend Aufsehen erregen, denn darauf kam es mir an. Doch zugleich musste das Opfer einen schlechten Charakter haben, damit sich der Mord moralisch - wenigstens in meinen Augen - rechtfertigen ließ.

Dem empfindlichen Leser dieser Aufzeichnungen kann ich versichern, dass der Mann, auf den meine Wahl schon vor geraumer Zeit gefallen war, zweifellos ein Sinnbild alles Schlechten war. Es war ein berüchtigter Mann, den selbst die Zeitungen hier und in Europa immer nur als Schädling bezeichneten; ein wahrhaft verachtungswerter Mann, der kein Mitleid verdiente.

Dieser Mann hieß Fedor Roth.

Während ich die Straße entlangging, las ich all die Lichtreklamen, die aus der Dunkelheit aufleuchteten: Hawaiian Room - Hula Girls - Horn & Hardarts Automaten-Restaurant - Campbells Beerdigungsinstitut - Berühmt für würdevolle Trauerfeiern... Wie Begleitmusik wirkte der Lärm der Lexington Avenue für meine Ohren: das Hupen und Auf jaulen der Autobusse und Taxis - das Geratter der Untergrundbahnen - die Wortfetzen von Passanten - das Musikgeklimper aus den Bars... Und aus den Restaurants drangen Essensgerüche, die sich bisweilen mit dem billigen Parfüm eines Mädchens vermischten.

Mir kam nicht die Idee, in eine Bar einzukehren, um mir Mut anzutrinken. Ich trank ohnehin nur selten und eigentlich nie, wenn ich allein war; ich brauchte keine Whiskyflaschen.

Roth wohnte in der 63. Straße an der Park Avenue. Ich mied jene teure Straße mit den livrierten Portiers vor jedem Haus, weil man dort zu leicht gesehen werden konnte. Ich hatte mir auch kein Taxi genommen, da Taxichauffeure immer die ersten sind, die von der Polizei vernommen werden. Der Taxichauffeur brauchte nur in die Nähe des Tatorts gefahren zu sein, um als Zeuge vorgeladen zu werden. Hier, im Nachtbetrieb der Lexington Avenue, würde mich niemand sehen. Und das war wichtig. Mich kannten zu viele, sogar einige der Verkehrspolizisten an den Straßenecken.

Darum trug ich auch, als weitere Vorsichtsmaßnahme, andere Kleidung als sonst. Ich hatte einen etwas breitrandigen Hut auf und einen karierten Mantel, Handschuhe und zu große Schuhe an. In der einen Hand schwenkte ich den kleinen schwarzen Lederkoffer eines Arztes. Da ich sonst immer ziemlich unauffällig angezogen war, kam diese Aufmachung einer Verkleidung gleich.

Hinter der 57. Straße hörte der lärmende Betrieb auf. Es war ziemlich dunkel, als ich an Bloomingdales Warenhaus vorüberkam. Mein Blick fiel auf die Wachsfiguren in einem der Schaufenster. Sie waren nackt und sahen entsetzlich bleich aus; sie waren schamlos anzusehen.

Als ich in die 63. Straße einbog, die über die Park Avenue zu Roths Haus führte, hörte ich plötzlich kleine eilige Schritte hinter mir. Im nächsten Augenblick hing eine Frau an meinem Arm.

»Komm mit mir. Ich habe alles, was du dir nur wünschen kannst«, raunte sie in mein Ohr.

Mir war, als wäre mir eine der Wachsfiguren aus dem Schaufenster nachgeeilt. Auch sie sah entsetzlich bleich aus; sie hatte düstere, brennende Augen und war mit einem schäbigen Pelzmantel bekleidet.

»Lassen Sie meinen Arm los«, sagte ich.

»Du brauchst mich, Liebling. Ich weiß doch, dass du mich brauchst.«

»Loslassen!«

Sie war jung, und mit ihrem roten Mund war sie durchaus nicht abstoßend.

»Gehen Sie zum Teufel!«, rief ich.

»Nur mit dir, Liebling, nur mit dir.«

Und mit einer hastigen Bewegung ergriff sie meine Hand, schob sie unter ihren Pelz und legte sie auf ihre Brüste, die fest, rund und warm waren. Sie maß mich mit der sicheren Überlegenheit einer Frau, die sich für viel stärker hält als jeder Mann. Ich war schwach, selbst diesen Frauen gegenüber. Eine Sekunde lang war ich in der Versuchung, meinen ganzen Plan wegen dieser Straßendirne aufzugeben, die mir vielleicht das Schicksal geschickt hatte.

»Es geht nicht. Ich bin Arzt. Ein Patient wartet auf mich«, sagte ich nervös.

»Schade.«

Ich zog Geld aus meiner Tasche. »Für Sie.«

Mit einer Zwanzigdollarnote, dem üblichen Preis, fertigte ich das Schicksal ab und eilte weiter.

Ich drehte mich noch mehrmals um. Die Frau stand immer noch da und blickte mir entgeistert nach. Das gefiel mir ganz und gar nicht. War sie auch nur eine Dirne, so war sie doch eine Zeugin, die einen Mann im karierten Mantel und mit einem kleinen schwarzen Lederkoffer identifizieren konnte.

 

 

 

 

  2.

 

 

Noch vor eineinhalb Stunden hatte ich selbst keine Ahnung gehabt, dass dies die Nacht sein würde, auf die ich so lange gewartet hatte. Mein Plan war einfach. Es war nur notwendig, dass Roth anrief, nachdem Dr. Heimerdinger, mein bester Freund, schon schlief; und das kam nur selten vor. Meist rief Roth am Nachmittag an, und die paarmal, da der Anruf nachts

erfolgt war, hatte der Doktor noch eine Partie Domino mit mir gespielt.

Nun, ich war geduldig gewesen; ich hatte warten können, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab.

Mit Dr. Heimerdinger bewohnte ich ein etwas altmodisches Brownstone-Haus in der 47. Straße, zwischen Lexington und Dritter Avenue, das dem Doktor vor einigen Jahren von einer betagten Patientin, die ihn angebetet hatte, hinterlassen worden war.

 

Ich hatte den Doktor in einem Feldlazarett in Okinawa kennengelernt. Ich war mit schweren Kopfverletzungen eingeliefert worden. Auf dem Operationstisch hatte ich, halb bewusstlos, wirre Fragen auf Deutsch hervorgestammelt, die zu meinem Erstaunen auf Deutsch beantwortet worden waren. Ich war zwar in New York aufgewachsen, aber ich stammte eigentlich aus Deutschland. In diesem Augenblick in der Fremde Deutsch zu hören - von einem Mann mit leuchtendblauen Augen und einem dicken blonden Schnurrbart -, war unerhört erregend für mich gewesen.

»Ruhig jetzt. Atmen Sie das Zeug ein«, hatte der Doktor gesagt, und mir war langsam das Bewusstsein geschwunden, als ich den Äther in meine Lungen einsog. Ich blieb drei Monate lang im Hospital, und fast jeden Tag fand der Doktor Gelegenheit, Domino mit mir zu spielen, woran eigentlich auch meine Pflegerin, Jenny Holseter, teilnahm, die dem WAG - dem Women's Army Corps - angehörte.

Erst fünf Jahre später, 1950, hatte ich eine neue Begegnung mit Dr. Heimerdinger. Das war in dem berühmten deutschen Restaurant Lüchow in New York, wo es Dortmunder und Münchner Bier gab. Er hatte gehört, dass ich hier meinen Stammtisch hatte, und war gekommen, um mich wiederzusehen. Wir unterhielten uns großartig, und die ganze Nacht spielten wir Domino, sein Lieblingsspiel. Wir spielten es wochenlang. Vielleicht war es das Dominospiel, das ihn schließlich dazu bewog, mir vorzuschlagen, in sein Haus in der 47. Straße zu ziehen.

Wie einst sein Vater in Wien, der ein angesehener Gelehrter gewesen war, hatte er sich in New York als Psychoanalytiker niedergelassen. Er war einer der erfolgreichsten in der ganzen Stadt, die einen unendlichen Vorrat an Narren hat, die bereit sind, an die 20.000 Dollar für eine Analyse auszugeben. Ich konnte mich über diese Tatsache nicht genug wundern und belustigen. Und er nahm es mir nicht weiter übel, dass ich mich gelegentlich auch über ihn lustig machte.

Seine Sprechstunden begannen schon um acht Uhr. Sein erster Patient war stets Mr. Henry Lehman, ein Börsenmakler, ein Mann mit einem bläulichen Teint, der keinerlei Transaktionen vornehmen konnte, ohne sich vorher erst analysieren zu lassen.

Kurz vor acht hatte ich das Frühstück fertig, das nie mehr als fünf Minuten in Anspruch nahm. Ich hatte es genauso eilig wie der Doktor; mein Tag war genauso schwierig. Oft, wenn ich von meiner Arbeit nach Hause kam, fand ich ihn so erschöpft, dass er sich bald nach dem Abendessen mit einer Pille Hexatol ins Schlafzimmer zurückzog, um alsbald in tiefen Schlaf zu sinken, aus dem ihn nichts mehr erwecken konnte. Das war ein Umstand, den ich bei meinem Plan selbstverständlich mit einkalkulierte.

Auch an diesem Abend hatte er Hexatol genommen, sogar zwei Pillen, so dass ich um die Partie Domino kam, die wir sonst so gern spielten. Es war zwar ein etwas langweiliges Spiel, aber gerade diese Langeweile wirkte wohltuend, ja geradezu beruhigend. Der Doktor riet auch oft seinen Patienten, es mit Domino zu versuchen. Zuweilen verstieg er sich sogar zu der Behauptung, dass man darum in New York so hysterisch sei, weil man hier das Spiel kaum kennen würde.

Ich hatte mich also an diesem Abend in meine Bücher vertieft, da ich nie vor ein Uhr nachts schlafen ging. In meinen beiden Zimmern und in dem Korridor dazwischen hatte ich wohl an die tausend Bücher, meist Fachliteratur, darunter Orths Geschichte des Verbrechens und Bücher, die ich zum Studium benutzt hatte; ich hatte Jura studiert. Außerdem stand dort ein Fernsehapparat, der aber nur selten benutzt wurde, meist um Mitternacht, wenn Kim zu sehen war. Kim war der rabenschwarze Engel der Nacht; sie war in Goldpailletten gehüllt und zog Millionen von Männern in ihren Bann.

An diesem Abend war ich ein wenig unruhig gewesen. Ich hatte gerade in Freuds Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse geblättert, als das Telefon zu läuten begann. Ich war in die Höhe gesprungen, als wenn ich insgeheim auf dieses Läuten gewartet hätte.

Wir hatten drei Telefone: eines im Sprechzimmer, eines im Schlafzimmer meines Freundes und das dritte auf einem Tischchen neben meinem Bett. Wenn der Doktor schlief, läutete nur mein Telefon. Ich hatte den Hörer sofort abgenommen.

»Dr. Heimerdinger?«, hatte eine Stimme gerufen, die mich erbeben ließ, da ich gleich geahnt hatte, wer in diesem dringenden Tonfall sprach.

»Bedaure. Er ist nicht da.«

»Wo ist er zu erreichen?«

»Er ist nicht zu erreichen.« Ein Schauer war über meinen Rücken gelaufen; meine Finger hatten gezittert, so sehr, dass ich den Hörer kaum halten konnte. Noch nie hatten meine Finger auch nur für eine Sekunde gezittert. »Mit wem spreche ich?«, hatte ich gefragt, denn auf Ahnungen konnte ich mich nicht einlassen. Ich musste Gewissheit haben.

»Roth. Ich habe einen Anfall. Nur der Doktor kann mir helfen...«

Roth war ein Hysteriker; der Doktor gebrauchte andere Namen dafür. Für ihn war Roth eine psychopathische Persönlichkeit, kalt, zynisch und feindselig gegen jedermann; ein mitleidsloser Mann, der Mitleid suchte, und der mit allen möglichen Neurosen behaftet war.

»Ich werde Ihnen Dr. Heimerdingers Vertreter schicken.«

»Wer ist das?«

»Dr. Kelly.«

»Sagen Sie Dr. Kelly, dass mir nur Chlorpromazin hilft, wenn ich einen Anfall habe.«

»Ich werde es ihm sagen. Sind Sie allein oder ist jemand anwesend, der ihm öffnen kann?«

»Ich bin allein. Wenn er dreimal klingelt, werde ich die Haustür öffnen.«

»Er wird dreimal klingeln.«

»Wann kann ich ihn erwarten?«

»In etwa einer halben Stunde«, hatte ich gesagt und aufgelegt.

Meine Erregung hatte sich sofort wieder gelegt. Ich hatte meine Vorbereitungen getroffen, ohne auch nur eine Kleinigkeit zu übersehen. Ich hatte fast automatisch gehandelt, nach dem schon längst gefassten Plan. Dem Karton, der zuunterst in einer Schublade verborgen lag, hatte ich die Kleidungsstücke und den kleinen schwarzen Lederkoffer entnommen, dessen Inhalt ich rasch überprüft hatte. Schließlich hatte ich das lange weiße Kuvert herausgesucht, das unberührt und frei von Fingerabdrücken war und die Banknote enthielt, die ich zur Irreführung - besonders Leslie Tates - bestimmt hatte. All das hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Dann hatte ich noch einen letzten Blick auf den Fernsehapparat geworfen, fast mit Bedauern, dass ich für diesen Abend auf Kim verzichten musste, und das Licht ausgedreht. Eine Sekunde lang war ich im Dunkeln stehengeblieben und hatte dem tiefen Schnarchen meines Freundes gelauscht. Um Geräusche zu vermeiden, hatte ich das Haus durch den Keller und über den Hof verlassen. Ich hatte mich vergewissert, dass niemand in der Nähe war. Dann hatte ich mich auf meinen Weg gemacht.

 

 

 

 

  3.

 

 

Das Haus 63, östliche 63. Straße war mir bekannt. Verschiedentlich schon hatte ich es in Augenschein genommen und mir wenigstens von außen die Lage der Zimmer eingeprägt. Es war im Stil Louis XIV. erbaut. Ein Palast, und die Zimmer waren Säle. Das Haus war skandalumwittert. Oft waren Reporter dagewesen. In den Zeitungen schrieb man von Kunstschätzen und beispielloser Verschwendung.

Schon von weitem sah ich Licht in drei Fenstern. Es waren hohe Fenster mit schweren Vorhängen, die keinen Blick ins Innere zuließen. Alle anderen Fenster waren dunkel, auch die im Dachgeschoss, wo meines Wissens ein Diener namens Bretherton wohnte, der offenbar abwesend war, wie ich aus Roths Behauptung, dass er allein wäre, schloss.

Ecke Park Avenue wechselte die Verkehrsampel auf rotes Licht. Ein Dutzend Autos hielten mit einem Ruck. Aus einem der haltenden Wagen konnte ich beobachtet werden. So trat ich in ein dunkles Haustor, bis die Ampel Grünlicht zeigte. Dann überquerte ich die Fahrbahn. Nur eine Frau mit einem Pudel an der Leine stand an der gegenüberliegenden Ecke.

»Einen Augenblick, Sir. Haben Sie ein Streichholz?«

Mit abgewandtem Kopf eilte ich an der Frau vorüber. Der Pudel bellte mir nach. Rasch bog ich um die nächste Ecke.

Wenige Schritte weiter lag das Portal. Darüber brannten zwei kleine Lampen, die man wohl für mich hatte brennen lassen, damit ich die Klingel finden konnte. Hatte ich vorhin, auf dem Weg, noch über allerlei nachgegrübelt und versucht, mir Klarheit über meine Handlungsweise zu verschaffen, so schaltete ich jetzt jeden Gedanken aus und handelte mit kalter Entschlossenheit. Ich durfte keinen Fehler machen. An meiner Fähigkeit zu töten, zumal einen Menschen, den ich persönlich gar nicht kannte, zweifelte ich nicht.

Wie angewiesen, drückte ich dreimal auf den Klingelknopf.

Alsbald erfolgte ein leises Geräusch, eine Sicherheitsvorrichtung wurde zurückgeschoben, und die schwere Bronzetür tat sich auf. Kaum war ich eingetreten, schloss sie sich auch schon wieder, und ein System von Riegeln versperrte sie erneut. Das beunruhigte mich übrigens nicht. leb war mit all diesen Vorrichtungen vertraut.

Ich trat in eine runde Halle, in der es - so lächerlich das klingen mag - nach Weihrauch roch. In der Mitte stand die lebensgroße Statue einer nackten Frau, die flüchtig ein Wollustgefühl in mir hervorrief. Der Fußboden bestand aus schwarzem und weißem Marmor; indirektes Licht fiel auf die Spiegelwände, in denen ich mich selbst hundertfach vorübergehen sah, groß und kräftig wie ein Ringkämpfer, doch mit grüblerisch gefurchter Stirn, und das Haar - den Hut hatte ich abgenommen - genauso schwarz wie das des rabenschwarzen Engels der Nacht.

Im Hintergrund der Halle zweigten Korridore ab und eine breite weiße Marmortreppe, mit nackten Frauenstatuen zu beiden Seiten, führte in das obere Stockwerk. Dies waren die Frauen um Roth. Frauen mit prangenden Brüsten und schmalen oder vollen Schenkeln, alle lächelnd, so dass ein Mann wie ich leicht den Verstand verlieren konnte. Sie stellten alle gefeierte Frauen dar. Mir war bekannt, dass Roth einen sehr berühmten Bildhauer eigens dafür beschäftigte, diese Statuen anzufertigen, oft ohne Wissen oder sogar gegen den Willen der betreffenden Frauen.

»Dr. Kelly?« Die Stimme kam von oben.

»Ja.«

»Sie haben mich fast eine Stunde warten lassen. Wissen Sie nicht, wer ich bin?« Obwohl die Stimme hart und anmaßend klang, war doch ein schriller Ton darin. Er hatte Angst.

»Ich weiß sehr gut, wer Sie sind, Mr-. Roth«, sagte ich. Und in der Tat wusste ich einiges über ihn, den ich nie zuvor gesehen hatte. So wusste ich zum Beispiel, dass er 1908 in St. Petersburg in Russland geboren war. Sein Vater, Dimitri Roth, war einer der finanziellen Berater des Zaren gewesen. Kurz nach der Revolution war die Familie aus Russland geflüchtet - über Finnland nach Berlin und später nach Paris. Aber ich wusste noch viel mehr über ihn. »Es tut mir leid. Ich wurde aufgehalten.«

Den Blick auf Roth gerichtet, der oben auf dem Treppenabsatz stand, stieg ich die Stufen empor. Er trug einen schwarzen Pyjama und war barfuß. Er war gut gewachsen. Er hatte dunkelbraunes Haar und das Gesicht eines herrschsüchtigen Knaben, mit Augen, die oft als kalt und ruhelos beschrieben wurden.

»Was ist mit Ihnen los?«, fragte ich.

»Ich glaube, es war eine Herzattacke.«

»Unsinn. Mir wurde versichert, dass Ihr Herz in Ordnung ist.«

»Wer versicherte Ihnen das?«

»Dr. Heimerdinger.«

Er hielt mir eine sehr gepflegte Hand hin, die ich kurz ergriff und sofort wieder losließ, weil mir die Berührung widerwärtig war. Trotz seines guten Aussehens war er mir so widerwärtig, dass mir zum ersten Mal die Idee kam, dass ich vielleicht doch aus Hass handelte.

»Wann hatten Sie den Anfall?«

»Vor eineinhalb Stunden im Restaurant Nino, wo ich mit Magda Wald, meiner Sekretärin, war. Es lag nicht am Wein oder am Kaviar, davon bekomme ich solche Anfälle nicht. Ich brach plötzlich in Schweiß aus, und mir wurde so elend, dass ich fast in Ohnmacht fiel.«

»Was kann diesen Anfall hervorgerufen haben?«

»Die Zahlen«, sagte Roth mit einem verstörten Lächeln.

»Die Zahlen?«

»Heute waren alle Zahlen gegen mich; es war eine katastrophale Anordnung von Zahlen, so dass ich schon am Morgen nichts als Unglück für mich voraussah.«

Er war bekannt dafür, dass er an allerlei Hokuspokus glaubte. Vielleicht quälte ihn zuweilen doch seine innere Verderbtheit - oder es verfolgten ihn die Menschen, die er zugrunde gerichtet hatte.

»Glauben Sie wirklich an solchen Unsinn?«, fragte ich.

»Es ist kein Unsinn. Es trifft immer zu, und ich richte mich danach. Ich habe sogar eine für den Vormittag anberaumte Konferenz auf drei Uhr nachts verlegt, weil zu diesem Zeitpunkt die Zahlen etwas günstiger für mich zu sein scheinen.«

Das konnte eine Gefahr sein. Er erwartete noch jemand in dieser Nacht, und wenn es auch noch längst nicht drei Uhr war, so wurde ich doch von großer Ungeduld erfasst.

»Ich habe das Chlorpromazin mitgebracht«, sagte ich.

»Kommen Sie!«

Er ging mir voran in sein großes Arbeitszimmer, in dem es noch stärker als in der Halle nach Weihrauch roch. Wahrscheinlich gehörte der lange Weihrauchhalm, den ich auf dem Kaminsims glimmen sah, auch zu dem Hokuspokus, mit dem er sich umgab.

»Ich muss sicher sein, dass es nicht mein Herz ist. Horchen Sie es ab«, verlangte er.

Ich streifte die Handschuhe ab und warf sie in meinen Hut, den ich auf einen Stuhl gelegt hatte. Als ich in meinem Köfferchen nach dem Stethoskop suchte, hatte ich Gelegenheit, mich im Zimmer umzublicken. Es war prunkvoll eingerichtet, mit antiken Dingen, die Königen gehört hatten. Da war, in Purpursamt, ein Thron Napoleons, und in Vitrinen links und rechts davon glitzerten die Smaragde und Brillanten der Kronen Josephines und Marie Louises. Über dem Kamin hing ein Gemälde Bonapartes; das heißt, es war nicht Bonaparte, es war Fedor Roth im Kostüm und in der Pose Napoleons.

»Ich bin gleich soweit«, murmelte ich.

Hinter grauen Samtvorhängen zählte ich drei Fenster. Ein grauer Teppich bedeckte den Fußboden. Auf dem Stuhl vor dem mittleren Fenster lagen die Kleider Fedor Roths. Die Smokingjacke war zu Boden gerutscht, daneben standen Lackschuhe. Ich sah den flachen Koffer (Handkoffer) mit den Initialen F. R. neben dem Schreibtisch, auf dem die Bilder seiner Eltern standen, Dimitri und Anna Roth. Auf dem Schreibtisch befand sich auch die Kartothek, über die so viele Gerüchte im Umlauf waren; angeblich enthielt sie die Namen seiner Feinde. Daneben lag ein schwarzes Notizbuch. Auf dem Tischchen zwischen den beiden Sofas vor dem Kamin entdeckte ich eine Flasche Courvoisier und zwei gewölbte Cognacgläser; ich sah den roten Abdruck von Lippenstift an einem der Gläser.

»Haben Sie Besuch?«, fragte ich beunruhigt.

»Nein. Magda Wald brachte mich nach Hause. Wir tranken den Cognac, bevor sie ging. So beeilen Sie sich doch!«

»Ich beeile mich ja.«

»Können Sie nicht sehen, dass ich am ganzen Körper bebe?«

»Das gibt sich gleich.«

Er öffnete die Pyjamajacke über seinem glatten und unbehaarten Brustkorb, als ich mit dem Stethoskop in der Hand an ihn herantrat. Sein Herz abzuhorchen - in der genauen Art, die ich meinem Freund abgesehen hatte - war eigentlich nur Zeitverlust. Daten flogen durch meinen Kopf, als ich die Prozedur vornahm.

1929: Ausweisung aus Frankreich wegen skrupelloser Spekulationen mit dem Franc. 1931: Ankauf nahezu wertloser Goldminen in Korea. 1933: Verkauf der Minen für zwölf Millionen Dollar an die Regierung Japans. 1934: Flucht aus Japan. 1936: Ausweisung aus England wegen Devisenschwindeleien. 1938: Trifft mit portugiesischem Pass in Amerika ein und reißt innerhalb eines Jahres die Aktienmehrheit eines halben Dutzends angesehener Gesellschaften an sich. 1940: Heiratet Diana Alison; große Feier im Waldorf-Astoria, zu der der Bürgermeister von New York und mehrere Botschafter erscheinen. 1941: Selbstmord der jungen Frau. 1943: Verweigert Kriegsdienst auf Grund portugiesischer Staatsangehörigkeit. 1945: Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis deswegen. 1949: Heiratet Barbara (Babs) Taylor, Erbin eines Millionenvermögens. 1931: Scheidung. 1953: Wird des verbotenen Waffenhandels mit Russland angeklagt. 1954: Washington leitet Ausweisungsverfahren gegen Roth ein...

»Ihr Herz ist in Ordnung«, sagte ich schließlich.

»Prüfen Sie auch meinen Blutdruck.«

»Wozu? Ihnen fehlt nichts. Es sind nur die Nerven.«

»Das Chlorpromazin, Doktor! Um drei Uhr muss ich auf dem Posten sein.«

Ich verlor nicht etwa die Ruhe. Nichts konnte mich von meinem Entschluss abbringen. Aber jeder Nerv in mir war bis aufs äußerste angespannt. Ja, jetzt war es ein Drang, eine Sucht, eine Lust... Ich zog das kleine Ding aus Glas und Nickel aus dem Köfferchen und befestigte die Nadel daran. Mit der Spritze in der einen Hand, griff ich nach den Chlorpromazin-Ampullen. Ich wandte mich ein wenig ab und tat so, als würde ich die Spritze mit der wasserklaren Flüssigkeit füllen. Doch ich benötigte kein Chlorpromazin für die Injektion. Luft war alles, was ich brauchte, zwei Kubikzentimeter Luft, die ein Vakuum im Blutkreislauf schaffen würden. Das reichte, um selbst ein Pferdeherz zum Stocken zu bringen. Dies war eine sichere Methode, meines Wissens nur einmal zuvor angewandt, in einem alten Kriminalfall, den ich sorgfältig studiert hatte. Ich streifte dünne Gummihandschuhe über meine Hände.

»Wozu das?« Roth betrachtete mich plötzlich mit Misstrauen.

»Aus hygienischen Gründen. Setzen Sie sich aufs Sofa«, sagte ich.

»Sofort. Ich will nur rasch den Fernsehapparat anstellen.«

»Muss das sein?«

»Es lenkt mich ab.«

Ich hatte den Apparat vorher nicht bemerkt. Er war in die Wand eingebaut, so dass nur der große Bildschirm sichtbar war, der jetzt aufblendete. Verworrene Töne drangen daraus hervor.

»Ich bin Kim April«, ertönte es laut. »Es ist Mitternacht...«

»Leiser«, sagte ich.

»Wenn es Sie stört, kann ich den Ton ganz abstellen. Mir liegt nur an dem Bild.«

»Setzen Sie sich aufs Sofa«, wiederholte ich.

Es war nicht der Ton, es war das Bild, das mich so störte, das Bild dieses Mädchens, das Millionen von Männern in beinahe allen Posen kannten. Kim war schön wie ein Wesen, das gar nicht existieren konnte, mit dem rabenschwarzen Haar und den unsagbar hellen Augen, die wie Kristall, doch zuweilen auch wie Amethyste, schimmerten. Unzählige Male schon hatte ich sie angestarrt und den schmalen biegsamen Körper bewundert.

Roth stand davor mit einem anmaßenden Lächeln, das ich hasse, wie ich alles an ihm hasste. Obgleich er schon siebenundvierzig war, sah er dennoch wie ein Knabe aus, der sich noch mit Spielzeugen abgab, und Kim war eines seiner Spielzeuge.

»Ich kenne sie«, sagte er lächelnd. »Ich holte sie einst aus dem French Quarter in New Orleans.«

»So setzen Sie sich doch endlich!«, befahl ich.

Er ließ sich in der Sofaecke nieder. Er saß da, den Ärmel der

schwarzen Pyjamajacke hochgestreift und den Arm ausgestreckt. Er schaute auf das Fernsehbild, und ich band mit einem breiten Gummiband seinen Oberarm ab. Der Druck ließ die große Ader bläulich hervortreten. Ich neigte mich mit der Spritze über ihn.

»Machen Sie eine Faust. Sie werden es kaum spüren.«

Woran ich dachte? Oh, ja, ich dachte daran, dass ich schon oft getötet hatte, mit Bajonett und Handgranate. Ich allein hatte Dutzende von Japanern getötet. Aber das war natürlich etwas anderes. Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte mir sogar ein Unterstand vor, den wir mit Flammenwerfern ausgeräuchert hatten, bis nichts als ein Haufen verkohlter Körper übriggeblieben war. Ich stach die Nadelspitze in die feine blaue Haut der Ader, aus der ein einzelner Blutstropfen hervorsickerte; dann drückte ich langsam den Kolben nieder. Ich wusste, dass es nur Sekunden dauerte, bis die Luftblase in die Herzkammer geriet. Ich zog die Nadel wieder heraus und betupfte mit einem Stückchen Watte die Einstichstelle, so dass auch nicht eine Spur von Blut zurückblieb. Dann entfernte ich das Gummiband und ließ den Ärmel über den Arm zurückfallen, der sich nicht mehr bewegte. Nur die Finger der geballten Hand begannen sich zu spreizen, bis die Hand wie eine große Tatze aussah.

Aus Roths Kehle kam nur noch ein röchelnder Laut. »Doktor - Doktor Kelly...«

»Mein Name ist Keller - Ernest Keller«, sagte ich kalt.

Es war fast ein eleganter Tod, vollkommen schmerzlos.

Ich war noch nicht fertig. Ich musste einen Moment die Zähne zusammenbeißen, um meiner Erregung Herr zu werden. Ich handelte weiter mit Vorbedacht, genauso, wie ich es geplant hatte. Aus meiner Brusttasche zog ich das lange weiße Kuvert, dem ich die Banknote entnahm. Sie war braun mit einem roten Stempel. Ich zerknüllte sie in meiner Hand, bevor ich sie mit einem Fluch neben Roth aufs Sofa warf.

Im gleichen Augenblick erscholl ein Schrei, so durchdringend, dass ich wie gelähmt dastand, unfähig zu atmen. War da jemand?

Doch es gab niemanden, der geschrien haben konnte. Ich starrte auf den Bildschirm, von dem Kim so unendlich verlockend herunterlächelte. Es war zwar nur ein Bild, und doch war ich fast überzeugt, dass Kim alles mit angesehen und dann auf geschrien hatte. Ich lächelte nur mit großer Mühe. Unsinn!

Ich hatte irgendein Geräusch aus dem Fernsehapparat für einen Schrei gehalten.

Dies war der einzige Augenblick, da ich ein wenig meine Nerven verlor.

Die Person auf dem Bildschirm störte mich von da an nicht mehr. Ich machte mir nicht mehr die Mühe, den Fernsehapparat abzustellen. Rasch warf ich meine Instrumente ins Köfferchen zurück, auch das Stückchen Watte und die Gummihandschuhe, und blickte mich um. Erst als ich sicher war, dass ich nichts zurückgelassen hatte, weder Fingerabdrücke noch sonst etwas, was man ins Laboratorium schicken konnte, stahl ich mich aus dem Zimmer mit dem Thron Napoleons und der Leiche in der Sofaecke. Roth schien mir aus weiten Augen nachzustarren.

Auf der übereilten Flucht vom Tatort machen die Verbrecher die meisten Fehler. Ich machte keine. Ich ließ mich nicht verleiten, das komplizierte Sicherheitssystem anzurühren, das die Riegel an der Haustür in Bewegung setzte. Die Marmortreppe hinunterlaufend, vorüber an den nackten Frauenstatuen, kam ich in die Küche am Ende eines Korridors. Hier, das wusste ich, waren die Fenster unvergittert. Mit behandschuhten Händen schob ich ein Fenster auf und schwang mich hinaus - auf ein Beet im Garten, auf dem ich wahrscheinlich Fußspuren hinterließ. Aber das machte nichts; ich trug übergroße Schuhe. Ich schob das Fenster wieder zu und schlich mich davon.

Um mich war es so dunkel, dass ich die Radiumziffern meiner Armbanduhr leuchten sah. Es war noch vor halb eins, als ich, die Hutkrempe in die Stirn gezogen, auf die Straße trat, die jetzt menschenleer war. Von der Ecke Park Avenue war die Frau mit dem Pudel verschwunden.

 

 

 

 

  4.

 

 

Studenten der Kriminologie mögen enttäuscht über den Hergang des Verbrechens sein, das ich hier wahrheitsgemäß geschildert habe. In der Theorie stellt man sich ein perfektes Verbrechen als eine Art Glanzleistung vor, das Genie erfordert. Doch in Wirklichkeit ist nur das so einfach ausgeführte Verbrechen, so wie ich es beging, perfekt.

Man wird bemerkt haben, wieviel Wert ich darauf legte, überhaupt keine oder nur irreführende Spuren zu hinterlassen, mit denen selbst die besten Detektive des Homicide Squad Manhattan East oder des FBI nichts anfangen können. Der Gedanke, dass ich wohl auch meinen guten Freund Leslie Tate vor ein unlösbares Rätsel gestellt hatte, brachte mich zum Lachen. Ich lachte laut.

Auch auf dem Heimweg stieg ich nicht in einen Autobus, in dem man gesehen und erkannt werden konnte, sondern drängte mich in den Menschenstrom der Lexington Avenue. Nur die Menschenmenge bot Sicherheit; und nichts war so beruhigend wie der Lärm und der tolle Neonglanz dieser Straße.

Im Keller des Hauses, das ich mit Dr. Heimerdinger bewohnte, machte ich ein Bündel aus meinem karierten Mantel, dem Hut, den Handschuhen und den Schuhen und warf es in den Ofen. Das schwarze Köfferchen flog gleich hinterher in die Flammen. Damit, so schien es mir, war der eigentliche Täter aus der Welt geschafft.

Über die enge Treppe und den bücherbepackten Korridor kehrte ich in mein Zimmer zurück. Genau wie kurze Zeit zuvor konnte ich das tiefe Schnarchen aus dem Nebenzimmer hören. Auf dem Tisch lag noch Freuds Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse aufgeschlagen. Ich stellte das Buch ins Regal zurück. Aus einer angebrochenen Flasche Bier schenkte ich mir ein Glas ein, aber das Bier schmeckte so schal, dass ich es nicht trinken konnte.

Kurz nach ein Uhr lag ich im Bett, nachdem ich meine Kleider genauso sorgfältig wie sonst weggehängt hatte. Ich knipste die Nachttischlampe aus und tauchte in die Dunkelheit wie in ein schwarzes Wasser, so tief, dass ich darin zu ertrinken glaubte. Ich hatte wohl doch einen Schock bekommen, der sich erst nachträglich einstellte - einen Schock deswegen, weil ich die jahrelang geplante Tat nun wirklich begangen hatte. Ich fröstelte und vor meinen Augen tauchte ein Weib im schäbigen Pelz auf, das sich an meinen Arm hängte und mir ins Ohr raunte: »Komm mit, Liebling. Ich habe alles, was du dir nur wünschen kannst.«

 

 

 

 

  5.

 

 

Wie stets erwachte ich um sieben Uhr. Ich war sofort hellwach und voller Energie. Trotz eines Spannungsgefühls, das sich in meiner Magengrube bemerkbar machte, fühlte ich mich stark und jeder Situation gewachsen. Ich bereute nichts. Ganz im Gegenteil. Niemand konnte sagen, dass ich nicht Herr und Meister dieser Sache war.

Ich stellte das Radio an. Die Nachrichten, die über Times-Sender kamen, betrafen Politik und nebensächliche Ereignisse. Sie sagten nichts über Roth. Ich schwang mich aus dem Bett.

Dann ging ich ins Badezimmer. Ich studierte das Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Es war unverändert, nur die grauen Augen schienen ein wenig dunkler als sonst. Von der zerfurchten Stirn abgesehen, war es ein hartes Gesicht. Straff zog sich die Haut über die Backenknochen. Das Kinn sah unrasiert noch härter aus, wenn nicht geradezu brutal. Ich rasierte mich und trat dann unter die Dusche. Das kalte Wasser, das mich umprasselte, tat wohl.