Sarah Bosetti, Andreas Scheffler, Volker Surmann (Hrsg.)

MIT EUCH
MÖCHTEN WIR
ALT WERDEN

30 Jahre Berliner Lesebühnen

DIESES BUCH WURDE ZUSAMMENGESTELLT VON:

Sarah Bosetti (geboren 1984) ist Kabarettistin, Autorin und radioeins-Kolumnistin. Sie liest bei den Couchpoetos, tourt mit ihrem Soloprogramm »Ich will doch nur mein Bestes« und veröffentlichte zuletzt »Ich bin sehr hübsch, das sieht man nur nicht so« (Rowohlt: 2018). Ihr erstes Buch »Wenn ich eine Frau wäre« erschien bei Satyr.

Andreas Scheffler wurde 1966 in Gütersloh geboren. Er gilt als einer der Väter der Berliner Lesebühnen und liest noch heute allsonntäglich beim Frühschoppen, 1989 gründete er die »Zeitschrift für komische Literatur Salbader, Belehrung und Erbauung« mit. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt »Alle spinnen. Ich stricke« (Satyr: 2017).

Volker Surmann (geboren 1972) ist Autor, Satiriker und Verleger des Satyr Verlags. Er veröffentlicht Romane, Kurzgeschichten und Anthologien, schreibt für Titanic, Siegessäule, die taz-Wahrheit und andere Printmedien und liest seit 2003 bei der Berliner Lesebühne Brauseboys. Zuletzt erschienen: »Bloßmenschen. Schöner schämen für alle« (Satyr: 2017).

E-Book-Ausgabe November 2018

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2018

www.satyr-verlag.de

Cover: Karsten Lampe

Korrektorat: Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-947106-15-8

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Berlin, du bist so sonderbar

Martin Betz: Gastlichkeit

Christian Ritter: Birgit und Berlin

Hans Duschke: Ich kenne einen in Oberschöneweide

Wladimir Kaminer: Was ist Berlin?

Frank Klötgen: 6 Berlin-Gedichte

Jürgen Witte: Wovon man in Berlin nur hinter vorgehaltener Hand spricht

Kapitel 2: Am Anfang war das Ich

Maschenka Tobe: Ein alter Hut oder Ein Text über die seltsame Kleinlichkeit großer Menschen

Milena Reinecke: Phänomen Grammarnazi

Andreas Kampa: Mittelgroß

Insa Kohler: Der Shopping-Fuchs mit der Siebenachtelhose

Aidin Halimi: Körperhaare

Andreas Gläser: Mein Zwölfjahresplan ist klar

Michael-André Werner: Ich will

Falko Hennig: Mir geht es gut

Manfred Maurenbrecher: Krank

Kapitel 3: In der Keimzelle des Staates

Susanne Riedel: Das Perlhuhn

Martin »Gotti« Gottschild: Mama, warum darf man keinen Teer essen?

Ivo Smolak: Liebe Katharina Saalfrank

Volker Surmann: Showdown am Kühlregal

Kirsten Fuchs: Elternabend

Michael Bittner: Katz und Maus

Bov Bjerg: Amok-Alarm

Thomas Manegold: The Hand That Feeds

Clint Lukas: Blut stinkt schlimmer als Wasser

Piet Weber: Der letzte Film

Kapitel 4: Hausgetier und andere Wesen

Daniel Hoth: Paul, der Dinosaurier

Chio Schuhmacher: Der neue Hund

Daniela Böhle: Hundesee

Marion Alexa Müller: Stars and Stripes

Marc-Uwe Kling: Die Hydra

Dan Richter: Der findige Kosak Sergej

Kapitel 5: Merkwürdige Begegnungen

Frank Sorge: Kann ja mal passieren

Dr. Seltsam: Geschichten aus dem Hinterhof

Andreas Scheffler: Wenn die Dienstleister kommen

Eva Mirasol: Not to do together when in a relationship

Sebastian Krämer: Heißblütiger Liebesbrief an die Englischlehrerin, dem Feuer überstellt

Elis: Ich dürste nach Rache (Ein Weihnachtsgedicht)

Ruth Herzberg: Schmerz und Schönheit sieht man nicht

Sarah Schmidt: In den Armen der Partykönigin

Wiglaf Droste: Als Partytester unterwegs

Meikel Neid: Einseitige Belastung

Robert Weber: Psychophysiognomie im urbanen Raum (10 Miniaturen)

Lea Streisand: Wie ich mal Telefonfrollein war

Mareike Barmeyer: Doktor Barmeyer

Stephan Serin: Eric-Rohmer-Zyklus (6 moralische Erzählungen)

Uli Hannemann: Perlen vor die Säue

Kapitel 6: Vom Privaten ins Politische

Sarah Bosetti: Alles Terroristen!

Andreas »Spider« Krenzke: Mein Ruck

Noah Klaus: Ein zynischer Vorschlag

Maik Martschinkowsky: Null zu Null

Bernard Lassahn: Deutschland, Deutschland, Balla Balla

Kapitel 7: Kampf mit den Dingen

Nils Heinrich: Der Drucker ist kaputt

Karsten Lampe: Bauhaus, wenn’s Wut werden muss

Hinark Husen: Mein Umpf-Nachbar

Tube: Stehende Wellen

Thilo Bock: Die Waage

Jochen Reinecke: Das Rad des Schicksals

Kapitel 8: Unterwegs

Sebastian Lehmann: An der roten Ampel

Robert Naumann: Wie ich mal beinahe verhaftet worden wäre

André Herrmann: Zigrette

Tilman Birr: Mitfahrgelegenheit of Hell

Volker Strübing: Kaffee ohne Hitler

Horst Evers: Was macht ihr eigentlich tagsüber?

Paul Bokowski: Warten auf Merlot

Kapitel 9: Kunst kommt von Nicht-anders-Können

Michael Stein: Ich bin ein Künstler. Eine Reflexion aus: Meine Höhepunkte 95/96

Ahne: Zwiegespräche mit Gott. Heute: Provokant

Robert Rescue: Heimatlos

Micha Ebeling: Wie mir mal fast was Peinliches passiert wär’

Konrad Endler: Einer muss ja brillieren. (Warum ich von meinen Kollegen bei den Surfpoeten so gemocht werde)

Jacinta Nandi: In der Zukunft

Heiko Werning: Ich glaube, ich bin ja eher Lesebühne als Poetry Slam

Jochen Schmidt: Am offenen Mikrofon

Johannes Krätschell: Valentinstag

Jakob Hein: Die geschätzt 100. Geschichte, die damit beginnt, dass es an meiner Wohnungstür klingelt

Klaus Nothnagel: Was gut war: Wir haben nicht gesungen

Die Berliner Lesebühnen

Vorwort

Besuchte man in den Achtzigerjahren eine Lesung, dann ging es meistens ernst zu. Man hatte sich vorher zu Hause noch einmal umgezogen, die Zähne geputzt, die Haare gerichtet, den Achselgeruch überprüft, und man war nüchtern. Während des Vortrags saß man in Reihen, hörte aufmerksam den sehr schwurbeligen Ausführungen über ein aus den Fugen geratenes Seelenleben, mit Anklängen aus verschiedenen Mythologien, zu; dies alles in einer sehr metaphernreichen Sprache und mit Redepausen, über die man lange nachdenken konnte. Die ganz Mutigen wagten sich in eine Lyriklesung und blieben auch noch bei der anschließenden Diskussion, in welcher die wortgewaltige Sprachlosigkeit beinahe satirische Ausmaße annahm.

Dann kamen – quasi parallel zum Zusammenbruch der innerdeutschen Grenze – die Lesebühnen auf. Was im Mai 1989 in Kreuzberg mit der Höhnenden Wochenschau begonnen hatte, setzte sich im Oktober 1990 mit Dr. Seltsams Frühschoppen in den Ruinen der DDR fort. Doch während hinter der Wochenschau die Idee von einem linken Feuilleton stand, einer radikalen und unzensierten Meinungsseite als Gegenentwurf zur bürgerlichen Presse, nur eben vorgelesen, gab der Frühschoppen schon beizeiten die satirische Parole »Der Alltag als Auftrag« heraus. Eine gerechtere Welt wurde zwar postuliert, aber selten mit der Knarre in der Hand, dafür meistens einem Grinsen im Gesicht. In Berlin-Mitte ging es los (1995 kam die Reformbühne Heim & Welt dazu), und schon nach einem Jahrzehnt wurde überall in Berlin öffentlich gelesen.

Wer auf einer Lesebühne etwas vortrug, stand zwar meistens vor einem mal mehr, mal weniger wohlwollenden Publikum, aber gleichzeitig saß er oder sie auch zwischen allen Stühlen, die die Gewohnheit über Generationen hin auf allen Bühnen platziert hatte. Ganz bewusst ging man in Kneipen und Clubs, der Vortrag geschah stets im Stehen, das Setting war die klare Abgrenzung von der klassischen Dichterlesung und näherte sich der Brettlkunst an.

»Nein! Wir sind kein Kabarett«, musste dem Publikum trotzdem immer wieder beigebracht werden. »Warum wir das nicht auswendig lernen? – Weil wir eine LESEbühne sind. Wenn wir das auswendig lernen würden, klänge das ja wie – auswendig gelernt.« Zwischen Kabarett und Dichterlesung klaffte eine große Lücke, in der sich die Lesebühnen nicht nur formal, sondern auch inhaltlich ausbreiteten. Und die Vielzahl der Charaktere begründete die große Bandbreite der Textarten und der Stile.

Neben alltagssprachlichen Bollertiraden finden sich genauso kunstvoll gedrechselte Hirngespinste; neben leichtsinniger Spaßkultur besteht die politische Aufklärungslust. Lesebühnentexte sind zutiefst subjektiv, meistens abgrundtief ehrlich, und sie finden so gut wie immer in der Ich-Perspektive statt. Oft entsteht der Eindruck, das soeben Gehörte so oder so ähnlich selbst schon mal erlebt zu haben. Durch das geschilderte Schimpfen, Kämpfen, Sich-Durchmogeln und Scheitern der oder des Vortragenden wird das Publikum in seiner eigenen Unzulänglichkeit witzig getröstet. So sind Bindungen zwischen Bühne und Zuhörerschaft entstanden, die es im Theater niemals geben kann. Die Älteren von uns begrüßen heute die Kinder des Publikums von einst zu ihren Vorstellungen.

Zugegeben, der erste Hype der Lesebühnen ist vorbei, der zweite vielleicht auch schon. Und auch einige langjährige Ensembles haben sich verabschiedet. Ins Kabarett wie das ehemalige Mittwochsfazit, das seit Jahren »nur« noch einen kabarettistischen Jahresrückblick bietet – vor über 17.000 Zuschauern pro Jahr. Oder in den Zustand gelegentlicher Reunions wie die legendäre Chaussee der Enthusiasten.

Wie bei jedem Hype bleibt aber etwas: nämlich ein Format, das sich festgesetzt hat in einer nach wie vor umtriebigen Szene, die sich im Kulturleben fest etabliert hat und wöchentlich oder monatlich ihr Publikum findet. Na gut, ein Publikum, das vielleicht etwas kleiner und älter geworden ist. Nennen wir es Qualitätspublikum.

Das junge Publikum muss – so ist es Brauch – neuen Hypes hinterherlaufen. So hat die Popularität von Poetry Slams den klassischen Lesebühnen sicher zugesetzt. Slam ist – vor allem für aktiv Schreibende – tatsächlich barrierefreier als eine Lesebühne, zumal die meisten Lesebühnen ihre »offenen Mikros«, bei denen Hinz und Kunz aus dem Publikum eigene Texte vorlesen konnten, abgeschafft haben.

Früher galt: Willst du vor Publikum vorlesen, dann such dir ein paar Gleichgesinnte und gründe eine Lesebühne. Heute heißt es: Geh zum nächsten Poetry Slam.

Aber dass auch aus dieser Szene heraus stetig neue Lesebühnen und neue Mischformen gegründet werden, spricht eher für das Format als für eine harte Konkurrenz. Zumal ja viele Mitwirkende durchaus erfolgreich und gern auf beiden Hochzeiten tanzen.

Klar ist: Wer bei einer Lesebühne mitmacht, muss familientauglich sein, denn ein Lesebühnenensemble kann zur literarischen Heimat für viele Jahre werden – mit allen Vor- und Nachteilen, die ein solches Familienleben mit sich bringen kann. (Da gibt es trinkfreudige Onkels, spinnerte Schwestern, Brüder in der Midlife-Krise, neurotische Mütter, Nachwuchs in der Pubertät, Zoff und Zickereien inbegriffen. Alles wie im richtigen Leben.)

Wir drei, die wir dieses Buch herausgeben, repräsentieren drei Generationen von Lesebühnen. In unserer Gesamtheit ist uns nichts fremd, aber im Einzelnen staunen wir gelegentlich, wenn wir über unseren Tellerrand hinausschauen. Das mag Ihnen, liebe Lesegesellschaft, ebenso gehen. In diesem Buch sind alle aktiven und emeritierten Lesebühnenkünstlerinnen und -künstler versammelt, die bereit waren, uns einen liebgewonnenen Text zur Verfügung zu stellen.

Angesichts der Vielzahl der für dieses Buch infrage kommenden Autorinnen und Autoren und der nach wie vor vorhandenen starken Dynamik in der Berliner Lesebühnenszene – noch immer gibt es regelmäßige Neugründungen, manche Bühnen finden nur wenige Male statt und verschwinden wieder, anderen gelingt es, sich zu etablieren –, haben wir uns entschlossen, irgendwo einen Strich zu ziehen, oder mehrere. Eingang in dieses Buch fanden Mitwirkende von Ensembles, die zum einen in der Tradition der satirisch-humoristischen Prosalesebühne stehen, und die es zum anderen zum Zeitpunkt, als wir mit der Zusammenstellung dieses Bandes begannen, schon mindestens ein Jahr lang kontinuierlich gab.

Die Zeit rast. Ein Buch währt ewig.

Wir hoffen, Sie haben beim Lesen mindestens so viel Spaß wie wir beim Zusammenstellen des Buches. Bleiben Sie gesund!

Sarah Bosetti, Andreas Scheffler, Volker Surmann
Berlin, im Herbst 2018

Kapitel 1

Berlin, du bist so sonderbar

Martin Betz

GASTLICHKEIT

Ich wohne in Berlin.

Es gibt andere Städte, auch dort wird gewohnt. Ob einer in Berlin wohnt oder woanders, macht keinen großen Unterschied. Nur einen kleinen.

Wer in Berlin wohnt, hält sich meist in Berlin auf. Wer woanders wohnt, hält sich meist in Berlin auf. Wer woanders wohnt, findet Berlin geil und kommt ständig zu Besuch. ’nen großen Unterschied macht das nicht, nur einen kleinen. Wer in Berlin wohnt, findet’s hier weniger geil. Ständig hat er Besuch.

Wer in Berlin wohnt, bekommt gar nicht mit, was in der Stadt vorgeht. Er ist zu Haus, die Diele wischen. Besuch hat sich angekündigt, da soll die Diele sauber sein.

Nun erscheint die Person, die zu Besuch kommt. Sie ist naturverbunden. Genauer, die Natur ist mit ihr verbunden. Drum bringt die Person, die zu Besuch kommt, etwas mit aus der Heimat. Unten an den Schuhen.

Leg doch ab!, sag ich zu der Person, die zu Besuch gekommen ist. Zu spät, ihre Schuhe haben bereits abgelegt. Dazu ist die Diele ja da.

Am nächsten Tag ist die Person, die zu Besuch kam, aufgebrochen in die geile Stadt. Ich wische die Diele. Wer in Berlin wohnt, kriegt gar nichts mit von der Stadt. Die Person, die zu Besuch gekommen ist, kriegt einiges mit, unten an den Schuhen. Nun kehrt sie zurück. Wer in Berlin wohnt, verbringt viel Zeit in der Diele.

Ich hab aufgeräumt. Das Nutella-Glas, die Bratpfanne, der Gummibaum sind auf den Müll geflogen. Steril glänzt die Wohnung, man hätt’ eine Herztransplantation durchführen können – in den Sekunden zwischen Putzwasser-Wegschütten und dem Eintreffen der Person, die zu Besuch ist. Nun ist sie da. Mein Herz träumt von Transplantation.

Auf dem Schreibtisch finden sich ein unausgepackter Rucksack und ein ausgepackter, fünf Ansichtskarten, siebzehn Briefmarken, das kostenlose Faltblatt der Komischen Oper, ein halb entfalteter Stadtplan, eine Flasche Kontaktlinseneinlegemittel, das kostenlose Faltblatt vom Babylon-Kino Mitte, drei entfaltete Liniennetzpläne der Berliner Verkehrsbetriebe, ein Fotoapparat, drei Fanta-Dosen, ein Opernglas, das kostenlose Faltblatt des Wachsfigurenkabinetts, 27 Gramm unausgepackte Mentholkräuterbonbons und drei ausgepackte. Auf dem Badewannenrand finden sich eine Tüte Schokokekse, die Süddeutsche Zeitung von vorgestern, drei halb entfaltete Liniennetzpläne der Berliner Verkehrsbetriebe, das kostenlose Faltblatt vom Bröhan-Museum und vierzehn Mentholkräuterbonbons. Auf dem Kissen befindet sich eine unausgepackte Tüte türkischer Kekse mit Marmelade, unter der Decke eine ausgepackte. Im Spülbecken befinden sich ein iPod, vier Fruchtzwerge, ein Organspendeausweis, das kostenlose Faltblatt vom Bröhan-Museum und zwei Mentholkräuterbonbons. Sie fallen kaum auf neben dem, was sich auf dem Küchentisch befindet, auf dem Fensterbrett und auf dem Klavier.

Die Person, die zu Besuch kam, ist bescheiden. Macht nichts, dass nicht aufgeräumt ist, sagt sie. Auch Luxus braucht sie keinen. Die Mentholbonbons ess ich nicht mehr, sagt sie. Alle für dich. Die Kekse auch.

Wenn man zurückkehrt von etwas, was man geil findet, ist man müde. Die Person, die mich besucht, legt die Beine hoch. Träumerisch blickt sie zur Decke und sagt: Könnt’ man mal gemütlich machen, deine Wohnung.

Sie fühlt sich wohl.

Eine Katze, die sich wohlfühlt, schnurrt. Wer zu Besuch kommt und sich wohlfühlt, meckert. Wieso, sinniert die Person, die zu Besuch ist, hast du keine Bratpfanne? Nutella ist auch keins da! Einen Gummibaum wenigstens könntest du dir gönnen. Ihr sei unbegreiflich, wie ich mich in dieser Wohnung wohlfühlen könne, sagt die Person, die sich wohlfühlt.

Anderntags, während ich Nutella und eine Bratpfanne besorge, erinnert sich die Person, die zu Besuch gekommen ist, an meine Vorliebe fürs Sterile. Als ich heimkomme, stell ich fest: Meine Lieblingssandalen, meine Lieblingsteekanne und meine Lieblingsdateien auf dem Computer hat sie weggeschmissen. Auch wenn man zu Besuch ist, kann man etwas Hausarbeit übernehmen, findet die Person, die zu Besuch ist.

Eins kann sie nicht verstehen: dass jemand, der in einer so geilen Stadt wohnt, so viel zu Hause ist. Du kriegst ja gar nicht mit, was in der Stadt vorgeht!, mault sie. Und bringt die kostenlosen Faltblätter vom Liebermann-Haus mit, vom Museum der DDR und von der erotischen Varietéshow im Flughafen Tempelhof. Alles für mich! Die Person, die mich besucht, ist ja nur zu Besuch und hat nicht die Zeit, alles zu besichtigen. Aber ich, ich wohne ja hier!

Gleich nachdem die Person, die mich besucht hat, abgereist ist, ruft sie mich an. Ihr Opernglas hat sie liegen lassen bei mir, ihre Mundspülungslösung und die Ansichtskarten. Ob ich ein Paket schicken könne? Ich schicke ein Paket. Leider schafft es die Person, die mich besucht hat, nicht mehr, das Paket entgegenzunehmen. Ihr Zug geht, sie kommt Berlin besuchen!

Wochen später merke ich: Die Person, die mich besucht, hat wieder was liegen lassen. Haare, ihre rechte Hand, ihr linkes Bein und noch einiges mehr. Ich stelle fest: Die Person, die mich besucht hat, ist gar nicht abgereist!

Fünf Jahre später. Gerade hab ich das Wischen der Diele beendet, tret ich ins Zimmer, wo die Person, die zu Besuch kam, träumerisch zur Decke blickt und an ihrem Ehering dreht.

Wie, sag ich, du bist verheiratet?

Ja, sagt sie. Mit dir!

Ah, sag ich überrascht.

Seit dreieinhalb Jahren!, sagt sie.

Siehst du, sag ich. Ich bekomm gar nicht mit, was in der Stadt vorgeht.

Martin Betz wurde 2005 zur Lesebühne Die Überflüssige dazuberufen und half, sie noch im selben Jahr zu beerdigen. Hat 2006 die Dienstagspropheten mitbegründet und ist dort vorerst noch geduldet.

Christian Ritter

BIRGIT UND BERLIN

Ich kam zu spät. Zwanzig Minuten zu spät.

Birgit war pünktlich in Berlin angekommen, und statt meinen Vorgaben Folge zu leisten, die in etwa wortwörtlich genau so gelautet haben: »Wenn du aus dem Zug steigst, dann bleib auf dem Gleis stehen, bis ich dich abhole. Beweg dich nicht! Lass dich bloß nicht von irgendwem anquatschen! Unterschreib nichts, schließ kein Zeitschriftenabo ab, bleib einfach stehen und warte!«, hat sie sich auf eigene Faust in Gefahr und zwei Schritte aus dem Hauptbahnhof heraus auf den Europaplatz begeben.

Dort stand sie noch immer, als ich sie fand. Einen ganzen Stapel Obdachlosenzeitschriften auf dem Arm und in freudiger Konversation mit einem zerlausten Typen samt Hund, dem sie gerade einen Schein in die Hand drückte. Als sie mich sah, freute sie sich, und ihr Gesprächspartner war ganz schnell verschwunden.

»Was hast du dem denn gegeben?«, fragte ich.

»Zwanzig Euro. Für Hundefutter, das braucht er, hat er gesagt.«

»Wieso denn gleich zwanzig Euro?«

»Na, er hat mich gefragt, und ich hatte es nicht kleiner, weil ich von meinem Kleingeld die Zeitungen hier gekauft hab. Die Leute waren alle sehr nett. Und du weißt doch, dass ich so schlecht Nein sagen kann.«

»Ja, ich weiß. Deshalb hab ich dir ja auch gesagt … Ach, is’ ja egal.«

Es war Birgits erster Besuch in Berlin. Was uns verbindet, sind unsere ländlichen Wurzeln irgendwo im Süden Deutschlands. Wir kommen vom selben Dorf, in dem in etwa so viele Leute wohnen, wie zum Zeitpunkt unseres Treffens im Hauptbahnhof waren. Auf der untersten Etage. Auf Gleis 4. Wo gerade kein Zug ankam.

Ich sah es als meine Aufgabe an, Birgit bis zu ihrer Abreise davor zu bewahren, ihre gesamten Ersparnisse in der Stadt zu verteilen, sozusagen ihren privaten Länderfinanzausgleich ein wenig einzudämmen. Birgit war schon immer leicht zu beeindrucken und auch immer sehr offenherzig und freigiebig. Zum Beispiel war sie bei unseren Feten in Jugendjahren immer die Erste, die auf Bitte eines besoffenen Männerchors ihre Brüste auf den Tisch geknallt hat. (Kommt Ihnen das komisch vor? Besuchen Sie öfter mal Feuerwehrfeste auf dem Land!) Die Sache mit den Brüsten macht sie heute vermutlich nicht mehr, aber wer bin ich, um das zu bewerten oder wissen zu können?

Wir nahmen eine S-Bahn zum Hackeschen Markt, in der wir lediglich zweimal angeschnorrt wurden. Da es Birgit so peinlich war, über kein Bargeld mehr zu verfügen, kramte sie – meine stetigen Ermahnungen ignorierend – in ihrem Trekkingrucksack nach Entbehrbarem und fand eine Banane und eine Pfandflasche, die sie verschenkte. Da die Flasche noch ungeöffnet war, verschenkte sie genau genommen eine Cola Zero.

»Birgit, du musst deine Freigiebigkeit wirklich ein bisschen unter Kontrolle bekommen«, sagte ich, als wir den S-Bahnhof verließen.

»Ja, klar hab ich Zigaretten«, gab sie zur Antwort, die nicht mir galt, sondern einem Jungen mit drei Haarfarben und zwei Ratten auf den Schultern.

»Kann ich noch eine für meine Freundin?«, fragte er.

»Hmm«, überlegte Birgit, »na gut. Ich rauch ja eh nicht. Hab die mir nur vorhin geholt, weil mich so viele Leute gefragt haben und ich denen nie welche geben konnte.«

»Ach, kann ich dann vielleicht die ganze Schachtel?«

»Jetzt is’ aber mal gut, Freundchen«, ging ich dazwischen. »Wir müssen heute noch sehr vielen anderen Leuten Zigaretten geben.«

Auf unserem kurzen Weg zeigte ich Birgit ein lustiges Video auf meinem Telefon, um äußere Reize bestmöglich abzuschalten, schon waren wir auf der Wiese gegenüber der Museumsinsel angekommen, wo wir touristenlike abzuchillen gedachten. Ich schaute für ein paar Sekunden verträumt einem der Ausflugsschiffe hinterher. Als ich mich wieder Birgit zuwandte, gab es Neuigkeiten.

»Christian, das hier ist Jamal. Wir müssen ihm helfen. Seine Mutter lebt in Eritrea. Sie ist schwer krank, augenkrank, und kann ihn nur sehr schlecht erkennen, wenn sie videochatten. Deshalb braucht Jamal dringend ein iPhone X mit einer hochauflösenden Frontkamera. Und damit er sich das endlich leisten kann, solltest du ihm jetzt zehn Gramm Kokain abkaufen. Bitte!«

»Jamal«, ein rothaariger, blasser Junge mit Sommersprossen, zuckte entschuldigend die Schultern. So ist es halt, signalisierte er. Bisher hat mir keiner lang genug zugehört, damit ich meine tragische Geschichte zu Ende erzählen konnte. Jetzt ist es passiert, und wir müssen den Handel wohl durchziehen.

Empört über seine Chuzpe fragte ich: »Sag ma’: Wie viel soll’n das kosten?«

Seine Antwort: »Ick kann dir da ’n juten Preis machen. Tausendfünfhundert.«

»Was? Das ist zweieinhalbmal so viel wie der übliche Marktpreis.«

»Woher weißt du denn so was?«, fragte Birgit.

»Das weiß man halt, wenn man hier wohnt. Hörensagen.«

»Na, wenn das der Pfarrer wüsste«, sagte sie. Eine beliebte Redewendung in unserem Dorf.

»Das Problem ist aber eher«, fuhr ich fort, »dass ich dir die Geschichte mit deiner Mutter nicht so ganz abkaufe, Jamal.«

»Willst du etwa behaupten, ick lüge?«

»Na ja, du siehst auch zum Beispiel nicht ganz so aus, als würdest du aus Eritrea kommen.«

»Det is ja rassistisch. Ick bin Albino-Afrikaner! Und außerdem: Wir können gern meine Mutter anrufen. Wollten sowieso noch skypen.«

»Oh ja, das machen wir«, entschied Birgit.

Jamal drückte mir sein Telefon in die Hand, innerhalb weniger Sekunden stand die Videoverbindung. Auf dem Display erschien eine sehr breiige, sehr weiße, auch irgendwie sehr deutsch anmutende Frau in Kittelschürze, die in einem großen Kochtopf Kartoffelpüree rührte und uns, ohne aufzusehen, begrüßte.

»Wat willste schon wieder?«

»Ähm, ihr Sohn meinte, dass …«

»Jajaja, ick weeß schon. Ick bin eine alte, kranke Frau aus Nigeria, ick hab Augenkrebs und will meinen Sohn Jesus besser sehen, stimmt allet. Also geben Sie ihm dit Geld, ja?«

»Für eine afrikanische Frau reden Sie aber gut Deutsch.«

»Danke für die Blum’n. Von nüscht kommt nüscht.«

»Sagen Sie mal, da hinter Ihnen, da ist doch ein Fenster. Kann es sein, dass ich da draußen den Fernsehturm sehe?«

»Jetzt sein Se ma’ nich’ so eurozentristisch, junger Mann. Gloobm Se, hier in Afrika ham wa keene Fernsehtürme?«

»Der sieht aber schon sehr nach dem Berliner Fernsehturm aus.«

»Dit is’ selektive Wahrnehmung. Sie müssen ma ’n bisschen in der Welt rumkommen! Fernsehtürme sehen alle so aus.«

»Mit ’ner Kugel oben?«

»Mit was’n sonst? Mit ’ner Pyramide oder wat?«

»Ja gut, Frau, äh … «

»Schulze … äh, Schulzenoglu.«

»Frau Schulzenoglu, dann danke ich herzlich für das Gespräch.«

»Keene Ursache. Und sagen Se dem Jungen, er soll gleich heimkommen, sonst wird dit Essen kalt … äääh, ick meine: Er soll mir ma’ wieder ’ne Postkarte schicken, hierher nach Afrika … Ach, wat soll der ganze Zirkus? Kaufen Se ihm einfach dit Koks ab!«

Anruf beendet. Als ich wieder aufschaute, bemerkte ich eine gewisse Veränderung.

»Ähm, Jamal, hast du gesehen, wo Birgit hin ist?«

»Ja, die war am Bankautomat, um dit Geld fürs Koks zu holen. Jetzt steht se da bei der Mariachi-Band und tanzt und verteilt Zigaretten und 10-Euro-Scheine.«

»Oh, das wird ’ne Weile dauern.«

»Ach weeßte, du bist mir ganz sympathisch eigentlich. Soll ick dir ’n Geheimnis verraten?«

»Lass mich raten: Du heißt gar nicht Jamal, deine Mutter wohnt gar nicht in Afrika, und das Koks, das du verkaufst, ist eigentlich Aspirin?«

»Nee, Traubenzucker.«

»Hm. Und was machen wir jetzt?«

»Na ja, Mutter wohnt da drüben. Essen is’ fertig, haste ja gehört. Gute Hausmannskost … Fuffzich Euro pro Person.«

»Na, das klingt doch nach ’nem fairen Angebot.«

Christian Ritter, geboren 1983, liest seit 2016 beim Zentralkomitee Deluxe.

Hans Duschke

ICH KENHE EINEN IN OBERSCHÖNEWEIDE

Ich komme aus Karlshorst, einem Teil von Lichtenberg, aber Richtung Köpenick. Wir nennen uns selbst das »Zehlendorf des Ostens«.

Kaum ein Stadtteil hat die Gentrifizierung so mit offenen Armen willkommen geheißen wie Karlshorst. Denn eigentlich, ursprünglich hatte der Vergleich mit Zehlendorf ja folgende Bedeutung: »Da, wo die Siegermächte eingezogen waren, wo ganze Straßenzüge abgesperrt blieben.« … Inzwischen – wie gesagt – umarmen die Karlshorster die Gentrifizierung. Magnetisch werden gut verdienende Familien von den kleinen Häuschen mit Garten angezogen. Alle Baulücken werden zeitnah geschlossen.

Oberschöneweide dagegen ist etwas anderes: Hier hatten die Nazis ihr bestes Wahlergebnis; hier haben vor ’89 die Arbeiter gewohnt, deren Arbeit nach ’89 abgewickelt wurde. »Oberschweineöde« war damals – und ist bis heute – der Spitzname dieses Stadtteils.

Da wird wohl was dran sein.

Und doch: Man braucht bloß eine (!) Hauptstraße zu überqueren, und man ist von Oberschweineöde im Zehlendorf des Ostens. Oder umgekehrt.

Gemeinsam haben wir den REWE-Markt, der sich mit dem Aldi und dem Takko den Parkplatz teilt und genau auf der Grenze steht. Da trifft man sie, die Menschen aus Oberschöneweide, die blond Gefärbten, die Hartz-IV-Trinker, die Tätowierten, die Kleingärtner, die jungen Eltern – gern auch mit mehr als einem Kind –, die Flaschenpfandsammler, Motz-Verkäufer. Am Samstagnachmittag trifft sich hier der Kiez. (Gleichzeitig trifft sich übrigens der Karlshorster Kiez, wenn es denn so etwas gibt, auf einen fairen, gluten- und laktosefreien Milchkaffee in Denn’s Bio-Supermarkt.)

Mich kann man dort nicht treffen: Ich komm aus dem Aldi, neben dem REWE, ich mische mich unters Volk; ich habe asiatische Fertiggerichte gekauft, die gibt’s gerade auf der Sonderverkaufsfläche. – Ich liebe, wenn ich mal kurz abschweifen darf, die Sonderverkaufsflächen bei Aldi und bei Lidl. Jede Woche eine neue Welt, da fühl ich mich als Konsument angenehm gekitzelt. Da denk ich immer: Da hat sich wirklich jemand mal überlegt, was ich gerne hätte. Und zu welchem Preis. Sich mal echt Gedanken gemacht, und siehe da: Asiatische Fertiggerichte und Hühnchensteaks trage ich aus dem Aldi-Markt. 8,12 Euro. Alles so schön günstig.

Kaum aus der Tür, auf dem Parkplatz, spricht mich jemand an: Hallo, Hans, bist du das? Ihr spielt doch jetzt im Schlot, oder? – Jaja, lächle ich automatisch. – Er wolle mal wieder vorbeikommen … – Schön. – Ich würde mich bestimmt erinnern, er wäre damals mit Kerstin zusammen gewesen, ich hätte doch auch mal was mit Kerstin gehabt … – Ich lache, winke ab, das ist schon so lange her … – Ja, er müsse unbedingt mal wieder vorbeikommen. Und er fragt, ob bei uns immer noch geraucht wird. – Kerstin?, überlege ich, Kerstin? – Nein, schon lange nicht mehr, nur ich rauche noch. – Natürlich, natürlich, antwortet er gut gelaunt. – Ich hätte doch damals auch was mit Kerstin gehabt, wiederholt er noch mal ihren Namen. Hat er seinen genannt? Wahrscheinlich.

Namen waren noch nie meine Stärke. Er steht vor seinem Auto, war gerade dabei einzuladen, als er mich sah und erkannte. Ein sogenannter Hochdachkombi, ein ursprünglich als kleiner Lieferwagen gebautes Auto, in das man Fenster und Bänke eingebaut hat, um es an Familien zu verkaufen. Der Mann war etwa in meinem Alter, weniger Haare. In unserem Alter neigt die Figur bei Männern zum Eiförmigen; das war, fand ich, bei ihm ausgeprägter.

Aus irgendwelchen Gründen halte ich mich oft für attraktiver. Ob’s stimmt? Ich bezweifel es mittlerweile, ehrlich gesagt. Und wer ist er überhaupt? Klingelt’s da irgendwo? Nein, da klingelt gar nichts. Das kenn ich schon. »Kopfleere« haben wir das früher genannt. Was zum Beispiel auch in Homer Simpsons Kopf stattfindet, jetzt auch bei mir. Ich beuge mich ins Auto, um Hallo zu sagen. – Hallo. – Eine Frau in meinem Alter, vielleicht älter, sitzt wartend auf dem Beifahrersitz, die Rückbank ist beladen: Hallo. – Das sei nicht Kerstin, erklärt er mir, mit der er damals zusammen war und ich ja auch mal was hatte. Sie ist peinlich berührt, ich auch.

Ich verabschiede mich, häusliche Pflichten vortäuschend.

Seitdem grüble ich: Wer war Kathrin? Oder Kerstin? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Mit wem »hatte ich denn mal was«? – Die Zahl ist doch überschaubar … Ich hab jetzt einen Nachbarn in Oberschöneweide, der mich von früher kennt, aber ich weiß nicht, wie er heißt; ich weiß nur, dass er mal mit Katja zusammen war, als beim Frühschoppen noch geraucht wurde.

Hans Duschke, geboren 1964, liest seit 1990 beim Frühschoppen. Mitglied der Reformbühne Heim & Welt (1995–1999).

Wladimir Kaminer

WAS IST BERLIN?

Touristen bilden die Mehrheit in Berlin. Jedes Mal wenn ich von meinen Reisen zurückkomme, staune ich am meisten über meine eigene Straße. Alle Menschen sehen hier wie Touristen aus, viele tragen Rucksäcke, Koffer, oder sie sind auf Fahrradtour, manche werden mit großen Reisebussen herumgefahren, sie gehen im Mauerpark spazieren und starren dort andere Touristen an, von denen sie glauben, es seien echte Berliner. Mich starren sie ebenfalls an, als wäre ich ein seltener Vogel, eine blaue Ente. Vielleicht haben sie meine Bücher gelesen, vielleicht ist es nur Paranoia. Überall in der Stadt höre ich die russische Sprache. Im vorigen Jahrhundert retteten sich viele Russen vor der Revolution ins Exil, Berlin war ein begehrtes Reiseziel. Die meisten Dichter und Denker siedelten sich in Charlottenburg und Tiergarten an. Eine Menge berühmte Bücher russischer Autoren entstanden hier. Mein Lieblingsbuch aus dieser Zeit heißt »Zoo oder Briefe nicht über die Liebe«. Sein Autor lebte in Berlin in der Nähe vom Zoo, er konnte nachts nicht schlafen, weil die Elefanten in ihrem Gehege zu laut schnarchten und nachtaktive Vögel schrien. »Wir sitzen wie seltene Tiere im Berliner Gehege, fest im goldenen Käfig des Auslands, aber unsere Gedanken sind in der Heimat«, schrieb er. Bald darauf gingen er und andere Künstler zurück in die Sowjetunion, die meisten wurden verhaftet, der Autor der Zoogeschichte überlebte Stalin, und beinahe überlebte er die Sowjetunion, so steinalt wurde er. Das Buch ist bald hundert Jahre alt.

Berlin bleibt ein Zoo, in dem exotische Tiere in Käfigen sitzen, dieser Vergleich passt heute besser denn je. Man kann allein auf unserer Straße die ganze Welt kennenlernen: Vietnamesen, Mongolen, Türken, Kroaten, Amerikaner und Schwaben haben hier ihre Läden, beinahe täglich entstehen neue Käfige dazu. Zum Teil deckt sich die Migration mit der aktuellen deutschen Statistik der Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern. Im Winter hat bei uns in einer pleite gegangenen Fahrschule ein neues Geschäft aufgemacht: »Schönes aus Syrien«. Nach dem Sortiment des Ladens zu urteilen, gibt es in Syrien nicht viel Schönes: Breite Frauenhosen in orientalischen Farben und ein paar Wasserpfeifen.

Die Kopftuchfrauen aus Tschetschenien haben bei uns zwischen dem Inder und dem Kroaten ein »Russisches Spezialitäten«-Geschäft eröffnet, sie kochen Borschtsch, backen Kuchen und Teigtaschen. Die Vietnamesen liefern einander Konkurrenzkämpfe. Aber weil es bereits mehrere vietnamesische Schnellrestaurants in der Gegend gibt, haben sie es auch schon mit mexikanischer Küche versucht. Sie haben sich große Hüte besorgt und einen Kaktus ans Fenster gemalt. Doch die gleichen Bürger, die gern bei den Vietnamesen aßen, als sie noch vietnamesisch waren, misstrauten ihnen als Mexikaner, der Kaktus steht leer. Der politischen Lage nach zu urteilen, werden demnächst wahrscheinlich die Ukrainer mit ihren Spezialitäten bei uns aufkreuzen. Gleichzeitig reißt die innerdeutsche Migration nach Berlin nicht ab. Alle Jugendlichen, die in ihren kleinen Provinznestern eigene Vorstellungen vom richtigen Leben nicht realisieren können, gehen in die Hauptstadt. Wenn ich irgendwo in Pforzheim, Telgte oder Cloppenburg auf meinen Lesereisen über Berlin berichte, kommen am Schluss fast immer ältere Leute aus dem Publikum zu mir und sagen, ich solle ihre Kinder grüßen, denn diese wohnen ebenfalls in Berlin – etwa an derselben Ecke wie ich. Dabei berichte ich auf Lesungen eigentlich stets von verschiedenen Standorten, ich bin inzwischen achtmal in Berlin umgezogen, doch die Kinder von diesen Menschen ziehen anscheinend immer mit mir um. Ob im musikalischen Bayreuth oder im chronisch erkälteten Flensburg, in Köln oder Stuttgart, sogar in Paderborn haben sie Kinder in Berlin oder hatten früher welche. Manchmal denke ich: Vielleicht sind diese Kinder gar nicht freiwillig nach Berlin gezogen?

Vielleicht sind die meisten Kinder Deutschlands aus ihren Elternhäusern nach Berlin verbannt worden, damit sie hier in der aufregenden Atmosphäre einer Großstadt ihre in die Überlänge gekommene Pubertät ausleben können. Denn in Wirklichkeit ist Berlin eine Kindertagesstätte!

Dadurch erklärte sich diese ganze unglaublich kindersichere Berlinausstattung: die ungeheure Anzahl von Eisdielen, die Vielfalt der Eissorten, Spielzeugläden mit Schwerpunkt Computerspiele, McDonald’s-Filialen, Milchshakeausgabestellen, Diskotheken, Maschinenschnittfriseure und ähnlichen Einrichtungen der Kinderbetreuung. Die Verbannung der Kinder aus der Provinz in die Hauptstadt soll helfen, andere Städte Deutschlands sauber und gepflegt zu halten. Den Eltern und Stadtverwaltungen werden auf diese Weise viel Stress, viele Demos und viel Graffiti erspart. Offiziell gehen diese Kinder nach Berlin nicht einfach so, sondern angeblich um etwas Wichtiges zu studieren und später mit ihrem an der Uni erworbenen Wissen das Leben in ihren Heimatstädten besser beziehungsweise fortschrittlicher zu gestalten. Doch die meisten werden von ihren Eltern nicht mehr abgeholt. Fast alle Männer über vierzig zum Beispiel, die in Berlin leben, wurden von ihren Eltern hiergelassen und nicht abgeholt. Sie irren lange durch die Gegend, irgendwann ist ihnen die Berliner Geografie gut vertraut. Sie werden Taxifahrer, zumindest die meisten von ihnen. Bei sonnigem Wetter sitzen diese zurückgelassenen Kinder in Cafés, schlürfen Milchshakes und Bier und bilden sich weiter durch konzentrierte Straßenbeobachtung. Mit fünfzig Jahren gründen sie Familien und krabbeln gern als »junge Väter« mit ihren Babys in den Sandkästen der Stadt herum, als wäre Berlin ein Kindergarten.

Im Ausland dagegen hat Berlin den Ruf einer Partystadt, dort glaubt man, Berlin sei eine Kneipe.

In jeder Metropole der Welt gibt es ein cooles Café, das »Berlin« heißt. Ich bin mit meiner Tanzveranstaltung »Russendisko« oft im Ausland unterwegs, um dort Werbung für deutsche Kultur zu machen. Fast immer findet unsere Disko in einer solchen Kneipe statt. In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul bei der Russendisko im Café Berlin klebten die Koreaner buchstäblich an der Decke vor Tanzwut. Sie zeigten sich alles andere als schüchtern. Die Koreaner schmissen sich gleich zu Beginn auf die Tanzfläche und wollten nicht aufhören zu tanzen. So hart haben bis jetzt nur die Belgrader Serben bei uns getanzt, aber die Serben hatten davor ziemlich viel getrunken und hielten deswegen nicht lange durch. In Australien, in Melbourne, war das Café Berlin eine große Attraktion mit Sauerkraut, Wurst und Fotos von der Deutschen Einheit an den Wänden. Außerdem war der Club in der Mitte mit Stacheldraht in Ost- und Westberlin geteilt. Ostberlin diente als eine Raucherecke, dort war es halb dunkel, und überall standen große Aschenbecher. Der Westen wirkte rauchfrei, aufgeräumt und hatte plüschige Sessel, aus denen man, einmal hingesetzt, nicht mehr aus eigener Kraft herauskam. Zwischen beiden Bereichen stand ein Wachposten, ein übertrainierter chinesischer Muskelprotz. Der Westen war bequemer, der Osten lauter. Wir legten im Osten Musik auf, das Publikum gruppierte sich anfangs mehr im Westen, misstrauisch auf den Stacheldraht schielend. Nach und nach, als die Stimmung stieg, zogen die Gäste aber nach Ostberlin, irgendwann gegen Mitternacht sah der Westen völlig leer und verwahrlost aus, der Osten dagegen rauchte und boomte. Obwohl unsere Disko bereits um 23 Uhr zu Ende sein sollte, tanzten wir bis drei Uhr nachts. Das nächste Café Berlin, das uns eingeladen hat, befindet sich, nebenbei gesagt, in Israel.

Was ist dieses Berlin nun wirklich, was verbindet einen Zoo, einen Kindergarten und eine Kneipe? – Berlin ist ein Treffpunkt, hier prallen Kulturen und Lebensarten aufeinander, Menschen lernen einander kennen, neue Bündnisse entstehen, die Stadt ist eine Einladung zum Dialog. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung des Gesprächs.

Wladimir Kaminer, Jahrgang 1967, las von 1999 bis 2003 bei der Reformbühne Heim & Welt.

Frank Klötgen

6 BERLIN-GEDICHTE

1.

Die Faibles von Berlin

Westbalin is’ J.F.K., schnodderige Hetze

Ostberlin – si asser way – chillt sich schick im Jetze

Mitte ruft: Mir sind doch eens!

Mit verschämtem Schwäbeln

So ham alle drei Berlins

Jedes seene Faiblen

2.

Berlin ist Baalin

Berlin ist Baalin

Und autobrutal

Schonungslos wie wohnungslos

In Baustellenmarter entartet, zumal

Die Nistplätze der Niedlichkeit

Geplündert wurden mit der Zeit

Berlin ist Baalin

Und in ständigem Groll

Aber wenn grad nichts wehtut

Dann find ich’s hier toll!

3.

Berlin, kulinarisch

Buletten aus Charlottenburg

Tea to go in Tegel

Dönerwerk aus Schöneberg

Für die Blagen Bagel

Prenzelberger Brezelbackwar’n

Spanferkel aus Spandau

Pankows Pfanne heißt jetzt Wok

Nichts, was ich nicht ankau!

Von frischen Hai’n in Friedrichshain

War ja schon zu lesen

Selbst für Nockerln aus Neukölln

Lockern wir die Spesen

Was allzu unverdaulich – sprich:

»Iss das ma’ selbst – ich trau mir nich’!«

Verklappen wir als »Berlin-Food«

’nem Easyjetset-Tunichtgut

4.

Krankram an der Warschauer

Ey, Berlin, wat wird’n ditte –

Bauste dir ’ne neue Mitte?

Noch ma’ eene Innenstadt

Klotzte uns hier hin? Sach, wat

Wird’n ditte, jetz ma’ echt?!

Ach, ’ne Mall? Okay. Nich’ schlecht …

Halt zum x-ten Mal ’ne Mall

X-beliebt bei Jung und Aal

Nix für unjut – der Passion

Frönste ja seit Jahren schon

Mag sein, Berlin wird sich aus Freude am Bauen

In eenem Jebäude mal selber verstauen

5.

Berlin vermag

Berlin vermag

An einem Tag

Den Charme einer Pangalaxie zu verlieren

Kann im Großen und Ganzen

Verstoßen

Verranzen

Verstörend den Rest alter Gunst infiltrieren

Doch sogleich

Kann’s butterweich

Flüstern: »Hab dir jrad verlor’n, wa?

Bis’ mir so een kleener Zornja …!

Willste mir keen Lächeln borgen?

Krisst ooch wieda. Übermorgen.«

6.

Die Nachtigallen von Berlin

Die Nachtigallen von Berlin

Zwitschern uns zu, dass der Tag weiter anhält –

Beim Einsam-um-die-Häuser-Zieh’n –

Und dass auch für dich ein Minütchen noch abfällt.

Noch sind die Würfel nicht gefallen,

Noch reift der Ruf der Nachtigallen,

Noch bleibt uns das fehlende Stück zum Ruin –

So singen die Vögel des Nachts in Berlin.

Frank Klötgen, Jahrgang 1968, las beim Berliner Wald (2006–2010) und ist Gründungsmitglied von Spree vom Weizen (seit 2011).