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Holger B. Berndt

Alles für’n Appel und’n Ei

Erzählungen

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© 2018 Holger B. Berndt

Umschlag, Illustration: Gabriele Müller-Hollenhorst

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN  
Paperback: 978-3-7469-3634-5
Hardcover: 978-3-7469-3635-2
e-Book: 978-3-7469-3636-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Holger B. Berndt wurde 1953 in Jena geboren und beendete nach der Schule ein Ingenieurstudium. Danach arbeitete er viele Jahre als Programmierer. Mit dem Schreiben begann er erst nach einem Beinbruch, als es ihm schwer fiel, das Haus zu verlassen.

Für Gabriele

Holger B. Berndt

Alles für ‘n Appel und ‘n Ei

ERZÄHLUNGEN

Bruno, der „Ich-Erzähler“, begegnet Menschen unterschiedlichster Couleur, Individualisten, mit ganz spezifischen Charakteren. Ihre Eigenarten sind das Salz in der Suppe und machen seine Geschichten so interessant und liebenswert. Über einige Episoden muss man zwangläufig schmunzeln, andere wiederum machen betroffen.

Bruno ist ein guter Zuhörer, wenn auch nicht immer freiwillig. So erzählt er, wie ein scheinbar Ausgeflippter Charisma demonstriert, wie eine ältere Dame sich von allen Zwängen befreit und wie sich ein bekennender Narzisst wegen notorischem Aufmerksamkeitsdefizit zum Gespött macht. Er schildert die Begegnung mit einem Eigenbrötler, dem Eigenschaften wie Geiz und krankhafte Sparsamkeit nachgesagt werden. Oder ist es nur der Mangel an Gelegenheiten, der sich für die Schaffung einer besseren Lebensqualität verantwortlich zeigt?

Bruno beobachtet, ist in den Geschichten selbst mittendrin und erzählt auf eine lockere Art. Alle Episoden basieren auf einem wahren Hintergrund und so mancher wird sich in der einen oder anderen Figur wiederfinden. Alle Namen sind natürlich frei erfunden und wären mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Aali, der Hippie

Der Knauser

Alles für’n Appel und’n Ei

Ein Poet

Guckeliguck und ein wahrlich kluges Gambit

Der Aussteiger

Holger B. Berndt

Alles für ‘n Appel und ‘n Ei

Erzählungen

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Aali, der Hippie

Als hätte ich es geahnt – die Airlines specken allesamt ab!

Schon bei meiner letzten Flugreise gab es ohne Aufpreis keine Verpflegung und der Service der Flugbegleiter beschränkte sich nur noch auf das Wesentliche. Das war, wie schon gesagt, bei meinem letzten Flug so, darauf hatte ich mich seither zwangsläufig eingestellt. Aber wenn ich beim Check-in einen Fensterplatz über den Tragflächen buchen möchte, also gleich neben dem Notausstieg, wohlwissend, dass da die Beinfreiheit am größten ist, sie allerdings nicht buchbar ist, warum auch immer, und dann im nachhinein sehen muss, dass diese Sitzreihe nicht belegt wurde, dann ist das, um es gelinde auszudrücken, an Borniertheit kaum noch zu übertreffen. – Ob es für diese Anordnung eine Vorschrift gibt?

Laut Boarding-Card befand sich mein Sitzplatz also hinter dem Notausstieg und nicht wie ich ursprünglich wollte, neben ihm. Nun gut, dachte ich, da könnte ich mich nun aufregen, wie ich wollte. Es hätte nichts an der Tatsache geändert, dass die Sitzanordnung aufgestockt worden und mit dem Belegungsplan am Check-in noch nicht konform war. – Und natürlich würde es dafür eine interne Vorschrift geben. Vorschriften gibt es ja immer, allein schon der Vorschriften wegen. Da bin ich mir sicher.

Unglaublich!

Also zwängte ich mich notgedrungen durch die Sitzreihe bis nach hinten zum Fensterplatz. Da mangelte es natürlich an Beinfreiheit. Allerdings genoss ich dafür den Vorteil, dass vor mir niemand saß. Kein Passagier mit seiner nach hinten zurückgestellten Rückenlehne könnte so meine Bewegungsfreiheit noch weiter einschränken.

Mein kleines Handgepäck verstaute ich schnell in der Ablage. Nur mit meinem neuen Buch auf dem Schoß versuchte ich es mir möglichst bequem zu machen. Und, nun ja, man konnte es aushalten. Allerdings: Echte Bequemlichkeit geht anders.

Eine Weile schaute ich dann noch dem Treiben der anderen Passagiere zu, als ich von der Seite mit einem freundlichen: „Hallo", begrüßt wurde.

Ein hoch aufgeschossener Mann in einem für seine Schulterbreite viel zu weiten Jeanshemd stand mit einer sperrigen Segeltuchtasche neben mir.

„Sieht so aus, dass wir für die nächsten vier Stunden Sitznachbarn sind", sagte er und wuchtete die Tasche in den Stauraum über mir. Seine grauen Haare hatte er zu einem dünnen Zopf geflochten, der ihm beinahe bis zur Hüfte reichte. Das Gesicht war faltig und herb. Und als besonders markant empfand ich die mächtig herabhängenden Tränensäcke und die Hakennase, die auch nicht nur um einen Deut größer sein durfte. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig.

Offensichtlich bereitete es ihm Mühe, seine Tasche in die Ablage zu bekommen. Er drückte und stopfte sie und murmelte leise etwas vor sich hin. Dabei kam er mir mit seiner ebenso zu weit sitzenden Jeanshose so nah ans Gesicht, dass ich noch das Waschpulver riechen konnte. Sie war nicht auf alt getrimmt, mit teuren Löchern drin oder mit Rissen, so wie es momentan die jüngere Generation als modern empfand. Sie war einfach nur alt und verwaschen. Ebenso schienen auch seine Schuhe ihre besten Jahre hinter sich zu haben. Trotz stark erkennbarer Gebrauchsspuren wurden sie äußerst penibel auf Hochglanz poliert und somit für die nächste Zeit als noch tragbar eingestuft. Schließlich waren es braune Cowboystiefel mit hohen Absätzen und sehr langen Spitzen, die mit silbrig glänzendem Metall verziert wurden. Allerdings wirkten auch sie, als seien sie um einige Nummern zu groß. Einfach alles an ihm empfand ich als zu groß, selbst die Segeltuchtasche, die niemals als Handgepäck hätte an Bord kommen dürfen.

Kaum, dass er sie endlich verstaut und sich auf seinen Platz gesetzt hatte, sprang er auch schon wieder auf.

„Sorry, tut mir Leid“, meinte er, „aber ich muss doch noch mal…"

Er zeigte zur Ablage hoch und deutete mir an, dass er etwas vergessen hatte. Ohne die Tasche aus dem Stauraum zerren zu müssen, öffnete er sie und kramte einen durchsichtigen Plastikbeutel mit mehreren Kopfhören hervor.

„Die Flieger haben alle unterschiedliche Anschlüsse. Mal sehen, ob einer von denen passt? Einen neuen Kopfhörer kaufe ich mir jedenfalls nicht. Die Airlines wollen die Billigdinger nur zu überhöhten Preisen an den Mann bringen", sagte er und setzte sich wieder neben mich.

Seine Bewegungen wirkten ungelenk und schlaksig, aber dennoch kontrolliert. Er hatte eine angenehm weiche, sonore Stimme. Sicherlich ein Radiomoderator, oder Stadionsprecher, oder er war vom Film und synchronisierte andere Schauspieler, dachte ich, als er aus dem Beutel einen Kopfhörer heraus nahm und versuchte, den Stecker in die dafür vorgesehene Buchse zu stecken.

„Ohne Musik kann ich nicht sein“, redete er einfach weiter, ohne mich dabei anzusehen. „Wäre ich taub geboren, klar, dann wüsste ich nicht, was Musik ist. Wie sollte man sie einem Gehörlosen auch beschreiben wollen, vor allem deren Vielfalt? Völlig unmöglich, nicht wahr?"

Der Stecker passte nicht in die Buchse. Er versuchte es mit einem zweiten.

„Würde ich aus irgendeinem Grund taub werden, dann könnte ich mir ein weiteres Leben ohne Musik nicht vorstellen.“

Er beugte sich leicht zu mir herüber und flüsterte: „Haben Sie schon einmal ernsthaft über Suizid nachgedacht?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, versuchte er, mir seine Gedanken zu erklären: „Als dieser Beethoven, als der seine Neunte komponierte, da war er fast völlig taub. Man sagt, es käme von der Syphilis! Nun, ich bin jetzt nicht gerade ein Beethoven, aber wenn ich mir vorstelle, gehörlos auch nur einen einzigen Song komponieren zu müssen… Heiliger Strohsack.“ Er hob die Schultern, zog die Augenbrauen nach oben, so dass sich seine Stirn in Falten legte und fügte immer noch leise redend hinzu: „Da wüsste ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Da kann man schon mal auf dumme Gedanken kommen, nicht wahr?“

Er setzte sich wieder aufrecht hin und versuchte die Kabel seiner Kopfhörer zu entwirren.

„Der Beethoven jedenfalls, der war dem Wahnsinn verfallen, der war, als er taub wurde, störrisch und feindselig. Altersstarsinn kam sicherlich auch noch hinzu. Kein besonders liebenswerter Zeitgenosse. Aber irgendwie verständlich, meine ich. Nichtsdestotrotz: Ein wahres Genie!"

Der dritte Passagier unserer Sitzreihe gesellte sich zu uns. Wortlos schmiss er sein Handgepäck, einen einfachen Juterucksack, in den Gang, schob ihn mit dem Fuß achtlos unter seinen Sitz und plumpste dann selber schwergewichtig auf seinen Platz.

Obwohl bis zum Start noch genügend Zeit blieb, schnallte er sich sofort an. Aus seiner Jackentasche zog er ein blaues Gummikissen hervor, blies es mit nur wenigen Atemzügen auf und schob es unter seinen Nacken. Dann streckte er die Beine so weit wie möglich nach vorn, faltete die Hände vor seinem massigen Bauch und schloss die Augen. Sogleich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war von ihm nur noch ein leises Schnarchen zu hören.

Mein Nachbar indes probierte den dritten Stecker.

„Taubheit ist für einen Musiker der reinste Albtraum“, meinte er, ohne sich von dem Schnarcher zu seiner Rechten stören zu lassen. „Taubheit ist furchtbar, und selbst ein Tinnitus, nun, der ist auch so eine Sache, da klingeln die Ohren, kann ich Ihnen sagen. Nach Konzerten, so dicht an den Lautsprechern, dass einem da noch lange danach der Schädel brummt, ist klar. Aber so ein Tinnitus, mein lieber Mann, der kommt meist unerwartet und einfach nur so, so völlig unverhofft, meist erst Tage nach dem Konzert, als wollte er einem sagen, dass nichts unvergessen bleibt und dass man es nicht übertreiben soll mit der lauten Musik. Ein Schuss vor den Bug, als Warnung sozusagen."

Alle Fluggäste hatten ihre Plätze gefunden. Das Zeichen zum Anschnallen leuchtete auf und die Flugbegleiter begannen gestenreich, zwar immer lächelnd, aber dennoch recht lustlos wirkend, mit den Sicherheitsdemonstrationen. Erst als die Maschine langsam auf das Startfeld zu rollen begann, ebbte das leise Murmeln der Passagiere ab. Langsam begann der Flieger auf das Startfeld zu rollen. Dann stoppte er noch einmal kurz, um schließlich mit dröhnenden Turbinen und vollem Schub abzuheben.

Jetzt kam der vierte Stecker an die Reihe.

„Aber was soll ich machen? Ich bin nun mal ein Musikfreak. Und gute Musik muss man laut hören, richtig laut. Da ist es normal, wenn einem manchmal der Schädel zu platzen droht. Hinzu kommt natürlich noch dieser Spirit, diese Faszination von genialer Musik. Ähnlich schon wie damals jene Klassiker zu ihrer epochalen Zeit, diese Händels, Chopins oder diese Tschaikowskys und wie sie alle hießen. Zwar wurde Musik damals nicht so laut gespielt, so wie die heutige mit ihren Verstärkern und so, aber sie wird immer noch gespielt und das nach so langer Zeit. Das muss man sich erst einmal vergegenwärtigen. Und warum wird sie heute noch gespielt? Na? Weil sie genial ist und weil sie live ist. – Es ist handgemachte Musik!"

Auch der vierte Stecker passte nicht. Böse Airline, dachte ich nur und erwartete eine Schimpfkanonade. Aber völlig kommentarlos packte mein Nachbar alle vier Kopfhörer zurück in seinen Plastikbeutel und verstaute ihn vor sich im Ablagenetz.

„Die Neue Deutsche Welle war ja ganz amüsant“, meinte er, ohne sich zu fragen, ob mich das überhaupt interessierte. Vielleicht redete er aber auch nur ohne Unterbrechung so viel, weil er Flugangst hatte. Möglicherweise wollte er sich mit seinem Geplapper einfach nur ablenken?

„Banale Texte waren das damals. Aber dennoch irgendwie recht gut. Jedenfalls die meisten Titel. Wirklich gute Texte. Vor allem bei der EAV, der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Heutzutage, da gibt es doch nur noch diese Wimmerbirnen. Die Jugend zieht sich dieses elende Gejammer rein und hat es in wenigen Tagen wieder vergessen. Und warum? Weil es ein Massenprodukt geworden ist, kein Beat, keine Qualität, kein Wiedererkennungswert. Furchtbar, diese Art von Musik. Niemals würde ich freiwillig in eine Diskothek gehen und mir diese Plastikmusik anhören. Platten auflegen, das kann doch jeder. Allzu viel Talent gehört nicht dazu. Da muss man nicht zwingend Ahnung von Musik haben, da muss man nur wissen, was dem Publikum gefällt, die richtige Scheibe auf den Plattenspieler knallen und mit einer zweiten Scheibe körperverletzende Geräusche erzeugen, indem man sie vergewaltigt. Das genügt. Scratchen nennt man das wohl. Aber das hat rein gar nichts mit der Faszination von Livemusik zu tun. Improvisationen, diese spontanen Kreativitätsexzesse und diese Ausbrüche von wahren Gefühlen, diese zu empfinden und zu erleben, nur sie bringen den wahren Charakter von handgemachter Musik zum Ausdruck. Auf einer Bühne zu stehen, vor Fans, wenn auch nur eine Hand voll, die aber die Qualität eines Livekonzertes zu schätzen wissen, das ist das Größte, da geht nichts drüber.“

Seine Stimme wurde mit jedem Satz lauter. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. In mir keimte die Hoffnung, dass er mit seinem Redefluss am Ende war. Aber leider…

„Volksmusik, okay, dagegen ist nichts einzuwenden, ist eben regional bedingt, keine Frage, klar. Und da gibt es noch diesen Ableger, dieser herrliche Alpenrock. Der ist doch einfach nur phänomenal, nicht wahr? Sehr erfrischend, mal was anderes zu hören."

Unglaublich!

Wieso kann dieser Typ nicht einfach den Mund halten? Demonstrativ schlug ich mein Buch auf und begann zu lesen. Allerdings wurde ich mitten im Vorwort auch schon wieder unterbrochen. Zwei Flugbegleiter kamen mit ihrem Servierwagen durch den Gang und boten Getränke an.

„Ja, meine Dame. Alle Säfte kosten zwei Euro fünfzig“, hörte ich hinter mir eine Flugbegleiterin reden.

„Auch der Tomatensaft?“

„Auch der.“

Nun auch noch mein geliebter Tomatensaft… Zu Hause schmeckt er mir zu erdig und zu muffig. Hier oben aber, da bin ich Fan geworden. Durch den geringeren Luftdruck, meine ich, wird der Geruchs- und Geschmackssinn stärker angeregt. Der Tomatensaft schmeckt angenehm fruchtig und etwas süßlicher als am Boden. Und irgendwie empfinde ich beim Trinken eine angenehme Kühle.

Nun allerdings verspürte ich eine gewisse Kühle bei dieser Airline. Zwei fünfzig ist ja eigentlich nicht viel Geld, aber für so einen kleinen Plastikbecher…? Der ausschlaggebende Punkt warum ich mir einen Kaffee habe reichen lassen, war nicht, dass er nichts kostete, sondern dass sich mein Portemonnaie oben in der Ablage befand. Und nur wegen des Tomatensaftes das Handgepäck herunterzerren? Das wäre mir dann doch zu aufwendig gewesen.

„Ich bin ja mehr so der Rocker“, sagte mein Sitznachbar und meine Laune wurde damit nicht besser, denn dieser Kerl neben mir kannte kein Pardon. Seine Unverfrorenheit war kaum noch zu übertreffen.

„Seit meiner frühesten Jugend dümple ich als Hippie von Event zu Event, quasi als Musikfestivalhopper. Früher natürlich mehr als heute, klar. Man wird eben älter. Jetzt bleibe ich immer öfter im Land. Rock am Ring, Burg Herzberg oder Wacken. Sie wissen schon.“

Unglaublich!

Und nein, ich wusste nicht! Ich versuchte mich erneut an dem Vorwort meines Buches.

„Natürlich gibt es heutzutage auch erstklassige Leute, die es verstehen, gute Livemusik zu machen, völlig klar.“

Hat der Typ noch alle Latten am Zaun? Merkt der nicht, dass ich in Ruhe gelassen werden will, dass ich mein Buch lesen möchte?

„Da ist zum Beispiel dieser Joe Bonamassa zu nennen, der schon Gitarre zu spielen begann, als er gerade einmal vier Jahre alt war. Mit zwölf stand er bereits auf der Bühne, zusammen mit B. B. King. Und mit vierzehn wurde er eingeladen, auf einer Veranstaltung des Instrumentenherstellers Fender zu spielen. Dann dauerte es nicht lange, bis seine Kompositionen und die ersten Alben auf den Markt kamen. Bluesrocklastige Gitarrenklänge. – Wahnsinn! – So werden gute Leute entdeckt und manche eben nicht. Und ich bin mir sicher, dass da irgendwo im verborgenen Kämmerlein so ein lichtscheues Genie mit seiner Fender Road sitzt oder gar ein Eskimo auf einer kleinen Eisscholle hockt, irgendwo da oben, nicht allzu weit weg vom Nordpol, und beide spielen sie vielleicht den geilsten Blues der Welt – und keine Sau hört ihnen zu.“

Er rutschte auf seinem Sitz ganz nach vorn, so dass seine Knie die Rückenlehne des Vordersitzes berührten und schloss für einen Moment die Augen, aber wirklich nur für einen Moment.

„Ja, dieser herrliche Blues, dieser reine Blues, den jeder Musiker im Blut hat“, redete er einfach weiter, „der ist ganz simpel: Zwölf Takte, recht monoton wiederholt, dazu begleitet von drei Akkorden. Und fertig ist er, der geniale Blues. Vielleicht verehre ich ihn deshalb so, weil er so einfach zu spielen und dabei so, ja, wie soll ich sagen, so bedeutungsvoll und umwerfend ist? Dank dieser Musik bin ich nie allein. Da ist alles drin. Selbst Jazz, Rock ‘n‘ Roll und Soul sind mit ihm verwandt. Und man glaubt es kaum, auch im Schlager und im heutigen Hip-Hop von dieser musikalisch oberflächlichen Jugend sind Spuren vom afroamerikanischen Blues zu finden. Ich selber bevorzuge ja diesen alten schwarzen Baumwollpflückerblues. John Lee Hooker, Muddy Waters oder Big Bill Broonzy. Legendär, sage ich da nur. Einfach nur legendär…"

John Lee Hooker? Muddy Waters? Big Bill… wie hieß der noch gleich? Nie hatte ich von diesen Leuten jemals etwas gehört, dachte ich. Nun gut, muss ich auch nicht. Schließlich bin ich kein Musikfreak.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er seinen Kaffee rührte, obwohl er schwarz und ohne Zucker war. Er rührte ihn mit einem plötzlich träumerisch verklärten Blick und sein Schweigen ließ vermuten, dass er gedanklich in einer anderen Welt war.

Der Schnarcher hatte seinen Kopf in der Zwischenzeit ein wenig zur Seite gedreht. Ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mundwinkel und sabberte auf sein Nackenkissen. Gelegentlich war ein leiser Pfeifton zu hören.

Erst als die Flugbegleiter die Getränkebecher abräumten, erwachte mein Nachbar aus seiner geistigen Abwesenheit.

„Huch, jetzt war ich wohl irgendwo anders", meinte er und nippte an seinem indes kalt gewordenem Kaffee.

„Schon so mancher Blues hat den stärksten Mann umgehauen und sogar zum Weinen gebracht. Nicht ohne Grund sagt man: To have the Blues. Manchmal machen Erinnerungen einfach nur traurig.“

Dann fingerte er unbeholfen und linkisch am Knopf seiner Brusttasche herum. Am Kragen seines Jeanshemdes trug er einen Anstecker, das Logo der Rolling Stones, diese ausgestreckte Zunge.

„Mick Jagger wird uns noch alle überleben. Sei es ihm gegönnt", sagte er, als er bemerkte, dass ich auf seinen Button aufmerksam wurde. „Und wenn Keith Richards nicht wieder von einer Palme fällt, dann hat auch er gute Chancen, länger am Leben zu bleiben."

Endlich hatte mein Nachbar es geschafft, den Knopf seiner Brusttasche zu öffnen. Er holte ein längliches, etwa zwölf Zentimeter großes Etui heraus. Es war blau und hatte eine goldene Schrift. – BLUES HARP – stand auf ihm geschrieben. Für ein paar Sekunden hielt er das kleine Schächtelchen in seiner ausgestreckten Hand und starrte es geistesabwesend, ja, beinahe schon andächtig an. Dann öffnete er das Etui und zeigte mir voller Stolz den Inhalt: Eine Mundharmonika!

„Es ist eine Hohner Blues Harp, schon einige Jahre älter als ich selber und wohl auch ziemlich wertvoll, genau konnte es mir noch keiner sagen. Das Mundstück ist vergoldet, es nutzt sich beim Spielen schnell ab. Den Verschleiß kann man schon deutlich erkennen. Daher spiele ich auf ihr nur zu besonderen Anlässen. Sie hat für mich nichts anders als einen ideellen Wert."

Er drehte sie ein wenig mehr ins Licht, so dass ich sie besser sehen konnte.

„Sie hat vierundsechzig Töne mit gedoppelten Stimmplatten, der ideale Sound für den perfekten Blues. Ihr Klang ist kräftig und voll. Aus ihrem Inneren kommt die perfekte Harmonie."

Eine Weile noch betrachtete er sie versonnen und streichelte liebevoll mit den Fingern über den Schriftzug. Dann erst schloss er das kleine Etui. Den ganzen Flug über sollte er es nicht mehr aus den Händen legen.

Indes wurde auf den Monitoren über den Sitzreihen die Dauerwerbesendung der Fluggesellschaft ausgeblendet. Dafür begann ein Filmklassiker mit Louis de Funes. Für meinen Nachbarn ohne Ton, wegen der Kopfhörer, deren Stecker nicht in die Buchsen passten. Für mich auch ohne Ton. Aber ich wollte mir ja von vornherein keinen Film ansehen. Ich wollte mich meinem Buch widmen. Nur dass mir mein Sitznachbar bisher keine Gelegenheit dazu gab, denn der redete in einem fort, nahezu ohne Unterbrechung. Noch nicht einmal das relativ kurze Vorwort hatte ich bisher lesen können. Und irgendwie beneidete ich den Typen am Gang. Sein Schnarchen war gleichmäßig, er schien mit sich und seinen Mitmenschen völlig im Reinen zu sein. Der war ganz weit weg, sicherlich irgendwo im Nirwana. Vielleicht sollte ich mich ebenso bequem zurücklehnen, demonstrativ die Augen schließen und so tun, als würde ich schlafen wollen? Aber wahrscheinlich würde mich mein Nachbar mehrmals mit dem Ellenbogen anstupsen, um weiter Gehör zu finden.

„Ich bin selber Songwriter und spiele auch gelegentlich in verschiedenen Bands, meistens ohne Vertrag oder so, eher spontan und manchmal auch ohne Gage“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Es macht mir einfach Freude, auf Zuruf sozusagen, vor Publikum live spielen zu können. Jedenfalls unterm Strich, da reicht es für den Lebensunterhalt. Und was darüber hinausgeht, das stecke ich in meinen Traum. Den zu verwirklichen, habe ich mir zur Lebensaufgabe gemacht. Ein Traum vom eigenen Event, ganz klein und fein, nur für Kenner. Ein eigenes Konzert, das ist schon etwas anderes. Da treffen sich Fans, Liebhaber, Kenner und Genießer, da wird gefachsimpelt und geschwärmt von alten Zeiten und deren Events, die allein schon dadurch nie in Vergessenheit geraten werden. Keiner von den Jugendlichen wird sich in zwanzig, ach was sage ich, in nicht einmal einem halben Jahr daran erinnern, welche Musiktitel in den Diskotheken gespielt worden sind, geschweige denn an den DJ. So ein Event jedenfalls, so eins wie ich es meine, so ein kleines privates Festival, das sich in Windeseile in der Szene herumspricht, so etwas will ich eines Tages auf die Beine stellen. In eigener Verantwortung natürlich und in eigener Regie. Das ist der Traum!"

Er sah mich an, als wollte er sich vergewissern, ob ich der Richtige wäre, dem er sich so zu offenbaren gedachte oder ob ich ihm nur aus reiner Höflichkeit zuhörte.

Und an dieser Stelle gebe ich zu, dass ich ihm mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck klar zu machen versuchte, dass mich Musik nicht sonderlich interessierte und mir sein Geschwafel gewaltig auf den Senkel ging. Aber offenbar war ich kein guter Possenreißer. Er ließ sich von meinem aufgesetzten Minenspiel nicht sonderlich beeindrucken. Er redete unbeirrt und ohne Unterlass einfach weiter.

Unglaublich!

„Diesen Traum, den hatte ich schon als kleiner Junge, als ich anfing mir das Gitarrespielen beizubringen.“

Er holte aus der anderen Brusttasche seines Jeanshemdes ein Foto hervor und zeigte es mir.

„Die Voraussetzungen sind gegeben, zumindest ist der Anfang gemacht. Das da ist ein ehemaliger Schweinestall.“

Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto.

„Fast so groß wie ein Handballfeld. Siebenhundertachtzig Quadratmeter. Es fehlt eigentlich nur noch der Bühnenaufbau, die Beleuchtung und das ganze Pipapo. Und das da“, er zeigte noch einmal auf das Foto und meinte ein paar Scheinwerfer, die von der Decke herabhingen, „das da ist natürlich nur ein Provisorium. Ich musste abwarten, ob sich das Ganze überhaupt rechnet. Es muss natürlich rentabel sein, klar, ansonsten gehen nicht nur diese Lichter aus“, sagte er, zog dabei beide Mundwinkel nach unten und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Aber meine Erwartungen wurden schon am ersten Tag übertroffen. Alle Veranstaltungen waren restlos ausverkauft. Und jetzt, jetzt kommt Butter bei die Fische. Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht. Bis zum nächsten Event, also bis zum eigentlichen Event, dem Jahreshöhepunkt sozusagen, wird die Bühne mit einem richtigen Licht- und Bühnenequipment ausgestattet sein. Und natürlich darf auch ein Mischpult nicht fehlen, für den perfekten Klang. Versteht sich von selbst, klar. Und hier“, er zeigte wieder auf das Foto, „hier sieht man leider nur fünf Säulen. Tatsächlich sind es aber zwölf. Die alle stützen in der Mitte zu beiden Seiten das aus Ziegelstein gemauerte Kreuzgewölbe. Ja, es ist tatsächlich ein Kreuzgewölbe. Wahnsinn, nicht wahr? Jetzt natürlich sandgestrahlt und von der Bauaufsichtsbehörde abgenommen. Nicht dass einem noch ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, oder so. Die Decke hatte ein Freund saniert, der kam vom Fach und der hat es geschafft, dass alles im Original belassen werden konnte. Die Fenster, die musste ich von einem Schreiner erneuern lassen. Natürlich auch originalgetreu, wegen des Denkmalschutzes. Das war nicht gerade billig, ist ja klar. Aber der Rest wurde in Eigenleistung erbracht. Die meiste Arbeit machte der Fußboden. Ich sage nur: Estrichbeton, völlig durchtränkt mit den bestialisch stinkenden Exkrementen der Schweine! Ich musste ihn komplett rausreißen, mit einem Presslufthammer. Das ist so ein extrem gewaltiges Ding, sage ich Ihnen, da liegen Sie noch Tage danach im Bett und vibrieren so vor sich hin, als hätten Sie Schüttelfrost.“

Ich stellte mir seine linkische Handhabung mit diesem Werkzeug vor, wie er mit dem Presslufthammer, oder der Presslufthammer mit ihm machte, was er wollte. So oder so ähnlich nach dem Motto: Der mit dem Presslufthammer tanzt. Ich musste mir bei dieser Vorstellung ernsthaft das Lachen verkneifen.