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Ruska Jorjoliani

Du bist in einer Luft mit mir

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser

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Die Herausgabe dieses Buchs wurde durch das Georgian Book Center und das Ministerium für Kultur und Sport unterstützt.

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Die Übersetzung basiert auf einer von der Autorin leicht überarbeiteten Fassung der Originalausgabe.

Die Übersetzung dieses Buchs wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert.

Der Verlag und die Übersetzerin bedanken sich hierfür.

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Der Rotpunktverlag wird vom Schweizer Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel La tua presenza
è come una città
bei Corrimano Edizioni erschienen.

© 2016 Corrimano Edizioni, Palermo

© 2018 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
(für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch
www.editionblau.ch

Lektorat: Daniela Koch

Umschlagbild von Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski:
Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

Umschlag: Patrizia Grab

1. Auflage 2018

eISBN 978-3-85869-804-9

Du bist in einer Luft mit mir.

Wie eine Stadt kann ich dich spüren,

Wie dieses Kiew vor den Türen,

Getaucht in Stille, heißes Flirrn

BORIS PASTERNAK

(Deutsch von Andreas Tretner)

Inhalt

Kleines einführendes Glossar

I.Erste Schreie

II.Der Traum

III.Brief Nr. 1

IV.Die Väter

V.Das Verhör

VI.Der Diakon

VII.Die Mütter

VIII.Das Porträt im Format 20 × 30

IX.Die Linde

X.Brief Nr. 2

XI.Die Schublade

XII.Der verrückte Wolodja

XIII.Die Meldung

XIV.Das zweite Verhör

XV.Brief von Dimitri an Viktor

XVI.Schach

XVII.Unter einem Giebel

XVIII.Die Begegnung

XIX.Allem Anschein nach das dritte Verhör

XX.Die Rückkehr

XXI.Die Brille (oder eigentlich das Brillengestell)

XXII.Im Kino Himmelsvagabund

XXIII.Der Aufsatz

XXIV.Die Mütter. Siebzehn Jahre später

XXV.Der botanische Garten

XXVI.Brief Nr. 3

XXVII.Die Waldfrau Olessia

XXVIII.Leere Blätter (nicht allzu leer)

XXIX.Typische Farbtöne einer Epoche

XXX.Variazija na temu Kafki

XXXI.In unserer Küche, 1954

XXXII.Gespräch zwischen zwei Zoologen

XXXIII.Brief, den Sina Makarowa nie geschrieben, Kira Florensow aber dennoch bekommen hat

XXXIV.Das vierte (und letzte) Verhör

XXV.Die Flut

XXXVI.Kein Ziel vergöttern

XXXVII.Der letzte Tag eines dilettantischen Fallschirmspringers

XXXVIII.Der Postbote

XXXIX.Blaue Wildlederschuhe

XL.Brief Nr. 4

Kleines einführendes Glossar

(erstellt von einem bejahrten Bibliothekar und Gehilfen eines großen russischen Dichters)

LANGEWEILESeit Ewigkeiten kämpfe ich gegen die Langeweile, wie der Stein einer alten, moosbewachsenen Mühle, die nur noch ihren Träumen von Wasser nachhängt, wie ein Philosoph mit seiner inzwischen für überholt erklärten, jahrhundertealten Dichotomie zwischen Leib und Seele, wie ein hinfälliger, blauer Papagei. Ich bin so gelangweilt, dass ich keine besseren Metaphern finde. Überlegt gern selbst und versetzt euch bei dieser Gelegenheit auch gleich in mich hinein, wie ich eine Sekunde innehalte und denke: Was, wenn mir eines Tages auch dieser Kampf gegen die Langeweile langweilig werden sollte? Ich jedenfalls sage mir, nachdem ich nochmals kurz überlegt habe: Hör schon auf, alter Witzbold, lass deinen absurden, flirrend blauen Federschopf sinken, stopfe das Guckloch über dem Abgrund ein für alle Mal zu und begieße die Sache mit einem Schluck Wodka.

KLISCHEEDas hier wäre also der geschätzte Gehilfe des ebenso geschätzten Dichters, sagst du und siehst sofort einen bärtigen Hanswurst mit geröteten Säuferaugen vor dir. Ja, ganz nach dem guten alten Klischee vom Literaten, aber mit den Klischees sollte man vorsichtig sein, manchmal treffen sie nämlich auch zu. Allerdings könnte das mit dem Zutreffen ebenfalls ein Klischee sein. Haben wir es hier also mit dem Klischee der Klischees zu tun? Irgendwann muss man aufhören mit den Sophismen, sonst fällt man in einem Labyrinth einsamer, haltloser Behauptungen tausend Minotauren zum Opfer.

SIEGELJa, solche schlaflosen Spaziergänge, solche Momente trauter Zuflucht auf den bereits begangenen Wegen, erleben nur alte Leute. Im Hintergrund eine ganze Welt aus im Lauf der Jahre schäbig gewordenen Mänteln, Büchern voller Kommentare, Fotos von Neugeborenen und Hochzeitspaaren, die einen tatsächlich aufgenommen, die anderen nur im Siegellack vor den großen Türen unseres Gedächtnisses eingeprägt.

BILDEin bestimmtes Foto hat sich mir eingeprägt wie das Gefühl süßen Triumphs beim ersten erhörten kindlichen Gebet. Ich, ein etwas unbeholfener Junge von etwa zwölf Jahren, bin im Profil zu sehen, halte ein verängstigtes Kaninchen auf dem Arm und beuge mich vor zu einem anderen Jungen in Kniebundhosen aus braunem Tweed. Er lächelt, wie mein Spiegelbild, und streichelt das Kaninchen. Ein so zartes, flauschiges Tier ist mir nie wieder untergekommen. Auch Kniebundhosen gibt es nicht mehr, glaube ich. Man kann sich heute alles Erdenkliche beschaffen: Selbst ein Raumschiff würde man dir nach Hause bringen, und wenn du dich ein wenig anstrengst, kannst du auch zweimal in denselben Fluss steigen – du berechnest die Geschwindigkeit des Wassers und flitzt an eine Stelle, wo dieselbe Strömung vorbeikommt. Aber ich weiß nicht, ob man den Blick auf das erste, wehrlose Tier, das man im Arm gehalten hat, wiederholen kann, und ebenso wenig, ob der Junge auf dem Foto noch existiert. Vielleicht ist es das Beste, man landet mit dem Raumschiff an einem ruhigen Ort, betrachtet den vorbeifließenden Fluss, hebt dann vielleicht einen Stein auf, der einem zufällig unter die Augen kommt, reibt ihn sauber, hält einen Moment inne und wirft ihn ins Wasser.

GROSSE GEFÜHLEAuch solche Gefühlsüberflutungen erleben nur alte Leute. Es braucht schon ein gehöriges Maß an Selbstbeherrschung, um nicht ins Rührselige abzudriften, wenn die großen Türen aufschwingen, sei es wegen eines bestimmten Geruchs, einer weiblichen Haarlocke oder der geometrischen Muster von Zugrädern. Selbst einem Holzklotz wie mir kann es passieren, dass er sich einfach nur dort auf dem Foto ins Gras legen möchte (siehe Stichwort Bild), über sich den Himmel, neben sich den Gefährten und das Kaninchen, das um ihre Schuhe herum Gras mümmelt, während sie beide über alles Mögliche reden. Die Sonne geht unter, aber sie denken weder daran, nach Hause zu gehen noch daran, größer zu werden.

SPIELAls ich Lord Jim von Conrad zum ersten Mal las, in der Übersetzung von Kriwzowa (das war in den Achtzigern), erkannte ich in Lord Jim sofort ihn – dieselbe Verschlossenheit, dieselbe Jugendlichkeit –, während ich sein Marlow war: wankelmütig und träge. Und auch wenn alles schon von fähigeren Autoren als mir aufgeschrieben worden ist (sogar der Teil über mich und vielleicht auch mein Tod), habe ich verstanden, dass man aus jedem Menschen eine Landkarte von unendlicher Nutzlosigkeit gewinnen kann: Ein sich aufbäumendes Seepferdchen pflügt über den Grund eines riesigen, fischförmigen Aquariums in einem kreisrunden Zimmer … Oh, Jim, Lord Jim, geh zurück an Bord!

BIBLIOTHEKFrüher hieß sie Lenin-Bibliothek. Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist daraus die Solschenizyn-Bibliothek geworden. Seit über vierzig Jahren leisten die Bücher und ich uns hier gegenseitig Gesellschaft. Trotzdem würde ich mich als nur mäßig lesefreudigen Bibliothekar bezeichnen.

BRIEFEDavon wird es wimmeln in dem Roman, der auf den nächsten Seiten folgt. Ich glaube, wie die Briefe sind auch die Sprichwörter eine Art Luftstöße aus einem alten Weisheitsventil, das sich von Zeit zu Zeit öffnet und diejenigen von uns anbläst, die die Geduld und die Fähigkeit haben, die bedeutsame, fröhliche Seite des Lebens zu erfassen. Ich muss gestehen, dass ich selbst dazu nicht fähig bin, aber dennoch nicht darauf verzichten kann, Briefe zu schreiben. Unterhaltsames kommt dabei nie heraus, sie sind überladen und manchmal sogar peinlich. Andererseits ist ein Brief, ob er nun heiter ist oder nicht, einfach so beschaffen, sonst ist es kein Brief, sondern etwas anderes. So wie man von Zuneigung nur sprechen kann, wenn sie in abstoßender Fülle vorhanden ist. Bevor ich mit diesem Geschwätz aufhöre, möchte ich noch anfügen, dass ein Brief ähnlich ist, wie wenn eine alte Tante, die ganz allein irgendwo weit weg lebt und plötzlich das Gleichgewicht verliert. Sie kommt ab und zu mit einer Tüte Süßigkeiten auf Besuch, und an einem Winternachmittag begleitet sie uns auf den nahen Spielplatz. Und nun stellen wir uns vor, diese liebe Tante käme auf dem vereisten Gelände unversehens zu Fall, natürlich ohne einen Kratzer davonzutragen, und wir würden lachen. Genauso funktioniert ein schöner Brief.

ESSBARESAber wenn dann gewisse Tage nach Lachspiroggen riechen (eine Spezialität meiner Frau Ljuda), jage ich die Negative sämtlicher Fotos, auf denen weder weibliche noch kulinarische Leckerbissen dargestellt sind, zum Teufel. Nicht einmal das dicke Kaninchen (siehe erneut Stichwort Bild) entkäme mir, ich würde es augenblicklich in einen herrlichen Teller Fleischklößchen mit Soße verwandeln, gut gewürzt, mit etwas Petersilie. Dann aber, zwischen zwei Gängen, mischt sich durch die Dienstbotentür des Gedächtnisses der brillengefilterte Blick der fraglichen Person ein, und ohne den Mund aufzumachen, sagt er: »Törichtes Lächeln, törichtes Lächeln der Welt.« Und ich schiebe den Teller weg, hinterlasse Ljuda wie abgenagte Knochen zwei Worte und suche die Dienstbotentür, um sie zu schließen oder um alles zu schließen, ausgenommen diese Tür.

ERNennen wir ihn Kirill.

I.

Erste Schreie

Über Kirills Anfänge erzählte man sich, seine Mutter Schoschanna Sokratowna, ein nicht besonders gesprächiges, jüdisches junges Mädchen, habe, als sie ihrem Mann, dem frischgebackenen Geisteswissenschaftler Dimitri Gawrilowitsch anvertraute, dass sie abzutreiben gedenke (»Oh Dima, es gibt keinen anderen Ausweg«), auf das schief in den Angeln hängende Fenster gestarrt und sich dabei in den zierlichen Arm gekniffen. Ihr Dima soll daraufhin »Wie bitte?« gerufen und der Hand seiner Ehefrau, die von ihrer Haut nicht abließ, mit einem entschlossenen Klaps Einhalt geboten haben. »Und wenn er als Dichter geboren wird?«

Was meine Geburt betraf, erzählte man nur von einem Fetzen Papier, den meine Mutter Alina Petrowna, eine abergläubische Bäuerin aus dem Kuban, während der Entbindung fest in der Hand gehalten haben soll. Vor der Ankunft des Arztes hatte sie sich noch zum Schreibtisch meines Vaters Viktor Bulatowitsch geschleppt, hatte den schweren Bauch darauf abgesetzt wie eine Einkaufstasche, dann eine Seite aus einem dort liegenden Notizbuch herausgerissen und mit einem stumpfen Bleistift geschrieben: Lieber Gott, mach, dass er nicht wird wie sein Vater, dieser Mörder.

Später kam »dieser Mörder« nach Hause, ein junger Ingenieur, der geschworen hätte, in seinem Leben vielleicht höchstens einmal eine Wachtel getötet zu haben. Als er die erschöpft auf dem Bett ausgestreckte Wöchnerin sah, zuckte er zusammen. Ob vor Freude oder aus Verzweiflung, erfuhr man nie genau. Doch als er dann seine Lippen an die Stirn der Frau führte – noch bevor er mich in den Arm nahm, dieses runzlige, in alte Laken gewickelte Wesen, das aussah wie eine rosafarbene Wurzelknolle –, erblickte er den blauen Papierfetzen auf der Bettdecke und wusste sofort, woher der stammte.

Das Notizbuch bedeutete meinem Vater viel. Er brauchte es, um darin alle seine großartigen Projekte aufzuschreiben. Nie verzieh er seiner Frau diese leichtfertige Tat. Nie fragte er nach, wozu sie den Papierfetzen benötigt hatte. Er brummte irgendetwas und warf sich, ohne die alten Filzstiefel auszuziehen, auf das Bett.

II.

Der Traum

In fast jedem russischen Roman gibt es ein Kapitel über einen mal mehr, mal weniger sonderbaren, mal mehr, mal weniger warnenden Traum, und normalerweise ist das der langweiligste Teil. Wappnet euch also mit Geduld und seid bereit, den Preis für eure Liebe zur prätentiösen russischen Literatur zu zahlen.

In meinem jüngsten Traum war ich, zwischen Phasen der Schlaflosigkeit, unterwegs zu einem unbekannten Ziel. Ich erreichte einen mir zunächst fremden Ort, aber nach einer Weile wurde mir klar, dass es sich um die Stadt G. im Gouvernement V. handelte, obwohl ich da nie gewesen war. Auf einer Anhöhe erahnte ich im Gegenlicht ein paar lädierte Schaukeln, die ich im ersten Augenblick mit ausgedienten Galgen verwechselt hatte. Als ich weiter ging, flatterte nach kaum zwei Schritten eine graue, fahrige Gestalt an mir vorbei – wie eine der verrückten Frauen, die man auf Gemälden von Bruegel findet. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, murmelte sie etwas von Pilzen und eilte atemlos davon. Dann erschien ein seltsamer, völlig zerlumpter Mönch mit einem dicken Kater auf dem Arm. Er musterte mich mit so geweiteten Augen, dass es mir vorkam, als wären sie mir näher als sein restliches Gesicht, als würde ich sie durch zwei Vergrößerungsgläser sehen.

»Grüß dich, Geselle«, sprach ich ihn an, wie Baba Jaga im Märchen. »Suchst du das Abenteuer oder fliehst du das Unheil?«

»Du Dummkopf von Buchstabenhüter!«, sagte er unverblümt.

»Bitte?«

»Du hast richtig gehört.«

Seine Stimme klang so hölzern, als hätte ein blutiger Anfänger von Schreiner sie mit dem Hobel bearbeitet.

»Das sagst ausgerechnet du, ein Bewohner von Glupow!«

»Oh nein, Jüngelchen«, sagte er kopfschüttelnd, »du darfst doch den Namen der Stadt nicht nennen, erinnerst du dich nicht?« Er streichelte den Kater. »Ein wahrer Schriftsteller tut das nicht.«

Da hätten wir wieder einmal den üblichen dubiosen Geistlichen der russischen Literatur, dachte ich und sagte: »Was weißt du schon von wahren Schriftstellern?«

»Was ich von wahren Schriftstellern weiß?« Er senkte den Kopf und betrachtete den honigsüß blinzelnden Kater. »Genug, um mir im Klaren darüber zu sein, dass du keiner bist.«

»Mag sein«, antwortete ich, »dafür kann ich ausnahmslos alle Gedichte von Puschkin auswendig. Ich bin fähig, meinen Namen verkehrt herum in meiner normalen Handschrift zu schreiben. Ich kann dir die Distanz zwischen Glupow und Miroslaw in Millimetern sagen. Und wenn mir der Hut aus dem Zug fliegt, werfe ich auch meinen Kopf hinterher – was sollte der Finder schon mit einem Hut ohne Kopf anfangen?«

Er lachte.

»Kannst du zufällig auch Tote zum Leben erwecken?«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt genau, wie ich das meine«, sagte er spöttisch. »Aber wann wirst du endlich einsehen, dass du nicht mehr wert bist als ein Friedhofshund, der ab und zu einen Knochen ausgräbt?«

Ich fürchtete, der Traum könnte abbrechen. Meine Nerven waren gespannt wie die Saiten einer Balalaika, an deren einem Ende der Schlaf, am anderen der Wachzustand zerrte, und ich hoffte, dass der Schlaf die Oberhand behalten würde, damit ich diesem Idioten noch eine Ohrfeige verpassen konnte. Aber ich sah ihn nicht mehr, weder ihn, noch den Kater, ich hörte ihn nur noch lachen, sich kaputtlachen, mit der kratzigen Stimme eines greisen Radiosprechers, die in einem alten Transistorradio hallt, leiser wird und schließlich ganz verstummt.

III.

Brief Nr. 1

Lieber Kirill,

ich schreibe Dir so, mon cher ami, wie Dir Puschkin, Dein geliebter Puschkin, geschrieben hätte.

Ich hoffe, »der reinsten Schönheit Genie« habe Dich noch nicht verlassen, in jener nebligen Stadt. Sei stark, lieber Bruder, wo Dir doch der graue Niedergang der großen Ideale erspart geblieben ist. Die Vision der Horizonte, für die die mildtätige russische Seele seit den Dekabristen brannte, ist verblasst. Auch wenn man von Anfang an einen großen Unterschied zwischen unseren Dekabristen und euren Bolschewiken erahnte. Traurig ist bekanntlich unser Schicksal, jedoch wollen wir die Segel der Hoffnung nicht streichen, Du meine unvergleichliche Seele. Widerstehe dem dunklen Sturm einer Übergangszeit, wie sie dem Wesen aller Epochen innewohnt. Widerstehe, aufrechter Mann, den Windböen, die Dich zuerst zu beugen und dann zu brechen suchen. Kehre ungebrochen aus dem gefürchteten Sibirien zurück. Du willst ebenso wenig sterben wie ich, das weiß ich. Du willst denken und leiden. Komm also zurück. Lass es nicht zu, dass der Sonnenuntergang sein Abschiedslächeln auch an Dich richtet.

Immer Dein Alexander

Kommentar zu Brief Nr. 1

An jenem Oktobertag (siehe Bild) versprachen Kirill und ich uns gegenseitig, dass wir künftig unsere Lieblingsdichter, Puschkin und Lermontow, in allem nachahmen würden: im Sprechen, im Schreiben, in der Kleidung.

»Je le promets, mon cher ami«, sagte ich feierlich, nahm einen rissigen Ast und stützte mich darauf wie auf einen Spazierstock.

Kirill trat schmunzelnd zu mir.

»Der Graf hätte uns vielleicht für doof gehalten.«

Graf war der Titel, den unsere naive Bruderschaft Kirills Vater verliehen hatte – dem glücklosen Literaten Dimitri Gawrilowitsch.

»Quatsch, der Graf hielt große Stücke auf Puschkin«, sagte ich und reichte ihm meinen behelfsmäßigen Spazierstock. »Probieren Sie den mal aus, Monsieur!«

Kaum hatte er sich in Pose geworfen, wobei er damit eher an einen Krüppel als an einen romantischen Dichter erinnerte, fiel ihm das schaumige Exkrement eines nicht näher identifizierten gefiederten Wesens auf den Kopf. Er fuhr sich über das Haar, führte die Hand dicht vor die Augen, bis sie fast seine Nasenspitze berührte (er war so kurzsichtig, dass er eine Tupolew nicht von einem Vogel unterscheiden konnte), und zog eine angewiderte Grimasse. Ich rief: »Mesdames et Messieurs, hiermit präsentiere ich Ihnen den großen russischen Dichter Kirill Dimitrijewitsch Exkrementow!«

IV.

Die Väter

Sie machten ihre üblichen dämlichen Gesichter, seine neun Schüler, als Dimitri Gawrilowitsch während des Unterrichts plötzlich in seiner Rede abbrach, aus dem Fenster blickte und sagte: »Diese Eiche hat ihr Leben gelebt. Man sollte sie fällen, bevor jemand auf die Idee kommt, raufzuklettern, und den dürren Stamm zum Kippen bringt wie den Mast eines brennenden Schiffs.«

Dieses zerfurchte Stück Holz mitten auf dem Schulhof hatte ihn schon immer an einen anderen Baum erinnert, an eine Linde. Aber da, wo er jetzt war, in der Gewalt dieser Wellen, hatte all das ohnehin keine Bedeutung mehr. Vor allem hätte er unbedingt selbst auf diese Eiche steigen sollen, solange es noch nicht zu spät dafür gewesen war. Da ihm der Mut fehlte, sich zu erhängen, hätte er wenigstens hinunterstürzen können, wenn nicht als Matrose, so wenigstens als tüchtiger Schiffsjunge.

Solche Gedanken quälten Dimitri im tristen Laderaum des Dampfers Gleb Bokij, der ihn zusammen mit einem Dutzend weiterer Gefangener an die vereisten Küsten der Solowezki-Inseln im Weißen Meer bringen würde. Ja, er hätte die Gelegenheit nutzen sollen, die ihm die Eiche vor der Schule geboten hatte, dachte er, während heftige Wellen gegen das Schiff schlugen. An seiner Linde hätte er sich ja höchstens erhängen können, und da sie dies bereits einmal durchgemacht hatte, verdiente sie etwas Respekt, schließlich gab es auch in Bezug auf den Brauch, schmutziges Menschenfleisch an wehrlosen Bäumen aufzuhängen, gewisse Anstandsregeln.

Dimitri war schon immer klar gewesen, dass nur Leute, die selbst noch nie mit zitternden Fingern eine Schlaufe geknotet haben, glauben, sich zu erhängen sei einfach eine Frage baumelnder Füße. Als Kind noch hatte er seinen Großvater einmal im Geräteschuppen mit einem Seil hantieren sehen, hatte aber nicht besonders darauf geachtet und war zu seinen Spielgefährten zurückgekehrt. Später, als er dem Ball nachlief, erblickte er an einem hohen, kräftigen Ast der Linde, die hinter dem Haus auf der Wiese zwischen dem Hühnerstall und dem Sonnenblumenfeld stand, auf einmal ein schaukelndes Etwas. Zuerst dachte er, sein Großvater habe eine Falle aufgehängt, um irgendein Tier anzulocken. Dann trat er ein paar Schritte näher und erkannte als Erstes das kleine Dreieck aus bläulichem Fleisch, das aus dem halb geöffneten, starren Mund des Mannes ragte, der nun eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem Großvater aufwies.

Auch nach all diesen Jahren, auch im Bauch dieses Schiffs, das so rostig war wie eine ins Meer geworfene Blechdose, selbst in dieser Leere gelang es Dimitri noch, sich das Bild des erhängten Großvaters präzise in Erinnerung zu rufen.

Bis zu seiner Heirat mit Schoschanna Sokratowna hatte er in Angst und Schrecken gelebt. Nie schlief er ein, ohne kontrolliert zu haben, dass im Haus nichts vorhanden war, was an ein Seil erinnerte. Vielleicht war er ja, ohne es zu wissen, ein Schlafwandler, und dann hätte alles Poetisch-Romantische nichts mehr geholfen: Sonne plus Seil ergab einen bei Tageslicht Erhängten, Mond plus Seil ergab einen bei Mondschein Erhängten. Schweren Herzens trennte er sich später auch vom Gürtel seines einzigen Bademantels, dem Hochzeitsgeschenk von Schoschanna.

Dort an dem Ufer, wo ihn der Dampfer absetzen würde, wäre er von diesen Sorgen befreit. Inzwischen war Wasser in den Laderaum eingedrungen, und um Dimitris Füße herum trieben Säcke, Decken, Schuhe, aller mögliche Unrat. Alle Häftlinge waren seekrank, und draußen war es stockdunkel, Wellen tosten.

Er hielt die Jacke zu, zog den Hut tiefer über die Ohren und ließ sich auf zwei übereinandergestapelten Koffern nieder. Dann, vielleicht um nicht an das lächerliche Bild zu denken, das er so abgab, schweiften seine Gedanken erneut in die Vergangenheit, aber diesmal noch weiter, von Erinnerung zu Erinnerung bis zu jener Begegnung zurück.

Um in Miroslaw von irgendwo nach irgendwo zu gelangen, führte der Weg unweigerlich über die schlammige Hauptstraße mit ihrem von einzelnen Pferdemistinseln unterbrochenen Linienmuster, das von den Karrenrädern herrührte. Genau dort, unweit der Kirche, an jener von Holzhäusern mit dunklen Giebeldächern gesäumten Straße, war es viele Jahre zuvor auch zu jener allerersten Begegnung gekommen. Sein Großvater war mit ihm unterwegs zum Diakon Sergej gewesen, um ihn zu bitten, den Enkel zu unterrichten, und da trafen sie auf das Duo aus Vater und Sohn, mit denen noch niemand die Gelegenheit gehabt hatte, sich zu unterhalten. Man wusste nur, dass der stutzerhafte Herr Tierarzt war, in einer großen Stadt gelebt hatte und dass dank ihm etwas zuvor beinahe Unbekanntes Eingang in ihre Gemeinschaft fand, etwas, das immer unter seinem Arm klemmte, nämlich die Zeitung.

An jenem Tag trug der Mann ein Jackett und eine braune Weste, über die sich auf der einen Seite eine Uhrenkette spannte. Dimitri glaubte zuerst, Tschernyschewski höchstpersönlich sei einem Buch entsprungen und grüße gerade seinen Großvater, doch verwandelte sich der Schriftsteller gleich wieder in den unbekannten, erst kürzlich im Dorf eingetroffenen Tierarzt, denn da war ja auch dieses Kind, ungefähr so groß wie Dimitri selbst, das sich am Zipfel des väterlichen Jacketts festhielt, und auf keinem Porträt Tschernyschewskis hatte Dimitri je ein Kind gesehen.

»Guten Tag«, wandte sich der Mann an den Großvater, »ich suche das Haus des Diakons.«

Der Großvater antwortete, er wolle auch gerade zu ihm. So gingen sie gemeinsam weiter und unterhielten sich über die jüngsten Zeitungsmeldungen und insbesondere über einen klein gewachsenen Mann, der mit der Eisenbahn aus einem fernen Land angereist war und nun das Leben vieler Menschen veränderte. Dreckspritzer beschmutzten die elegant geschnittene Hose des Tierarztes, der hin und wieder auf den Boden und dann mit einem Seufzer zur fahlen Sonne blickte, die sich hinter einem Wolkenvorhang versteckte. Der Großvater hingegen fixierte einen unbestimmten Punkt vor sich.

»Wo es ein größeres Übel gibt, verliert das kleinere seine Bedeutung«, bemerkte der Tierarzt und zog seinen trägen, schmollenden Sohn heftig zur Seite. »Pass auf, wo du deine Füße hinsetzt, Viktor.«

Das Kind schnitt eine Grimasse und wich der Pfütze missmutig aus.

»Ein Übel ist immer ein Übel, Batjuschka«, antwortete der Großvater.

»Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären auf der Flucht vor einem Bären und stünden plötzlich vor einem reißenden Fluss. Was würden Sie tun? Stürzen Sie sich in den Fluss oder greifen Sie den Bären an?«

»Weder noch.«

»Das geht nicht. Sie müssen sich entscheiden!«

»Dann entscheide ich mich für den Fluss. Ich kenne ihn besser.«

»Aber dann sterben Sie, das wissen Sie.«

»Vielleicht.«

Als sie vor dem alten, dunklen Haus ankamen, wurden Dimitri und das Kind namens Viktor vor der Schwelle zurückgelassen, wo die beiden sich gegenseitig musterten, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile kam der Diakon hinaus, führte die Jungen in ein Zimmer, das er mit einem Schlüssel aus dem großen Schlüsselbund an seinem Gürtel öffnete, und hieß die beiden, auf ihn zu warten. Von draußen drangen noch die Stimmen des Großvaters und des Tierarztes herein, die sich vom Diakon verabschiedeten und, gemächlich davonspazierend, ihre Unterhaltung fortsetzten. Ihre Worte schwebten durch die Morgenluft wie Blütenstaub, als hätten sie sich aus der Zeitung herausgelöst.