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Nr. 2996

 

Phase Shod

 

Eine Superintelligenz erwacht – und ein kosmisches Geheimnis enthüllt sich

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Welle

1. Splitter und Schätze

2. Zeitwaage

3. Ängste und Holos

4. Skaisd

5. Vardariva

6. Störenfriede und Notwendigkeiten

7. Paradoxon

8. Hohlform

9. Bhale

10. Leere und Versuchung

Epilog: Gerettet

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Davon ist er in diesen Tagen des Jahres 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung allerdings weit entfernt: In der von der Superintelligenz ES verlassenen Milchstraße wütet der Weltenbrand, der alle intelligenten Lebewesen betrifft und zu einer Hypersensibilität führt, gegen die es kein Mittel gibt. Wird der Weltenbrand nicht gelöscht, dauert es nur Jahrzehnte, bis die Milchstraße unbewohnbar geworden sein wird.

Hervorgerufen wurde dieses Phänomen in erster Linie durch den skrupellosen Adam von Aures, der weitreichende Pläne verfolgt, die letztlich die Evolution der Maschinen und deren Vorherrschaft bedeuten sollen. Es gibt zwar Hoffnung, nachdem mit der Bergung von Proto-Eiris ein Mittel gefunden wurde, das sich womöglich entsprechend modifizieren lässt, den Weltenbrand zu löschen, – aber keinerlei Garantie.

Atlan, der unsterbliche Arkonide, fühlt indessen den Vertretern der Superintelligenz GESHOD auf den Zahn: Die Gemeni sollten eigentlich Verbündete der Milchstraßenvölker sein, aber etwas trennt sie auch voneinander. Insbesondere der Ruhende Bhal scheint eine ungute Rolle zu spielen. Und dann geschieht, was sich lange andeutete: Es beginnt die PHASE SHOD ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide fühlt sich unversehens weiblich.

Tamareil, Zau und Mahnaz Wynter – Atlans Begleiter erleben Geschichte.

Minga Hashina – Eine Schatzwahrerin erlebt die Phase Shod.

Bhal-1 – Die Kommandantin wirkt im Auftrag der Wanderin.

Prolog

Welle

 

Sie war nicht mehr allein. Da war etwas Anderes, Gewaltiges in ihrem Denken, schob ihr Selbst nach oben, wie sich ein Tsunami einen Hügel hinaufwälzt und dabei mitreißt, was ihm in den Weg kommt.

Minga Hashina schrie. Nie zuvor hatte sie solche mentalen Schmerzen leiden müssen. Die Welle drängte, wirbelte, schob.

Es gab kein Entkommen.

Egal, wie verzweifelt Hashina zu fliehen versuchte – sie war zu langsam; viel zu langsam.

Schwarzes Wasser überrollte ihren Geist. Gedanken zerschellten wie Muschelschalen an messerscharfen Felswänden. Splitter. Überall Splitter. Da war keine Einheit mehr, kein Ganzes. Alles war zerschlagen, in sich verdreht, beobachtete sich aus irrealen Winkeln heraus, ehe auch das unmöglich wurde und sich Dunkelheit senkte.

»Nein, nein, nein!«

Hashina zog die dürren Beine an, klammerte sich an ihnen fest. Ihr Echsenkopf schwankte von links nach rechts. Sie war ... was?

Wo?

Wer?

Nichts ergab mehr Sinn.

Das Andere, Gewaltige, saugte jedes Verstehen auf. Es hatte einen Willen, wollte zu sich kommen, und es konnte nur zu sich finden, indem es andere auslöschte: Wesen, die klein und unbedeutend waren, wie Minga Hashina. Da, wo seine Präsenz war, konnte nichts anderes existieren. Es gab keinen Raum für ein zweites Bewusstsein, nur für Splitter und Leere.

Die Welle zerrieb ihr Denken, schleuderte die Reste des klaren Verstands herum, bis sie in kalter Schwärze untergingen.

»Ich bin ...«, brachte sie hervor.

»Ich ...«

Selbst dieses eine Wort verlor an Bedeutung. Was sollte das sein, dieses »Ich«?

Punkte, tanzende Punkte, flirrender Nebel, sinnlose Laute. Alles löste sich auf, wurde zu dem Nichts, das es eigentlich die ganze Zeit gewesen war. Nun offenbarte sich die grausame Wahrheit, die Nichtigkeit, die bedeutungslose Leere ihrer Existenz.

»I...«

Minga Hashina verlor auch diesen letzten Laut. Ihr Geist stürzte ins Nichts.

1.

Splitter und Schätze

 

Das reptiloide Wesen schrie. Es war ein Schrei, der meinen Nacken kribbeln ließ. Ich fuhr herum, griff automatisch nach der Waffe, doch der Strahler würde mir nicht helfen. Der Ruhende Bhal Drush hatte uns bereits dadurch gedemütigt, dass er uns die Waffen und SERUNS gelassen hatte – in dem vollen Bewusstsein, dass wir damit nichts anfangen konnten.

Das, was uns angriff, hatte keine Substanz, die wir hätten attackieren können. GESHOD erwachte. Die Phase Shod begann. Es gab keinen Weg, dagegen anzukämpfen.

Narr!, wies mich der Extrasinn zurecht. Es gibt immer einen Weg. Und wenn es keinen gibt, wirst du ihn dir schaffen!

Narr. Wie oft mich mein Extrasinn schon auf diese Weise angeredet hatte. Fast hatte allein die Nennung des Wortes etwas Beruhigendes, als wollte mein aktivierter Logiksektor mir sagen, es sei gar nicht so schlimm.

Ich war schon in Tausenden herausfordernder Situationen gewesen – ich würde auch diese meistern. Dank meiner Erfahrung, der Mentalstabilisierung und dem neuen Zellaktivator hinter dem Schlüsselbein war ich vorbereitet.

Erhalten hatte ich ihn – im Unterschied zu anderen – durch den Atopen Julian Tifflor. Das Gerät war auf Grundlage eines Technomorphyten und eines Tropfens Vitalliquor entstanden und schickte meinem Körper belebende Impulse, die bis in die Knochen drangen. Ich spürte die Wärme, die vom goldenen Tropfen in der Mitte des Aktivators ausging. Dünne Kokonfäden pulsierten, die winzigen, miteinander verflochtenen Maschinen waren an der Arbeit und bewahrten mich vor Schaden.

Das reptiloide Fremdwesen dagegen war dem mentalen Ansturm hilflos ausgeliefert, der über uns hereingebrochen war wie ein unangekündigtes Unwetter. Es krümmte sich um seine Beine, als wollte es sich dazwischen verkriechen. Auch um meine Begleiter stand es schlecht.

Zau kniete inmitten einer Reihe silberner Gegenstände, die an Kunstwerke aus Metallfolie erinnerten. Einige waren wie Origami gefaltet. Mir erschloss sich nicht, was sie darstellen sollten. Vielleicht abstrakte Blumen oder Pflanzen. Vermutlich waren es technische Geräte. An ihren Oberseiten schimmerten grüne Punkte, die auf einen Ladezustand hinweisen mochten.

Es machte den Eindruck, Zau würde diese Objekte verehren. Er neigte den Kopf, hielt sich den schmalen, wie einen Spalt geformten Mund, als müsste er ihn mit Gewalt verschließen. War ihm übel? Die ohnehin riesigen Augen schienen weiter hervorzuquellen als sonst. Der Effekt wurde durch die lupenartig dicken Brillengläser verstärkt.

Hinter Zau ragten mehrere schrankartige Gegenstände auf, die ihn klein und zerbrechlich wirken ließen.

Tamareil hatte es inzwischen ein Stück von der Tür weggeschafft, hin zur Raummitte. Sie sah aus wie jemand, der fliehen wollte und es nicht konnte, stand mit erhobenen Armen in der Bewegung festgefroren. Aus ihrem Mund kam ein Ächzen, das ebenso schmerzerfüllt wie erstaunt klang. Der Helm des SERUNS war geöffnet und gab den Blick frei auf Tamareils Roboterzüge. In den Augen flackerte ein gelbes Licht wie eine Kerzenflamme in einem Windhauch.

Die Einzige, die sich rührte, war Mahnaz Wynter. Die USO-Agentin hatte wie ich ihre Waffe gezogen. Was hatte sie damit vor? Rächte sich nun etwa die Arroganz der Gemeni, uns nicht vollständig entwaffnet zu haben?

In Wynters Gesicht lag ein gehetzter Ausdruck. Die schwarzen Haare klebten in der Stirn, die schmalen Hände krampften sich um den Strahler.

Nein!

Sie zielte auf den Shod-Spiegel mitten im Raum. Im Moment ging ausgerechnet von der bestens ausgebildeten USO-Spezialistin die größte Gefahr aus. Wenn sie die Nerven verlor und um sich schoss ...

Ich war mit wenigen Schritten bei ihr, während ich ihre Biodaten in der SERUN-Vernetzung überprüfte. Dabei hatte ich das Gefühl, über die Planken eines schwankenden Schiffs zu stolpern. Obwohl ich mentalstabilisiert war, herrschte Chaos in meinem Kopf. Es kostete Kraft, den einmal gefassten Entschluss, zu Wynter vorzudringen, auch umzusetzen. Gedanken rasten durch mein Gehirn, verwirrten sich, wollten Panik auslösen.

Da war der Wunsch zu rennen, einfach nur zu rennen, bis ich dem alles überstrahlenden Denken von GESHOD entkommen wäre. Doch es gab kein Entkommen.

Die Welle ebbt bereits ab, drang die mentale Stimme meines Extrasinns durch das Wirbeln und Rotieren. Reiß dich zusammen!

Das tat ich. Mit einem Dagorgriff und einem daran anschließenden Hebel entwaffnete ich die verblüffte Wynter. Die Waffe fiel auf den Boden, schlitterte ein Stück weit über goldschimmerndes, holzähnliches Material, ehe sie mit einem verhaltenen Krachen in einem Haufen aus übereinander gelagerten, braunen Kästen mit weißen Lamellen verschwand.

Zau hob den Kopf. Sein Atem ging stoßweise. »Ist es vorbei?«

Endlich bewegte sich Tamareil. Erst wie in Zeitlupe, dann immer schneller, senkte sie die Arme. Sie strich sich über den SERUN, als wollte sie einen Fussel darauf entfernen. »Man, das war heftig! Was denkt sich GESHOD bei diesem Mist? Will er unsere Bewusstseine in Brei verwandeln? Was bleibt mir noch, wenn ich keine guten Geschichten mehr erzählen kann?«

Ich kontrollierte Wynters Werte. Sie sanken in den normalen Bereich ab. Auch Zau erholte sich. »Ich glaube kaum, dass sich GESHOD Gedanken über unsere Befindlichkeiten macht. Er kommt zu Bewusstsein. Er ...«

»Wer ... Wer seid ihr?«, unterbrach mich eine schwache, leicht schrill klingende Stimme. »Und wer, bei Gzud, bin ich?«

Das reptiloide Wesen sah mitgenommen aus, wirkt jedoch deutlich orientierter als vor wenigen Sekunden. Es kniff die Augen zusammen. Ich kannte es erst einige Minuten, trotzdem fiel mir auf, dass die blaue Farbe der Schuppen bleicher war als zuvor. Das Geschöpf hatte an Farbe verloren. Die dünnen, hühnerartigen Beine zitterten, als wäre der Körper darauf zu schwer geworden.

»Ich bin Atlan da Gonozal. Das sind meine Begleiter. Wer du bist, wissen wir nicht. Auch nicht, wo genau wir hier sind. Das scheint dein Raum im Konglomerat zu sein.«

»Mein Raum ...« Das Wesen blinzelte mit vertikalen Lidern, die sich vor bernsteinfarbene, das Auge ausfüllende Iriden schoben. »Nein ... meine Schatzkammer! Ich bin eine Mitshawi.«

»Eine Mitshawi?«, fragte Tamareil. »Was genau ist das? Und was meinst du mit ›Schatzkammer‹?«

Ich fand, dass sich beides von selbst erklärte. Wir standen mitten in dieser Schatzkammer, einem wilden Sammelsurium aus vorwiegend technischen Geräten, von denen mir die meisten fremd waren. Der Shod-Spiegel stellte nur eine der unzähligen Kuriositäten in dieser Anhäufung dar.

»Ich bin eine Mitshawi. Die bedeutendste Mitshawi an diesem Ort ... Die einzige ...« Ein Zucken lief über das echsenartige Gesicht. »Ich bin Minga Hashina. Warum wolltet ihr mir das wegnehmen?«

»Wegnehmen?«, echote Zau, der ebenfalls zu sich gekommen war. »Wir wollen dir nichts wegnehmen.«

»Mein Ich!«, klagte Hashina. »Ihr wolltet mein Ich stehlen! Meine Existenz! Mein Selbst! Mein ...« Sie verstummte. »Nein. Das wart gar nicht ihr, oder? Das war ...«

»Die Phase Shod«, endete ich. »Sie beginnt. Jetzt. Und wenn ihr mich fragt, haben wir wenig Zeit, bis eine weitere mentale Welle heranrollt. GESHOD macht sich gerade erst warm.«

Die Schuppen wurden noch eine Nuance blasser. »Eine weitere Welle?«, fragte Hashina. »Ihr wollt noch einmal so etwas mit meinem Kopf anstellen?«

»Nein«, sagte ich. »Wir haben nichts damit zu tun! Dafür ist GESHOD verantwortlich.«

Hashina ließ nicht erkennen, ob ihr der Name GESHOD etwas sagte. Kannte sie die Superintelligenz? Es machte mich misstrauisch, dass sie nicht nachfragte.

Mahnaz Wynter schüttelte sich wie ein Hund, der nass geworden war. »Meine Waffe ...«, murmelte sie. Mit raschen Schritten war sie bei dem Strahler und hob ihn auf.

»Geht es dir gut?«, fragte Zau besorgt.

Wynter nickte knapp. »Bestens. Was tun wir? Denkt ihr, es gibt irgendwo Schutz vor GESHODS mentalen Wellen? Vielleicht durch starke, mehrfach gestaffelte Schutzschirme?«

Es war typisch für sie, dass sie gleich zum Wesentlichen kam. Wir hatten einen ganzen Haufen Probleme, unter anderem stand keineswegs fest, ob Minga Hashina uns freundlich oder feindlich gesinnt war. Sie konnte uns an den Ruhenden Bhal verraten, an Drush. Doch das war zweitrangig.

Niemand von uns wusste, wie extrem das Erwachen GESHODS sich auf uns auswirken würde. Es war durchaus möglich, dass wir dabei allesamt den Verstand verloren, was jedes weitere Problem zu einer vernachlässigbaren Größe schrumpfen ließ.

»Ich hatte den Schutzschirm zwischendurch an und habe keinen Unterschied gespürt.«

Auf Wynters Stirn standen Schweißperlen. »Dann eben auf eine andere Weise.«

»Wie sollte das gehen?«, fragte Tamareil bitter. »Glaubst du, es hilft, sich eines dieser Metallfaltkunstwerke über den Kopf zu halten und damit zu wedeln?«

Es gibt einen Weg, sagte der Extrasinn. Ihr müsst euch öffnen. GESHOD kommt zu sich, indem er sich erinnert. Teilt seine Erinnerungen. Nehmt sein Wissen mit.

»Nicht noch mal«, flüsterte Hashina. »Es war furchtbar. Beinahe wäre ich in die Dunkelheit gestürzt und nie mehr zurückgekommen. Gzud hasst mich! Ich kann das nicht noch mal ertragen ...«

»Das werden wir müssen«, sagte ich. »So lange, bis es überstanden ist. Wir helfen dir, Minga Hashina. Wir passen auf dich auf.« Wenn wir dieses Wesen unterstützten, würde es später vielleicht dasselbe für uns tun.

Hashina kauerte sich auf dem Boden zusammen. »Nein, nein, nein!«

»Wir müssen uns öffnen«, forderte ich. Rasch sagte ich den anderen, was der Extrasinn vermutete. »Wenn wir uns der Welle stellen, uns ihre Energie zunutze machen, werden wir Zeugen von GESHODS Erwachen sein. Wir werden mehr über ihn erfahren – und das ist Teil unserer Mission.«

»Nicht meine Mission!«, beschwerte sich Hashina. »Ich habe Besseres zu tun, oh ja! Meine Schatzkammer muss beschützt werden. Ich muss den Grauschleier bannen. Ich ...«

»Du hast keine Wahl!«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Spürst du es nicht? Die zweite Welle kommt bereits. Sie ist schon auf den Weg.«

Es war wie ein Sog in meinem Denken. Noch drückte und wirbelte nichts, viel eher kam es mir vor, als würde sich GESHODS Präsenz zurückziehen, wie sich das Meer zurückzog, ehe es mit voller Wucht wiederkam. Die Superintelligenz bereitete sich vor.

Wynter hielt mir ihre Waffe hin. »Nimm du sie. Ich kann für nichts garantieren. Offensichtlich setzt mein Denken unter der mentalen Gewalt aus.«

Ich steckte den Strahler weg. Hoffentlich würde ich klar genug bleiben, um keinem meiner Freunde zu schaden. Selbst ein Zellaktivator war nur ein geringer Schutz, wenn ein Wesen wie GESHOD wirkte.

Wir hockten uns auf den Boden, nahmen eine stabile Position ein, als erwarteten wir einen körperlichen Angriff. Zau stieß leise, knatternde Laute aus.

Minga Hashina jammerte leise vor sich hin. Sie trippelte vom Shod-Spiegel zu einem spiralförmigen Gegenstand, berührte ihn flüchtig mit einer Hand. In der anderen hielt sie einen aus Kunststoff gefertigten Anhänger, der ein Echsengesicht zeigte. War das dieser Gzud, den sie offensichtlich wie einen Gott verehrte?

Unwichtig.

Ich schloss die Augen, spürte GESHODS Sein, das die Richtung seiner Aufmerksamkeit veränderte. Es kam direkt auf mich zu.

Der Extrasinn sagte etwas. Seine Worte teilten, vervielfältigten sich, als würden sie aus Tausenden Lautsprechern dröhnen.

Nimm es mit!, wisperte es von allen Seiten. Nimm-es-mit-nimm-es-mit-nimm-es-mit ...

Er zeigte mir, worauf es ankam, erinnerte mich an das Wesentliche.

»Wie?«, fragte ich laut. »Wie sollen wir es mitnehmen?«

Da waren Fetzen. Rot und Blau, Gold und Silber. Gedanken, Splitter. Selbst bei dem Multibewusstsein von ES hatte ich das nicht in dieser Form erlebt. Dieses Sein fühlte sich unfassbar fremd an, gleichzeitig war da ein winziger Ausschnitt, den ich begriff. Mir war, als blickte ich durch ein Schlüsselloch.

Zuerst verschwamm die Sicht. Der fremde Raum wollte sich nicht enthüllen, als wäre er von Rauch erfüllt, doch nach und nach erkannte ich, dass der Raum nicht leer war.

»Entspannt euch!«, riet ich meinen Begleitern. »GESHOD will sich selbst finden. Wir können an seinen Erinnerungen teilhaben, wenn wir uns von der Welle mitnehmen lassen.«

»Ja«, wisperte Zau. Er formte die Hände zu Klauen. »Falls es uns nicht zerreißt ...«

Der Tryzom-Mann war selbst in der Lage, andere an seinen Erinnerungen mental teilhaben zu lassen. Er konnte Gedächtnisinhalte direkt via Pedotransfer auf eine Person seiner Wahl übertragen.

Doch GESHOD sendete uns nichts, damit wir ihn sahen, vielmehr sortierte er sein Denken neu, vielleicht sogar seine gesamte Existenz. Die Chancen standen gut, dass unsere Gehirne dabei gegrillt würden wie Insekten, die sich in Lava verirrten. Mir war schmerzlich bewusst, dass alles auf dem Spiel stand. Wenn diese Wellen stärker wurden, würde es zuerst Minga Hashina treffen – und danach uns, einen nach dem anderen.

Da kommt sie ..., warnte der Extrasinn, ehe die nächste Welle ganz heran war und über das Ufer meines Denkens raste.

Ich stöhnte auf, presste mir die Hände gegen die Schläfen. Gleichzeitig gab ich mich dem Sog hin.

Mein Ich war bedeutungslos. Es war nichts, was ich bewahren, was ich festhalten musste. Wenn GESHOD wollte, dass ich Splitter war, würde ich Splitter sein. Wenn ich Staub sein musste, würde ich Staub sein. Was war schon ein Bewusstsein anderes, als eine sich ständig wandelnde Illusion, die Stabilität vorgaukelte? In meiner unglaublich langen Lebenszeit hatte ich so viel erfahren, war in immer anderen Geisteszuständen gewesen, und niemals wirklich ein und derselbe. Das Einzige, das im Multiversum feststand, war die Veränderung.

Alles veränderte sich. Auch ich. Meine Überzeugungen mochten mich tragen, wie mich ein Gleiter trug, doch sie waren nicht ich. Es war möglich, sie gehen zu lassen, für einen Moment einfach das zu sein, was immer ich sein musste, um GESHODS Erinnerungen zu teilen.

Im Raum hinter dem Schlüsselloch wurde es heller. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit. Sie war humanoid, hager, nahezu dürr. Blassblaue Haut schimmerte auf. Ein ovaler Kopf hob sich, vier stahlblaue Augen blickten mich an.

»Atlan«, flüsterte eine Stimme. Ich wusste nicht, ob sie von dem Wesen kam oder von meinem Extrasinn.

Atlan.

Wer war das?

Unwichtig.

Ich war ...

Splitter. Staub. Doch darunter, dahinter, darüber gab es ein Etwas. Ein Gefäß. Es leerte sich, machte Platz für das Neue, das durch das Schlüsselloch strömte.

Die mentale Welle riss an meinem Selbst. Ich ließ los.

2.

Zeitwaage

 

Die Zeitwaage senkte sich. Ein Schauer lief über Bhal-1. Sie hob das ovale, silberne Amulett zwischen zwei der drei Greiflappen, betrachtete die blau flirrenden Punkte darin, die nach und nach dunkler wurden. Zwischen ihnen zeichneten sich Konturen ab, die entfernt an eine fremdartige Landschaft erinnerten. Ganz unten, winzig klein, leuchteten Zahlen auf. Dort standen die Tage, die sie noch zu leben hatte. Es waren etliche, dennoch konnte es knapp werden.

Was, wenn sie zu spät kam, das Ziel nicht mehr rechtzeitig erreichte? Auch um die meisten Besatzungsmitglieder stand es ähnlich. Bhal-1 schüttelte die Zeitwaage, tippte dagegen, sodass der Wert ihrer Beraterin erschien. Sanudh-1 war nur wenige Stunden später als sie aus der Klonmanufaktur gestiegen.

Bhal-1 ließ das Amulett sinken. Sie stand in der Zentrale, umringt von anderen, und doch fühlte sie sich allein. Als Kommandantin der AGNABHA GEMH war sie anders als der Rest der Besatzung. Einzigartig. An manchen Tagen machte ihr diese Einzigartigkeit zu schaffen.

Sie wendete den Ei-Sessel, richtete ihn auf den energetischen Panoramaschirm aus, der sich wie eine Kuppel über ihr spannte. Im Bereich direkt vor ihr schimmerten die Lichter unzähliger Sterne. Die Darstellung war stark vergrößert. Zehntausend Lichtjahre entfernt wartete eine Balkenspiralgalaxis darauf, von den Mheriren erforscht zu werden. Im Herzen der Sterneninsel lauerte ein Geheimnis, das ebenso wundervoll wie zerstörerisch sein mochte.

Ob Bhal-1 jene sein würde, die der Galaxis ihr Geheimnis entriss, es barg und mit sich nahm, im Auftrag der Wanderin?

Daten klangen durch den Raum. Es war ein unaufdringlicher Chor, aus dem sich jede Mherire die benötigten Werte herausziehen konnte. Ihr Gehör hatte keine Schwierigkeiten damit, die Klänge simultan zu verarbeiten. Die Tonhöhen, die sie nicht interessierten, blendete sie aus.

»Unsere Reiseentfernung beträgt 165 Millionen Lichtjahre ...«, wisperte eine helle Stimme.

»Der Durchmesser der Spiralgalaxis beläuft sich auf 125.000 Lichtjahre ...«, informierte ein deutlich dunkler klingender Singsang.

125.000 Lichtjahre. Das war eine ganze Menge. Hunderte Milliarden von Sternenlichtern, Hunderte Millionen bewohnter Welten. Eine endlose Weite. Dennoch zweifelte Bhal-1 nicht daran, dass sie finden würden, wonach sie suchten.

Die Türflügel des Zentraleeingangs glitten auf mehreren Ebenen in die Wand. Sie bestanden aus sieben Segmenten, die zur Seite und nach oben fuhren. Die oberen Teile bewegten sich in den Wänden weiter, rutschten dort seitwärts und standen zur Verfügung, falls man damit einen Eingangstunnel bilden wollte, um hochrangige Gäste mit dem Ehrentor zu empfangen.

Doch die Mherire, die eintrat, war kein Gast. Pikodh-1 war die Erste Erforscherin an Bord der AGNABHA GEMH. Ihr Gang war federnd, nicht ganz so gleitend wie der gewöhnliche Gang einer Mherire. Eines ihrer vier Kniegelenke war bei einem Einsatz verletzt worden. Zwar hatte sie keinen bleibenden Schaden davongetragen, doch in ihren Bewegungen war ein Rest dieser Einschränkung geblieben.

Pikodh-1 wirkte blutjung, dabei war sie beinahe so alt wie Bhal-1 und nur wenige Wochen nach ihr aus dem Ei-Schlaf geholt und in die Manufaktur gebracht worden. Es mochte an ihrem hohen Kopf liegen, der schlanker war als üblich – ein Zeichen von Kindlichkeit.

Die Erste Erforscherin kam zielstrebig auf Bhal-1 zu. Ihre Haut war eine Spur heller als die anderer Mheriren, beinahe so blau wie durchscheinender Kobalt.

In der Brust von Bhal-1 machte das Herz einen schmerzhaften Schlag. Was bedeutete das unverhoffte Auftauchen der Ersten Erforscherin? Würde sie mehr über diesen Einsatz erfahren, der sie so weit von der Heimat wegführte? Enthüllte Pikodh-1 endlich die Geheimnisse, nun, da die Zielgalaxis zum Greifen nah war?

»Einheit und Glück«, begrüßte Pikodh-1 sie.

»Einheit und Glück«, erwiderte Bhal-1 automatisch. »Kommst du, um mir zu berichten?«

»Da muss ich dich enttäuschen. Es gibt keine Neuigkeiten von meiner Seite.«

»Es wäre hilfreich, mehr zu wissen, um unseren Auftrag zu erfüllen.«

Pikodh-1 setzte sich in den freien Sessel neben ihr. Es war ein Platz, der für Sanudh-1, die Oberste Gefahreneinschätzerin, frei gehalten wurde, damit sie ihrer Funktion als Beraterin der Bhal jederzeit gerecht werden konnte. Doch Sanudh-1 war in diesen Tagen selten in der Zentrale. Es gab keine Gefahr, die ihnen derzeit drohte.

»Wir sind kein junges Volk«, sagte Pikodh-1. »Vor über einer Million Jahren haben wir begonnen, den Weltraum zu erobern. Seit fünftausend Jahren sind wir die beherrschende Intelligenz von Kleeth.«

»Warum erinnerst du mich daran?«

»Weil ich deine Zweifel spüre. Du musst nicht zweifeln. Wir werden dieses Rätsel lösen.«

»Wir sind weit fort von Kleeth. Sehr weit fort.« Bhal-1 drehte den Kopf um hundertachtzig Grad, sah hinter sich in der alles überspannenden Kuppel die Heimatgalaxis auf der Sternkarte liegen.

Die vertrauten Formen brachten etwas in ihr zum Klingen. Hatte sie Heimweh? Fürchtete sie, in der Fremde zu sterben?

Nein.