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Nr. 2992

 

Vergessenes Selbst

 

Ein Aggregat in Gefangenschaft – alte Bekannte tauchen auf

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Dunkle Ahnungen: Aurelia, RAS TSCHUBAI

2. Ängste: Reginald Bull, Terrania City

3. Zivilisierte Ilts: Gucky, RAS TSCHUBAI

4. Selbstbeherrschung: Reginald Bull, Terrania City

5. Transmitterstottern: Gucky, RAS TSCHUBAI

6. Begrüßungskomitee: Gucky, VOIGT GOSLING

7. Obhüter: Gucky, YETO

8. Vergessen: Aurelia, RAS TSCHUBAI

9. Schneekönigin: Aurelia, RAS TSCHUBAI

10. Entscheidungen: Aurelia, RAS TSCHUBAI

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Davon ist er in diesen Tagen des Jahres 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung allerdings weit entfernt: In der von der Superintelligenz ES verlassenen Milchstraße machen sich Boten anderer Superintelligenzen breit, ebenso alte Feinde von ES und neue Machtgruppen.

Das größte Problem der Milchstraße ist dabei gewiss der Weltenbrand, den sich der skrupellose Adam von Aures für seine weitreichenden Pläne zunutze machen will.

Beigelegt scheint indes der Konflikt mit den Thoogondu, einst ein von ES unterstütztes Volk, das von der Superintelligenz verbannt wurde und seit Jahrtausenden in der fernen Galaxis Sevcooris auf seine Rückkehr wartet. Mittlerweile ist mit der neuen Herrscherin ein neues Zeitalter angebrochen, und friedliche Koexistenz und Partnerschaft rücken in greifbare Nähe.

Bleiben die Gemeni als Repräsentanten der schlafenden Superintelligenz GESHOD, die angeblich ein Mündel von ES ist. Aber wie passt das Verhalten der Gemeni zu dieser Aussage? Einerseits agieren sie als Gegner, andererseits als Partner der Menschheit. Gelingt es nicht bald, Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen, droht Perry Rhodan nicht nur ein VERGESSENES SELBST ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide macht eine neue Bekanntschaft.

Aurelia – Die Posmi versucht, über Namen Realität zu schaffen.

Das Aggregat Etain – Die Nicht-Frau zeigt Schwäche.

Gucky – Der Mausbiber nutzt seine Kenntnisse.

Tamareil – Die Lügnerin kann auch die Wahrheit sagen.

Eine Entscheidung zuckt durch die

Dunkelheit des Zweifels,

zerschneidet den Knoten der

Unentschlossenheit.

Das Ende der Qual.

Die Brücke über den Abgrund.

Wohin wird sie mich führen?

– Ein Kind, das keines ist

 

1.

Dunkle Ahnungen:

Aurelia, RAS TSCHUBAI

 

Sie war verstörend schön, diese Frau, die keine Frau war.

Etwas ging von ihr aus, das Aurelias emotionale Routinen durcheinanderbrachte. Das hatte nichts mit der körperlichen Hülle zu tun, die Aurelia derzeit verwendete und die ihr im Laufe der Jahre die liebste geworden war: Aurelia hatte ihren Robotkörper in eine onryonische Biomolplastmaske gehüllt, so, wie sie schon als Rayonin oder Tiuphorin aufgetreten war. Das gab ihr etwas zugleich Vertrautes wie Exotisches, denn nach wie vor waren die Onryonen in der Milchstraße ein recht neues Volk, trotz des grundsätzlich menschlichen Körperaufbaus, den sie mit Terranern, Akonen, Arkoniden, Tefrodern und vielen mehr teilten.

Aurelias Zielsetzungen änderten sich schlagartig. Sie wollte das Aggregat Etain beschützen, wollte, dass es lächelte, sich wohlfühlte. Gleichzeitig war der Anblick des perfekten, milchigen Gesichts bedrohlich, als würde Aurelia auf den massigen Körper eines Tigers schauen, der sich sprungbereit zusammenkauerte.

Aurelias bewusste wie unbewusste Denkprozesse reagierten umgehend auf die erhöhte Gefahreneinstufung. Trotz des Schutzschirms, der sie vom Aggregat trennte, war Aurelia kampfbereit, während die positronisch-semitronischen Analysen lautlos vor sich hin ratterten und aus simplen Abwägungen komplexe Gedanken über das gefangene Aggregat entstanden.

Welche Absichten verbargen sich hinter den schwarzen Augen? Was ging in diesem fremdartigen Geschöpf vor, das Lotho Keraetes Kommandantin gewesen war und das zu seiner schönen Familie gehörte?

Das Aggregat saß ruhig in der mehrfach gesicherten Zelle, schien nichts zu tun, sich nicht einmal zu bewegen, und doch hatte Aurelia den Eindruck von Bewegung. Ihr war, als blickte sie auf ein wogendes Meer, auf immer neue Wellen, die heranrollten, sich am Ufer brachen, schäumend und urgewaltig.

Hinter der Fassade aus weiß geschminkter Geisha und Topmodel, der Illusion von Menschlichkeit, verbarg sich etwas anderes, Endloses, so alt wie das Universum selbst. Ein Bewusstsein, das überdeutlich präsent war, aber allem widersprach, was Aurelia kannte.

Fast gegen ihren Willen sagte Aurelia, was sie dachte. »Sie ist mir ein Rätsel. Mehr als jedes andere Wesen, das ich bisher getroffen habe.«

Matho Thoveno kniff die Augen zusammen, als hätte er einen zappelnden Wurm in seiner Lieblingssuppe entdeckt. Der Chefmediker der RAS TSCHUBAI war dabei, eine Reihe von Testergebnissen zu überprüfen, die in Form mehrerer Holos vor ihm in der Luft schwebten. »Sie? Nicht Es? Was hast du mit deiner Bewusstseinssimulation angestellt? Bist du wieder in der Experimentierphase?«

Aurelia spürte, wie sich das zuvor auf freundliches Blau eingestellte Emot in ihrer Stirn grünlich verfärbte. »Ich habe den Modus ›besonders empathisch‹ gewählt. Ist das für dich ein Problem?«

»Nein, nein«, sagte Thoveno eine Spur zu schnell, als fürchtete er, sie würde einen formalen Protest gegen seine Mitarbeiterbehandlung einlegen.

Tatsächlich hatte Aurelia das in den letzten zwei Monaten drei Mal getan, was unter anderem daran lag, dass Thoveno sich weigerte, sie als Posmi zu bezeichnen, weil ihre offizielle Eintragung als Bordmitglied der RAS TSCHUBAI »Posbi« lautete. Da Aurelia eine positronisch-semitronische Entität ohne Plasmaeinheit war, fand sie den Begriff Posmi aber angemessen. Immerhin war es vorwiegend eine Semitronik, die ihre Gefühle simulierte, und das von Jahr zu Jahr perfekter. Posbis dagegen hatten biologisches Plasma in sich.

Aurelia wandte sich wieder dem Aggregat zu. Sollte sie ihre Bewusstseinssimulation tatsächlich neu einstellen? Thoveno hatte recht. Ihre Gefühle für das Aggregat waren irrational. Dabei war es nur die halbe Wahrheit, dass Aurelia mit dem Aggregat Etain ein Rätsel vor sich hatte. Die andere Hälfte verwirrte sie mehr, als sie innerhalb des voreingestellten Modus in Worte fassen wollte. Es gab ein besonderes Band zwischen ihnen, eine Verbindung, als wären sie Schwestern.

Aurelia war ein ungewöhnliches Geschöpf, ebenso wie das Aggregat. Sie spürte den Wunsch, ihr Skelett anzupassen, um mehr wie das Aggregat Etain auszusehen. Wie es wohl wäre, wenn ihre goldenen Augen schwarz wären, die Haut aus Biomolplast nicht dunkel, sondern weiß wie Schnee? Es war irrational – aber verführerisch.

Das Aggregat Etain hob den Kopf, als könnte es Aurelia trotz des Abschirmungsfelds wahrnehmen. Es war eine sparsame Bewegung, die Thoveno nicht einmal bemerkte.

Aurelia dagegen starrte zurück. Sie dachte an die Kampfkraft des Aggregats, die dem mehrerer Kampfroboter glich. Sie dachte auch an das, was dem Aggregat fehlte: Hormone. Besonders Melatonin und Serotonin.

»Ergeben die Tests etwas Brauchbares?«, fragte sie Thoveno.

Der Ara berührte das rote Tuch, das er stets um den haarlosen Kopf trug. Er kratzte sich, rückte dann den Stoff auf dem eiförmigen Schädel zurecht. »Leider nein. Vielleicht hat Ziblatt ein Ergebnis. Ich kann nicht viel Neues über das Aggregat feststellen, jedenfalls nicht darüber, wie sich der Hormonmangel auswirkt. Die Ferndiagnose hat gezeigt, dass es im Inneren des Aggregats keine Organe im normalen Sinn gibt. In ihm befinden sich komplexe, kleinteilige Strukturen. Ein endokriner Apparat ist nicht vorhanden. Ein solches Informationssystem innerer Drüsen fehlt vollständig.«

»Was dazu passt, dass sie eine gewisse Zeit ohne Sauerstoff auskommt.«

Das Aggregat konnte auch fliegen. Der Mediker und Spezialist für biochemisch-positronisch-prothetische Interfaces Gaston Ziblatt war dabei, mehr darüber herausfinden. Auch er hatte – wie Thoveno – unter höchster Sicherheitsstufe einige Ferntests vorgenommen. Aurelia vermutete, dass Ziblatt erfolglos bleiben würde. Das Aggregat war zu fremdartig.

Fest stand: Das Aggregat fürchtete sich vor den Folgen des Hormonmangels. Es zeigte durch Stimm- und Körperänderungen Gefühle, wenn auch unklar war, auf welcher Basis diese Gefühle erzeugt wurden.

Aurelia rief im Erinnerungsspeicher die Worte ab, die das ätherisch schöne Wesen gegenüber dem Eismönch Geo Lichtblau ausgesprochen hatte: »Wenn der Melatoninspeicher leer ist, vergisst das Aggregat Etain sich selbst.«

Davor hatte das Wesen ganz offensichtlich Angst. Oder spielte es diese Angst nur, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen? Wollte es schwach, ja, hilflos wirken, um seine Chancen auf eine Flucht zu erhöhen?

Ein neuer Gedankenkomplex drängte sich in die Primärverarbeitung. Aurelia kräuselte das Emot auf der Stirn. »Wir reden immer vom Aggregat.«

»Warum auch nicht? Es bezeichnet sich selbst in der dritten Person.«

»Mag sein. Aber ich werde es Atra nennen, weil es schwarze Augen hat.«

»So wie Gucky dich Aurelia getauft hat, weil du goldene Augen hast? Nach dem terranisch-lateinischen Begriff für die Goldene?«

»Das hat nichts mit Gucky zu tun!« Das hatte es natürlich doch, allerdings war es Aurelia in der aktuellen Bewusstseinssimulation möglich zu lügen. Sie wollte wissen, wie es sich in diesem erweiterten Modus anfühlte, das zu tun, was Gucky damals getan hatte. Machte es Spaß? Wenn ja: warum?

Noch immer verstand Aurelia die Beweggründe des Mausbibers nicht, doch sie näherte sich dem Verstehen langsam an. Es schien ihr richtig zu sein, dem Aggregat einen Namen zu geben. Dabei ging es gar nicht um das Geschöpf an sich, sondern um ihre Beziehung zu ihm.

Thoveno schüttelte den Kopf. »Ich habe mich geirrt. Dein Verhalten ist ein Problem. Eine Namensgebung kommt nicht infrage. Das Aggregat ist gefährlich. Wenn du zu emotional bist und eine Bindung zu ihm aufbaust, wird es das womöglich gegen dich verwenden. Kannst du bitte deine Bewusstseinssimulation modifizieren?«

»Nein. Nicht jetzt. Ich bin eine freie Posmi, keine tumbe Maschine, die deine Befehle empfängt!«

»Na schön. Aber wenn das ausartet, werde ich Lutter bitten, dich zu überprüfen und gegebenenfalls aus dem Team zu nehmen.«

Lutter war ein Posbi, der diese Bezeichnung auch verdiente, und der Sicherheitsbeauftragte des Betreuungs- und Analyse-Teams.

»Es wird nicht ausarten. Im Gegenteil: Vielleicht kann ich durch ein besseres Verständnis Atras Vertrauen gewinnen.« Aurelia registrierte eine Veränderung in der Zelle. »Atras Schultern sind eingesunken.«

»Tatsächlich. Und?«

»Diese Haltung tritt das erste Mal auf. Ich denke, Atra ist erschöpft. Es geht ihr schlechter. Die fehlenden Hormone setzen ihr zu.«

»Das mag sein. Aber wir können dem Aggregat nicht helfen. Dafür verstehen wir es zu wenig. Das Aggregat will nicht über seinen Zustand sprechen. Ich habe es mehrfach versucht. Es verweigert jede tiefergehende Information.«

»Lass es mich versuchen! Ich will mit Atra reden. Immerhin bin ich kein Mensch, nicht mal wahres Leben. Vielleicht sieht sie in mir etwas Besonderes.«

Thoveno schaltete die Holos ab. »Wie du willst. Einen Versuch dürfte es wert sein.«

 

 

Reginald Bull, Solare Residenz

 

Eine Woche.

Reginald Bull blinzelte, las erneut, was in der Holodatei stand. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, durchdrangen einander wie ein aufgescheuchter Fliegenschwarm.

Eine Woche. Das war die Wirkdauer des neusten Mittels gegen den Weltenbrand, wobei die Angabe eine Richtlinie war und nicht in Stein gemeißelt. Es war ein Erfolg. Ein kleiner Triumph – der aber quasi nichts wog in Anbetracht des Leids.

Eine Woche Linderung der Symptome. Dann würde sich der Körper eines Humanoiden ohne Zellaktivator oder Psi-Kräfte an das Medikament gewöhnt haben und die Pille nur noch ein bunter Drop unter vielen sein, die in der letzten Zeit wirkungslos geworden waren.

Bull schaute auf, als Cai Cheung eintrat. Er hatte die Tür offen gelassen, um sich einzureden, dass dadurch mehr frische Luft in sein Büro käme. Geschlossene Türen sorgten dafür, dass er sich mehr und mehr eingesperrt fühlte. Ohne eine Öffnung schienen die Wände näher zu rücken, als wollten sie ihn bei lebendigem Leib zermalmen.

Die Solare Premier sah furchtbar aus. War sie schon immer schlank gewesen, wirkte sie nun dürr wie ein Skelett. Ihr zweiteiliges Kostüm aus gelber, ferronischer Seide hing schlaff an ihr herab. Die dunklen Haare schienen dünner als sonst, das Gesicht war bleich und verkrampft.

Cheung nickte Bull mit versteinerter Miene zu. »Ich bin dann zu Hause.«

»Ja. Ruh dich aus.«

»Solltest du auch. Wie lange hast du nicht geschlafen?«

»Keine Ahnung. Mindestens drei Tage.« Gedankenverloren rieb sich Bull über die Schulter, wo der Zellaktivatorchip saß. Obwohl das Gerät ihm half, die Belastung besser zu überstehen, war er tatsächlich müde. Der Weltenbrand laugte aus.

Cheungs Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. »Es ist gut, jemanden wie dich an Bord zu haben, Bull. Hekéner ist im Haus, falls eine wichtige Entscheidung ansteht.«

»Wir kommen bestimmt einen Moment ohne dich aus. Notfalls rufe ich dich an.«

Wieder ein Nicken, dieses Mal ein kraftloses. Je länger der Weltenbrand andauerte, desto erschöpfter wirkte Cai Cheung. Als würde sie Stück für Stück dahinschwinden. Sie ging aufrecht aus dem Büro, doch er sah ihr an, wie viel Mühe es sie kostete. Sie wirkte wie ein Mensch, der sich am liebsten auf dem Boden zusammenrollen würde, um an Ort und Stelle einzuschlafen.

Es war, als ob sie Kriegsgefangene in der eigenen Heimat wären. Gefoltert von einem Feind, gegen den sie nichts ausrichten konnten. Wände kamen Bull einengend vor, und der Weltenbrand war wie eine Essenz aller Mauern, angereichert mit Flammen und der Eigenschaft, sich wie eine Schlinge enger zu ziehen. Dieses Bild mochte widersinnig und schief sein, gab andererseits aber die Empfindungen angesichts der enormen Gefahr recht präzise wieder. Jedes Leben würde sich in Asche verwandeln, selbst Rechner wie LAOTSE, die biopositronische Segmente aufwiesen.

Bull stand auf und trat ans Fenster. Die Solare Residenz war zu Boden gesunken. Ihr unterer Teil ruhte in einem Futteral auf dem Grund des Residenzsees. Um die fünf Blütenblätter des orchideenförmigen Gebäudes lag ein Paratronschirm, der die Auswirkungen des Hyperlichts erträglicher machte.

Aus seinem Büro hatte Bull einen weiten Blick durch den Schirm in den verlassenen Park. Einige Roboter glitten über die Wege, räumten auf, schnitten Hecken und Sträucher zurück, als würden sie die Grünanlage für einen Besucheransturm vorbereiten. Doch der würde nicht kommen.

Bull rieb sich die Schläfen, schaute auf das dreidimensionale Bild von Toio und Shinae auf dem Schreibtisch. Ein Servoroboter schwebte herein und brachte frischen Kaffee. Vielleicht sollte Bull sich bei Toio melden. Er hob gerade den Arm, um über das Kom anzurufen, als Toios Signal erklang. Er lächelte über den Zufall, doch sein Lächeln erstarb, als er Toios ernste Miene im Holo sah. »Was ist passiert?«

Toio kniff die Lippen zusammen. Sie sagte nur ein Wort: »Shinae.«

»Was ist mit ihr?« In den letzten Wochen war Bull unendlich dankbar dafür gewesen, dass Shinae den Identor aus der Stadt Allerorten hatte. Das erstaunliche Kleidungsstück schirmte sie vor den Auswirkungen des Weltenbrands ab. Zwar linderte es nicht sämtliche Symptome, doch es war eine deutliche Erleichterung. Bisher war es seiner Tochter erstaunlich gut gegangen. Hatte sich das nun geändert? Litt sein Leuchtstern am Hyperlicht? Stand Shinae in unsichtbaren Flammen?

»Es geht ihr gut«, sagte Toio, doch ihr Gesicht behielt den ernsten Ausdruck. »Zu gut.«

»Was meinst du damit?«

»Du solltest heimkommen. Sie will es dir selbst sagen.«

»Heimkommen? Ich habe noch jede Menge zu tun! In zwei Stunden steht eine Konferenz zum Projekt Exodus an. Ich kann meine Arbeit als Liga-Kommissar nicht vernachlässigen. Nicht in dieser Krise. Sie brauchen jemanden mit meiner Erfahrung.«

»Das hier geht um deine Arbeit.«

Eine Ahnung regte sich in Bull. Er verstand, was Toio andeutete. »Du denkst ...«

»Ja«, unterbrach Toio. »Genau das denke ich. Sie will mit dir darüber sprechen, und zwar persönlich. Also sieh zu, dass du deine Termine verschiebst. Ich bin sicher, Sharoun und seine Minister haben dafür Verständnis. Je mehr Informationen sie bekommen, desto besser.«

»Das denke ich auch. Ich bin in dreißig Minuten da.«

Bull unterbrach die Verbindung. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Seit Monaten fürchtete er sich vor diesem Tag und dem, was passieren könnte. Shinae war ein Kind – gleichzeitig war sie diejenige, die dem Spross SHINAE mit einem Tropfen Blut zum Wachsen verholfen hatte. Sie war dadurch zur Obhüterin des fremdartigen Raumschiffs geworden und hatte gelitten, als es sich von ihr entfernt hatte. Diese Leidenszeit war nun offenbar vorbei.

Der Spross SHINAE war auf dem Weg ins Solsystem.

2.

Ängste:

Reginald Bull, Terrania City

 

»Ihr bekommt sie nicht!« Bull sagte es laut, hinein in das Gleitercockpit. Er musste es laut sagen.

Seine Ängste mochten irrational sein, doch es ging um seine Tochter. Kam der Spross SHINAE zurück, um sich seine Obhüterin zu holen?

»Tolot ist bei ihr«, beruhigte sich Bull. »Kein billiger Pflanzenverschnitt kommt an ihm vorbei, ohne gehäckselt zu werden.« Der dreieinhalb Meter große Haluter war eine Ein-Mann-Armee, die selbst einem Käfigkampf mit einer Legion Bären nicht aus dem Weg gehen musste.

Auch Toio war alles andere als wehrlos. Sie würde ihre Tochter niemals freiwillig hergeben.

Bull atmete aus. Er musste sich beruhigen. Seine Reaktion war übertrieben und vorschnell. Es war nicht gesagt, dass die Gemeni kamen, um Shinae zu holen, doch dass sie zurückkamen, ließ seinen Körper unruhig kribbeln. Es würde die momentane Situation nicht vereinfachen, egal, was Atlan über GESHOD herausgefunden hatte.

Er meldete der Positronik seine Ankunft, schickte die Kennung und ließ sich eine Strukturlücke schalten. Wie bei vielen Anwesen, die in Terrania noch bewohnt waren, lag auch um sein Haus ein Hochenergie-Überladungsschirm. Nur mehrere Schichten Paratronschirme wären sicherer gewesen, aber da hätten Aufwand und Nutzen in schlechter Relation gestanden.

Während er landete, merkte Bull einmal mehr, wie ruhig es im Viertel wurde. Etliche Anwohner waren in die unterirdischen Bunkerstädte gegangen oder hatten sich auf sonnenfernere Himmelskörper zurückgezogen.

Bull begrüßte Toio kurz. Seine Frau umarmte ihn, wenn auch zurückhaltend. Berührungen wurden zusehends unangenehmer. Bald würden sie einander nur noch zuwinken, wenn es so weiterging. »Sie ist bei Tolot, im Keller.«

Shinae hatte in den unterirdischen Geschossen von Tolots Haus eine eigene Spielecke. Dorthin konnte sie sich tagsüber zurückziehen, wenn das Hyperlicht die Symptome verschlimmerte. Auch Toio hielt sich immer öfter dort auf.

Bull ging an dem Gebäude aus holzverkleidetem Terkonit vorbei, das ihm ein Zuhause geworden war. Er mochte den Garten, den Teich, die regelmäßigen Verwüstungen, die durch Tolots Herumtollerei mit Shinae entstanden, und die keine Robotflotte der Welt so schnell beseitigen konnte, wie der Haluter sie dank Masse und Gewicht anrichtete.

Tolot begrüßte ihn knapp. »Ich lasse euch allein«, sagte der riesenhafte Haluter.

Man sah ihm die Krise an, wobei Bull nicht wusste, ob es nicht eher die Haluterpest war, die Tolot zusetzte. Zwar zeigte er bisher keine Symptome der Krankheit, doch seinem Volk ging es schlecht, und eine endgültige Heilung stand – trotz aller Fortschritte seitens des Techno-Mahdi – aus.

Shinae strahlte Bull an und warf sich in seine Arme. »Papa! Da bist du ja! Endlich!«

Bull drückte sich an sie. Es tat gut, bei ihr zu sein, beinahe zu gut. Ihm war, als würde er sie benutzen, damit er sich besser fühlte. Er strich über ihr glattes, rotes Haar, entwirrte zwei Strähnen.

Shinae schien zu ahnen, was er dachte. Sie kniff die blauen Augen zusammen. »Was ist los, Papa?«

»Mama hat gesagt, du möchtest mit mir reden.«

»Ja! Ich spüre den Spross. Die SHINAE. Du hast gesagt, ich soll's dir gleich verraten, wenn sie wiederkommt.«

»Stimmt, Leuchtstern. Danke, dass du daran gedacht hast.«

Seine Tochter lachte. Sie war ausgelassen wie seit Wochen nicht mehr. »Ich weiß noch etwas!«

»Ja?«

»Die SHINAE ... Sie ist nicht allein. Der Spross YETO ist bei ihr!«

Bulls dunkle Vorahnungen verstärkten sich. Was wollten die Gemeni im Solsystem? Warum kamen sie gleich mit zwei Schiffen? »Was glaubst du, wo genau sie sind?«

»Keine Ahnung. Aber sie werden bald da sein. Ich denke, sie melden sich. Sie sind nicht böse, weißt du?«

»Weiß ich«, behauptete Bull, wobei er sich da keineswegs sicher war. GESHODS Absichten gaben nach wie vor Rätsel auf, auch wenn Atlan einiges über die junge Superintelligenz erfahren hatte. Er wollte gerne mit Atlan darüber sprechen. Und mit Perry. Vor allem mit ihm.

Shinae zog einen Schmollmund. »Ich kenne das Gesicht, das du machst. Du willst wieder weg, oder?«

»Das ist wahr. Aber nicht sofort. Ein bisschen bleibe ich.« Er würde warten, bis die Sprosse auftauchten oder geortet wurden. Bis dahin genügte es, Hekéner Sharoun und die RAS TSCHUBAI zu informieren. Sie konnten über Funk reden.

»Wirst du weit fortgehen?«

»Nein. Ich will zur RAS TSCHUBAI im Orbit um Neptun.«

Die Antwort schien Shinae zu beruhigen. Sie lächelte. »Das ist wirklich nicht weit. Aber versprich mir, dass du bald wiederkommst, ja?«

Bull zögerte. Er wollte nichts versprechen, was er möglicherweise nicht halten konnte. Doch durfte er Shinae überhaupt allein lassen? Konnte er ihr vertrauen, dass sie blieb? Schließlich könnte sie sich dank ihres Identors äußerlich verändern und sich zum Spross durchschlagen, um ... ja, um was zu tun? Es gab eine Verbindung zwischen Shinae und dem Gemeni-Schiff, die enger sein mochte als die zu den Eltern.

»Ja«, sagte er. »Ich verspreche es dir.«

 

 

Aurelia, RAS TSCHUBAI

 

Atra blinzelte. Sie bewegte den Kopf von rechts nach links. Wenn Aurelia sich nicht irrte, wurde sie zunehmend unruhiger und unkonzentrierter. Vielleicht suchte Atra auch nach einem Fluchtweg.

Die Posmi stellte sich dicht vor den Schutzschirm, spürte trotz der energetischen Abblendung die Energie der Kuppel, die Atras Zelle umgab. Sie nahm sogar den in einem schmalen Leerraum im Boden verborgenen Schirm wahr, der die Kuppel zum Käfig formte.

Aurelias Sensoren waren deutlich feiner justiert als die Sinnesorgane natürlicher Geschöpfe. Trotzdem hatte sie keine Probleme mit dem Weltenbrand.

Manchmal bedauerte Aurelia das, weil es ihr zeigte, dass sie kein intelligentes Lebewesen im herkömmlichen Sinne der rein Organischen war. Doch ehe sie sich darüber zu viele Gedanken machte, ging sie in das entsprechende Menü und stellte die Bewertungsstufe auf null. Solche Prozesse kosteten sie kaum eine Sekunde. Sie liefen im Hintergrund der Bewusstseinsmodulation ab, in den Sekundärroutinen.