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Nr. 2977

 

Die Kokon-Direktive

 

Reginald Bull gegen den Techno-Mahdi – das Solsystem soll befreit werden

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Offener Funkspruch 1328

1. Im Sol-Kokon: GOUBAR NANDESE

2. Gespensterstunde

3. Lichtspiele

4. Im Feuer

5. Kartentricks

6. Intuition

7. Plan B

Leserkontaktseite

Glossar

Clubnachrichten

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Davon ist er in diesen Tagen des Jahres 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung allerdings weit entfernt: In der von der Superintelligenz ES verlassenen Milchstraße machen sich Boten anderer Superintelligenzen breit, ebenso alte Feinde von ES und neue Machtgruppen.

Eine dieser Machtgruppen ist der sogenannte Techno-Mahdi, der das Solsystem unter seine Kontrolle gebracht hat. Sein wichtigster Repräsentant nennt sich Adam von Aures und er scheint nach der völligen Unabhängigkeit von allen Hohen Mächten zu streben. Bei seinen Bemühungen hat er aber etwas ausgelöst, das den Untergang der Milchstraße nach sich ziehen kann: den Weltenbrand.

Im Solsystem kämpft Reginald Bull für die Freiheit und gegen den Techno-Mahdi. Dazu muss er den TERRANOVA-Schirm abschalten. Der erfahrene Raumfahrer ersinnt DIE KOKON-DIREKTIVE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Mausbiber ist vor allem unterstützend tätig.

Reginald Bull – Der Aktivatorträger muss den TERRANOVA-Schirm von innen knacken.

Kaleb Barasi – Der Spiegelteleporter befindet sich eigentlich noch in Ausbildung.

Lephart Yutong – Ein Wissenschaftler könnte zum Bruchpunkt werden.

Lima Portomessa – Die Techno-Mahdistin kommandiert LORETTA-108.

Offener Funkspruch 1328

an die Zentrale von LORETTA-54:

Janna Debura

 

»Hi, mein Name ist Janna Evelyn Debura. Ich bin in der Eric-Manoli-Klinik in Terrania City geboren, zwölf Jahre alt und mache als Turnerin bei den Sternenholo-Shows in unserem Viertel in Dusthill mit. Vielleicht habt ihr mich schon mal im Regio-Trivid Dust-D gesehen. Ich war die ganz oben auf der Pyramide, weil ich die Leichteste bin.

Die Schule mag ich meistens, außer Mathematik und Sozialkunde, weil beides langweilig ist. Ich bin Klassenbeste in Sport und Astronomie.

Meine Mama ist Elora Debura. Sie fliegt immer nach drei Wochen weg, zur Sonne, lebt dann bei euch auf dem LORETTA-Tender und sorgt dafür, dass euch die Hyperzapfanlage nicht um die Ohren fliegt. Sie ist Technikerin. Eine verdammt gute!

Vor zwei Wochen war ihre Schicht vorbei, aber sie ist nicht nach Hause gekommen. Obwohl sie zu mir wollte, habt ihr sie dabehalten! Ich kann sie nicht erreichen, weil ihr jede Kommunikation blockiert. Ich weiß nicht mal, ob sie lebt, da könnt ihr gerne behaupten, es ginge ihr gut. Aber wie zum Halo soll ich euch trauen? Da glaube ich ja eher, dass ein Schwarzes Loch das Licht wieder ausspuckt!

Ihr sagt, es gäbe da eine geheime Invasion, besetzt mir nichts, dir nichts sämtliche Projektorschiffe um die Sonne, schaltet den TERRANOVA-Schirm ein und nehmt meinen Heimatplaneten gefangen, als ob euch das ganze Solsystem gehörte!

Keine Nachrichten rein oder raus. Kein Kontakt zum Rest der Liga. Totale Isolation.

Meine Freundin Biggi erreiche ich auch nicht. Die ist mit ihrer Familie vor Kurzem nach Jespers Welt umgezogen. Ich will wissen, was bei ihr los ist, ob sie schon so einen Maulwurfmenschen getroffen hat und wie die Zylindrion-Meisterschaften ausgegangen sind. Wie kommt ihr dazu, mir das zu verbieten? Geht's noch?

Und dann diese Sache mit der Invasion: Die war doch gar nicht echt! Virtuell, alternativ, erstunken und erlogen war das! Sowohl der Mist mit den gruseligen Aliens als auch mit der Solaren Residenz! Ihr denkt euch ständig neue Ausreden aus, damit ihr die Macht über die Tender behalten dürft, aber das sind nicht eure. Die gehören uns allen!

Mal ganz ehrlich: Hat der Techno-Mahdi eure Gehirne desintegriert oder was? Ihr seid Galaktiker! Wie könnt ihr die Tender einsacken und Tausende Gefangene machen? Warum nehmt ihr mir meine Mutter und Biggi weg? Ich habe euch nichts getan! Echt nicht! Ich kenne euch nicht mal! Wieso quält ihr mich?

Es geht mir schlecht. Die Sonne tut weh. Ständig dröhnt mir der Kopf, weil alles zu laut ist. Meine Fingerspitzen fühlen sich an, als könnte ich plötzlich Neutrinos spüren, und übergeben musste ich mich in der letzten Stunde zweimal. Ich weiß, alles wäre besser, wenn Mama mich festhalten könnte. Aber ihr behaltet sie bei euch wie einen genoptimierten Hamster!

Wollt ihr weiter Monster spielen oder wieder Galaktiker werden?

Gebt mir Mama zurück!«

1.

Im Sol-Kokon:

GOUBAR NANDESE

 

Es war der 7. Mai. Nicht, dass es ein besonderes Datum gewesen wäre, dafür hatte ich diesen Tag zu oft erlebt, aber die Zahl hing so schön weiß leuchtend vor mir in der Zentrale, wie das nur Holos können. Kein Vergleich zu unserem ersten Weltraumflug mit der STARDUST. Ich dachte immer seltener daran zurück, je älter ich wurde.

Sieben-Fünf-Fünfzehn-Zweiundfünfzig, las ich mir in Gedanken die Zahlenkombination dieses Tages vor.

Und es war Mittagszeit. Ich hatte Hunger. Toio würde grinsen, sie kannte das.

Reginald Bull, würde sie sagen, wie sie es oft gesagt hatte, mit jener Betonung, die unsere Tochter Shinae stets zum Kichern brachte, ohne Zellaktivator wärst du längst auseinandergegangen wie ein Hefekloß!

Na ja, zu etwas musste das Ding schließlich gut sein, was? Hunger schaltete er jedenfalls nicht aus, nur die Zellalterung.

Bald war es so weit. Aber zuerst ein optischer Check unseres Ziels.

Das Holo vor mir in der Zentrale wurde größer, zeigte den Tender LORETTA-108 schräg unter uns. Licht gleißte über die sechs Kilometer lange, kreisrunde Plattform, beschien den diskusförmigen Kernkörper und brachte die angeflanschte Kugelzelle zum Leuchten. Es brach sich auf ganz eigene Weise an der Ynkonit-Wabenverbund-Panzerung, breitete sich aus, als wäre der eingeschaltete Schutzschirm nicht vorhanden.

In der Mitte der Plattform saß ihr Herzstück, das im Takt einer unhörbaren Musik pulsierte: die Hypertron-Zapfanlage. Ein heller Strahl glitt von der Sonne darauf zu, sichtbar geworden durch einen Rückkopplungseffekt des eigentlichen Vorgangs, der einige Zehntausend Kilometer weit reichte.

Das Projektorschiff modifizierte einen Teil der natürlichen Hyperstrahlung, es entstanden Nanokristalle von blauweißer Farbe. Achtunddreißig Projektoren zogen sich in einer Nut an der Außenkante der Scheibe entlang, warfen die umgewandelte Energie auf die andere Seite der Plattform, bündelten sie zu einer Säule, ließen sie sich ausbreiten wie das Dach eines Gewölbes.

Die Erscheinung bildete zusammen mit dem Schiff im Kern einen Kreisel aus Weiß, Silber und Blau. Sie erinnerte mich an eine sich drehende Spindel.

Gemeinsam mit den verbleibenden 111 Tendern formte LORETTA-108 den TERRANOVA-Schirm, eine blauweiß-kristallin funkelnde, abgeplattete Sphäre von 28 Lichtstunden Durchmesser, deren äußere Schicht nichts hinein- oder hinausließ.

Wie ich dieses Funkeln und Glitzern einst begrüßt hatte, als er zum ersten Mal entstanden war! Der TERRANOVA-Schirm, der Schutzschild und das Wahrzeichen unseres Heimatsystems, die Hülle, die uns umgab, wenn Gefahr drohte, um jedem Feind den Weg zu versperren.

Dieses Mal befand sich der Feind aber im Innern des Schirms. Was uns einst behütet hatte, war zu einem Gefängnis in absoluter Schwärze geworden, einem Panzer, der uns umhüllte und erdrückte. Seit Jahrhunderten hatte ich mich nicht auf diese Weise eingeschlossen gefühlt. Am liebsten hätte ich mit den Geschützen der NANDESE auf den Schirm gefeuert, doch das würde nichts bringen.

Ich schaute auf die Daten des Holos vor meinem Sitz. Neben den Zahlenkolonnen lag eine Miniaturdarstellung des Inneren Solsystems. In ihm glühten wie rote Augen sämtliche Positionen der LORETTA-Tender, die gemeinsam den TERRANOVA-Schirm aufrechterhielten.

Fünf Millionen Kilometer trennten die Tender von Sol. Die Schiffe lagen innerhalb der Merkurbahn, dicht genug, um die Ausprägungen der veränderten Sonnenstrahlung deutlich zu spüren. Selbst mir setzte diese Nähe zu.

War das wirklich der Weltenbrand, vor dem uns das Atopische Tribunal hatte schützen wollen?

War das der Preis für die Freiheit?

»Wie weit sind wir?«, fragte ich Tonin Cavillaca.

Die Kommandantin zuckte zusammen, rang sich ein Lächeln ab. »Noch fünf Minuten bis zum Angriff, Bully. Die Wissenschaftler sind bei den Vorbereitungen. Anutida Siam will letzte Korrekturen vornehmen.« Sie schaute zur Seite, blinzelte. In ihre blauvioletten Augen trat ein gehetzter Ausdruck. »Diese verdammten Reaktoren ... Sie werden jeden Tag lauter.«

»Ich höre nichts.«

Ihr Lächeln wurde gequält. »Klar. Du bist schließlich Reginald Bull. Ein Aktivatorträger.«

Schwang da eine Spur Neid in ihrer Stimme mit? Nein. Sie sagte es nüchtern. Es war lediglich eine Feststellung. Wahrscheinlich wusste Tonin Cavillaca nicht mal, wie man Neid buchstabierte. »Wie klingt es denn?«

»Wie Kiesel, die jemand rhythmisch auf Beton fallen lässt.«

Eigentlich sollte niemand in der Zentrale die NUG-Schwarzschild-Reaktoren wahrnehmen können, doch seit die Hochsensibilisierung begonnen hatte, hörte sie fast jeder an Bord außer Gucky und mir. Quasi unsterbliche Aktivatorträger und Mutanten trafen die Auswirkungen des Phänomens deutlich schwächer als andere. Es machte mich nicht unbedingt beliebter.

Nein, es war keine Frage: Der Weltenbrand war da.

Und er führte zu einer Entzündung unserer selbst.

Ich warf der im Holo münzgroßen Sonne einen Blick zu, verfluchte ihr neuerdings so schmerzhaftes Licht, dass plötzlich und unerwartet zum Gegner geworden war. Während andere sich in Bunker unter die Erde verkrochen, waren wir hinausgeflogen, der Sonne und ihren peinigenden Strahlen entgegen, und tanzten nun im All, quasi in Spuckreichweite der Korona.

Was auch sonst? Hekéner Sharoun hatte seine Ankündigung nicht wahr gemacht. Schon vor zwei Wochen hatte er mir mitgeteilt, die Rückeroberung der LORETTA-Tender stünde kurz bevor. Zwei Wochen, in denen die Quintronen, die von der Sonne ausgingen, immer mehr zur Qual geworden waren.

Sharoun war Politiker. Er hatte mit den Techno-Mahdisten verhandelt, dem Wohlfahrtsrat paktiert, den einen oder anderen Vorteil herausgeschlagen und auf Zeit gesetzt. Einen Bürgerkrieg wollte er um jeden Preis verhindern. Dabei war die Stimmung von Anfang an gemischt gewesen. Kaum jemand hatte über den Aprilscherz gelacht, den der Techno-Mahdi am ersten April aus dem Hut gezaubert hatte: eine simulierte Invasion des Solsystems, angeblich verursacht von einer fremden Superintelligenz, doch daran hatte ich nur kurzzeitig geglaubt.

Je mehr Zeit vergangen war, desto sicherer war ich mir geworden, dass der Techno-Mahdi selbst diese Invasion inszeniert hatte. Doch mit welchem Ziel? Ging es dem Mahdi um die Machtübernahme im Solsystem, oder steckten noch andere Gründe dahinter? Inwieweit genau manipulierte Adam von Aures einen Teil des Techno-Mahdi? Hatte Adam den Weltenbrand vielleicht bewusst auslösen wollen?

Sichere Antworten gab es nicht. Gerüchte verbreiteten sich derzeit schneller als Photonen. Es war schwierig bis unmöglich herauszufinden, was an ihnen dran war. Fest stand, dass Adam von Aures Wanderer angegriffen, Bostich getötet und den Weltenbrand ausgelöst hatte. Angeblich war es ihm darum gegangen, die Mächtigkeitsballung von ES mit Eiris zu fluten, die Superintelligenzen von ihr fernhielt. Damit sollte eine neue Zeit der Freiheit eingeläutet werden.

Freiheit – immer wieder ging es darum, und immer wieder ging es schief.

Jemand hatte mal gesagt, Freiheit wäre eine Illusion. Nun, vielleicht hatte er recht gehabt, obwohl jeder sich das Gegenteil wünschte.

»Du siehst nachdenklich aus«, sagte Cavillaca. Sie strich sich eine weiße Haarsträhne hinters Ohr, wobei ihre Finger die Haut kaum berührten. Schon ein leichter Druck konnte für sie unangenehm werden. »Denkst du an den bevorstehenden Angriff?«

»Nein. Nicht direkt. Ich denke daran, dass wir schon viel früher hätten handeln sollen. Die Kokon-Direktive greift spät. Das Solsystem darf nicht länger isoliert bleiben. Jeder weitere Tag ist ein Tag zu viel. Die Rückgewinnung der Kontrolle über den TERRANOVA-Schirm muss endlich gelingen.«

Cavillaca schwenkte den Sessel bedächtig in meine Richtung, musterte mich prüfend. Dabei kniff sie die Augen zusammen, als könnte sie mich und meine Absichten auf diese Weise besser erkennen.

»Durch Überstürzung beendet man keine Krisen! Sharoun hat einiges herausgeschlagen. Der Techno-Mahdi ist weit weniger monolithisch, als wir befürchtet haben. Wir mussten es probieren. Die Wissenschaftler in den Tendern ... Sie hätten zur Vernunft kommen können.«

Ich machte eine wegwischende Handbewegung. »Sind sie aber nicht! Der Schirm muss abgeschaltet werden. Wir müssen wissen, was da draußen vor sich geht. Wie die Zustände außerhalb des Solsystems sind!«

Cavillacas Gesichtszüge versteinerten. »Das werden wir! Dafür sind wir da.« Sie wendete den Kopf, prüfte Daten, die ich aus meiner Position heraus nicht einsehen konnte. »Noch zwei Minuten bis zum Beschuss.«

»Gut.«

Wir schwiegen. Die Anspannung in der Zentrale wuchs. Irgendwo tippte jemand mit den Fingern auf eine Sessellehne. Ein Mann bat zischend um Ruhe. Die Auswirkungen der veränderten Quintronenstrahlung waren dicht an der Sonne besonders stark. Obwohl wir die NANDESE in einen Paratronschirm gehüllt hatten, der das Gröbste abhielt, zermürbte die Belastung die Besatzung.

Seit das Phänomen der Hypersensibilisierung ausgebrochen war, wurden immer mehr Lebewesen dünnhäutig. Die Empfindlichkeit der Wahrnehmung jedes Einzelnen verstärkte sich. Was würde geschehen, wenn wir keine Möglichkeit fanden, die Veränderungen der fünfdimensionalen Hyperraumquanten rückgängig zu machen? Würde es immer schlimmer werden, bis das Leben zu einer einzigen Folter ohne Verschnaufpause wurde? Zu einem Spießrutenlauf durch jede einzelne Minute? Schon jetzt fühlte ich mich im direkten Sonnenlicht, als liefe ich durch eine kochend heiße Wüste ohne Schatten. Was würde geschehen, wenn sich der Zustand steigerte? Würden wir uns in herumtorkelnde Grillhähnchen verwandeln?

Ich vertrieb die düsteren Gedanken. Vor uns lag Tender 108. Unser Angriffsziel. Es war an der Zeit: Etwas musste geschehen.

Immer mehr Holos bauten sich vor den Plätzen auf, ergänzten die allgemeinen Panoramadarstellungen. Niemand sagte ein Wort. Ich fühlte die Bedenken der Besatzung. Unsere Feinde kamen nicht aus einer fremden Galaxis oder einem anderen Universum: Sie waren mitten unter uns herangewachsen, Galaktiker wie wir. Es gab niemanden an Bord und im Verband, der diesen Konflikt nicht bedauerte.

Die Nervosität, die sich gemischt mit Zweifeln ausbreitete, war wie eine konstante Hintergrundstrahlung. Für mich hatte sie etwas Vertrautes. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Wir taten das Richtige!

Cavillaca richtete sich im Sitz auf. Ihre feenhaft schlanke Gestalt überragte mich um einen Kopf. Sie atmete ein, stieß die Luft aus. »Angriff in drei, zwei, eins ... null!«

Ich folgte dem Geschehen auf dem Panoramaholo. Die Geschütze der GOUBAR NANDESE feuerten. Sie zielten auf den Tender, schickten eine Salve Impulsstrahlen Richtung Diskus, zum Herz der Hyperzapfanlage. Der Schirm, in den sie schlugen, flackerte hellblau auf. Einmal. Zweimal. Dreimal.

 

 

Drei Tage zuvor:

Terrania

 

Das Leben war krank. Toio Zindher fühlte und sah es. Sie saß auf der Wiese hinter dem Haus, barfuß, die langen Beine ausgestreckt, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt.

Neben ihr hockte Gucky, die Knie angezogen.

Gemeinsam betrachteten sie das Ufer des Kleinen Goshun-Sees, das hinter dem abgedunkelten Feld des HÜ-Schirms verschwamm. Steine und Sträucher lagen im Schatten, waren so unscharf wie die Zukunft. Seit einer Weile hatte keiner von ihnen gesprochen.

Unverhofft waren sie beide Leidensgenossen geworden, teilten eine neue Vertrautheit. Während Toio die Vitalität und Krankheit der Lebewesen um sich farblich erkennen konnte, war Gucky in der Lage, Gedanken und Gefühle zu espern. Beide Psi-Gaben brachten in diesen Tagen wenig Freude.

Toio schloss die Augen, genoss die vitale, gesunde Aura des Mausbibers. Durch den Zellaktivatorchip in seiner Schulter leuchtete Gucky wie ein Fixstern, um den Trümmer kreisten. Er war ein Licht in der Dunkelheit. Da draußen herrschte jede Menge Finsternis, vor deren entsetzlichem Anblick Toio nur die Entfernung schützte.

»Kannst du die Gedanken der Menschen da draußen espern?«

Gucky schnaubte. »Durch einen aktivierten HÜ-Schirm? Wohl kaum. Seit ihr euer Haus abgeschottet habt, habe ich endlich mal Empfangspause.«

»Entschuldige. Eine dumme Frage.«

Sie schauten zum Nebengebäude. Icho Tolot hob Shinae mit dem unteren Armpaar hoch und schob sie auf die drei Meter hohe Schulter. Das obere Armpaar hielt er ausgestreckt, um ihre Tochter aufzufangen, sollte sie herunterfallen. Der schwarzhäutige Riese trug Shinae über das Gelände. Einmal mehr ignorierte er dabei die eigens für ihn angelegten, stabilen Steinplatten und hinterließ tiefe Fußabdrücke in der Wiese vor den Rosenrabatten. Wenn es regnete, würden daraus kleine Teiche werden, in denen Insekten ertranken.

Toio lächelte wehmütig. Es wäre schön, wenn die Verwüstung der Anlage durch den fast zwei Tonnen schweren Haluter ihr größtes Problem wäre. Die Lage im Solsystem und die Gefahr, in der ihre Familie schwebte, lagen auf ihren Schultern, als wäre sie die Rosenrabatte, auf der Tolot stand.

Argwöhnisch suchte sie in Shinaes Vitalaura nach Verfärbungen, dunklen Flecken, etwas, das auf eine erhöhte Sensibilisierung der Wahrnehmung hindeutete. Tatsächlich war Shinaes Licht dunkler, als würde ihre Tochter in einem einzigen, großen Vitalschatten sitzen. Doch diese Veränderung war bereits kurz nach dem ersten Auftreten des Phänomens aufgetreten, unter dem alle litten.

Nach der Auslösung des Weltenbrandes.

»Es geht ihr gut«, sagte Gucky. Beiläufig pflückte er sich ein Rosenblatt aus dem rötlichen Pelz. »Sie trägt den Identor aus Allerorten. Damit ist sie fast so gut geschützt wie ich, Bully und Icho Tolot als Zellaktivatorträger.« Er zeigte zur Stadt. »Die da draußen sind viel schlimmer dran.«

»Du denkst viel an sie, was?«

»Jede Minute. Es wird Zeit, etwas zu tun. Ich hoffe, deine bessere Hälfte bringt endlich entscheidende Neuigkeiten mit.«

Shinae lachte. Toio war der Laut unangenehm. Er war zu hell, zu durchdringend. Sie hatte geglaubt zu wissen, was eine erträgliche Intensität war – nun musste sie eine Menge Dinge, von denen sie überzeugt gewesen war, infrage stellen.

Eine Weile saßen Gucky und sie einfach da, genossen den Schutz durch den Hochenergie-Überladungs-Schirm, als könnten sie dadurch das Elend in der Stadt und im System vergessen.

Das Elend der Ekpyrosis.

Toio wollte nicht immer wieder an dieses eine Wort denken, doch es drängte sich ihr auf wie ein Paparazzo, der ein Exklusivinterview für die Trivid-Nachrichten haben wollte.

Weltenbrand. Ekpyrosis.

Was für ein Schrecken sich in diesem Begriff verbarg. Welcher Abgrund.

Würden die Atopischen Richter am Ende recht behalten? War die komplette Milchstraße betroffen, das ganze Universum mit jeder einzelnen Galaxis? Stand Terra am Beginn des Endes von allem? Nein. Das wollte Toio nicht glauben. Sie war nicht bereit, es zu akzeptieren, und würde sich dagegen auflehnen, selbst wenn sie zehn Haluter tragen müsste.

Rosenduft erfüllte die Luft. Toio atmete ihn ein, freute sich daran. Wenigsten den Pflanzen und den meisten Tieren ging es gut. Wenn die vielen dunkeln Flecken und Wirbel ringsum Toio zu überwältigen drohten, konzentrierte sie sich auf die Lilien, die Harlekinweide und Ziergräser im Garten.

Das Sirren eines Gleiters durchbrach die Stille: Reginald kam nach Hause.

Das diskusförmige Fluggerät bremste stark ab. Es flog über den Anbau, in dem Icho Tolot wohnte. Durch die Strukturlücke im Schirm wurde Toio schlagartig heiß, als hätte sie eine Sauna betreten. Sie war froh, als sich der Zugang schloss.

Toio und Gucky blieben noch einen Moment sitzen, während Reginald Shinae begrüßte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab.

Shinae verzog das Gesicht, machte einen Schmollmund. »Nicht so doll, Papa!«

Gucky sprang auf. Sein Biberschwanz patschte erwartungsfroh mehrere Kleeblätter platt. »Hören wir uns an, was der Liga-Kommissar für Post-Eiris-Angelegenheiten zu berichten hat!«

»Du hättest mit ihm gemeinsam die Sitzung im Solaren Haus besuchen können.«

Der Mausbiber wackelte mit den Tellerohren. »In letzter Zeit gab es so viele Krisensitzungen, dass ich mir das Fell am Hintern abgewetzt habe!«

Reginald nahm Toio vorsichtig in den Arm, nickte Gucky zu.

Sie gingen ins Haus, dessen Architektur geradlinig und funktional war, als hätte Reginald versucht, seinen Charakter in Holz, Terkonitstahlträgern und Sicherheitsglas auszudrücken. Die Küchenautomatik hatte ein Pilzragout zubereitet, das ein Servoroboter auf den Tisch brachte. Der Duft von Pfifferlingen, Arkonröhrlingen, Kräuteröl, Pfeffer und Goshun-Petersilie breitete sich aus. Er war durchdringender als sonst, lenkte Toio einige Sekunden ab.

Shinae hatte bereits gegessen. Sie spielte weiter mit Icho Tolot, der sich dieser Tage sehr viel Zeit für sie nahm. Fast schien es, als würde den schwarzhäutigen Haluter kaum etwas anderes interessieren. Seit der Techno-Mahdi sie im eigenen Haus angegriffen hatte und Shinae in Lebensgefahr geraten war, ließ Icho sein Kleines nicht mehr aus den Augen.

Toio war dankbar dafür.

Gucky nutzte seine telekinetischen Kräfte, um drei Gläser heranschweben zu lassen, sie auf dem Holztisch abzustellen und aus der bereitstehenden Karaffe einzuschenken.

»Was für ein Tag!«, brummte Reginald.

Toio nahm einen Schluck Wasser. »Wie lange habt ihr konferiert?«