Farblose Nebelschwaden krochen über den Asphaltboden, als ich von der Schule nach Hause ging. Sie verschleierten meine Sicht und ich musste darauf achten, wohin ich trat. Die Gurte des Rucksacks schnitten mir schmerzhaft in die Schultern, da das Gewicht der Lehrbücher ihn zu Boden drückte. Lautlos schlich ich voran. Die dichten Schlieren verschluckten jegliche Geräusche, sodass ich in meinem schwarzen Hoodie und der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze nichts weiter als einen wandelnden Schatten darstellte.
Ich wich keinen Zentimeter vom Weg ab. Keine Ablenkungen, keine Abkürzungen, keine Umstimmung, keine Diskussion. Meine Eltern hatten mir diese Lektion mehr als einmal eingeflößt. Ich sollte mich von fremden Dingen fernhalten.
Das beinhaltete nicht nur den Heimweg, sondern auch den Einfluss unbekannter Menschen.
Ich schaute hoch, als mir ein Mann auf dem Bürgersteig entgegenkam. Für jeden anderen wäre er bloß ein weiterer Schatten, der durch den Nebel streifte. Für mich war er eine potenzielle Bedrohung. Mein Rücken versteifte sich bei seinem Anblick und ich zog die Kapuze noch ein Stückchen tiefer, damit unsere Augen in keinen Kontakt miteinander kamen.
Meine Eltern hatten mir oft genug eingebläut, dass ich mich von jedem, dessen Absichten ich nicht auf Anhieb durchschauen konnte, fernhalten sollte.
Jede Bekanntschaft, die sich zwischen mir und einem anderen Menschen anbahnte, wurde von meinen überfürsorglichen Eltern im Keim erstickt. Besonders während meiner frühen Schulzeit war das ein Problem gewesen. Ich wurde ausgeschlossen und gemieden. Falls sich trotzdem Gleichaltrige in meine Nähe wagten, bemerkten sie schnell, wie eigenartig ich war. Es kam mehr als einmal vor, dass ich in den Universen anderer Menschen versunken war. Intensiver Augenkontakt mit einem anderen Schüler reichte aus, dass ich in einen Strudel aus Sternenwirbeln hinabgesogen wurde. Wie ein Komet schoss ich über das fremde Firmament und beobachtete, wie sich die Welt meines Gegenübers zusammensetzte. Ich gewann schnell ein Gefühl dafür, wie sie tickten. Doch immer wenn ich einen kurzen Blick auf die neue Galaxie erhaschte, zog sich mein Gegenüber zurück.
Es dauerte nicht lange, bis mir der »Außenseiter«-Stempel förmlich auf die Stirn gedrückt wurde. Offenbar mochte es niemand, wenn das Gegenüber einen in Grund und Boden starrte. Natürlich wussten sie nichts von meiner Gabe; das Unbehagen, das ich durch mein Starren und Schweigen auslöste, reichte völlig aus. Die meisten Gleichaltrigen hielten sich schnell fern von mir. Niemand wollte sich länger als unbedingt nötig mit mir befassen. Tatsächlich machte mir das wenig aus. Ich war geradezu unbegabt im Umgang mit Menschen. Zwar entschlüsselte ich ihre inneren Universen, allerdings bescherte das einem nicht gerade viele Freundschaften. Doch das war mir egal. Immerhin hatte ich meine Sterne. Meine ständigen Begleiter.
Manchmal war meine Gabe wie eine Sucht. Zum Beispiel in Momenten wie diesen, in denen ich den unmittelbaren Drang verspürte, die Seele dieses fremden Menschen zu berühren, zu fühlen, zu sehen …
Der Mann rauschte an mir vorbei, seine Schritte echoten in meinem Kopf. Sein flüchtiger Blick strich über meine Gestalt hinweg und schien meine Gabe geradezu hervorkitzeln zu wollen. Ich blieb stark und starrte auf den Betonboden. Erst als er mehrere Meter hinter mir war, atmete ich durch.
Leise seufzte ich auf. Heimlich wünschte ich mir ein normales Leben, normale Eltern, normale Mitschüler. Wäre es so viel verlangt, nur einen einzigen Tag lang normal zu sein?
Das Wissen, niemals gewöhnlich, sondern immer anders zu sein, zerfetzte mein Herz und meinen Verstand. Es fühlte sich an, als würde man ein Blatt Papier in kleine Stücke zerreißen. In meinen Gedanken hallte das ratschende Geräusch endlos nach.
Vehement verdrängte ich dieses Bild an den Rand meines Bewusstseins. Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken.
Als ich an unserem Bungalow ankam, stand der Wagen meiner Eltern unverändert in der Auffahrt. Normalerweise müssten sie längst zum Labor aufgebrochen sein. Meine Eltern waren zwei Wissenschaftnerds, die zwischen Reagenzgläsern und Destillatoren ihre wahre Liebe gefunden hatten … wie romantisch.
Vermutlich hatten sie sich einen Tag freigenommen und mir nichts erzählt. Auf diese Art und Weise beruhigte ich mein Gewissen ein wenig. Eigentlich wusste ich, dass meine Eltern nur in Extremfällen Urlaub nahmen oder sich krankschreiben ließen. Gänsehaut überzog meine Haut, trotz des warmen Kapuzenpullovers.
Ich schüttelte die seltsame Empfindung ab. Währenddessen marschierte ich auf die Haustür zu, die zu meinem Erschrecken lediglich angelehnt war.
Wie konnte das sein? Heute Morgen hatte ich sicher abgeschlossen.
Ich beugte mich vor. Am Türrahmen war das Holz gesplittert und sofort schlug mir das Herz bis zum Hals. Das Schloss musste gewaltsam ausgehebelt worden sein. Ein gigantischer Kloß verschloss meine Kehle, weshalb ich nur gepresst atmen konnte.
War jemand bei uns eingebrochen?
Und viel wichtiger: War dieser Jemand noch im Haus?
So ein Quatsch! Mach dich nicht wahnsinnig. In einer verschlafenen Vorstadt wie dieser hier passiert nie etwas.
Ohne lange darüber nachzudenken, schob ich die Tür ein wenig weiter auf.
»Hey! Wer von euch hat schon wieder seinen Schlüssel vergessen?« Ich lachte über meinen eigenen Witz und versuchte so die Anspannung von meinen Schultern zu schütteln. Bestimmt würde meine Mutter gleich um die Ecke schießen und mich begrüßen. Dann konnte sie mir auch gleich die Sache mit der Tür erklären.
Das Geräusch meines Lachens verklang in der Stille des Hauses. Anscheinend war tatsächlich niemand da. Aber der Wagen stand doch in der Einfahrt.
Allein der Gedanke daran, dass jemand uns berauben würde, wirkte weiterhin so absurd, dass ich mich dazu entschloss, durch den entstandenen Spalt zwischen Tür und Rahmen ins Haus zu schlüpfen. Der Teppichboden, auf dem ich Spuren aus Pfützenwasser und zusammengeklumpten Dreck hinterließ, dämpfte meine Schritte. Meine Mutter würde mir den Hals umdrehen, wenn sie das sähe. Das war gerade meine geringste Sorge.
Die Stille des Hauses umfing mich wie eine erstickende Decke. Es wirkte geradezu ausgestorben. Das war ungewöhnlich.
Ganz ruhig bleiben, Stella.
Sieh dich erst einmal um und sobald du merkst, dass hier etwas schiefläuft, rennst du los und holst die Polizei.
Wieso kam ich mir wie ein Einbrecher vor, während ich durch den Eingangsbereich schlich?
Langsam ließ ich den Rucksack auf den Boden gleiten, da mich seine Last in meinen Bewegungen einschränkte. Zudem schlug ich mit bebenden Händen die Kapuze des Hoodies zurück, um besser zu hören, falls sich ein ungebetener Besucher näherte. Die ganze Situation wirkte so unrealistisch und fremd, dabei stand ich in meinem eigenen Zuhause. Was, wenn doch mehr hinter der offenen Tür steckte, als zunächst gedacht?
Ich benötigte eine Waffe, irgendetwas, um mich im Notfall verteidigen zu können! Lediglich das Schüreisen für unseren Kamin entdeckte ich. Das Feuer war längst erloschen und die Glut zu Asche zerfallen. Ein kalter Windzug streifte über meinen Rücken.
Ich ergriff den schweren Gegenstand und drückte ihn fest an meinen Oberkörper. Nun war ich nicht gänzlich unvorbereitet auf die Gefahren, die auf mich lauerten.
Als ich langsam auf die verschlossene Wohnzimmertür zuging, atmete ich tief ein und aus. Sie ragte wie ein böses Omen vor mir auf. Was würde mich dahinter erwarten? Ich presste mich an den Rahmen, zählte bis fünf und langte zur Klinke, die ich hastig hinunterdrückte.
Die Tür schwang auf und knallte gegen die dahinter liegende Wand. Mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust. Das Pochen musste durch den gesamten Flur zu hören sein. Fast glitt mir das Schüreisen aus der schweißnassen Hand. Ich festigte meinen Griff und zwang mich zur Ruhe.
Atemlos zählte ich in meinem Kopf erneut einen Countdown hinunter, während ich abwartete, ob sich irgendwo im Haus etwas regte. Das plötzliche Geräusch würde jeden Einbrecher verschrecken oder zumindest aus seiner Deckung locken.
Als ich die Null erreichte und sich immer noch nichts geregt hatte, kam ich mir ein bisschen peinlich vor. Wie sollte ich das bloß meinen Eltern erklären, wenn sie jetzt nach Hause kommen würden?
Weitere zehn Sekunden verharrte ich in vollkommener Stille, dann spähte ich um die Ecke des Türrahmens, hinein ins Wohnzimmer.
Ich stolperte in den Raum hinein und ließ jegliche Deckung fallen. Das Schüreisen rutschte mir aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden. Meine Beine schienen in Beton gegossen worden zu sein. Ich konnte sie keinen Zentimeter weiterbewegen. Meine Glieder begannen unangenehm zu kribbeln, als würden unzählige Ameisen über die Haut wandern. Obwohl mein Gehirn wie leer gefegt war, schlug der Anblick des Raumes wie ein Tsunami über mir ein. Mit einer steifen Bewegung meines Kopfes versuchte ich das gesamte Bild zu erfassen.
Die Couch sah aus, als wäre darauf eingestochen worden. Die weiche Füllung ergoss sich in einer Masse aus flauschigen Wolken über den Fußboden. Das groteske Bild einer ausgebluteten Couch schlich sich in meinen Kopf.
Oh, verdammte …!
Der Glastisch, der vor der Couch gestanden hatte, hatte sich in einen Haufen Scherben verwandelt. An einigen scharfen Kanten haftete rote Flüssigkeit. Auf dem Boden hatte sich bereits eine kleine Pfütze gebildet.
Mein Körper versteifte sich bei diesem Anblick. Die Zeit stand still. Ich wagte es nicht, meine Augen von der Szenerie abzuwenden.
Die Sekunden flossen träge dahin, während meine Gedanken rasten. Ich konnte mir nichts mehr vormachen. In diesem Haus war etwas Grauenhaftes passiert. Jemand war verletzt worden. Vielleicht meine Mutter oder mein Vater? Möglicherweise auch der Eindringling.
Ich blinzelte diese grauenhaften Gedanken hinfort und versuchte, das Bild vor mir irgendwie einzuordnen. Natürlich scheiterte ich kläglich.
Was ist hier vorgefallen?
Mein hektischer Blick tigerte umher und erfasste blutige Handabdrücke an der Wand des Wohnzimmers. Mit zittrigen Knien trat ich näher heran. Plötzlich zogen Bilder an meinem inneren Auge vorbei, die ich unmöglich ausblenden konnte. Matter Nebel umwirbelte die Szene. Alles wirkte blasser, farbloser als in der Realität.
Ich sah, wie mein Vater keuchend gegen genau diese Stelle stolperte und sich abstützte. Es wirkte so real …
Mein Arm schnellte nach vorn, doch er griff ins Leere. Der Gedankennebel hatte sich genauso schnell verzogen, wie er aufgetaucht war, und hinterließ nichts als ein Echo der Vergangenheit.
Ein Schrei bahnte sich in meiner Kehle an, steckte mir im Hals und verschloss meine Luftröhre. Ich ließ die Hand sinken und versuchte meine Atmung zu beruhigen, indem ich mehrmals tief ein- und ausatmete.
So etwas ist noch nie passiert.
Hat das etwas mit meiner Gabe zu tun?
Will mir das Universum etwas mitteilen?
Falls dem so war, so entschloss ich mich, nicht auf das Universum zu hören. Ich taumelte von einer Blutspur zur nächsten. Mit jedem weiteren Tropfen, den ich entdeckte, verstärkte sich der Druck auf meinem Brustkorb. Währenddessen fand ich weitere zerstückelte Teile unserer Möblierung. Selbst die Lampen waren zerschlagen worden und baumelten an offen gelegten Kabeln von der Decke.
Ich schlich an diesem Abbild fremden Hasses vorbei. In meinem Kopf war kein Platz mehr, um die Eindrücke zu verarbeiten. Meine Gedanken wurden ausgefüllt von dem Blut, das schmatzend unter meinen Fußsohlen klebte und jeden weiteren Schritt erschwerte.
Bitte. Bitte nicht!
Tränen rannen an meinen Wangen hinunter und gruben tiefe Furchen in meine Seele. Ich wischte sie eilig fort, da mein überfordertes Gehirn das Bild erzeugte, dass Blut über mein Gesicht lief und keine Tränen. Alles war so absurd und anormal. Meine Gedanken kamen nicht hinterher.
Ich weinte fast nie. Früher, in meiner Kindheit einige Male, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Ich hatte gelernt, meine Gefühle zu verdrängen und eine Mauer zu errichten, die mich von allen abschottete. Meine Andersartigkeit hatte mich in der Hinsicht gestärkt. Wenn man Tag für Tag schief angeglotzt wurde und sich dumme Sprüche anhören musste, härtete das einen ab. Schon seit Jahren hatte ich keine Träne mehr vergossen.
Ein Mädchen, das nicht weint?
Ein Mädchen, das in die Seele anderer Menschen schaut, indem es ihr Universum, ihre innersten Bestandteile entschlüsselt?
Ich gebe zu, das klingt verrückt. Doch ich habe nie das Gegenteil behauptet.
Meine Eltern hatten mich immer geliebt, so wie ich war. Sie hatten meine Tränen getrocknet, als ich noch wegen der Gemeinheiten der anderen Kinder geweint hatte. Sie hatten mich vor der Welt zu beschützen versucht, und als sie gemerkt hatten, dass das nicht für immer gehen würde, hatten sie mich gewappnet. Durch ihre aufbauenden Worte und ihre Unterstützung hatte ich mir ein dickes Fell zugelegt. Und ich wusste, dass sie mich genauso verehrt hätten, wenn ich nicht über eine seltene Gabe verfügt hätte. Sobald meine seltsame Begabung aufgetaucht war, hatten sie dafür gesorgt, dass ich mir keine Sorgen um meine Andersartigkeit machen musste. Ich war kein Problem, sondern ein Geschenk. Und ich verdankte ihnen alles …
Allein der Gedanke daran, dass ihnen etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, drehte mir den Magen um.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während die Tränen unaufhörlich flossen. Das interessierte mich nicht im Geringsten. Ich wollte sie nicht stoppen. Sie waren die Zeugen meiner Hilflosigkeit.
Wie Sand zerrann die Hoffnung zwischen meinen Fingern. Die Zuversicht, die beiden lebendig zu finden, schwand von Sekunde zu Sekunde mehr. Jeder Blutstropfen war ein weiterer Hinweis dafür, dass hier Leben verschüttet worden war.
Kopflos stolperte ich umher. Auf der Suche nach den einzigen Personen auf dieser Welt, die mir etwas bedeuteten. Schließlich rannte ich in die angrenzende Küche und blieb stocksteif im Türrahmen stehen.
Nein, nein, nein!
Auf den polierten Fliesen lagen sie, längs über den Boden gestreckt. Ihre Finger waren ineinander verschränkt, als wollten sie sich selbst im Moment des Todes nicht voneinander lossagen. Ihre trüben Augen begegneten sich in einem ewig andauernden Blick voll Trauer.
Meine ohnehin schon wackeligen Knie versagten nun vollends ihren Dienst, sodass ich neben meiner Mutter zusammensackte. Ich konnte mich nicht von ihrem Gesicht losreißen. Überall war Blut. Gänsehaut überfiel meinen ganzen Körper, als ich realisierte, dass ich mich nicht traute, meine eigene Mutter zu berühren. Ihre Haare waren verkrustet und die blasse Haut zierten dunkelrote Sprenkel. Ihre Bluse hing, vollgesogen vom Blut, in Fetzen von ihrem Leib. Ich musste schlucken.
Das Bild meiner Mom konnte ich nicht mit dieser Frau vereinbaren. Heute Morgen hatte sie mir noch einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor sie mich, ein Lächeln auf den Lippen, zur Schule geschickt hatte. Nun waren dieselben Lippen zu einem Todesschrei verzerrt.
Zögernd streckte ich die Hand aus und strich ihr über das weiche Haar. Meine Knie ragten in die Blutlache hinein. Kalt. Nass. Ich erschauerte, doch ich schreckte nicht zurück. Es zählte nur, meiner Mutter nahe zu sein.
Obwohl ich wusste, dass sie mich nicht mehr hören würde, flüchtete ein erstickter Laut aus meinem Mund und die ungesagten Worte hingen wie eine Gewitterwolke über mir. Meine Tränen waren der Regen, der auf die Wangen meiner Mutter prasselte. Sie zersprangen auf ihrer Haut in winzige Rinnsale.
Verzweifelt starrte ich in ihre Augen, die sonst so lebendig gewirkt und in einem hellen Blau gestrahlt hatten. Immer wenn ich sie ansah, machte ich hinter der Regenbogenhaut das Glitzern weit entfernter Sterne und Kometen aus. Ich allein bildete die Sonne ihrer Galaxie. Ihre Planeten, ihre Monde und ihre Asteroidengürtel hielten ihre Umlaufbahn zuverlässig ein und umkreisten mich. Kontinuierlich. Immerwährend. Ihr inneres Licht hatte mich stets gewärmt. Nun war es erloschen.
Ihr trüber Blick verwandelte sich in ein Schwarzes Loch. Jegliche Wärme, Liebe, jedes noch so kleine Anzeichen von Licht wurde absorbiert und verschwand für immer. Nichts war mir von ihr geblieben. Ihr Mörder hatte das Fundament ihres Universums zerstört, sodass jeder Funke Hoffnung erbarmungslos von der Finsternis erstickt wurde.
Eine eiserne Faust umschloss mein Herz und drückte zu. Es krampfte sich zusammen, schüttelte meinen Körper, während ich nicht in der Lage war, mich von meiner Mutter abzuwenden. Einen Wimpernschlag lang dachte ich, dass ich noch an Ort und Stelle sterben würde. So unerträglich war der Gedanke an eine Welt ohne Mom und Dad.
Mein tränenverschleierter Blick folgte den Krümmungen und Windungen des Körpers meiner Mutter. Bei jeder der dreizehn Stichwunden spürte ich ein Brennen in meiner Brust, als wäre ich selbst niedergestreckt worden. Ich prägte mir alles genau ein und brannte die Erinnerung in mein Gedächtnis. Als Warnung.
Schließlich betrachtete ich die ineinander verschränkten Hände meiner Eltern. Weitere Schluchzer erschütterten mich, sobald sich meine Aufmerksamkeit auf Dad richtete. Er lag so still und stumm dort.
Mein Dad hatte stets ein Lächeln auf den Lippen getragen und ein offenes Ohr für all meine Geheimnisse und Blödeleien gehabt. Und er hatte mich nie, niemals für das verurteilt, was ich war. Für ihn blieb ich immer seine geliebte Tochter. Stella.
Er hatte mir geholfen, meine Gabe zu verstehen. Indem er mir von den Sternen und den Universen erzählt hatte, hatte ich begonnen zu verstehen. Ich wusste plötzlich, was ich in den Köpfen der Menschen suchte. Dad wusste vermutlich selbst nicht einmal, wie gravierend er mich mit seiner Sternenkunde beeinflusst hatte, doch ich würde es niemals vergessen. Mein Vater hatte mir die Welt erklärt, obwohl er sie nie so wie ich gesehen hatte.
Trotzdem war er immer an meiner Seite gewesen, um mich zu trösten, wenn mir alles über den Kopf wuchs und meine Gedanken in den Wolken festhingen.
Das Universum hinter seinen Augen hatte in jedem erdenklichen Rotton gestrahlt. Seine Sonne hatte ebenso hell geglüht wie die meiner Mutter. Doch seine Abgründe waren tiefer gewesen als die ihren.
Wo besonders viel Licht herrscht, werden auch die Schatten immer länger.
Er hatte einiges durchgemacht. Bis heute wusste ich nicht, was genau. Gedanken las ich schließlich nicht. Meistens offenbarte sich mir ein Universum in einer Ahnung. Ich war dazu fähig, einzuschätzen, was für ein Mensch mein Gegenüber war, mehr nicht. Ich sah, dass jemanden böse Absichten antrieben, jedoch nicht, welche Ereignisse ihn dazu gebracht hatten.
Hatte ein Mensch die Kontrolle über seine Gedanken und Gefühle, war es für mich unsagbar schwer, ihn zu durchschauen. Erwachsene bauten im Laufe ihres Lebens Schutzmauern auf, die anscheinend selbst die eigene Tochter nie in der Lage war, zu durchdringen.
Kinder oder Jugendliche besaßen keine Schutzmechanismen. Stattdessen spazierten sie blind und naiv durch die Welt und trugen ihre seelischen Narben auf der Haut. Für jeden sichtbar, besonders für mich.
Glücklicherweise waren die meisten in meinem Alter relativ reif. Selbst mit siebzehn Jahren hatte die Welt einen bereits gelehrt, nicht jedem zu vertrauen, sodass die Narben verschleiert wurden:
Verdrängung, Vergessen, Überlagerung.
Die Menschen waren herzlose Wesen.
Das hatte die Welt mir an dem heutigen Tag beigebracht und ich würde die Folgen dieser Lektion von nun an immer in meinem Geist tragen.
Sobald mein Blick wieder das leblose Gesicht meines Vaters fokussierte, erstarrten meine zuvor rasenden Gedanken. Keine meiner Erinnerungen spielte eine Rolle, da meine Eltern nie wieder bei mir sein würden.
Wieso habe ich es nicht gesehen?
Warum hat mir das Universum kein Zeichen gesendet?
Ich hatte nicht erwartet, dass der Tod an uns vorbeizog wie ein ungebetener Besucher. Allerdings hatte ich immer geglaubt, es zu spüren, wenn meinen Eltern oder mir tatsächlich eines Tages etwas passieren sollte. Doch das Universum hatte geschwiegen.
Ich fühlte mich wie eine Versagerin. Ich hatte alles verloren. In meiner Brust brannte der Verrat, denn mehr als jeder andere wusste ich, dass der Kosmos unseren Weg vorherbestimmt hatte. Obwohl ich immer auf seine Worte lauschte, hatte er mich nicht gewarnt. Vielleicht war der Fremde auf der Straße der Mörder meiner Eltern gewesen. Mit einem Blick in seine Augen hätte ich es herausfinden können.
Das Schicksal war unergründlich. Der Weg des Lebens war nicht immer richtig oder gar leicht. Warum sollte es für mich eine Ausnahme machen?
Hätte ich das Schicksal aufhalten können?
Wäre ich dazu fähig gewesen, den Plan des Universums zu vereiteln?
Nein, unsere Lebenspfade sind verworren, ineinander verschlungen, sie überkreuzen sich und verlangen von einem, wieder rückwärts zu laufen. Und manchmal steht man in einer Sackgasse und weiß sich nicht mehr zu helfen.
Ich verharrte eine Ewigkeit im Schweigen, bevor ich überhaupt bemerkte, dass meine Lippen sich gespalten hatten und ein sterbender Laut aus meinem Mund drang. Mein eigener Schrei, so schrill und kreischend wie splitterndes Glas, zerfetzte die Realität und riss mein Universum endgültig aus den Fugen.