Mondstaub und Sonnenstürme

Mondstaub und Sonnenstürme

Maja Köllinger

Drachenmond Verlag

Für alle Sternschnuppenzähler,

Nachteulen und Mondmenschen.

Dieses Buch ist für euch.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Danksagung

Bücher von Maja Köllinger

»Die Sterne lügen nicht.«

Friedrich von Schiller


Prolog

Wir tragen das Universum in uns. Es ist Teil von uns und

tief in unseren unwissenden Seelen verwurzelt.

Ganze Galaxien schlummern in unseren Genen.

Sterne strahlen im Licht unserer Augen.

Planeten kreisen in unseren Köpfen umher wie ziellose Gedanken.

Eigentlich müsste mir beim Anblick des Nachthimmels mulmig zumute werden. Ich sollte mich klein und unbedeutend fühlen.

Stattdessen versetzt mich das Aufblitzen der Sterne in Euphorie. Meine Haut kribbelt und meine Finger tasten nach dem Himmel. Die Sterne sind Abertausend Lichtjahre entfernt, doch das hält ihr Licht nicht davon ab, auf meiner Haut zu tanzen. Mondschimmer fließt über die Arme und taucht mich in silbrigen Schein. In diesen Momenten strahlen meine Augen sicherlich im Licht fremder Galaxien.

Ich fühle mich mit allem verbunden. Mit dem Sternenschimmer, dem Mondlicht und der samtenen Schwärze des Universums. Die unersetzlichen Gegebenheiten des Kosmos sind aus demselben Stoff, den gleichen Atomen und Teilchen gesponnen wie ich. Wie wir alle.

Jeder Mensch trägt einen Teil des Universums in sich, ohne es zu wissen. Der Kosmos in unseren Köpfen leitet uns. Manche nennen es Zufall oder Schicksal. Ich weiß, dass es viel mehr ist. Die Universumsfragmente in unseren Körpern sind Naturgewalten, Überbleibsel fremder Welten, die stärker an uns zerren als die Anziehungskraft der Erde. Materie zerfällt niemals. Sie setzt sich immer wieder, ebenso wie die Fragmente, neu zusammen.

In uns vereinen sich die Milchstraße, die Sterne, alle toten Sonnen und der Urknall. Wir sind der Kosmos.

Mit der Geburt des Universums sind auch wir entstanden. Mir gefällt der Gedanke, dass wir Menschen die Funken sind, die der große Knall bei der Entstehung unseres Universums gesprüht hat, und dass der Kosmos seitdem unsere Wege lenkt.

Schließlich wird sich niemand jemals seinem inneren Universum widersetzen. Vermutlich, weil niemand weiß, dass es existiert.

Niemand, außer mir …

Denn ich sehe das Miniaturuniversum in euren Augen strahlen und könnte innerhalb von Sekunden bis auf den Grund eurer Seele hinabschauen, um eure dunkelsten Geheimnisse zu ergründen.

Fremde Seelen werden auf meinen Befehl hin in ihre kleinsten Teilchen zerlegt. Meistens zeigt sich mir das Universum in einer Ahnung, dem Gefühl von gut und böse. Bezeichnet es ruhig als Bauchgefühl, doch an solche Dinge, die einem Zufall gleichkommen, glaube ich nicht, wie ihr wisst. Die Pläne des Universums sind zu durchdacht, um Zufälle zuzulassen.

Allerdings grenzt mein Wissen mich aus. Einmal auf den Seelengrund geschaut, bin ich kaum in der Lage, mich ihm zu entziehen. Neugierde wird durch Gewissheit ersetzt und Nähe kommt nicht zustande. Menschen sind kompliziert und verwirren mich. Ständig widersprechen sie sich, lügen oder verschleiern die Wahrheit. Dabei lese ich die Realität in ihrem Blick ab.

Deshalb bevorzuge ich die Sterne und den Nachthimmel gegenüber anderen Menschen. Sie sind ehrlich zu mir. Ihr Schein hat mich noch nie fehlgeleitet. Wenn ich zu ihnen spreche, dann spüre ich, dass sie zuhören. Sie leiten mich selbst durch die dunkelsten Stunden meines Lebens.

Seltsam, dass ich mich der Unendlichkeit des Weltalls verbundener fühle als Nachbarn oder meinen eigenen Eltern. Niemand versteht mich und im Gegenzug erwarte ich auch von niemandem Verständnis.

Das bedeutet nicht, dass ich mir nichts für meine Mitmenschen wünschen darf. Ich habe nur einen Wunsch. Jede Nacht flüstere ich ihn den Sternen zu, in der Hoffnung, dass mir eines Tages vielleicht einer von ihnen antwortet und ihn erfüllt.

Ich wünsche mir, dass die Menschen dem Universum lauschen werden, wenn es seine Stimme erhebt und meine Geschichte erzählt …

Kapitel Eins

Haltlos

Farblose Nebelschwaden krochen über den Asphaltboden, als ich von der Schule nach Hause ging. Sie verschleierten meine Sicht und ich musste darauf achten, wohin ich trat. Die Gurte des Rucksacks schnitten mir schmerzhaft in die Schultern, da das Gewicht der Lehrbücher ihn zu Boden drückte. Lautlos schlich ich voran. Die dichten Schlieren verschluckten jegliche Geräusche, sodass ich in meinem schwarzen Hoodie und der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze nichts weiter als einen wandelnden Schatten darstellte.

Ich wich keinen Zentimeter vom Weg ab. Keine Ablenkungen, keine Abkürzungen, keine Umstimmung, keine Diskussion. Meine Eltern hatten mir diese Lektion mehr als einmal eingeflößt. Ich sollte mich von fremden Dingen fernhalten.

Das beinhaltete nicht nur den Heimweg, sondern auch den Einfluss unbekannter Menschen.

Ich schaute hoch, als mir ein Mann auf dem Bürgersteig entgegenkam. Für jeden anderen wäre er bloß ein weiterer Schatten, der durch den Nebel streifte. Für mich war er eine potenzielle Bedrohung. Mein Rücken versteifte sich bei seinem Anblick und ich zog die Kapuze noch ein Stückchen tiefer, damit unsere Augen in keinen Kontakt miteinander kamen.

Meine Eltern hatten mir oft genug eingebläut, dass ich mich von jedem, dessen Absichten ich nicht auf Anhieb durchschauen konnte, fernhalten sollte.

Jede Bekanntschaft, die sich zwischen mir und einem anderen Menschen anbahnte, wurde von meinen überfürsorglichen Eltern im Keim erstickt. Besonders während meiner frühen Schulzeit war das ein Problem gewesen. Ich wurde ausgeschlossen und gemieden. Falls sich trotzdem Gleichaltrige in meine Nähe wagten, bemerkten sie schnell, wie eigenartig ich war. Es kam mehr als einmal vor, dass ich in den Universen anderer Menschen versunken war. Intensiver Augenkontakt mit einem anderen Schüler reichte aus, dass ich in einen Strudel aus Sternenwirbeln hinabgesogen wurde. Wie ein Komet schoss ich über das fremde Firmament und beobachtete, wie sich die Welt meines Gegenübers zusammensetzte. Ich gewann schnell ein Gefühl dafür, wie sie tickten. Doch immer wenn ich einen kurzen Blick auf die neue Galaxie erhaschte, zog sich mein Gegenüber zurück.

Es dauerte nicht lange, bis mir der »Außenseiter«-Stempel förmlich auf die Stirn gedrückt wurde. Offenbar mochte es niemand, wenn das Gegenüber einen in Grund und Boden starrte. Natürlich wussten sie nichts von meiner Gabe; das Unbehagen, das ich durch mein Starren und Schweigen auslöste, reichte völlig aus. Die meisten Gleichaltrigen hielten sich schnell fern von mir. Niemand wollte sich länger als unbedingt nötig mit mir befassen. Tatsächlich machte mir das wenig aus. Ich war geradezu unbegabt im Umgang mit Menschen. Zwar entschlüsselte ich ihre inneren Universen, allerdings bescherte das einem nicht gerade viele Freundschaften. Doch das war mir egal. Immerhin hatte ich meine Sterne. Meine ständigen Begleiter.

Manchmal war meine Gabe wie eine Sucht. Zum Beispiel in Momenten wie diesen, in denen ich den unmittelbaren Drang verspürte, die Seele dieses fremden Menschen zu berühren, zu fühlen, zu sehen …

Der Mann rauschte an mir vorbei, seine Schritte echoten in meinem Kopf. Sein flüchtiger Blick strich über meine Gestalt hinweg und schien meine Gabe geradezu hervorkitzeln zu wollen. Ich blieb stark und starrte auf den Betonboden. Erst als er mehrere Meter hinter mir war, atmete ich durch.

Leise seufzte ich auf. Heimlich wünschte ich mir ein normales Leben, normale Eltern, normale Mitschüler. Wäre es so viel verlangt, nur einen einzigen Tag lang normal zu sein?

Das Wissen, niemals gewöhnlich, sondern immer anders zu sein, zerfetzte mein Herz und meinen Verstand. Es fühlte sich an, als würde man ein Blatt Papier in kleine Stücke zerreißen. In meinen Gedanken hallte das ratschende Geräusch endlos nach.

Vehement verdrängte ich dieses Bild an den Rand meines Bewusstseins. Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken.


Als ich an unserem Bungalow ankam, stand der Wagen meiner Eltern unverändert in der Auffahrt. Normalerweise müssten sie längst zum Labor aufgebrochen sein. Meine Eltern waren zwei Wissenschaftnerds, die zwischen Reagenzgläsern und Destillatoren ihre wahre Liebe gefunden hatten … wie romantisch.

Vermutlich hatten sie sich einen Tag freigenommen und mir nichts erzählt. Auf diese Art und Weise beruhigte ich mein Gewissen ein wenig. Eigentlich wusste ich, dass meine Eltern nur in Extremfällen Urlaub nahmen oder sich krankschreiben ließen. Gänsehaut überzog meine Haut, trotz des warmen Kapuzenpullovers.

Ich schüttelte die seltsame Empfindung ab. Währenddessen marschierte ich auf die Haustür zu, die zu meinem Erschrecken lediglich angelehnt war.

Wie konnte das sein? Heute Morgen hatte ich sicher abgeschlossen.

Ich beugte mich vor. Am Türrahmen war das Holz gesplittert und sofort schlug mir das Herz bis zum Hals. Das Schloss musste gewaltsam ausgehebelt worden sein. Ein gigantischer Kloß verschloss meine Kehle, weshalb ich nur gepresst atmen konnte.

War jemand bei uns eingebrochen?

Und viel wichtiger: War dieser Jemand noch im Haus?

So ein Quatsch! Mach dich nicht wahnsinnig. In einer verschlafenen Vorstadt wie dieser hier passiert nie etwas.

Ohne lange darüber nachzudenken, schob ich die Tür ein wenig weiter auf.

»Hey! Wer von euch hat schon wieder seinen Schlüssel vergessen?« Ich lachte über meinen eigenen Witz und versuchte so die Anspannung von meinen Schultern zu schütteln. Bestimmt würde meine Mutter gleich um die Ecke schießen und mich begrüßen. Dann konnte sie mir auch gleich die Sache mit der Tür erklären.

Das Geräusch meines Lachens verklang in der Stille des Hauses. Anscheinend war tatsächlich niemand da. Aber der Wagen stand doch in der Einfahrt.

Allein der Gedanke daran, dass jemand uns berauben würde, wirkte weiterhin so absurd, dass ich mich dazu entschloss, durch den entstandenen Spalt zwischen Tür und Rahmen ins Haus zu schlüpfen. Der Teppichboden, auf dem ich Spuren aus Pfützenwasser und zusammengeklumpten Dreck hinterließ, dämpfte meine Schritte. Meine Mutter würde mir den Hals umdrehen, wenn sie das sähe. Das war gerade meine geringste Sorge.

Die Stille des Hauses umfing mich wie eine erstickende Decke. Es wirkte geradezu ausgestorben. Das war ungewöhnlich.

Ganz ruhig bleiben, Stella.

Sieh dich erst einmal um und sobald du merkst, dass hier etwas schiefläuft, rennst du los und holst die Polizei.

Wieso kam ich mir wie ein Einbrecher vor, während ich durch den Eingangsbereich schlich?

Langsam ließ ich den Rucksack auf den Boden gleiten, da mich seine Last in meinen Bewegungen einschränkte. Zudem schlug ich mit bebenden Händen die Kapuze des Hoodies zurück, um besser zu hören, falls sich ein ungebetener Besucher näherte. Die ganze Situation wirkte so unrealistisch und fremd, dabei stand ich in meinem eigenen Zuhause. Was, wenn doch mehr hinter der offenen Tür steckte, als zunächst gedacht?

Ich benötigte eine Waffe, irgendetwas, um mich im Notfall verteidigen zu können! Lediglich das Schüreisen für unseren Kamin entdeckte ich. Das Feuer war längst erloschen und die Glut zu Asche zerfallen. Ein kalter Windzug streifte über meinen Rücken.

Ich ergriff den schweren Gegenstand und drückte ihn fest an meinen Oberkörper. Nun war ich nicht gänzlich unvorbereitet auf die Gefahren, die auf mich lauerten.

Als ich langsam auf die verschlossene Wohnzimmertür zuging, atmete ich tief ein und aus. Sie ragte wie ein böses Omen vor mir auf. Was würde mich dahinter erwarten? Ich presste mich an den Rahmen, zählte bis fünf und langte zur Klinke, die ich hastig hinunterdrückte.

Die Tür schwang auf und knallte gegen die dahinter liegende Wand. Mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust. Das Pochen musste durch den gesamten Flur zu hören sein. Fast glitt mir das Schüreisen aus der schweißnassen Hand. Ich festigte meinen Griff und zwang mich zur Ruhe.

Atemlos zählte ich in meinem Kopf erneut einen Countdown hinunter, während ich abwartete, ob sich irgendwo im Haus etwas regte. Das plötzliche Geräusch würde jeden Einbrecher verschrecken oder zumindest aus seiner Deckung locken.

Als ich die Null erreichte und sich immer noch nichts geregt hatte, kam ich mir ein bisschen peinlich vor. Wie sollte ich das bloß meinen Eltern erklären, wenn sie jetzt nach Hause kommen würden?

Weitere zehn Sekunden verharrte ich in vollkommener Stille, dann spähte ich um die Ecke des Türrahmens, hinein ins Wohnzimmer.

Ich stolperte in den Raum hinein und ließ jegliche Deckung fallen. Das Schüreisen rutschte mir aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden. Meine Beine schienen in Beton gegossen worden zu sein. Ich konnte sie keinen Zentimeter weiterbewegen. Meine Glieder begannen unangenehm zu kribbeln, als würden unzählige Ameisen über die Haut wandern. Obwohl mein Gehirn wie leer gefegt war, schlug der Anblick des Raumes wie ein Tsunami über mir ein. Mit einer steifen Bewegung meines Kopfes versuchte ich das gesamte Bild zu erfassen.

Die Couch sah aus, als wäre darauf eingestochen worden. Die weiche Füllung ergoss sich in einer Masse aus flauschigen Wolken über den Fußboden. Das groteske Bild einer ausgebluteten Couch schlich sich in meinen Kopf.

Oh, verdammte …!

Der Glastisch, der vor der Couch gestanden hatte, hatte sich in einen Haufen Scherben verwandelt. An einigen scharfen Kanten haftete rote Flüssigkeit. Auf dem Boden hatte sich bereits eine kleine Pfütze gebildet.

Mein Körper versteifte sich bei diesem Anblick. Die Zeit stand still. Ich wagte es nicht, meine Augen von der Szenerie abzuwenden.

Die Sekunden flossen träge dahin, während meine Gedanken rasten. Ich konnte mir nichts mehr vormachen. In diesem Haus war etwas Grauenhaftes passiert. Jemand war verletzt worden. Vielleicht meine Mutter oder mein Vater? Möglicherweise auch der Eindringling.

Ich blinzelte diese grauenhaften Gedanken hinfort und versuchte, das Bild vor mir irgendwie einzuordnen. Natürlich scheiterte ich kläglich.

Was ist hier vorgefallen?

Mein hektischer Blick tigerte umher und erfasste blutige Handabdrücke an der Wand des Wohnzimmers. Mit zittrigen Knien trat ich näher heran. Plötzlich zogen Bilder an meinem inneren Auge vorbei, die ich unmöglich ausblenden konnte. Matter Nebel umwirbelte die Szene. Alles wirkte blasser, farbloser als in der Realität.

Ich sah, wie mein Vater keuchend gegen genau diese Stelle stolperte und sich abstützte. Es wirkte so real …

Mein Arm schnellte nach vorn, doch er griff ins Leere. Der Gedankennebel hatte sich genauso schnell verzogen, wie er aufgetaucht war, und hinterließ nichts als ein Echo der Vergangenheit.

Ein Schrei bahnte sich in meiner Kehle an, steckte mir im Hals und verschloss meine Luftröhre. Ich ließ die Hand sinken und versuchte meine Atmung zu beruhigen, indem ich mehrmals tief ein- und ausatmete.

So etwas ist noch nie passiert.

Hat das etwas mit meiner Gabe zu tun?

Will mir das Universum etwas mitteilen?

Falls dem so war, so entschloss ich mich, nicht auf das Universum zu hören. Ich taumelte von einer Blutspur zur nächsten. Mit jedem weiteren Tropfen, den ich entdeckte, verstärkte sich der Druck auf meinem Brustkorb. Währenddessen fand ich weitere zerstückelte Teile unserer Möblierung. Selbst die Lampen waren zerschlagen worden und baumelten an offen gelegten Kabeln von der Decke.

Ich schlich an diesem Abbild fremden Hasses vorbei. In meinem Kopf war kein Platz mehr, um die Eindrücke zu verarbeiten. Meine Gedanken wurden ausgefüllt von dem Blut, das schmatzend unter meinen Fußsohlen klebte und jeden weiteren Schritt erschwerte.

Bitte. Bitte nicht!

Tränen rannen an meinen Wangen hinunter und gruben tiefe Furchen in meine Seele. Ich wischte sie eilig fort, da mein überfordertes Gehirn das Bild erzeugte, dass Blut über mein Gesicht lief und keine Tränen. Alles war so absurd und anormal. Meine Gedanken kamen nicht hinterher.

Ich weinte fast nie. Früher, in meiner Kindheit einige Male, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Ich hatte gelernt, meine Gefühle zu verdrängen und eine Mauer zu errichten, die mich von allen abschottete. Meine Andersartigkeit hatte mich in der Hinsicht gestärkt. Wenn man Tag für Tag schief angeglotzt wurde und sich dumme Sprüche anhören musste, härtete das einen ab. Schon seit Jahren hatte ich keine Träne mehr vergossen.

Ein Mädchen, das nicht weint?

Ein Mädchen, das in die Seele anderer Menschen schaut, indem es ihr Universum, ihre innersten Bestandteile entschlüsselt?

Ich gebe zu, das klingt verrückt. Doch ich habe nie das Gegenteil behauptet.

Meine Eltern hatten mich immer geliebt, so wie ich war. Sie hatten meine Tränen getrocknet, als ich noch wegen der Gemeinheiten der anderen Kinder geweint hatte. Sie hatten mich vor der Welt zu beschützen versucht, und als sie gemerkt hatten, dass das nicht für immer gehen würde, hatten sie mich gewappnet. Durch ihre aufbauenden Worte und ihre Unterstützung hatte ich mir ein dickes Fell zugelegt. Und ich wusste, dass sie mich genauso verehrt hätten, wenn ich nicht über eine seltene Gabe verfügt hätte. Sobald meine seltsame Begabung aufgetaucht war, hatten sie dafür gesorgt, dass ich mir keine Sorgen um meine Andersartigkeit machen musste. Ich war kein Problem, sondern ein Geschenk. Und ich verdankte ihnen alles …

Allein der Gedanke daran, dass ihnen etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, drehte mir den Magen um.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während die Tränen unaufhörlich flossen. Das interessierte mich nicht im Geringsten. Ich wollte sie nicht stoppen. Sie waren die Zeugen meiner Hilflosigkeit.

Wie Sand zerrann die Hoffnung zwischen meinen Fingern. Die Zuversicht, die beiden lebendig zu finden, schwand von Sekunde zu Sekunde mehr. Jeder Blutstropfen war ein weiterer Hinweis dafür, dass hier Leben verschüttet worden war.

Kopflos stolperte ich umher. Auf der Suche nach den einzigen Personen auf dieser Welt, die mir etwas bedeuteten. Schließlich rannte ich in die angrenzende Küche und blieb stocksteif im Türrahmen stehen.

Nein, nein, nein!

Auf den polierten Fliesen lagen sie, längs über den Boden gestreckt. Ihre Finger waren ineinander verschränkt, als wollten sie sich selbst im Moment des Todes nicht voneinander lossagen. Ihre trüben Augen begegneten sich in einem ewig andauernden Blick voll Trauer.

Meine ohnehin schon wackeligen Knie versagten nun vollends ihren Dienst, sodass ich neben meiner Mutter zusammensackte. Ich konnte mich nicht von ihrem Gesicht losreißen. Überall war Blut. Gänsehaut überfiel meinen ganzen Körper, als ich realisierte, dass ich mich nicht traute, meine eigene Mutter zu berühren. Ihre Haare waren verkrustet und die blasse Haut zierten dunkelrote Sprenkel. Ihre Bluse hing, vollgesogen vom Blut, in Fetzen von ihrem Leib. Ich musste schlucken.

Das Bild meiner Mom konnte ich nicht mit dieser Frau vereinbaren. Heute Morgen hatte sie mir noch einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor sie mich, ein Lächeln auf den Lippen, zur Schule geschickt hatte. Nun waren dieselben Lippen zu einem Todesschrei verzerrt.

Zögernd streckte ich die Hand aus und strich ihr über das weiche Haar. Meine Knie ragten in die Blutlache hinein. Kalt. Nass. Ich erschauerte, doch ich schreckte nicht zurück. Es zählte nur, meiner Mutter nahe zu sein.

Obwohl ich wusste, dass sie mich nicht mehr hören würde, flüchtete ein erstickter Laut aus meinem Mund und die ungesagten Worte hingen wie eine Gewitterwolke über mir. Meine Tränen waren der Regen, der auf die Wangen meiner Mutter prasselte. Sie zersprangen auf ihrer Haut in winzige Rinnsale.

Verzweifelt starrte ich in ihre Augen, die sonst so lebendig gewirkt und in einem hellen Blau gestrahlt hatten. Immer wenn ich sie ansah, machte ich hinter der Regenbogenhaut das Glitzern weit entfernter Sterne und Kometen aus. Ich allein bildete die Sonne ihrer Galaxie. Ihre Planeten, ihre Monde und ihre Asteroidengürtel hielten ihre Umlaufbahn zuverlässig ein und umkreisten mich. Kontinuierlich. Immerwährend. Ihr inneres Licht hatte mich stets gewärmt. Nun war es erloschen.

Ihr trüber Blick verwandelte sich in ein Schwarzes Loch. Jegliche Wärme, Liebe, jedes noch so kleine Anzeichen von Licht wurde absorbiert und verschwand für immer. Nichts war mir von ihr geblieben. Ihr Mörder hatte das Fundament ihres Universums zerstört, sodass jeder Funke Hoffnung erbarmungslos von der Finsternis erstickt wurde.

Eine eiserne Faust umschloss mein Herz und drückte zu. Es krampfte sich zusammen, schüttelte meinen Körper, während ich nicht in der Lage war, mich von meiner Mutter abzuwenden. Einen Wimpernschlag lang dachte ich, dass ich noch an Ort und Stelle sterben würde. So unerträglich war der Gedanke an eine Welt ohne Mom und Dad.

Mein tränenverschleierter Blick folgte den Krümmungen und Windungen des Körpers meiner Mutter. Bei jeder der dreizehn Stichwunden spürte ich ein Brennen in meiner Brust, als wäre ich selbst niedergestreckt worden. Ich prägte mir alles genau ein und brannte die Erinnerung in mein Gedächtnis. Als Warnung.

Schließlich betrachtete ich die ineinander verschränkten Hände meiner Eltern. Weitere Schluchzer erschütterten mich, sobald sich meine Aufmerksamkeit auf Dad richtete. Er lag so still und stumm dort.

Mein Dad hatte stets ein Lächeln auf den Lippen getragen und ein offenes Ohr für all meine Geheimnisse und Blödeleien gehabt. Und er hatte mich nie, niemals für das verurteilt, was ich war. Für ihn blieb ich immer seine geliebte Tochter. Stella.

Er hatte mir geholfen, meine Gabe zu verstehen. Indem er mir von den Sternen und den Universen erzählt hatte, hatte ich begonnen zu verstehen. Ich wusste plötzlich, was ich in den Köpfen der Menschen suchte. Dad wusste vermutlich selbst nicht einmal, wie gravierend er mich mit seiner Sternenkunde beeinflusst hatte, doch ich würde es niemals vergessen. Mein Vater hatte mir die Welt erklärt, obwohl er sie nie so wie ich gesehen hatte.

Trotzdem war er immer an meiner Seite gewesen, um mich zu trösten, wenn mir alles über den Kopf wuchs und meine Gedanken in den Wolken festhingen.

Das Universum hinter seinen Augen hatte in jedem erdenklichen Rotton gestrahlt. Seine Sonne hatte ebenso hell geglüht wie die meiner Mutter. Doch seine Abgründe waren tiefer gewesen als die ihren.

Wo besonders viel Licht herrscht, werden auch die Schatten immer länger.

Er hatte einiges durchgemacht. Bis heute wusste ich nicht, was genau. Gedanken las ich schließlich nicht. Meistens offenbarte sich mir ein Universum in einer Ahnung. Ich war dazu fähig, einzuschätzen, was für ein Mensch mein Gegenüber war, mehr nicht. Ich sah, dass jemanden böse Absichten antrieben, jedoch nicht, welche Ereignisse ihn dazu gebracht hatten.

Hatte ein Mensch die Kontrolle über seine Gedanken und Gefühle, war es für mich unsagbar schwer, ihn zu durchschauen. Erwachsene bauten im Laufe ihres Lebens Schutzmauern auf, die anscheinend selbst die eigene Tochter nie in der Lage war, zu durchdringen.

Kinder oder Jugendliche besaßen keine Schutzmechanismen. Stattdessen spazierten sie blind und naiv durch die Welt und trugen ihre seelischen Narben auf der Haut. Für jeden sichtbar, besonders für mich.

Glücklicherweise waren die meisten in meinem Alter relativ reif. Selbst mit siebzehn Jahren hatte die Welt einen bereits gelehrt, nicht jedem zu vertrauen, sodass die Narben verschleiert wurden:

Verdrängung, Vergessen, Überlagerung.

Die Menschen waren herzlose Wesen.

Das hatte die Welt mir an dem heutigen Tag beigebracht und ich würde die Folgen dieser Lektion von nun an immer in meinem Geist tragen.

Sobald mein Blick wieder das leblose Gesicht meines Vaters fokussierte, erstarrten meine zuvor rasenden Gedanken. Keine meiner Erinnerungen spielte eine Rolle, da meine Eltern nie wieder bei mir sein würden.

Wieso habe ich es nicht gesehen?

Warum hat mir das Universum kein Zeichen gesendet?

Ich hatte nicht erwartet, dass der Tod an uns vorbeizog wie ein ungebetener Besucher. Allerdings hatte ich immer geglaubt, es zu spüren, wenn meinen Eltern oder mir tatsächlich eines Tages etwas passieren sollte. Doch das Universum hatte geschwiegen.

Ich fühlte mich wie eine Versagerin. Ich hatte alles verloren. In meiner Brust brannte der Verrat, denn mehr als jeder andere wusste ich, dass der Kosmos unseren Weg vorherbestimmt hatte. Obwohl ich immer auf seine Worte lauschte, hatte er mich nicht gewarnt. Vielleicht war der Fremde auf der Straße der Mörder meiner Eltern gewesen. Mit einem Blick in seine Augen hätte ich es herausfinden können.

Das Schicksal war unergründlich. Der Weg des Lebens war nicht immer richtig oder gar leicht. Warum sollte es für mich eine Ausnahme machen?

Hätte ich das Schicksal aufhalten können?

Wäre ich dazu fähig gewesen, den Plan des Universums zu vereiteln?

Nein, unsere Lebenspfade sind verworren, ineinander verschlungen, sie überkreuzen sich und verlangen von einem, wieder rückwärts zu laufen. Und manchmal steht man in einer Sackgasse und weiß sich nicht mehr zu helfen.

Ich verharrte eine Ewigkeit im Schweigen, bevor ich überhaupt bemerkte, dass meine Lippen sich gespalten hatten und ein sterbender Laut aus meinem Mund drang. Mein eigener Schrei, so schrill und kreischend wie splitterndes Glas, zerfetzte die Realität und riss mein Universum endgültig aus den Fugen.

Kapitel Zwei

Mondlichttränen

Der Schrei riss mich in ein Loch, aus dem ich eigenhändig nicht entkam. Für mich existierte nur noch das Zimmer, in dem meine toten Eltern und ich mich befanden. Die Welt außerhalb der vier Wände war mir gleichgültig. Nichts hätte mir in diesem Moment weniger bedeuten können.

Ich wollte ihnen nahe sein. Ihre Wärme und Nähe auf meiner Haut spüren und das Bild ihrer leblosen Leiber aus meinem Gedächtnis verbannen.

Mein Körper wurde immer schwerer, als würde ihn die Last des Funds zugrunde reißen. Ich ließ mich fallen und schlug neben meiner Mutter auf dem Boden auf, sah ihr direkt in die trüben Augen. Ihr Blut klebte an meinen Haaren, auf meinen Armen und meiner Kleidung. Es ätzte sich in meine Haut und meine Erinnerungen hinein.

Der Aufprall drang kaum zu meinem Bewusstsein durch. Ich spürte keinen Schmerz, nur diese alles verzehrende Leere, die von innen an mir nagte, als ich meine blutbesudelten Finger anstarrte.

»Es tut mir so leid, so leid«, schluchzte ich immer und immer wieder. Meine Mutter blinzelte nicht. Ihre Augen fokussierten einen Punkt in weiter Ferne. Eine andere Welt.

Sie ist tot, Stella.

Begreif es endlich!

Ein Beben durchzuckte mein Rückgrat bei diesem Gedanken und ließ jedes meiner Glieder vor Furcht erzittern. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und umschlangen meinen Bauch, bevor ich mich zu einer Kugel zusammenrollte und meine Lider schloss. Eine Welt ohne meine Mutter und meinen Vater wollte ich nicht sehen. Das Universum wurde in tintenschwarze Stille getaucht.

Zwei Monate später

Wie schnell die Zeit vorbeizieht, wenn man in einem Trauma gefangen ist. Während man selbst das Gefühl hat, nicht eine Sekunde wäre vergangen, rasen die Tage und Wochen nur so dahin.

Ich hatte keinen Fuß mehr in mein Haus gesetzt, mich vor der Außenwelt verbarrikadiert und wurde mit meinen Gedanken und Emotionen vollkommen allein gelassen. Wer hätte mir beistehen sollen? Ich hatte niemanden.

Stattdessen war ich gefangen – in meinem eigenen Körper, meinem eigenen Kopf.

Nach dem Einbruch und meiner Entdeckung wurde ich kurzzeitig im Krankenhaus versorgt, wo geprüft wurde, ob ich in irgendeiner Art und Weise verletzt worden war. Offenbar hatte mich ein Nachbar gefunden. Es spielte keine Rolle für mich.

Die Ärzte behielten mich eine Woche lang unter Aufsicht, bis sie mich aufgrund der Diagnose »Traumapatientin« in eine Nervenheilanstalt verlegten.

Nach meinem Schreien folgte das Schweigen. Ich sprach kein Wort. Zu niemandem. Selbst im Krankenhaus nicht. Auch als die Polizeibeamten mich mit Fragen löcherten, schwieg ich. Es war nicht so, dass ich nichts sagen wollte. Ich konnte es nicht.

Meine Lippen verweilten die meiste Zeit lang fest zusammengepresst, als hätte jemand meinen Mund zugenäht. Eine unbeschreibliche Angst schnürte mir die Kehle zu. Die Furcht, wieder zu schreien. Die Panik, mich an die vergessenen Minuten oder Stunden zu erinnern, die ich bei den Leichen meiner Eltern verbracht hatte, sorgte dafür, dass ich mit den Zähnen knirschte. Manchmal schmeckte ich Krümel in meinem Mund. Abgebrochene Zahnstückchen.

Ich vermied jeglichen Augenkontakt mit den Polizeibeamten und Ärzten, da ich auf keinen Fall die Galaxien hinter ihren Pupillen entdecken wollte.

Keine Sterne, keine Sonne, keine Planeten mehr …

Die toten Blicke meiner Eltern hatten meine Seele gebrandmarkt. Es wäre ein Verrat gewesen, wenn ich weiterhin das Antlitz der Universen bei fremden Menschen zu ergründen versuchte.

Und so wurde ich weggebracht. In ein Gebäude bestehend aus weißen Wänden, weißen Böden und weißen Kitteln. Ich lag in meinem weißen Bett und starrte stundenlang an die weiße Decke. Die helle Farbe an den Wänden löste in mir einen Brechreiz aus. Saure Galle wanderte meinen Rachen hinauf, jedoch drängte ich sie zurück. Mein Mund blieb geschlossen. Selbst in diesen Momenten der Schwäche.

Immer wenn ich eine weiße Fläche sah, erzeugte mein geschädigter Verstand das Bild von tiefroten Blutspritzern, die mich unweigerlich an jenen Tag erinnerten. An das Ereignis, das verantwortlich war, dass ich mich hier befand. Unweigerlich musste ich auch an den Menschen denken, der mir das alles angetan hatte. Hass glühte in meinem Inneren wie ein stetig schwelendes Feuer, als ich an den gesichtslosen Täter dachte. Ich hatte keinen Namen, keinen Anhaltspunkt. Doch ich schwor mir, dass ich denjenigen, der meine Familie zerstört hatte, auffinden und für seine Taten büßen lassen würde. Rachegelüste strömten durch meinen Kopf und betäubten jedes andere Gefühl für einen kurzen Moment.

Nachts fand ich deswegen keine Ruhe und erst recht keinen Schlaf. Mein Kiefer malmte, mein Magen knurrte und meine Gedanken schrien durcheinander, bis sie sich mit der Geräuschkulisse der Klinik vermischten. Falls mich der Schlaf trotz allem für ein paar Stunden heimsuchte und Albträume an meine geschlossenen Lider projizierte, so wachte ich jedes Mal mit tränennassen Wangen auf. Ich sah ihre Gesichter, während ich träumte, und hörte ihre Stimmen. Sie sagten, sie liebten mich. Das Schlimmste an meinen Träumen war das Erwachen. Sobald ich die Augen öffnete, empfing mich Leere. Einsamkeit. Die Illusion, dass meine Eltern bei mir waren, verpuffte. Das war schlimmer als jeder erdenkliche Albtraum.

Nach den Polizisten folgte der Psychiater, der ebenfalls mit mir reden wollte. Mein Schweigen wies ihn jede Sitzung aufs Neue ab. Er hoffte, dass ich mich ihm öffnete, dass ich meine Geheimnisse preisgab, um die Suche nach dem Mörder meiner Eltern zu erleichtern. Vor allen Dingen sollte er natürlich mir helfen. Der armen, traumatisierten Stella.

So ein Heuchler!

Als ob er meine Lage verstehen oder wissen kann, wie es mir geht. Das tut er nicht. Niemand tut das.

Ich schaute ihm nicht ein einziges Mal in die Augen. Der Seelenklempner bemerkte meinen Widerstand und war tatsächlich hartnäckiger, als ich dachte. Offensichtlich war ich nicht der erste und letzte Härtefall dieser Klinik. Man war auf so eine Situation vorbereitet. Auf eine zerbrochene Seele.

Anstatt mich in dem See aus Einsamkeit ertrinken zu lassen, arrangierte der Mann doppelte Sprechzeiten und zeigte auffällig viel Interesse an einer traumatisierten Jugendlichen, dafür dass ich nur stumm und steif vor ihm saß.

Es dauerte fast drei Wochen, bis ich in seiner Gegenwart auftaute. Es fing an, dass ich ihn für wenige Sekunden in Augenschein nahm. Sein darauffolgendes Lächeln entging mir nicht. Nach fünf weiteren Sitzungen hielt ich den Blickkontakt und wagte es schließlich sogar, sein Universum zu ergründen, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment.

In der Mitte seiner Pupille glühte eine Sonne, die drei Planeten umkreisten. Ein größerer und zwei kleine. Sie besaßen eine feste Umlaufbahn. Routiniert. Planbar. Der Mann vor mir war die Verkörperung von Stabilität. Ich runzelte die Stirn über diesen Gedanken. Er war geschaffen für den Job als Psychiater und hatte mir schon jetzt bewiesen, dass er Durchhaltevermögen und Verständnis hatte.

Jeden Tag fühlte ich mich ein bisschen besser. Nein, nicht besser, sondern … menschlicher. Ich gewöhnte mir eine Routine an, die ich jeden Tag ohne Ausnahme befolgte. Nach einer Weile kümmerte ich mich wieder um meinen Körper. Ich wusch mich und versuchte mehr zu essen als nur eine trockene Scheibe Brot am Tag. Ich füllte die Hülle, die nach dem Mord meiner Eltern von der alten Stella zurückgeblieben war, langsam mit Leben. Bloßes Existieren war nicht mehr genug, denn ich wollte leben.

So entschloss ich mich dazu, endlich zu reden. Meine Stimme war rau und kratzig nach dem monatelangen Schweigen. Es fühlte sich ungewohnt an, die Lippen zu bewegen. Die Gesichtsmuskulatur schmerzte beinahe. »Ich möchte nicht mehr so sein. Bitte helfen Sie mir.«

Ich senkte den Kopf. Mir einzugestehen, dass ich mich in einer Sackgasse befand und ohne Hilfe nicht mehr zurechtfand, war schwerer als gedacht. Trotzdem tat es gut. Ich hatte mir die Wahrheit eingestanden und war bereit, an mir zu arbeiten. Es war ein kleiner Schritt und der erste in eine neue Richtung. Ich verspürte ein sanftes Kribbeln am ganzen Körper. Das hier war ein Erfolg. Ich konnte das schaffen. Ich wollte keine weißen Wände mehr sehen.

Und so begannen der Psychiater, Doktor Brown, und ich Schritt für Schritt mit meiner Rehabilitation.


»Wir starten heute mit Phase eins der Traumabewältigung. Der Stabilisierungsphase«, erklärte er, nachdem ich mich ihm gegenüber niedergelassen hatte.

»Was bedeutet das?«, fragte ich nach.

»Wir werden dir die Angst nehmen.«

»Ich habe keine Angst«, behauptete ich, obwohl das natürlich völliger Quatsch war.

Doktor Brown zog lediglich seine Augenbraue in die Höhe, als hätte er mich längst durchschaut. Statt eine Anmerkung zu machen, deutete er auf das blaue Sofa, dem einzigen Farbklecks in seinem sterilen Behandlungszimmer. Ich setzte mich und beobachtete den Arzt, der sich auf einem Stuhl vor mir platzierte.

»Hast du oft Albträume, Stella?«, fragte er.

Jede Nacht.

Keine Antwort verließ meinen Mund und Doktor Brown nickte wissend. Ich wurde unruhig und begann, meine Finger miteinander zu verknoten.

»Würdest du mir von ihnen erzählen?« Seine Stimme war sanft und drängte nicht. Er würde warten, bis ich bereit war zu reden. Das wusste ich.

Ich atmete tief durch und schloss die Augen. Die Traumbilder verfolgten mich jederzeit, sodass ich sie selbst jetzt rekonstruieren konnte.

»Ich träume von ihnen. Meinen Eltern. Ich höre ihre Stimmen aus weiter Ferne und sehe ihre Gesichter an mir vorbeiziehen. Doch ich kann sie nicht festhalten. Jedes Mal verliere ich sie und jedes Mal fühlt es sich an wie an jenem Tag. Als würde man mir das Herz aus der Brust schneiden.« Ich holte zitternd Luft. »Es tut so unfassbar weh. Und es hört nie auf. Es passiert immer und immer wieder. Ich kann es nicht stoppen, die Stimmen, ihre Blicke, ihre Schreie.« Ich verlor mich in der Schwärze meiner Albträume, während ich verzweifelt versuchte, sie in Worte zu fassen.

Plötzlich spürte ich eine fremde Berührung an meinem Arm. Sanft. Bestimmend. Ich hielt inne und vernahm eine Stimme, die beruhigend auf mich einredete. Doktor Brown. »Öffne die Augen, Stella. Die Träume haben keine Macht über dich. Du kannst ihnen entkommen. Sie sind nicht echt.«

Er hat recht.

Das hier ist nicht die Wirklichkeit.

Das Gedankenkarussell in meinem Kopf verlangsamte sich. Schließlich wurde es so lahm, dass ich aussteigen und meine Lider heben konnte.

»Was ist passiert?« Meine Frage verlor sich in einem Schluchzen. Hilflosigkeit ummantelte meine Gedanken, sodass ich keinen klaren Entschluss fassen konnte.

»Das war eine Flut an Traumabildern. Sie haben dich in einen Angstzustand versetzt, der beinahe an eine Panikattacke herangereicht hat.«

»Es hat sich angefühlt, als wäre ich von einem Sog erfasst worden. Ein Strudel, der mich immer weiter in die Tiefe spülte.«

Doktor Brown nickte verständnisvoll und reichte mir ein Glas Wasser, das ich mit zitternden Händen ergriff. Ich klammerte mich daran, als wäre es mein einziger Halt in dieser Welt. Trinken tat ich nichts.

»Ich werde dir beibringen, wie du den Albträumen entkommst, auch wenn sie dich im wachen Zustand heimsuchen. Du bist ihnen nicht schutzlos ausgeliefert, Stella. Wir schaffen das zusammen.« Die Sonne in seinen Augen strahlte voller Zuversicht. Ich glaubte ihm.

Über Wochen hinweg brachte mir Doktor Brown Techniken bei, wie ich meine Gedanken fokussieren und bündeln konnte, um sie von den »Problemzonen« meines Geistes wegzulenken. Mit verschiedenen Entspannungsübungen zeigte er mir, wie ich eine Panikattacke unter Kontrolle brachte.

Jede Sitzung sprachen wir über die Albträume und die Angstzustände, die mich heimsuchten. Dank der Techniken bewahrte ich nun die Ruhe und schaffte es, die Realität von meiner verkorksten Traumwelt zu unterscheiden.

Zwischendurch führten wir Gespräche über oberflächliche Themen, damit ich meine Komfortzone verließ. Von Mal zu Mal fiel mir das Reden leichter, bis ich Doktor Brown von selbst grüßte, sobald ich das Zimmer betrat. Um meine Therapie zu unterstützen, wurden mir Tabletten verschrieben, die mich in Sekundenschnelle in einen komatösen Schlaf versetzten. Sie halfen. Nach einiger Zeit träumte ich nicht mehr von meinen Eltern.

Doktor Brown verzeichnete die Erfolge mit großem Enthusiasmus, sodass er bald die erste Phase für abgeschlossen erklärte. Ich war seiner Meinung nach stabil genug, um mit der Aufarbeitung meines Traumas zu beginnen. Im Klartext bedeutete das die Konfrontation mit dem Ereignis und seinen Folgen.

Verunsicherung trieb mir den Schweiß auf die Stirn, als ich mich zu meiner ersten Sitzung der zweiten Phase bei meinem Arzt einfand. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und diese neue Art des Kontrollverlustes gefiel mir nicht. Mit einer Atemübung vertrieb ich mir die Wartezeit und versuchte, meine innere Ruhe zurückzuerlangen.

Doktor Brown will dir helfen.

Er wird dir nicht schaden.

Obwohl ich mich nach wenigen Minuten beruhigt hatte, schoss mein Puls in die Höhe, als die Tür sich öffnete und mein Psychiater eintrat.

»Bereit für Phase zwei?«

Ehrlich gesagt nicht.

Ich nickte, trotz meiner Bedenken.

Doktor Brown nahm seinen gewohnten Platz mir gegenüber ein und öffnete den Aktenkoffer, den er stets an seiner Seite führte. Papier raschelte, als er durch die Tasche wühlte. Schließlich brachte er eine Akte ans Tageslicht, auf deren Vorderseite mein Name geschrieben stand.

»In diesem Ordner befinden sich Bilder, Stella. Familienporträts, die die Polizei in eurem Haus gefunden hat, ebenso wie Tatortfotos. Sie sind in einer bestimmten Reihenfolge sortiert und ich möchte, dass du sie dir einfach nur ansiehst. Nichts weiter.«

Ich hielt inne.

Tatortfotos?

»Aber es werden keine Bilder von …« Ich wagte es nicht einmal, den Satz zu beenden.

»Deine Eltern sind nur auf den Familienfotos zu sehen, keine Sorge.« Er reichte mir die Akte hinüber.

Einen quälend langen Augenblick ließ ich den Arzt mit dem ausgestreckten Arm ausharren. Ich fixierte die Mappe und spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.

Was wird mich erwarten?

Welche Bilder werden sich darin befinden?

Werden sie mir mehr schaden als helfen?

Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Meine Finger schlossen sich um die beigefarbene Pappe, als ich die Akte an mich nahm. Vorsichtig legte ich sie auf meinen Schoß. Zögernd schwebte meine Hand über dem Ordner.

Soll ich das wirklich durchziehen?

Doktor Brown nickte mir zu. Solange er bei mir blieb, war alles in Ordnung. Hier war ich sicher. Er würde auf mich aufpassen. Ich zwang mich, die Luft, die ich in meinem Brustkorb gefangen gehalten hatte, auszustoßen. Dann öffnete ich die Akte.

Das erste Bild zeigte unser Haus von draußen. Der Bungalow mit dem niedrigen Dach war umgeben von gigantischen Tannen, die sich wie zum Schutz um ihn herum angeordnet hatten. Ein schmerzhaftes Ziehen zuckte wie ein Blitz durch meinen Körper. Meine Füße begannen zu wippen.

Das ist mein Zuhause.

Nein!

Das war es einmal.

Einerseits wollte ich zu dem Ort auf dem Foto zurückkehren, andererseits ergriff mich eine solche Unruhe bei dessen Anblick, dass ich mir möglichst viel Distanz zu dem Haus wünschte.

Ich versuchte, meine Gefühle für Doktor Brown in Worte zu fassen, woraufhin er sich eifrig Notizen machte und einige verständnisvolle Worte an mich richtete. Schnell legte ich das Bild zur Seite, nur um mit dem nächsten Foto konfrontiert zu werden. Es war eine Collage von unserem Wohnzimmer. Auf der linken Seite befand es sich im normalen Zustand, während die rechte Seite den Tatort von vor einigen Monaten abbildete.

Verzweifelt versuchte ich meinen Blick von den Blutspuren am Boden und den Wänden loszueisen, allerdings versagte ich kläglich. So lange hatten mich diese Bilder in meinen Träumen heimgesucht. Ich konnte sie nie vollständig aus meinem Gedächtnis verbannen und nun, da ich sie wieder vor mir sah, erkannte ich, dass man vor der Realität nicht davonlaufen konnte. Sie holte einen immer wieder ein. Zielstrebig und erbarmungslos.

Ich strich mit dem Zeigefinger über das fotografierte Blut und erkannte den Handabdruck. Für einen Wimpernschlag befand ich mich in der Vergangenheit und spürte, wie der schwarze Nebel mich umwogte. Verzweiflung strömte durch meine Adern, vertrieb jeglichen Gedanken an die Entspannungstechniken, die Doktor Brown mir beigebracht hatte. Ich war wieder dort. Konnte das Blut sehen und riechen. Der kupferne Geruch verbiss sich in meiner Nase. Ich wollte schreien, doch die Vergangenheit hielt mich in ihrer eisernen Faust.

anders

Ich seufzte in mich hinein. Die einzigen beiden Personen, die mich wirklich kannten, befanden sich leblos und bis in alle Ewigkeiten verstummt unter der Erde.

Ich war nicht bei der Beerdigung meiner Eltern aufgetaucht. Abgesehen davon, dass mir nie jemand erlaubt hätte, die Klinik zu verlassen, lastete ihr Verlust immer noch auf meinen Schultern. Zu groß war die Furcht gewesen, sie lediglich als Körperhüllen in Erinnerung zu behalten. Ich wollte stattdessen die strahlenden Sterne, Sonnen und Galaxien hinter ihren Augen im Gedächtnis bewahren. Nichts und niemand würde dieses friedliche, liebende Bild von ihnen vertreiben.

Ein sanftes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich hatte genug geweint und getrauert. Es wurde Zeit, das Zepter in die Hand zu nehmen und dem Universum zu zeigen, wozu ich fähig war.

Die Welt hat das wahre Antlitz von Stella Marks noch nicht gesehen.

Ich streckte den Rücken durch und hob mein Kinn an, bevor ich mit überraschend selbstsicherer Stimme fragte: »Wann werden wir ankommen?«

Dem Fahrer entfuhr ein Lachen, das einem kehligen Brummen glich. »Wir sind fast da, am Ende dieser Sackgasse befindet sich dein neues Zuhause.«

Ich schluckte und nickte. Nur eine weitere Straße trennte mich von dem neuen Zuhause, den unbekannten Verwandten und einer hoffentlich sorgenfreien Zukunft.

In mir duellierten sich Vorfreude und Nervosität.

Ich befürchtete jeden Moment, einen mittelschweren Herzinfarkt zu erleiden. Die Nervosität gewann gegen ihre nicht ernst zu nehmende Konkurrenz.