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C. Hennings

Krieg der Elemente

Teil 1

Das Erwachen

Copyright: © 2018: C. Hennings

Lektorat: Erik Kinting – http://www.buchlektorat.net

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/abrufbar.

Für Magdalena und Theresa

Startschwierigkeiten

Jess

Es müssen nicht alle so leicht zu überzeugen sein wie Vea. Sie ist fast jedes Mal aufs Neue hin und weg, wenn ich zu ihr komme – als hätte sie ihr ganzes Leben lang nur darauf gewartet, dass ihr jemand erklärt, welche Macht sie über die Natur hat. Aber das ist ja auch keine unangenehme Nachricht.

Bei Sina ist es ebenfalls ein Kinderspiel gewesen – sie hat nur ein Problem mit unserem Reiseziel.

Aber Alex … Sie ist ein Kapitel für sich. Vor Jahrhunderten habe ich noch erwartet, dass Alex sich doch irgendwann einmal mächtig, bestätigt und vor allem zufrieden fühlen würde, aber da lag ich falsch. Sie war bei unseren ersten Begegnungen zu meiner Überraschung kalt und abweisend, wie die Nachbarkatze zum überschwänglichen Golden Retriever. Das genaue Gegenteil von Vea. Ich befürchte, genauso wird es heute auch sein. Schade. Alex wirkt auf der Bühne gerade so glücklich; erleichtert, dass das Studium vorbei ist. Und ihre Rede ist bemerkenswert:

»Für uns alle beginnt ein neues Kapitel. Viele können es kaum abwarten, sich voll auf ihre neuen Aufgaben zu stürzen und jegliche Konzentration für das Erreichen von Karrierezielen zur Verfügung zu haben. Aber wir sollten nicht die Freiheit vergessen, die wir heute gewinnen. Für diejenigen, die ihren weiteren Lebensweg noch nicht geplant haben und genauso orientierungslos sind wie ich: Kopf hoch – das kann ein Segen sein. Wenn ihr könnt: Genießt es, für die kommenden Wochen oder Monate keine Verantwortung zu haben. Verreist. Bleibt zu Hause bei euren Eltern und lasst euch bedienen. Tut die Dinge, die euch am meisten Spaß machen und am meisten Zeit in Anspruch nehmen. Nur für ein paar Wochen. Diese Leichtigkeit wird in Zukunft ein rares Luxusgut sein. Also gönnt es euch jetzt. Der erste Job wird kommen. Ihr werdet diese kurze Pause nicht bereuen und später einmal – wenn auch nur für einen Moment – Glück daraus schöpfen, in diese Zeit zurückzublicken …«

Diese Worte brennen sich in mein Gewissen, wenn ich Alex anschaue und daran denke, dass ich diesem Freigeist die neu gewonnene Unabhängigkeit und die Erleichterung gleich wieder wegnehmen muss. Es wird keine Reise um die Welt mit Alex‘ Freundin Sophia geben. Im Laufe der Jahrhunderte fiel mir diese Aufgabe immer schwerer, denn es hat selten einen günstigen Moment dafür gegeben, meine vier Kämpfer ihren Familien zu entreißen.

Mit einem Grinsen verabschiedet sich Alex von der Bühne und übergibt das Mikrofon an die Institutsleiterin. Im Publikum glänzen die Augen etlicher stolzer Familien. Alex umarmt Mutter, Vater und Freundin, die gar nicht mehr aufhören können zu strahlen. Zum Platzen Stolz und glücklich.

Ich fühle mich schlecht.

***

Alex

Vor ungefähr 48 Stunden habe ich mein Diplom erhalten. Seither habe ich noch keine Minute geschlafen. Tagebuchschreiben war noch nie mein Ding, aber Jess meint, ich würde es bereuen, wenn ich das jetzt nicht mache. Und im Moment habe ich auch keinen anderen Ausweg, um meine Gedanken zu sortieren. Darüber reden darf ich ja mit niemandem. Wozu auch? Jeder würde mich für komplett durchgeknallt halten. Und es gibt nur einen Grund, warum ich Jess nicht für verrückt halte: den Vorfall. Sie ist die Einzige von uns, die sich erinnern kann, sagt sie. Sie hebt alles auf und wenn es soweit ist, zeigt sie uns, wer wir einmal waren. Zumindest behauptet sie das. Wer weiß, vielleicht gehört diese Frau ja einer Sekte an. Womöglich gehört sie mit ihrem verführerischen Lächeln, das einem volle Aufmerksamkeit und Geborgenheit verspricht, nicht zufällig zu denjenigen, die neue Mitglieder rekrutieren. Die attraktive Blondine im Vordergrund eines hinterhältigen Machtnetzwerkes. Außerdem hat sie es Rekrutierung genannt. Ein Teil von mir will ihr jedoch Glauben schenken. Ein großer Teil. 80 … 90 Prozent? Nicht nur wegen des Vorfalles, sondern weil mir alles irgendwie bekannt vorkommt. – Oder ich rede mir alles nur ein und ihre Überzeugungsfähigkeiten zeigen schon Wirkung.

»Ein Monat«, sagt Jess, dann würde ich nicht mehr glauben müssen, sondern wissen können. – Da ich jetzt, nach meinem Abschluss, eigentlich eine Weltreise ohne finanzielle Mittel vorhatte und mich diese Frau kostenlos mit nach Südamerika nehmen will, ist es doch zumindest eine Überlegung wert, oder?

Ich soll alles – meine Familie, meine Freunde, mein Hab und Gut – von einem Tag auf den anderen stehen und liegen lassen. »Es wäre nicht das erste Mal«, hat sie mir ohne zu blinzeln versichert. Na klar, wenn es Jess – eine mir bis vor Kurzem komplett unbekannte Person – sagt; warum sollte ich dann zögern?.

Auf die Frage, wie lange diese Reise mit drei weiteren Fremden dauern würde, hat sie nur gesagt, dass es wahrscheinlich drei Wochen würden. Ich soll mich jedoch darauf einstellen, dass ich danach mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr zurückkehren will. Höchstens, um mich noch einmal richtig von meinen Angehörigen zu verabschieden. Das hört sich heftig nach einer Sekte an.

Ausgerechnet jetzt soll ich mich entscheiden. Jetzt, da ich endlich von jeglicher Verantwortung gegenüber meiner Familie und zukünftigen Arbeitgebern befreit bin – zumindest vorübergehend. Im Gegensatz zu den meisten meiner Studienkollegen war ich nämlich nie frei von Sorgen und Verpflichtungen. Vorlesungen habe ich nicht wegen Partys oder Mädchen versäumt, sondern weil ich mich neben meinen zahlreichen mies bezahlten Studentenjobs um meine Großmutter gekümmert habe, nachdem sie ihren zweiten Schlaganfall hatte, bis sie uns vor drei Monaten verließ.

Mein Plan war es, nach dem Abschluss keinen Plan zu haben. Das Leben ist kurz. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Angst davor haben, keine Karriere zu machen, wenn sie sich ein paar Monate im Leben entspannen und auf die Lücke im Lebenslauf pfeifen. Und jetzt soll ich mich neuen Erwartungen stellen, für die ich noch keinen Maßstab habe. Es soll ungefähr die Last der Welt sein. Klingt super!

Als ob ich eine Wahl hätte! Wenn diese Jess nicht komplett verrückt ist … was für ein fürchterlicher Mensch wäre ich dann, wenn ich mich verweigere? Aber anscheinend bin ich sowieso kein normaler Mensch. Jess meint, dass ich ohne Training zur Gefahr für meine Umgebung werde: für meine Familie, Freunde und vor allem für Sophia.

Das ist das Schlimmste an all dem: Sophia. Meine Eltern sind es ja gewohnt, dass ich mich jederzeit unangekündigt dazu entschließen kann, dem Alltag den Rücken zu kehren und mich für ein paar Tage, Wochen oder, wie zuletzt, für immer von einer Stadt zu verabschieden. Aber Sophia war ich immer treu, bin bei ihr in Wien geblieben, obwohl ich mein letztes Semester eigentlich in Amsterdam hätte verbringen können. Ich habe mich – ohne ihr jemals irgendetwas davon zu erzählen – für sie entschieden.

Mein Leben war 0815 – nicht nur im Vergleich zu dem, was jetzt passiert. Ich hätte kaum gelangweilter sein können von der Normalität, die mich umgab. Ich komme sogar aus einem Drama-freien Haushalt. Meine Eltern haben zwar die eine oder andere Krise gehabt, sich jedoch nie scheiden lassen. Zwei Wochen ist die längste Zeit, die sie getrennt waren, seit ich auf der Welt bin. Die zwei sind für einander geschaffen. – So wie Sophia und ich. Sie ist mein persönliches Wunder und zugleich hat sie mir gezeigt, wie schön ein normales Leben sein kann … wenn sie darin vorkommt.

Mir fällt gerade auf, was für einen Roman ich gerade verfasst habe. Es tut überraschend gut, sich all das Zeug von der Seele zu schreiben. Hätte ich vielleicht schon früher probieren sollen. Wenn sich Crazy-Jess tatsächlich als verrückt herausstellt, nehme ich zumindest etwas Gutes aus der Sache mit und werde nur die ersten Seiten verbrennen und entsorgen.

Bevor ich mein Notizbuch beiseitelege, muss ich aber noch die etwas schnulzige Geschichte niederschreiben, wie ich Sophia kennengelernt habe. Sollte mir jemals ein Ziegelstein auf den Kopf fallen oder ich einen anderen Unfall haben, der Gedächtnisverlust zur Folge hat, will ich die Geschichte aus meiner Perspektive nicht verlieren. Die kennt nicht einmal Sophia. Außerdem hat Jess gesagt, dass ich in meinen anderen Schriften – in meinen anderen Leben – auch von einer großen Liebe geschrieben habe. Ich denke, wenn ich im Kern schon immer so war wie ich jetzt bin und Jess sagt, das sei immer der Fall , dann kann ich noch nie so empfunden haben wie für Sophia, außer es hat sich damals um eine Reinkarnation der Original-Sophia gehandelt. Oder umgekehrt? Vielleicht liebe ich ja in jedem Leben dieselbe Frau, die ständig reinkarniert. Oder es war einfach jemand, der ganz genau so ist wie sie. Oder Jess ist einfach nur eine Irre.

Das Einzige, das meine verrückte Wenigkeit jetzt davon abhält, für die nächsten Wochen mit Jess und ein paar anderen Freaks nach Südamerika zu gondeln, ist dieser einzigartige Mensch, der vor ungefähr einem Jahr in mein Leben getreten ist: Sophia.

Wir haben uns im Sommer kennengelernt. Es war einer dieser Tage mit lauwarmem Regen. Meine Stimmung war so gut, dass ich spontan den Donaukanal in Wien entlanggegangen bin – mit Musik in den Ohren, denn ohne Kopfhörer gehe ich nirgends hin. Außer mir war fast niemand unterwegs. In den Ferien treibt es die vielen Studierenden, die diese Gegend üblicherweise bevölkern, in ihre Heimatdörfer oder ins Ausland.

Für mich gibt es kaum etwas Schöneres als den von hellgrauen, nicht bedrohlichen Wolken verhangenen Himmel, bei dem hin und wieder Sonnenstrahlen durchkommen, die aussehen wie die langen Finger einer Gottheit. Während ich den Geruch von nassen Blättern einsog, ließ ich die von mir eigens für so ein Wetter kreierte Playlist DUSCHbag laufen. Ich kann mich noch erinnern, dass ein Lied von Philipp Poisel dabei war. Zu meiner eigenen Überraschung bin ich vor zwei Jahren draufgekommen, dass ich einen extrem weichen Musik-Kern habe.

Nach fast zwei Stunden kam ich völlig durchnässt wieder zu Hause an. Die WG war leer; mein Mitbewohner Patrick weilte gerade für eine Woche in der Türkei und July hatte einen Monat zuvor ihre Kartons gepackt und war ausgezogen, weil es ihr zu Zweck-WG-mäßig bei uns war.

Mir war es ganz recht, mal alleine zu sein. Ich schloss mein Handy an die Boxen an und ging, immer noch zu DUSCHbag, duschen, aber die Playlist war schon fast am Ende, bei dem Song All of This von A tale of Golden Keys. Und (natürlich!) läutete es genau in dem Moment, als ich gerade die Augen schließen und mich unter dem warmen Wasserstrahl der Entspannung hingeben wollte. Zuerst bin ich noch etwas unwillig in der Dusche stehengeblieben. Dann, weil es weiterklingelte, bin ich tropfnass, mit nichts als einem Handtuch um die Hüfte, zur Tür marschiert. Nach dem Öffnen habe ich ihn gesehen: den wütendsten Blick, den mir je jemand entgegengeschleudert hatte. Diese Frau war zornig, richtig sauer – aber nur für etwa zwei Sekunden. Dann hatte sie mich abgecheckt und ihr Gesichtsausdruck wurde etwas weicher.

»Hallo. Ich heiße Sophia … bin vor Kurzem oben in die WG eingezogen …«, waren ihre ersten Worte an mich.

Vor mir stand die schönste Frau der Welt. Ihre zierlichen Hände waren in ihre Hüften gestemmt, ihre blonden Haare zu einem wilden Zopf zusammengebunden, eine Strähne hing ihr ins Gesicht … aber das Schönste waren ihre haselnussbraunen Augen, die dir nichts als Ehrlichkeit und Offenheit versprachen.

»Hi. Schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Alex. Brauchst du den Schlüssel zum Stromzählerkasten im Keller?«

Sie hat recht irritiert geguckt. »Nein, nicht der Zählerstrom … Stromzähler …«

Im Hintergrund hat Norah Jones Sunrise zum Besten gegeben. Sophia sah zu Boden, um ihr Lächeln zu verbergen.

»Ist die Musik etwa zu laut? Oder entspricht sie einfach nicht deinem Geschmack?«

»Ja, zu laut.« Ihr Blick blieb noch für ein paar Momente auf den Boden gerichtet, dann wurde ihr Ausdruck wieder etwas ernster: »Ich bin nicht gerade ein Mensch, der die Stille bevorzugt, aber über uns wohnt ein Model, das gerade ein Kind bekommen hat. Wenn ihr Kind nicht gerade schreit, macht diese Frau ständig irgendwelche Gymnastikübungen – scheinbar immer mit einem verdammten Hüpfball – wie ein Erdbeben. Und dann immer dieses Mischmusch-Mischmusch oder wie auch immer diese Katzen heißen mag. Die macht fast noch mehr Geschrei als das Baby, ob sie nun gerufen wird oder nicht. Ich will einfach nur einmal in Ruhe schlafen, mir ist auch völlig egal, wann! Jetzt gerade ist oben mal Ruhe, also BITTE dreh die Musik etwas leiser. Ich will nur eine Stunde schlafen. Und vielleicht kannst du ja Kopfhörer benutzen, bis ich die Medizin-Aufnahmeprüfung geschafft habe? Sind nur zwei Tage.«

Ziemlich genau so ist Sophia in mein Leben getreten.

Im Nachhinein betrachtet, ist das zwischen uns ziemlich schnell gegangen. Für mich war es nicht schnell genug, denn ich hätte Sophia vom ersten Moment an an mich reißen können. Aus Sophias Sicht hat sich das alles jedenfalls in Lichtgeschwindigkeit abgespielt. Sie sagt immer, sie wusste anfangs gar nicht, wie sie sich so schnell in mich verlieben konnte, das war nicht ihre Art. Ich war jedenfalls sofort von ihrem ganzen Wesen eingenommen. Bis Sophia aufgetaucht ist, hatte ich noch nie jemanden so nah an mich rangelassen.

Ich kann nicht gehen. Zumindest nicht ohne sie.

***

Jess

Wir haben noch nie eine außenstehende Person mitgenommen. Wir haben noch nie einen Menschen mitgenommen! Nie! Dafür gibt es auch unzählige Gründe. Erstens: Es ist zu gefährlich! Zweitens: Wir wären dann nicht mehr ganz so undercover unterwegs.

Das Risiko, dass Sophia etwas ausplaudert, ist einfach zu groß. Außerdem werden Alex und sie sich sowieso trennen. Spätestens, wenn wir am Ziel angekommen sind. Ich spüre aber, dass Alex nicht ohne sie gehen wird. Dafür bräuchte ich nicht einmal meine Fähigkeiten.

Aber ohne Alex geht es nicht.

Ich könnte Sophia unter einer Bedingung mitgehen lassen: Alex darf ihr nichts, rein gar nichts davon erzählen, was wir vorhaben. Nichts vom Trainingslager, nichts von den Kräften, den Aufgaben oder Bedrohungen. Das Einzige, das wir ihr verraten können ist, dass es sich um eine Art Dschungelcamp handelt und Alex das große Los zu dem Abenteuerurlaub gezogen hat. Solange sie nichts mitbekommt, kann sie jederzeit gehen. Wir werden das schon einen Tag lang hinbekommen – das Training muss nicht sofort beginnen. Wir haben noch etwas Zeit.

Ich hoffe, Elias hat die Zelte nicht zu knapp am Trainingsfeld aufgebaut, ansonsten muss er alles neu aufstellen. Ich sollte ihn gleich kontaktieren. Danach muss ich nur noch mit Alex verhandeln sowie Vea und Sina Bescheid geben.

Sina wird alles andere als erfreut sein. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der die Mehrheit der Menschen so nervtötend findet wie Sina.

***

Elias

»Nein ich habe noch kaum etwas aufgebaut, Jess. Keine Sorge …«

Was für ein Mist! Die zwei großen Zelte wieder abzubauen, das wird eine Weile dauern, aber das Baumhaus … Ich kann es nicht komplett abbauen, weil es nicht wieder stehen würde, bis sie hier ankommen. Es muss stehen bleiben. Zum Glück ist es nicht beim Trainingsfeld, sondern nahe beim Strand. Dann muss ich die Zelte eben direkt am Waldrand beim Strand aufstellen. Aber das konnte ich Jess jetzt schlecht erklären, dass ich extra ein Baumhaus für uns gebaut habe. Sie hält mich schon für verrückt genug. Solche Dinge hat sie noch nie nachvollziehen können. So ist Jess nicht gestrickt.

Ich baue die Zelte einfach weiter zum Ufer hin wieder auf und das Baumhaus bleibt hier. Kinderspiel. Dann ist das Baumhaus nicht mehr abgelegen, aber unser Feld bleibt vorerst ungestört. Dieser Gast, den Alex mitbringt, wird ja nicht lange bleiben. Ich hoffe, dass Jess sich da nicht irrt.

***

Sina

Endlich geht es los! Ich kann es kaum erwarten, endlich mit dem Training zu beginnen. Dieses Normalo-Leben ist nichts für mich. Vea heißt sie in diesem Leben. Sie hat es angeblich schon früher gespürt, dass sie anders ist. Ich eigentlich auch, aber meine Fähigkeiten sind lange nicht so stark präsent gewesen, dass ich sie bewusst als solche wahrgenommen hätte. Außerdem haben ernsthafte Gedanken in diese Richtung nur dazu geführt, dass ich an meinem eigenen Geisteszustand gezweifelt habe.

Als Jess mir gesagt hat, dass ich mein altes Leben als Kellnerin hinter mir lassen muss, hätte ich fast gelacht. Scheißjob. Ja, diese Jess könnte eine durchgeknallte Psychopathin sein, aber einen Versuch ist es wert. Oder zwei. Oder drei.

Ein Teil von mir hat Jess sofort geglaubt. Nicht nur, weil sie viel zu besonnen wirkt, um eine Verrückte zu sein, sondern vielmehr wegen ein paar Vorkommnissen in meiner Vergangenheit. Zum Beispiel, als ich mit elf Jahren das Schwert im Heeresgeschichtlichen Museum verbogen habe. Zum Glück hatte es niemand mitbekommen. Und dann die Technik … zu technischen Geräten habe ich schon immer eine starke Verbindung gespürt. Ich habe diese Dinger von Anfang an verstanden, mit ihnen auf eine Weise kommuniziert, die normale Menschen nicht begreifen.

Der andere Vorfall vor ein paar Wochen war auch komisch, als das ganze Besteck praktisch an mir kleben geblieben ist und meine Chefin meinte, dass ich wohl magnetisch aufgeladen wäre. Ihr unsicheres Lachen hat in mir den Eindruck geweckt, ein Freak zu sein. Die magnetische Kellnerin. Ein Freak. Mein ganzes Leben hat mich dieses Gefühl immer wieder überwältigt. Ich hasse es. Die meisten Menschen sind so dumm … Keine Ahnung, warum ich mich ausgerechnet in Großstädten wohlfühle. Muss wohl etwas mit meiner Fähigkeit zu tun haben, denn die blanke Natur macht mich wahnsinnig: Nichts, an dem ich rumbasteln kann.

Es gibt Dinge, die normale Menschen nicht erklären können. Und ich gehöre offenbar dazu. Ist doch der Wahnsinn!

***

Vea

Ich liebe Reisen – besonders in die Natur! Ich liebe Abenteuer! Ich liebe Tagebuchschreiben! Jedenfalls liebe ich das alles! Es ist wie ein Traum, der endlich wahr wird. Als hätte ich Hunderte Déjà-vus auf einmal. Ich würde mich so gerne richtig in den Taumel von Glücksgefühlen fallen lassen, aber irgendetwas passt noch nicht ganz und ich kann nicht sagen, was es ist. Es fehlt etwas.

Ich kann die Reise kaum abwarten. Alle anderen sind schon am Packen, nur ich brauche nichts außer mich, die Bäume, Pflanzen und Tiere. Vielleicht sollte ich dennoch zumindest ein extra Outfit, einen Pyjama, Zahnbürste und etwas zu essen mitnehmen. Ein bisschen packen ist vermutlich keine schlechte Idee.

***

Alex

Alle verhalten sich komisch, zumindest Sophia und mir gegenüber. Es ist schon schlimm genug, dass ich gezwungen wurde, meine Freundin überhaupt anzulügen. Jetzt muss ich sie die ganze Zeit anlügen und sagen, dass sie sich nur einbildet, dass die anderen schweigen, wenn wir dazu stoßen, und dass sie nicht bei jeder Gelegenheit versuchen, sich von uns abzukoppeln. Wenn wir die Flugtickets nicht gratis bekommen hätten, wären wir gar nicht mitgekommen. Es wundert mich nicht, dass Sophia sich unwohl fühlt.

Ich frage mich, warum die mich so unbedingt dabeihaben wollen. Sie scheinen sich ja alle schon bestens zu verstehen und genau zu wissen, was auf uns zukommt. Ein Teil von mir wäre gerne bei diesen richtigen, echten Gesprächen dabei, aber der Großteil von mir überlegt sich ernsthaft, Sophia einfach an der Hand zu nehmen und abzuhauen, sobald wir angekommen sind. Soweit ich weiß, wird keinem von uns ein Rückflugticket spendiert.

Wir sind schon in Ecuador. Jess meint, morgen machen wir uns auf den Weg zu den Galapagosinseln. Warum wir nicht zuerst eine Sightseeingtour in der Hauptstadt Quito machen, wenn wir schon hier sind, hat sie Sophia nicht erklären können. Deshalb habe ich mir mit Sophia die Stadt heute Abend angesehen. Nur wir. Tja, und dann stoßen wir ausgerechnet auf die anderen vier, die gerade gemeinsam – jeder ein Eis in der Hand – durch die Gegend spaziert sind, lachend und intensiv in ein Gespräch verwickelt. Sah ziemlich nach einer gemeinsamen Tour durch die Stadt aus. Es war mehr als auffällig, als sie bei unsrem Anblick abrupt stehen geblieben sind, kein Lachen und kein Reden mehr, die Mienen schuldbewusst. Wenn die sich nicht mehr Mühe geben, dann werde ich Sophia alles sagen. Was wollen sie schon dagegen machen? Ich habe keinen Vertrag unterschrieben oder so.

***

Vea

So kann das nicht die gesamte Reise über weitergehen. Ich kann doch nicht die Einzige sein, die das so sieht!

Ich versuche, mit Jess und Sina darüber zu reden: »Leute, ich fühle mich extrem schlecht wegen heute Abend.«

Aber Sina unterbricht mich mitten im Gedanken: »Wir können ihr nichts verraten. So ungemütlich der erste Tag mit ihr vor der Abreise auch war, bei der Besprechung mit den hunderten Andeutungen und Codewörtern, die wir nächstes Mal im Übrigen lieber vorher ausmachen sollten. Vea?«

Was habe ich jetzt schon wieder gemacht? Ich kenne Sina laut Jess schon ewig und sie hat mich nach unserem ersten Treffen ohne die anderen versucht damit zu trösten, dass es früher nach einiger Zeit immer besser geworden ist. Ich werde trotzdem nicht schlau aus ihr. Ein paar Erinnerungen muss sie doch ebenfalls haben. Wieso behandelt sie mich dann schon wieder wie eine nervige Tante, mit der man nicht wirklich verwandt ist, sich aber abfinden muss, um den Onkel, mit dem sie verheiratet ist, nicht zu kränken? So eine Tante, die man nur Tante nennt und insgeheim alte, nervige Schachtel denkt.

»Was zum Teufel hast du die ganze Zeit mit Tulpen gemeint, die wir vor Ort einpflanzen müssen?« Sina schaut mich an, als wäre ich leicht irre.

»Na unsere Fähigkeiten«, was denn sonst?

»Hä?«

Jess mischt sich nicht ins Gespräch ein, aber sie hat sicher verstanden, worum es ging.

»Na ja«, sage ich geduldig, »wenn wir auf der Insel ankommen, werden wir unsere Fähigkeiten pflegen und so richtig zum Aufblühen bringen.«

»So ein Schwachsinn, sprechen wir diese Themen zukünftig lieber erst gar nicht vor dem Menschen an.« Sina hat zwar bis Kurzem noch in dem Glauben gelebt, selbst ein normaler Mensch zu sein, aber jetzt hat sie ihr altes Ich wohl schon erfolgreich begraben. »Was ich noch sagen wollte: So ungemütlich die Anreise bisher war – und noch wird –, es ist wie es ist. Das geht Sophia alles nichts an. Und sobald die Beziehung aus ist, erzählt sie es überall rum.«

Sophia ist ein Mensch und so sollten wir sie behandeln – nicht wie eine Aussätzige. Alex schließen wir dadurch auch immer mehr aus und die war noch nie das am einfachsten zu haltendende Glied unserer Gruppe. Anfangs jedenfalls nicht. Wer weiß, ob wir es gemeinsam bis zum Camp schaffen, wenn wir Alex‘ Freundin verscheuchen. Da sind wir momentan näher dran, als Jess und Sina bewusst ist.

»Sophia hält uns für homophob«, platzt es im heruntergekommenen Hotelzimmer aus mir heraus

»Waaaas?« Sina bricht in Lachen aus.

»Das ist nicht witzig! Sie glaubt, dass wir sie deshalb ausschließen, weil sie lesbisch sind, uns deshalb von ihnen abkoppeln. Das ist alles unsere Schuld, wir geben uns nicht genug Mühe«, versuche ich zu erklären.

Aber wieder muss Sina kontern: »Ganz ehrlich? Die soll sich nicht wie ein Opfer aufführen. Als Nächstes sagt sie, wir sind Rassisten und halten uns von ihnen fern, weil Alex einen etwas dunklen Teint hat.«

Das hat Sophia tatsächlich gefragt, nachdem ich ihr versichert habe, dass wir rein gar nichts gegen homosexuelle Menschen haben. Kann ich Sina natürlich nicht sagen, das wäre ja ein gefundenes Fressen für sie.

»Vea, hör zu: Wir haben erst vor Kurzem erfahren, dass wir im genetischen Lotto gewonnen haben. Wir sind besonders. Und ich will über all das reden können, ohne in Codes zu sprechen oder so. Alex ist selber schuld, wenn sie jetzt nicht immer dabei sein kann. Ich habe auch einen festen Freund, aber siehst du den hier irgendwo?«

Sina hat irgendwie recht, aber ich bin dennoch der Meinung, dass wir riskieren, Alex zu verlieren.

»Wer sagt, dass sie wirklich Schluss machen werden, wenn wir angekommen sind? Wir wissen alle, wie leidenschaftlich Alex sein kann. Seht ihr nicht, wie sehr sie für Sophia brennt? Sie liebt sie …«

Zum ersten Mal mischt sich Jess ins Gespräch ein: »Wir haben keine Garantie dafür, ja. Aber gerade weil Alex so leidenschaftlich ist und so schnell Feuer und Flamme werden kann, genau deshalb wird sie es beenden, sobald ihr klar wird, wer sie ist, schon immer war und wohin sie gehört. Wir müssen geduldig sein. Und ja, Vea, du hast auch recht damit, dass wir offener und freundlicher zu Sophia sein sollten. Sie hat Gefühle und wir wollen weder sie noch Alex einfach vergraulen.«

Damit ist das Thema sicher noch nicht abgehakt, aber ich lege meinen Kopf vorerst kapitulierend auf mein Kissen. Es mieft nach alten Socken, so sehr, dass nicht einmal die Wanzen hier darauf herumkrabbeln wollen.

***

Jess

Wir geben dem Ganzen eine Woche. Sollte Sophia dann noch bei uns sein, werden wir uns erneut beraten und überlegen, ob wir sie einweihen oder loswerden, wie Sina es nennt.

Die Situation war im Vorhinein zwar immer etwas angespannt, aber derartige Ungewissheit und Chaos haben noch nie geherrscht. Ich habe früher immer alles unter Kontrolle gehabt. Meistens hat sich die Lage mit dem ersten Training zwar ein bisschen verschärft, ist dann jedoch stetig besser geworden. Ich weiß nicht, wie es dieses Mal wird.

Und Sophias Fragen sind gerade wie ein fetter Paradiesvogel, der sich auf eine bereits vollgepackte Wäscheleine setzen möchte: einfach fehl am Platz. Wohin führt denn unsere Reise genau? Wann kommen wir planmäßig beim Camp an? Was machen wir dann dort? Sie kann nichts dafür und ich kann damit umgehen, aber Sina wird bald explodieren. Vea bewahrt noch Ruhe und versucht, Sophias Fragen so nett wie möglich zu beantworten, ohne sie komplett zu belügen: Wir fahren heute auf eine Inselgruppe, die keine Einwohner hat und noch nicht von herkömmlichen Touristen entdeckt wurde. Ganz selten trifft man andere abenteuerliche Kleingruppen wie uns, aber ich würde nicht damit rechnen zu dieser Jahreszeit. Du kannst es dir ähnlich wie die Galapagosinseln vorstellen, mit viel Natur und den beeindruckendsten Pflanzen und Tieren – nur ohne Touristen … Warum da keine sind? Na ja, die Insel ist nicht gerade leicht zu erreichen, die meisten kennen sie gar nicht. Ist ein Geheimtipp. Jedenfalls werden wir mindestens ein paar Tage dort ein Camp aufschlagen. Ich werde mich viel mit der Natur dort auseinandersetzen – das ist mein Bereich, ich habe Biologie studiert. Vea kann so diplomatisch sein. Sina hat genau das Gegenteil gemacht und nur genervt gesagt, dass es Sophia nichts angehe, was andere Menschen in ihrer Freizeit machen und dass sie selbst gar keinen genauen Plan hätte, alles auf sich zukommen lassen würde – wobei der letzte Punkt bei Sina sogar der Wahrheit entsprechen könnte.

Was Sophia erst denken wird, wenn sie sieht, worauf wir zu den Inseln rudern! Arme Alex. Es muss für sie die Hölle sein, so viel mehr zu wissen und dem Menschen, den sie am meisten liebt, nichts davon erzählen zu können. Ich hoffe, diese Probleme lösen sich bald in Luft auf. Es steht und fällt alles mit unserer Ankunft.

Ich zähle auf dich, Elias.

Blinder Passagier

Elias

Sie sind unterwegs. Jess‘ Stimme hat sehr angespannt geklungen, vermutlich nicht, weil sie Angst vor der Floßfahrt hat. Vea ist bei ihnen, sollte etwas schiefgehen. Abgesehen davon, sind sie nicht sehr weit weg – für ein paar Stunden kann ich das Wetter im Umkreis schon unter Kontrolle halten und Gewitter hinauszögern.

Es ist faszinierend, wie Sinas Handy hier mitten im Nirgendwo so gut funktionieren kann. Sina … Der Name passt irgendwie zu ihr: die wilde Sina.

Ich beneide Jess darum, dass sie keine alten Tagebücher braucht, um sich an ihre Vergangenheiten zu erinnern. Das hängt eben mit ihren Fähigkeiten zusammen. Sie meint aber, dass unsere Erinnerungen auf der Insel Stück für Stück auf uns einregnen werden. Und falls nicht, kann sie mit den alten Notizen Abhilfe schaffen.

Jess ist ein wirklich besonderer Mensch, dennoch wirkt sie ein wenig kühl und emotionslos. Vielleicht ist emotionslos die falsche Bezeichnung, sie wirkt meistens emotionsneutral. Keine Ahnung, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist. Ich vertraue ihr trotzdem.

Jess hat mir erklärt, dass wir alle – Sina, Vea, Alex und ich – unveränderliche Seelen sind, dass unabhängig davon, als was wir auf die Welt kommen – Mann, Frau, reich, arm, schön, hässlich etc. –, unsere Charaktere, unsere Persönlichkeiten immer dieselben bleiben:

Sina, unsere Kämpferin. Außen hart, nur um stark genug zu sein, uns alle zu beschützen.