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Manfred Theisen • Fabrice Boursier

NERD FOREVER

Im Würgegriff der Schule

DER AUTOR

Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Er studierte Germanistik, Anglistik und Politik, forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und leitete eine Kölner Zeitungsredaktion. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Manfred Theisen traf den 14-jährigen Fabrice Boursier bei einem Schreibworkshop. Aus dieser einmaligen Zusammenarbeit entstand NERD FOREVER – Im Würgegriff der Schule.

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© Isabelle Grubert/Random House

DER ILLUSTRATOR

Fabrice Boursier wurde 1998 geboren und besucht zurzeit die Johann-Gutenberg-Realschule in Langenfeld. Neben seiner Begeisterung fürs Zeichnen kennt er sich an der Konsole aus (wie ein echter Nerd) und ist vor allem Japan-Fan. Irgendwann will er dorthin reisen und sich das Land des Mangas mal von Nahem anschauen. Fabrice Boursier traf den Autor Manfred Theisen bei einem Schreibworkshop – aus dieser einmaligen Zusammenarbeit entstand Fabrices erstes Buch NERD FOREVER – Im Würgegriff der Schule.

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© privat

Manfred Theisen

NERD FOREVER

Im Würgegriff der Schule

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Mit Illustrationen von

Fabrice Boursier

© 2018 Manfred Theisen

Alle Rechte vorbehalten

Autor: © Manfred Theisen

Illustrationen: © Fabrice Bourier

Umschlaggestaltung: © init.büro für gestaltung, Bielefeld, unter Verwendung mehrerer Illustrationen

von Fabrice Boursier

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7469-3551-5 (Paperback)

ISBN: 978-3-7469-3553-9 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nitionalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Kapitel 1

Nenn mich Nerd!

Sie nennen mich Nerd. Meine ganze Familie heißt so.

Denn wir sind die Nerds:

Marc Nerd,

Mia Nerd,

Ich Nerd und meine Schwester Extreme Nerd, die eigentlich Sarah heißt, aber extrem nervt.

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Wir tragen alle Brillen, denn wir vertragen keine Kontaktlinsen. Wir vertragen auch keine Milch, nur Soja.

»Nerd, komm bitte! Sarah und ich warten!« Meine Mutter legt großen Wert darauf, dass wir zusammen frühstücken, ehe wir uns vor unsere Computer setzen.

Ihr wundert euch bestimmt, dass ich von morgens bis abends vor dem Bildschirm abhängen darf und ihr bei Wind und Wetter in die Schule müsst. Selbst die Hochbegabten müssen in die Albert-Einstein-Hochbegabtenschule im Osten der Stadt. Aber ich nicht. Und das ist mir erlaubt, weil ich extrem höchstbegabt bin, mit meinem fotografischen Gedächtnis die Texte scanne und jedes halbe Jahr von Schulinspektor Professor Pisa getestet werde.

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Zwei Beispielfragen:

1.) Wie viel ist 612 : 36 ˟ 417

2.) Warum tragen die sieben Zwerge Zipfelmützen? Antwort:

1.) Zweihundertvierzigtausendeinhundertzweiund- neunzig

2.) Weil die Zwerge Bergleute sind. Die Mützen schützen sie davor, dass sie sich in den niedrigen Stollen die Köpfchen stoßen.

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Sollte ich den Test mal verhauen, müsste ich am nächsten Tag sofort zur Schule. Einigen Nerds passiert genau das. Ich habe auf YouTube Videos davon gesehen. Es ist schrecklich. Ich möchte euch diese Bilder ersparen …

Am wichtigsten sind für Professor Pisa jedoch nicht Mathematik oder Englisch, sondern STILLSITZEN!

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Das ist mein Hauptfach. Ihr kennt das aus eurer Schule. Papa hat mir deshalb eigens einen Bewegungsmelder konstruiert. Der sieht aus wie ein handgroßer Türsteher und thront auf meinem Schreibtisch. Er hat ein Kabel im Rücken, der an die USB-Schnittstelle hinten am PC geklemmt wird. Sobald ich aufstehe oder nur einen Furz lasse, schreit er mich an: »Ruhe! Setzen! Still sein!«

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Ihr hört also, ich brauche keinen Lehrer. Mein Türsteher macht das schon!

Zudem ist in meinem Stuhl ein Zeitmesser eingebaut, den Pisa kontrolliert. Er sieht ein bisschen so aus wie der Stromzähler bei euch im Haus.

Im Moment aber liege ich noch im Bett und der Türsteher guckt gelangweilt mit den Händen in den Hosentaschen zu mir rüber. Und Mama kann so lange rufen, wie sie will. Warum? Weil ich den verfluchten Darth-Vader-Wecker nicht ausgeschaltet bekomme. Dazu muss ich erst vier aufleuchtende farbige Knöpfe unter Vaders Maske in einer bestimmten Reihenfolge drücken, die sich ständig ändert. Das ist echt schwer morgens um 7.35 Uhr, wenn dein Hirn noch eine frisch formatierte Festplatte ist.

Die Weckkonsole ist gnadenlos. Darth Vader hat kein Herz und kein Mitleid. Wieder ruft er: »Angriff! Tod dir, Jedi-Ritter! Du Versager, wach endlich auf!«

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Nach gefühlten Trillionen Versuchen gelingt es mir, trotz Schwierigkeitsstufe hundert, ihn zu besiegen. Ich schlage dreimal kurz hintereinander auf die blaue, dann zweimal die gelbe, wieder die gelbe und einmal jeweils die grüne und die rote Taste.

Geschafft!

Ein normaler Junge hätte das nicht gepackt. Probiert es mal! Falls es euch gelingt, seid ihr auch extrem höchstbegabt und dürft getrost auf die Schule verzichten. Schreibt mich an, ich besorge euch dann noch ein Duplikat vom Türsteher, damit ihr STILLSITZEN! lernt.

Darth Vader sagt jetzt unterwürfig zu mir: »Nun hast du die Macht. Beginne den Tag, Gebieter!«

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Ich hebe den Daumen, schlurfe ins Bad und werfe mir warmes Wasser ins Gesicht.

Die Zahnpaste schmeckt nach Himbeerkaugummi wie die der Hobbits im Auenland. Und beim ersten Ausatmen riechst du wie Bilbo Beutlin unterm Arm – ekelig nach Kuhkacke! Deshalb verziehe ich angeekelt das Gesicht, als ich ausatme. Es ist ein rundliches Gesicht. Nicht so rund wie eine Radkappe, aber auch kein Oval wie ein Ei. Genau genommen ist es 12,4 Zentimeter breit und 19 Zentimeter hoch.

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Damit ihr euch ein genaues Bild von mir machen könnt, verrate ich euch noch: Meine Nase sticht 1,6 Zentimeter hervor und meine Lippen sind weder dick noch dünn, genau wie meine Ohren mit einem Durchmesser von 2,8 Zentimetern weder groß noch klein sind. Einzig meine Füße lassen darauf schließen, dass ich mal außergewöhnlich groß werde. Ich brauche jetzt schon Schuhgröße 40 1/2. Ich bin also eigentlich ein ganz normaler Junge, halt nur anders.

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Mama und meine Schwester sitzen schon in der Küche, als ich endlich eintreffe.

Mama guckt aus dem Fenster. Sie sagt: »Es ist ein schöner sonniger Tag.«

Typisch meine Mutter! Ungenau! Es ist nicht nur ein schöner sonniger Tag, sondern mit 28,8 Grad wird es laut wetter.de der heißeste Montagmorgen im Mai in den vergangenen 17 Jahren.

Papas Platz mir gegenüber ist noch frei, weil er am längsten von uns arbeiten kann. Als er das Fahrstuhlprogramm für das welthöchste Hochhaus (828 Meter hoch) in Dubai geschrieben hat, hat er sechs Tage nichts gegessen und nur Doppelpower-Energie-Drinks geschluckt.

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Immerhin musste er 57 Aufzüge so aufeinander abstimmen, dass man überall in kürzester Zeit von einer Etage zur anderen kommt. Dabei hat er den »Dauerdurcharbeitrekord« geknackt. Schaut mal ins Guinnessbuch. Die Ex-Nummer-eins, der kleine siebenjährige Raj Kumar, Teppichknüpfer aus Indien, ist nur noch auf Platz zwei. Vielleicht habt ihr ein Hemd oder eine Hose von Raj. Ihr erkennt es an dem winzigmikrokleinen Schildchen:

MADE IN INDIA by LITTLE FINGERS

Papa hat sein Zimmer im zweiten Stock. Es ist ein extrem hohes Zimmer, das oben aus dem Dach ragt wie ein Spaceshuttle. Es ist deshalb so hoch, weil Papa eine Modell-Aufzugbahn besitzt. Die ist so ähnlich wie eine Märklin-Eisenbahn, nur eben senkrecht. Darin lässt er Tag und Nacht Figuren auf und ab, kreuz und quer durch Hochhäuser fahren.

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Er hat Tausende von Comics und Postern an den Wänden. Und über allem schwebt Meister Yoda und spricht:

»Vergessen du musst, was früher du gesagt.«

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Das ist Papas Reich, das wir nur zu Nerd-Feiertagen, wie dem Kinostart des ersten Star Wars-Films (25. Mai 1977) und dem Geburtstag von Computererfinder Konrad Zuse (22. Juni 1910), betreten dürfen. Ansonsten ist sein Zimmer verbotene Zone.

Kapitel 2

Als mir Papa das Laserschwert überreichte

Ich sitze also an unserem Küchentisch mit Mama und meiner Schwester und wir warten auf Papa. Auf der Fensterbank steht unser Kaktus und wartet nicht auf Wasser. Kakteen sind wie Nerds. Sie bewegen sich nicht und mögen keine Berührung. Darum ist der mexikanische Kaktus (lateinischer Begriff: cactus mexicanus) unser Wahrzeichen.

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Unser Tisch ist quadratisch, weil das Quadrat die perfekte Form ist. Alle Seiten sind gleich lang, wie ein Computerchip, und wenn du auf deiner Seite genau in der Mitte sitzt, hast du beim Essen genug Platz für deine Ellbogen.

Papa kommt. Er ist schlank und hoch wie ein Leuchtturm, trägt Jeans und Batman-T-Shirt. Unter dem Shirt hat er ein zweites langärmeliges grünes T-Shirt. Das machen Nerds in seinem Alter so. New Nerds wie ich können anziehen, was sie wollen. Manchmal trage ich sogar einen Känguru-Pulli. Da kannst du den Kopf mit einer Kapuze bedecken und gleichzeitig deine Hände vorne in die Taschen stecken. Das ist praktisch.

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Ich bevorzuge aber in der Regel Hemden, weil diese auf Kante zu bügeln sind, ganz gerade. Darauf ist auch kein Batman oder so was, sondern höchstens ein Ork, der kleine Hobbit, Yoda oder Eragon abgebildet. Papa hat keinen Bart. Wenn ich mal alt genug bin, trage ich einen Bart wie Santa und bringe mir selbst die Geschenke – kleiner Scherz! Nicht ernst gemeint, denn wir Nerds hassen Bärte. Ihr tut das hoffentlich auch. In ihnen verfangen sich nämlich Chips, Flips, Zahnpaste, Bolognese-Soße und Suppe. Das einzig gute an Bärten ist, dass du als Bartträger immer weißt, wohin mit deinen Popeln.

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Papa setzt sich und schaut Mama an. »Liebe Mia, ich musste noch den Artikel über die neue Bambus-PC-Mouse ins Netz stellen.« Papa schreibt nebenbei für das Onlinemagazin The New Nerd und ist da für die Gadgets zuständig. Gadgets sind solche Sachen wie mein Türsteher, irgendwelche kleinen technischen Spielereien. Das kann auch eine Paniktaste auf der Tastatur sein oder ein kleiner Tannenbaum für den Rechner. Sie werden meistens hinten an die USB-Buchse vom PC angeschlossen. MEISTENS! Denn einige laufen auch auf Batterie. So mein Darth-Vader-Wecker, den ich zurzeit für Papa teste. Davor hatte ich einen Wecker, den ich erst fangen musste, um ihn auszustellen – und davor einen, den ich nur mit einer Laserpistole zur Ruhe bringen konnte. Ich musste dem Ork genau zwischen die Augen zielen.

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Papa sagt: »Und? Wo ist das Warme-Sojamilch-Müsli?«

Da klingeln auch schon die Mikrowellen – Mamas Mikrowelle, meine Mikrowelle, Papas Mikrowelle und die meiner Schwester. Deren Klingeltöne ergeben gemeinsam eine kleine Melodie.

Siiiii!-liiiiii!-ziiiiii!-uuuuum!

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Ich bin uuuum! Die Melodie ertönt nicht nur, wenn das Frühstück fertig ist, sondern auch, wenn unsere Computer hoch- und runterfahren oder der Mann von Bofrost an der Tür klingelt.

Meine Schwester tritt mich unter dem Tisch. Verdammt! Sie hat mein Schienbein erwischt. Ich könnte schreien oder weinen, aber ich tue so, als ob nichts wäre. Wenn ich ihr zeige, dass ich Schmerzen habe, werden ihre Zähne wachsen, wie beim weißen Hai die Beißer, und sie wird mich wieder treten. Ich bleibe also hart, friere meine Gesichtsmuskeln ein.

Habt ihr auch eine Schwester? Falls ja, dann wisst ihr, wie es ist, ein Bruder zu sein. Wer Sarahs Herz mal erobern sollte, der wird auch keine Probleme mit dem Todesstern haben.

Wie meine Schwester aussieht?

Ihre Haare sind ein bisschen länger als meine und ihre Fingernägel viel länger. Wehren wäre also Wahnsinn! Ich frage mich manchmal, warum die Haare und die Fingernägel bei Mädchen schneller wachsen – und ich frage mich, wie sie einen Intelligenzquotienten (IQ) von 196 haben kann. Meine Schwester mag jedenfalls keine Jungen, obwohl sie langsam Jungen mögen müsste. Schließlich ist sie fast dreizehn Jahre alt und sie hat schon zwei Fett-Polster auf der Brust, trägt Förmchen, die sich unter dem Sweater abzeichnen und baut gerne Kampfroboter. Zudem spielt Sarah gegen Mamas Willen online Gitarre in einer Nintendowii-Hardrockband, gemeinsam mit ihren wilden Kampfschwestern von den Meerschweinchenfresserinseln in Indonesien. Auf YouTube gibt es Videos zu den Songs:

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Ugly Monsters!

Horror! Horror! Und noch mal Horror SHOW!

Kill my little nerdy brother!

Und sie steht auf Browser-Ballerspiele jeder Art.

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Ansonsten mag sie Mangas und ist ein Fan von Sternensamurai Oshikantu, der mit seinem magischen Schwert die Dämonen des Alls besiegt, aber in der normalen Welt ein Waisenjunge ist, der in Tokio zur Schule geht und einen IQ von 247 hat.

Wieder tritt mich meine Schwester.

Ich muss daran denken, wie sie vor zwei Monaten meinen Roboter XG3 mit ihrem weiblichen Roboter Pinki Panza zerstört hat. Es ist eine lilafarbene Kampfmaschine mit zwei Greifzangen als Händen, die Metall wie Papier zerschneiden. Die beiden Zöpfe ihrer Robota sind aus geflochtenen Stahlseilen und tiefrosa angestrichen. Sie umschlangen XG3 und würgten ihn, bis die Schaltkreise durchbrannten. Bei Vernichtung eines Gegners leuchten die Augen von Pinki Panza blutrot auf.

Seither baue ich keine Roboter mehr.

Wieder tritt sie mich. Ich rechne: Das Frühstück dauert im Schnitt 8,5 Minuten. Falls sie mich acht Mal pro Minute tritt, erhalte ich noch 58 Tritte. Falsch, jetzt sind es nur noch 57.

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Ich verliere die Geduld. »Hör auf!«

Sie grinst mich breit an, schüttelt den Kopf und tritt erneut zu.

Die Sonne fällt sommerlich durch die Jalousien und mein Schienbein wird blau.

Papa möchte nicht nur essen, sondern sich auch noch unterhalten. Normalerweise posten wir sämtliche Informationen. Aber Papa ist noch ein Nerd von früher, als Nerds noch in Gruppen lebten und zusammen Star Wars oder Star Treck im Kino schauten. Heute lebt jeder Nerd für sich und chattet darüber mit seinen Freunden. Eins haben wir völlig eliminiert: die Draußenwelt. Wir leben indoor. Ich kann alles online kaufen. Und obendrein habe ich in meinem PC noch Freunde überall auf der Welt, im ganzen WWW.

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Meine übrigen Freunde kenne ich nicht. Es sind 84.398.912. Warum es so viele sind? Weil ich vor einem Jahr mit Mamas Facebook-Freundschaftsanfrage-Algorithmus alle User auf der Welt angefragt habe. Mama wollte es so. Sie hat Angst, ich könnte mich einsam fühlen. Sie beschäftigt sich mit Lösungsprogrammen für Traurig- und Einsamkeit.

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Mein bester Freund wohnt im Auenland. Ich habe ihn hinzugefügt, nachdem ich Der kleine Hobbit gesehen habe. Seither chatten wir jeden Tag. Er heißt Bilbo Beutlin und nennt seine Schwester »The fiesemiese Gollum«. Bestimmt wird er auch von seiner Schwester getreten, so wie Sarah es gerade wieder versucht, aber nur das Tischbein erwischt. Sie lächelt mich an und zischt mir zu: »Hätte ich dein Gesicht, würde ich mir eine Hose darüber ziehen.«

Ich tue so, als hätte sie mich getroffen, wimmere ein leises »Aua«.

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Sie ist zufrieden!

Bilbo weiß alles über Auenland, Mittelerde und gollumartige Wesen mit langen Fingernägeln, die sich SCHWÄÄÄÄÄSTER nennen! Und er besitzt noch immer den EINEN RING. Damit meine ich nicht einen der vierzig Ringe, die Peter Jackson für seinen Film Der Herr der Ringe hat schmieden lassen, sondern den EINEN RING, den SCHATZZZZZZZZZ.

Ich vermute, er ist genauso hochbegabt wie ich und genauso alt, nur ein bisschen kleiner. Bilbo ist speckig, trägt Kniehosen, an seiner Jacke sind Messingknöpfe, und er ist drei Fuß und Sechs Zoll hoch, was 99,06 Zentimeter entspricht. Er spricht perfekt Elbisch und Hochmittelelbisch, so können wir am PC gegeneinander Elben-Scrabble spielen.

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Wieder macht es KLOCK! KLOCK! KLOCK! Meine Schwester tritt das Tischbein! Ich mache ein schmerzverzerrtes Gesicht, als hätte sie mich getroffen. Vater stützt die Ellbogen neben der Müslischale auf und fragt mich: »Willst du ein neues Gadget testen?«

Ich sage »Ja«, obwohl ich gerade keine Zeit hab, denn ich muss meine Studien über neue Energiequellen fortsetzen. Damit werde ich später mal den Nobelpreis für Physik gewinnen. Ganz sicher! Denn ich habe eine neue Energiequelle gefunden: das Licht! Und zwar geht es um jene Energie, die dabei frei wird, wenn in einem virtuellen Würfel-Spiegelraum im Netz Laserstrahlen aufeinandertreffen. Das ist völlig ungefährlich und diese Energie wird die Welt verändern. Ich werde dadurch nicht nur berühmt, sondern auch reich wie ein Scheich.

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Papa ahnt, dass ich eigentlich keine Zeit habe. »Oder soll ich das neue Gadget lieber deiner Schwester Sarah geben?«

Nein, nie! Sarah kann keine Gadgets beurteilen. Denn was uns Jungen- von den Mädchennerds unterscheidet, sind nicht nur die Haare oder Fingernägel, sondern auch der Spielwitz. Mädels haben einfach keinen! Wenn sie spielen, dann spielen sie mit Puppen. Sogar Sarah, obwohl ihr Spiel immer heißt: Ken vs. Barbie. Ich weiß, eure Schwestern spielen vermutlich an- dere Spiele: Barbie und Ken bauen ein Haus oder Barbie kriegt Kinder oder Barbie als Oma oder Barbie im Altersheim. Das hat Sarah auch mal gespielt und überall kleine braune Punkte auf ihre Barbie gemalt. »Was sind das für Punkte?«, habe ich damals gefragt. »Altersflecken«, war Sarahs Antwort.

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Und ein solches Mädchen soll Gadgets testen?

»Nein, ich teste das Gadget gern, Papa«, sage ich.

»Du wirst es mögen«, meint Vater. »Es ist Oshikantus magisches Laserschwert. Es sagt dir die Zukunft voraus.«

Sarah guckt sofort neidisch. Sternensamurai Oshikantu ist schließlich ihr Lieblingsmanga. Klock! Klock! Klock! macht es unter dem Tisch.

Meine Schwester wird sich noch einen dicken Zeh am Tischbein treten.

Sarah ist stinksauer. Da sagt Sarah freundlich zu Papa: »Ich würde es auch gerne haben.«

»Aber wir haben nur eins. Und weil dein Bruder immer die Gadgets testet, sollte er …«, dann schaut er mich an, »… oder willst du Oshikantus Schwert an Sarah abtreten?«

Ich schüttle den Kopf, schlürfe weiter mein Müsli und höre nur noch ein gewaltiges KLOOOOOOOOCK! unter dem Tisch.

Im selben Moment verliert Sarah das Gleichgewicht, kippt zur Seite, reißt dabei das Müsli vom Tisch und fällt vom Stuhl. Typisch! Sie hat versucht, sich an ihrer Müslischale festzuhalten.

Nun liegt sie auf dem Boden und das Müsli läuft warm über ihre beiden Förmchen.

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Kapitel 3

Die Computer-Katastrophe!

Das ist mein Leben! Zieht man mal meine idiotische Schwester ab, bin ich glücklich: mit meinen Eltern, meinem PC und mir. So wie ihr glücklich seid mit euren Computern und euch und vielleicht sogar mit euren Eltern. Alles war gut. Doch Oshikantus Laserschwert-Gadget sollte Folgen haben – unabsehbare und unvorhersehbare Folgen, folgenschwere Folgen.

Denn um Punkt 11.37 Uhr geschah die Katastrophe. Während ich mit Bilbo Beutlin Elbenscrabble spiele und mir zu dem Wort groth (es heißt soviel wie »unterirdische Behausung« in der Elbensprache) nichts zum Anlegen einfällt, fliegt die Tür auf. Pääämmm! Und Sarah platzt in mein Zimmer.

Der Türsteher schlägt sofort an. »Ruhe! Setzen! Still sein!«

Ehe ich reagieren kann, schießt Sarah wie ein Pfeil auf mich zu und greift nach Oshikantus Laserschwert, das bislang blau und ruhig an meinem PC leuchtete.

»Pass auf! Es steckt noch in der …« Ich komme nicht mehr dazu das Wort »USB-Buchse« zu sagen, da zieht sie schon wie wild am Kabel und reißt den Computer zur Seite. Der bekommt Übergewicht und …

… stürzt ab …

… direkt auf den Fußboden.

Es gibt einen lauten Knall, entsetzt schaue ich auf den Bildschirm.

Statt Bilbo sehe ich nur noch ein kurzes Aufblitzen, als würde die Enterprise mit zehnfacher Warpgeschwindigkeit im Weltraum verschwinden – und dann ist alles weg, der Bildschirm dunkel wie eine sternenlose Galaxie.

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Der Türsteher verstummt, Bilbo Beutlin ist in den unendlichen Weiten des WWW verschwunden, und von einer auf die andere Sekunde bin ich alleine.

Kein Kontakt mehr.

»Wo-wo-wo bist du?« Sarah spottet und hält Oshikantus Schwert in der Hand. »Es hätte dir sicher sagen können, dass das passiert. Du bist echt eine Schnarchnase!«

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Ich könnte heulen und starre auf den Elektroschrott.

»Hast du schon mal versucht, ihn einfach auszuschalten und neu hochzufahren?«, sagt sie und kann sich nicht mehr vor Lachen halten.

Angelockt durch den Krach, steckt meine Mutter den Kopf in die Tür. Als sie meinen kaputten PC sieht, geht sie sofort wieder weg. Sie mag keine Probleme, die sie nicht lösen kann. Und dazu zählen auf jeden Fall die Probleme zwischen mir und meiner Schwester.

»Du bist schuld«, sage ich zu Sarah.

»Och, ich bin schuld. Das ist ja furchtbar. Ich zitiere deinen Liebling Yoda: Viel zu lernen du noch hast.« Sie lacht mich aus …

… und rennt so schnell sie kann in ihr Zimmer. Ich versuche sie festzuhalten. Vergebens! Sarah ahnt, was ich vorhabe: Ich will ihren PC. Und obwohl es mir gelingt, in ihr Zimmer zu schlüpfen, habe ich keine Chance, denn Sarah fährt plötzlich ihre Nägel wie Schwerter aus und sagt: »Begonnen der Angriff der Klonkrieger hat.« Sie meint es ernst.

Ich versuche es auf die sanfte Tour, bitte sie, ob ich mal ihren PC benutzen darf.

Am Ende knie ich mich demütig vor sie hin. Das muss funktionieren. Sie kann doch kein Herz aus Hartplastik haben.

Falsch gedacht!

Statt mir zu helfen, pfeift sie laut mit den Fingern, und schon rumpelt es in ihrem Schrank. Die Türen fliegen auf und heraus stampft Pinki Panza, direkt auf mich zu. Ihre Scheren sind riesig und klappen auf und zu, auf und zu. Was soll ich tun? Ich renne raus, werfe die Tür hinter mir zu und höre erneut ein lautes Pfeifen. Rums! Rums! Rums! Pinki Panza rast von der anderen Seite gegen die Tür. Wieder Sarahs Pfiff. Rums! Noch mal und noch mal. Und wieder und wieder. Pinki hört nicht auf ihre Schöpferin.

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»Bleib endlich stehen! Du blöder Misthaufen! Ich säbel dir die Beine ab, wenn du nicht damit aufhörst!« Dann höre ich nur noch ein Crash! Puff! Bang!!!!

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Und es ist still.

Zu still im Flur. Denk nach, Nerd!

Denk nach! Was soll ich machen? Mein PC ist kaputt und ich fühle mich plötzlich allein. Ich brauche einen PC.

Meine letzte Hoffnung ist Papa.

Ich klopfe an seine Tür, zuerst leise, laut, lauter – er öffnet: »Komm rein.«

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Papa hat schon eine Powerpoint-Präsentation für mich vorbereitet, weil ihm Mama bereits meinen Schicksalsschlag gepostet hat. Anhand einiger eindringlicher Bilder beweist er mir, dass ein Nerd seinen PC nicht verleihen darf, weil das bislang immer Unheil gebracht hat.

»Aber ich habe keine Freunde mehr, sie sind alle im WWW. Du musst mir helfen.«

Papa zuckt mit den Schultern. »Bestell doch einfach einen neuen PC. In zwei bis vier Tagen wird er geliefert.«

Ich sage ihm, dass ich nicht so lange alleine sein möchte. »Ich brauche meine Freunde aus dem Netz und ich brauche das Netz, sofort.«

»Ich verstehe dich«, aber er verweist auf seine Powerpoint-Präsentation.

Ich muss mir also etwas ausdenken.

Kapitel 4

Der Pizzablitz nimmt kein galaktisches Geld

Und da bin ich: ein Nerd ohne PC, ein Nerd ohne Kabel zur Welt, ein Nerd, allein und verlassen im Kerker der Verzweiflung. Wie kommt ein Nerd wie ich nur ohne Computer blitzschnell an einen neuen PC und zu seinen Freunden? Ich muss ins Real Life – ins wirkliche Leben, in die City – und genau da muss ich in einen Computerladen.

Aber wie komme ich dahin? Schließlich lebe ich nur indoor, nie outdoor. Geh logisch vor, Nerd!

Die einzigen Kontaktpersonen zum Real Life sind: der Postbote, der Bofrostfahrer und der Pizzabote. Denn außer Mikrowellenessen und Pizza nehmen wir nichts zu uns. Doch da der Postbote mal früher, mal später kommt und heute Mittwoch ist und der Bofrost-Mann immer nur dienstags bei uns klingelt, muss ich mir eine Pizza bestellen.

Gesagt getan.

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Zehn Minuten später knattert er auf seinem Moped heran. Sein roter Pizzablitzhelm mit der Aufschrift Pizza & Pasta glitzert unter der Sonne. Es ist ein heißer Tag. Ich muss mit der Rechten meine Augen beschirmen, um sein Gesicht zu erkennen. Es ist rund und seine Nase dick wie ein Joystick. Aber er will mir nicht helfen. »Ich bin nicht dafür zuständig, dich auch noch in die Stadt zu fahren.«

»Aber ich brauche Ihre Hilfe.«

Er sagt: »15 Euro«, und hält die Hand auf.

»Nehmen sie auch galaktische credits

Er schüttelt den Kopf.

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»Silberpfennige aus dem Auenland? Oder Saurons Augentaler?«

Er schüttelt den Kopf.

Was erwartet er von mir? Warum nimmt er mein Geld nicht?

Da kommt Mama und gibt mir 15 Euro. »Das will der Pizzabote.«

Ich verstehe.

Das Wort Euro ruft meine Schwester auf den Plan. »Wenn Nerd 15 Euro kriegt, will ich auch 15 Euro.«

Mama möchte jeden Streit vermeiden und gibt auch meiner Schwester Geld.

Die sagt: »Ich will mehr!«

Mama ist jetzt sauer, richtig sauer. Streit ist schon schlimm für sie, aber Ungerechtigkeit ist der T-Rex unter den Abscheulichkeiten für Mama. Sie findet auch schnell eine Lösung und drückt nicht nur meiner Schwester, sondern auch mir noch mehr Euros in die Hand.

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»Was ist denn hier los? Was soll das Geschrei?« Papa taucht auf dem Flur auf. »Wie soll ein Nerd so arbeiten können?«

Sarah sagt: »Nerd geht ins Real Life

»Ins Real Life? Unser Kind?«

Der Pizzabote schaut meine Schwester erstaunt an. Klar, ihm muss das Wort geht in diesem Zusammenhang merkwürdig vorkommen. Deshalb sage ich: »Nein. Ich gehe nicht, sondern ich fahre ins Real Life. Schließlich muss ich endlich Kontakt zu meinen Freunden herstellen.«

»Was meinst du mit Real Life?«, fragt mich der Pizzabote.

»Draußen. Die Welt hinter der Tür. Dort, wo Menschen wie Sie leben und Pizzas von einem Ort zum anderen fahren.«

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Das Gesicht des Pizzaboten ist völlig verzerrt. Vermutlich nennt ihr seinen Zustand baff! Papa geht zurück in sein Zimmer zu seiner Arbeit, Mama geht zurück in ihr Zimmer zu ihrer Arbeit, nur meine Schwester bleibt und zischt mir fies ins Ohr: »Das wirst du nicht überleben. Da draußen im Real Life lauern Monster.«

Ich steige hinten auf die Maschine in den Pizzaaufbewahrungskasten. Schlimmer als meine Schwester können die Gollums dieser Welt auch nicht sein.

»Wohin willst du?«, fragt mich der Pizzabote.

»Ich habe meine Freunde verloren, denn …«

Er unterbricht mich: »Ach ja, ich weiß. Wo soll denn ein Junge in deinem Alter um diese Uhrzeit schon Freunde finden? Ich kenne den besten Ort für dich.« Der Motor heult auf und hustet Ruß aus dem Auspuff. Offensichtlich hat seine winzige Maschine einen Formel-1-Rennwagen verschluckt. Ohne mit der Wimper zu zucken und meine Hilfeschreie ernst zu nehmen, schlängelt er sich durch den Verkehr, heftet sich an einen Rettungswagen, der uns mit Blaulicht den Weg frei macht. Gefühlte 276 PS und 1000 Kilometer später bremst er endlich ab. Das Sirenengeheul des Rettungswagens entfernt sich, aber das Adrenalin in meinem Körper klopft mir noch unter der Schädeldecke. Ich schwitze. Ich schwitze sonst nie.

»Hier findest du Freunde. Glaub es mir«, sagt der Pizzabote und gibt Gas.