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Walter Hönigsberger

CLOS GETHSEMAN

Roman

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Erste Auflage 2018

Inhalt

KARL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

MAURUS

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

JAKOB

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

EPILOG

Nachschlag

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KARL

Der Wein hat Europa stärker verändert als das Schwert.

Ernst Jünger

1

So also fühlt sich ein Schuss an, dachte Karl Breitenstein. Ein Schuss aus nächster Nähe. Er spürte keinen Schmerz, fand keine Zeit zu erschrecken, sondern lauschte erstaunt dem vielstimmigen Echo hinterher, das die Plötzlichkeit des harten Knalls in eine langsam abschwellende Klangfolge von fast erhabener Schönheit verwandelte.

Der Mann, der geschossen hatte, stand nur wenige Meter von ihm entfernt vor seinem Haus, das Gewehr lässig in einer Hand, den Kolben in die Hüfte gestemmt, den Lauf so gerichtet, dass die Kugel eher einen der nahen Berggipfel als Karl getroffen hätte. Der Mann sagte: »Nichts für ungut. Kommen Sie herein.«

Es war spät am Nachmittag. Die letzte Strecke zu dem Haus und dem Mann, der ihn soeben vermutlich landestypisch begrüßt hatte, war ein jäher und zäher Aufstieg gewesen, der nicht enden zu wollen schien. Sechs Stunden war er durch dunklen Wald gegangen, feuchten, triefnassen Wald. Er hatte schweren Atem gekeucht, ungeübt als Bergwanderer und obendrein beschwert mit einem massigen Körper.

Als er den Wald hinter sich gelassen hatte, war Karl stehen geblieben, die Hände auf die Knie gestützt. Wie zu einer ersten Begrüßung ließen tiefe Wolken ein wenig Blau sehen. Vor ihm lag eine überschaubare Senke. Nach Nordwesten stieg sie leicht an, unregelmäßig, mal energischer, mal gemächlicher. Den Hintergrund bildete eine steile Wand. Ein Haus mit mehreren Nebengebäuden duckte sich an den grauen Fels. Die Sonne legte kurz ein hartes Licht auf das nasse, schwarze Dach.

Er sah, dass er da war. Der Anstieg der Senke war kultiviert. Schmale rechteckige Flecken. Ihre Lage war nach Schräge und Himmelsrichtung gewählt. Sieben waren es und Karl wusste, was er sah. Hier, weit entfernt von aller kultivierenden Tätigkeit und einige hundert Meter näher dem Himmel, wurde Wein angebaut. Noch war kein Mensch zu sehen. Er war weitergegangen.

Immer, wenn er später an Jakob dachte, hatte er dieses Bild vor sich. Der schwere Balken über dem Eingang, graues unbearbeitetes Holz. Der Mann, der aus dem Haus vor die Tür getreten war, hager und alt. Hochgewachsen und aufrecht, mit langen Armen, großen Händen. Mit wilden kurzen grauen Locken, die über den Ohren ein wenig büscheliger wucherten. Das Gesicht war schmal und lang, die Wangenknochen traten deutlich hervor, zwei riesige Furchen kerbten darunter, dazwischen ragte ein großer Nasenhaken hervor. Die Hände mit ihren langen Fingern und den knotigen Gelenken umschlossen das Gewehr. Es lag ganz leicht und schräg vor dem Körper des Mannes. Karl hob die Hände zur Geste der Friedfertigkeit.

»Wer sind Sie?« Das Gewehr war jetzt auf ihn gerichtet und Karl sah, dass der Finger am Abzug lag. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte der alte Mann, »es ist einsam hier.« Erst jetzt wurde Karl bewusst, dass er auf Deutsch angesprochen worden war. Ein eigenartig gefärbtes Deutsch. Es war hart und kantig in den Konsonanten, gerundet und weich in den Vokalen und auf eine südländische Art melodiös. Sein eigenes Deutsch ließ den gebürtigen Wiener erahnen: »Mein Name ist Breitenstein, Karl Breitenstein. Und Sie müssen Jakob Jünger sein. Ich bin wegen Ihres Weines hier. Und außerdem unbewaffnet.« Seine Hände waren immer noch oben.

Dann krachte der Schuss. Der Alte ging ins Haus. Karl folgte ihm.

Es gab keinen Vorraum, man war sofort im Haus. Ein großer, hoher Raum. Ein riesiger Tisch, dunkel glänzend und leer bis auf eine Schale mit Trauben, eine Eckbank, vier Stühle. An der gegenüberliegenden Wand ein hohes Regal mit Büchern. An der Stirnseite ein Herd, darüber eine Esse, von deren Rand Pfannen, Töpfe und Kochgeschirr hingen. Es war warm, ein Duft von Rauch und Holz und feuchter Wolle hing in dem Raum. Und der von Kaffee. Der Alte nahm die Kanne vom Herd, stellte zwei Becher auf den Tisch und einen Krug Milch. Dann verschwand er durch eine Tür neben dem Herd, vor der ein schwerer brauner Vorhang hing.

Karl hängte seine Jacke auf den Stuhl neben dem Kamin und ging zum Bücherregal. Die Rücken der Bücher waren braun, grau, fleckig und an vielen Stellen zerfleddert. Karl griff nach einem Band. Der Untertitel lautete: »Ein Buch für freie Geister.« Darunter stand, etwas kleiner gesetzt: »Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, des 30. Mai 1778«. Erschienen war das Werk in Chemnitz im Jahr 1878. Karl stellte Friedrich Nietzsches »Menschliches, Allzumenschliches« in das Regal zurück und dachte: »Die Erstausgabe – mein lieber Mann.«

Der Alte war zurückgekommen mit schwarzer Jacke und Hose, dicken Socken und einem Leinenhemd. »Sie sollten das wechseln. Und den Kaffee trinken, solange er warm ist.«

Sie saßen am Tisch. Karl hielt den Becher in beiden Händen und wärmte von Zeit zu Zeit seine Wangen daran. Das Gewehr hing mit dem Lauf nach unten neben der Tür nach draußen, neben Hut und schwarzem Mantel. Es war dunkel geworden und tief über dem Tisch hing eine Petroleumlampe. Der Herd glühte ein wenig. Neben dem Vorhang verbreitete eine Kerze ein schwaches Licht. Vieles war nur zu erahnen. »Sie werden die Nacht hier verbringen müssen. Ich mach uns ein kleines Nachtmahl und Sie können sechs Weine probieren. Morgen früh möchte ich, dass Sie gehen.« Das war freundlich und schroff zugleich. Karl sah dem Alten nach, wie er zum Herd ging.

Zwei Stunden später war er leicht betrunken. Angetrunken auf eine Art, von der er wusste, dass er sie stundenlang durchhalten konnte. Er war jetzt Ende Vierzig und kannte sich aus mit dem Trinken. Vor einigen Jahren hatten zwei Ereignisse seinem Leben eine Wendung gegeben. Zum einen hatte er geerbt. Die 90-jährige Lieblings-Tante war verstorben und hatte eine Wohnung und eine Menge Geld hinterlassen. Karl beendigte ein mäßig interessantes Berufsleben in Deutschland und kehrte nach Wien zurück, die Stadt, in der er groß geworden war. Er zog in die Wohnung der Tante am Drasche-Park und privatisierte.

Das zweite Ereignis hing mit dem ersten eng zusammen. Die Tante hinterließ zu all dem vielen Geld obendrein an die vierhundert Flaschen Wein. Wenige Tage nach ihrem Hinscheiden begann er die Hinterlassenschaften zu ordnen, setzte sich an den Biedermeier-Sekretär und öffnete neugierig eine fünfundzwanzig Jahre alte, dramatisch angestaubte Flasche aus Bordeaux, auf deren Etikett in feiner Federzeichnung ein Schlösschen abgebildet war, das allem Anschein nach »Château Lafite-Rothschild« hieß, füllte ein Glas bis an den Rand, trank drei schnelle Schlucke und änderte daraufhin sein Leben.

Eine langjährige Karriere als Biertrinker war beendet. Das Geld der Tante wurde in großen Teilen zu Wein. Seinen Geheimnissen nachzuspüren wurde für Karl zu einer Art Lebensaufgabe. Er sah das sportlich, veranstaltete Länderspiele in Sachen Wein, Österreich gegen Ungarn beispielsweise oder Frankreich gegen Italien, kontinentale Wettbewerbe zwischen Südamerika und Australien. Man konnte nationale, regionale oder sogar Stadtmeisterschaften austragen, jüngere Jahrgänge gegen ältere antreten lassen. Er überprüfte, ob teure Einkäufe ihn weiterbrachten, ein preiswerter Geheimtipp aus der Regionalliga oder gar ein Talent aus der Bezirksklasse. Alles in allem lernte er auf diese Weise die Welt kennen, er vermochte zu unterscheiden, ohne seine wichtigste Maxime aufzugeben. Und die hieß niedermachen, wegtrinken, sich durchsaufen. Ohne Ansehen von Rang und Namen. Einem ehrlichen Schankwein war die gleiche Chance zu geben wie einem Hochgewächs aus Weißgottwoher.

Sie hatten einen Weißwein getrunken, einen Grünen Veltliner mutmaßte Karl. Dicke Brotscheiben dazu, Speck und einen alten Käse. Dann gab es Nudeln mit braunen Knoblauchzehen und einen weiteren Weißwein, vermutlich ein Riesling. Karl trank. Dann den dritten Weißen, nur so. Karl war glücklich. Der erste Rote war ein leichter gewesen, der zweite schon voluminöser und jetzt saßen sie an einem schwereren Rotwein. Die Flaschen waren Halbliterflaschen, Karl hatte solche noch nie gesehen, bauchig mit kurzem Hals. Das Etikett, eher ein kleiner, aufgeklebter Zettel, zeigte eine Ziffer und den Jahrgang. Vor »6/2007« saßen sie jetzt, und er war unbeschreiblich gut. Karl ging es ebenso.

Im Herd knisterte es. Sie hatten wenig gesprochen und wenn, Belangloses. Über das Wetter, den Herbst, der früh war in diesem Jahr. Über den Weg, den Karl genommen hatte und den er abwärts nicht wieder wählen sollte, der Kniegelenke wegen. Über den Tisch, an dem sie saßen, dreieinhalb Meter lang und anderthalb Meter breit, schwerer, dunkler Nussbaum, getragen von stabilen Beinen, in die an den außenliegenden Seiten feine Lamellen geschnitzt waren. Am südöstlichen Bein, gleich unter der Platte, hatte Karl eine kaum sichtbare Kerbung entdeckt. JJ fecit, stand da in der Manier alter Dombaumeister direkt über einem Astansatz, der eigenartigerweise nicht sauber gehobelt war, sondern im Gegenteil fast knospend herausragte. Eine Jahreszahl, 1848, schwer lesbar, darunter. Über die Weine wollte der Alte nicht reden: »Trinken Sie. Entweder es schmeckt einem, oder eben nicht. Durch’s drüber Reden werden sie nicht besser.«

Einmal, beim Roten, der an Blauen Zweigelt erinnerte, hatte Karl nach der Nietzsche-Ausgabe aus Jakobs Bücherschrank gefragt: »Sammeln Sie Erstausgaben? Muss ein Vermögen gekostet haben.« Jakob hatte den Kopf ein wenig schief gelegt, sogar die Andeutung eines Lächelns war zu sehen: »Nein, nein, den hat … mein … mein Großvater damals für meinen Vater gekauft, ein paar Kreuzer schätze ich.« Und dann, etwas leiser: »Ist auch schon über hundert Jahre her.«

Jakob hatte sein Glas abgesetzt, die Hände mitsamt den Unterarmen auf den Tisch gelegt. »Warum sind Sie hier? Doch nicht bloß wegen meines Weins? Oder alter Nietzsche-Ausgaben?«

Wegen des Weines war er schon hier, in erster Linie aber wegen des Mannes. Ein halbes Jahr war es jetzt her, dass er zum ersten Mal den Namen gehört hatte und seither in Dinge verwickelt worden war, die sich nicht entwirren lassen wollten. Es war bei einer Weinprobe gewesen, die sein Freund Bodo organisiert hatte. Bodo fuhr Taxi, handelte ein bisschen mit Kunst und ab und zu auch mit Wein. Dadurch kannte er eine Menge Leute und zu den Weinproben lud er denjenigen Teil ein, der auch nach einem Liter Rotwein noch vernünftige Unterhaltungen zustande brachte. Oder erst dann. Karl steuerte meistens auch etwas bei, Wein zum Probieren und Geschichten zum Anhören.

Das Geschichtenerzählen war fester, ja elementarer Bestandteil von Bodos Weinproben und der Gastgeber war der ungekrönte König des Genres. In letzter Zeit war Karl allerdings aufgefallen, dass in Bodos Geschichten sich eine Vorliebe für das kleine Wörtchen »weil« zu entwickeln begann. Bodo sprach über irgendetwas, über Gott und die Welt zum Beispiel, und irgendwann tauchte mit sturer Zwangsläufigkeit ein weil auf, ein Kitt, mit dessen Hilfe Bodo kleine Welterklärungsmodelle bastelte. Weil Hitler Vegetarier war, wollte er die Juden ausrotten. Weil Kreisky Jude war, unterstützte er die Palästinenser. Weil Einstein schlecht in der Schule war, wurde er genial. Weil Jesus den Jüngern nach Ostern erschien, kann er an Karfreitag nicht gestorben sein. Karl versuchte, alternativ das noch kleinere Wörtchen »und« ins Spiel zu bringen, aber gegen Bodos weil-haltige Welt war schwer anzukommen. Dramatisch wurde es, als Bodo immer häufiger seine Geschichten aus dem Internet bezog. Weil dort alles rumlag und verfügbar war, brauchte Bodo nur ein wenig »weil« darauf zu träufeln, um dem Chaos einen Sinn zu geben.

Einmal spazierten Karl und Bodo von der Oper den Ring entlang Richtung Schwarzenbergplatz und vor dem Hotel Imperial stand eine graue Limousine mit schwarzem Dach. »Du weißt schon, warum da RR vorne drauf steht? Und sag jetzt nicht: Rolls Royce«, meinte Bodo.

»Rock ’n’ Roll, nehm ich an. Aber sieh dir das an, Baujahr 56, schätz ich mal. Ist der nicht schön?« Karl strich sanft über den Kotflügel.

»Rock ’n’ Roll. Auch nicht schlecht. Aber ahnungslos wie immer. Überleg doch: Lange Zeit das teuerste Auto der Welt. Nur für viel Geld zu haben. Geld, das große Geld. R und R. Und? Dämmert’s? Ist doch logisch: Rockefeller und Rothschild. R und R. Alte Welt, Neue Welt. Das erste gemeinsame Projekt der reichsten Familien der Welt. Weil Zusammenschluss natürlich immer besser ist als Krieg. Das beste Auto für die reichsten Leute. War natürlich streng geheim. Deshalb der Tarnname Rolls Royce. Kann man heute überall nachlesen. Zuerst sind sie nur selbst damit gefahren und ihresgleichen. Dann haben sie damit richtig abgesahnt die Rs. Ich schwör’s dir.«

Bodos Weinproben waren von ähnlich ausuferndem Ausmaß. Schauplatz war eine Hinterhofgarage in Favoriten, nicht weit vom Böhmischen Prater, wo die Stadt langsam ausfranst. Dort hatte Karl zum ersten Mal Jakobs Name gehört. Ein Sandler, alterslos bis auf das angegraute Haar, hatte ein halbes Glas dunklen Rotwein im Maul und ein wissendes Lächeln auf den Lippen: »Der und dann noch der vom Jakob. Dann sterben.«

Später waren sie an einer Mauer gelehnt ins Gespräch gekommen. »Der Jakob ist ein Freund. Wann er in Wien ist, kommt er her und bringt mir ein paar Flascherln mit. Sagt wenig, trinkt mit mir ein paar Schluck und geht. Vom 99er hab ich noch zwei. Magst? Bringst morgen dafür was mit.« Sie gingen Richtung Simmering hinunter ins Halbdunkel der Peripherie, an Gleisen entlang, über die Gleise, vorbei an müden Gestalten, die ihre Hände an schwachen Feuern wärmten, an Knäueln aus Schlafsäcken und Decken, aus denen Husten und Schnarchen drang, bis sie endlich zur Villa zwischen den Gleisen gelangten. Ein paar zusammengenagelte Bretter, Schlafsack, Kocher, eine Kiste mit Tellern, Bechern, Büchsen und Büchern. Der Sandler – »sag Salem zu mir« – ging hinter seine Villa, wo ein Erdloch von einem Brett bedeckt war. »Nicht grad vorschriftsmäßig, aber oberirdisch wird’s zu warm für die guten Sachen.« Karl hatte zwei Gläser in der Kiste gefunden und sich aufs Gleis gesetzt. Salem brachte die Flasche, setzte sich neben ihn, streckte die Beine aus, fand in der Manteltasche einen Korkenzieher und öffnete. Goss ein. Karl steckte gewohnheitsmäßig die Nase ins Glas. Das roch. Das roch trotz Abwesenheit teurer Degustierkelche sogar verdammt stark. Felsig, moosmodernd. Und nach etwas ganz Ungewohntem: nach Kindheit, nach Spielzeugautos auf dem Fußboden und Rockschößen in Augenhöhe. Er roch einen Hauch von Linoleum.

Sie tranken die Flasche leer, während ein fahler, schmaler Mond sich gegen den Lichtschein der nahen Großstadt zu behaupten versuchte. Salem erzählte von seinen Kollegen, Versicherungsvertretern, Adligen, Staatsanwaltssöhnen und den von Haus aus Gestrandeten. Von sich nichts. »Weißt, jetzt bin ich hier. Früher war ich wer anders. Aber es interessiert niemand. Mich am wenigsten. Nimm noch einen Schluck. Nicht schlecht, dem Jakob sein Zeug, oder?« Salem sagte »Dschakob«, wenn er von Jakob sprach, was verwirrend war für Karl, denn Dschakob konnte aus halb Europa stammen und aus Salem war nichts Genaueres herauszubekommen. Wer dieser Jakob denn sei, wo er sein Weingut betreibe, ob man ihn aufsuchen könne, immer wieder stocherte Karl, mal direkt, mal hintenherum, aber Salem beließ es bei »na joh«, »waas net«, »weama schaun«. Und schließlich: »Komm, lass es. Trinken wir lieber noch einen.«

Wenige Tage später, an Christi Himmelfahrt, wallfahrte Karl wie jedes Jahr ins elsässische Guebwiller. Die Elsässer nutzen den Feiertag für ihre größte Weinmesse. Eine Verbindung aus christlicher Religiosität und Vinophilie, die Karl nicht unsympathisch war. Eine Feiertagsmesse für den Wein. Schließlich war bei jenem Abendmahl Wein getrunken worden, nicht Wasser. Und vor allem in einen noch heiligeren Saft verwandelt worden. Am Eingang der Kirche des Dominikanerklosters erhält man für fünf Euro ein Probierglas. Karl hatte das immer als eine Art Ablass empfunden, denn im Innern der Kirche werden die Augen nicht ehrfürchtig, wie von den Erbauern gewollt, nach oben gezogen, wo Fresken aus dem 15. Jahrhundert den Gläubigen erfreuen könnten, der Blick schweift vielmehr horizontal über Tische und Theken, die zur Verkostung von circa 500 einheimischen Gewächsen einladen. Im Chor haben wir Hattstatt, im linken Seitenschiff Gueberschwihr, Soultz und Pfaffenheim, das rechte Seitenschiff wird beherrscht von Guebwiller selbst, es schließen sich Westhalten, Rouffach und Bergholtz an und auf der Empore treffen wir – schon jubilierend – auf Wuenheim, Orschwihr und Thann.

Diesmal war er früh gekommen, die Kirche war noch fast leer, einige wenige Gastronomen, Weinhändler und ein paar Touristen waren in ihre Gläser vertieft. Am Nachmittag war hier immer ein Geschiebe und Gedränge, ein Volksbesäufnis mit Pfützen am Boden und Jahrmarkt auf dem Vorplatz. Einen richtigen Rausch zu bekommen war verbunden mit erheblichem Aufwand, der kleinen Schlucke wegen, die man an den Ständen bekam. Pünktlich zur Nona trat Karl durch eine kleine Seitenpforte in den sonnendurchfluteten Kreuzgang. Ermattet lagerten um diese Mittagszeit im Schatten des Kreuzrippengewölbes schon etliche Zecher, Opfer des Stunden währenden, zeremoniellen Trinkens. Er setzte sich zwischen zwei zierlichen Säulen auf den weißen Stein und der Sonne aus, einen zweitletzten Schluck der Nummer 91 schlürfend, dem berühmten Pfingstberg-Riesling von Lucien Albrecht, wohlig blinzelnd, den Kopf an kühlem Marmor.

»176 hat ein bisschen Linoleum. Das würde Jakob interessieren.« Eine hohe, stark näselnde Männerstimme mit österreichischer Färbung. Das Jakob hatte wie »Dschakob« geklungen. Karl beugte sich nach vorne und sah in der Nachbarnische einen dünnen Mann sitzen, in der weißen Kutte und dem schwarzen Überhang der Zisterzienser. Neben ihm eine ältere Dame, dezent geschminkt, elegant gekleidet, die hochgesteckten Haare vornehm ergraut. Karl überlegte nicht lange, stand auf, stellte sich vor, entschuldigte sich für sein unfreiwilliges Lauschen und sagte: »Dieser Jakob, Dschakob, von dem Sie gerade sprachen, ich bin mir natürlich nicht sicher, aber glaube, ihn zu kennen. Beziehungsweise ihn kenne ich eigentlich nicht, nur seinen Wein. Kennen Sie ihn denn?« Der Pater reagierte mit einem feinen, freundlichen Lächeln und einer wohlwollenden Neigung des Kopfes. »Setzen Sie sich zu uns. Bevor ich Ihnen antworte, müssen Sie Ihren Jakob vorstellen. Meiner bleibt gern im Hintergrund.«

So war Karl Breitenstein zum ersten Mal Pater Maurus begegnet. Und wie sich bald herausstellte, in der Tat zum zweiten Mal auf denselben Jakob gestoßen. Der Pater und seine Begleiterin hörten Karl aufmerksam zu. Als er bei Salem angekommen war, warfen sich seine beiden Zuhörer einen schnellen Blick zu. Kurz danach waren die beiden Jakobs eine Person und Pater Maurus erzählte seinerseits. Er war die Seele und der Motor des Stiftes Heiligenkreuz im Süden von Wien. Er war Bibliothekar, Leiter der Hochschule, in der Österreichs angehende Zisterzienser und andere Kleriker ausgebildet wurden, er war Verwalter der landwirtschaftlichen Besitztümer und natürlich der Kellermeister des Klosters. Deswegen war er in Guebwiller. Die Dame war Frau von Marczinsky, eine verwitwete Gräfin, die das Kloster großzügig an ihrem Erbe teilhaben ließ.

Pater Maurus hätte mit seinen Interessen und Fähigkeiten auch der verantwortliche Manager eines weltlichen Unternehmens sein können. Sein Reich war ganz von dieser Welt, es vermehrte sich, warf Gelder ab für aufwändige Sanierungen der Klosterorgel oder der berühmten Glasmalereien der Stiftskirche. Man konnte nur ahnen, wie er das machte, er redete nicht davon, es war ihm eine Selbstverständlichkeit, dass die Dinge so liefen, wie sie es taten. Lieber redete er über Wein und über seinen Orden, den Wein-Orden, dessen eine wesentliche Kulturleistung im hohen Mittelalter die Verbreitung des Weinbaus von Burgund aus in zahlreiche Regionen Mitteleuropas gewesen war. Auf diesem Umweg waren sie wieder auf Jakob zu sprechen gekommen. »Sein Weinberg ist ein Wunder. Er produziert Weine, die mit nichts auf der Welt zu vergleichen sind. Vor allem der eine, der mit dem …« – »… Linoleum«, ergänzte Karl. Die spitze Nase des Paters leuchtete und er lachte aus kleinen, tiefen, grauen Augen.

Von Maurus erfuhr Jakob wenigstens einen Nachnamen: Jakob Jünger. Mehr aber auch nicht: »Sie können den Namen gern im Internet suchen. Aber Sie werden wenig finden. Jakob ist datenlos. Kein Eintrag, keine Adresse, ich nehme an, er hat nicht einmal eine Geburtsurkunde.«

»Ein Phantom.«

»Nun ja, er ist schon real und seine Weine sind es ohnehin. Aber er hat sich der Welt irgendwann entzogen. Der Jüngste ist er auch nicht mehr. Er will seine Ruhe haben. Das sollten wir respektieren.« Karl nickte, während er das Gegenteil dachte. Die Nachmittagssonne stand hoch über der Kreuzgangnische, ein paar Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und diese ganze Geheimnistuerei ging ihm langsam auf die Nerven. Mein Gott, ein Winzer, ein Wein, und die paar Kunden machen ein Gewese darum, als ob es um den heiligen Gral ginge. Riecht irgendwie nach Marketingtrick, Verknappung, Begehrlichkeit wecken, solche Dinge.

Die Gräfin schaltete sich ein: »Sie wissen eigentlich schon viel zu viel von Jakob. Mehr wäre nicht gut. Er ist da ein wenig eigen. Sie verstehen. Auf der anderen Seite …« Karl war für andere Seiten immer zu haben, andere Seiten waren in der Regel das Salz in der Suppe, dachte er und spitzte die Ohren.

»Jakob hat Freunde. Einige wenige, da ist er wählerisch. Erzählen Sie doch ein bisschen von sich, junger Mann. Sie interessieren mich, sehr sogar.«

Das klang vielversprechend, diese andere Seite, die, andererseits und unter anderen Umständen auch als zudringliche Aufforderung zu interpretieren gewesen wäre, zumal da das Gespräch fast schon verhörartige Züge annahm. Die beiden wollten wissen, mit wem er seine Tage verbringe, beispielsweise insistierte Maurus, wer denn sonst noch so verkehre bei den von Bodo organisierten Zusammenkünften, ob da die Hochfinanz, die Politik, der höhere Klerus, der Adel gar vertreten sei, was Karl einigermaßen lustig fand, wenn er sich Bodos Vorliebe für menschliches Strandgut jedweder Provenienz und Couleur vorstellte, was Banker, Minister, Priester oder Habsburger nicht zwangsläufig ausschloss. Da hätte er sogar Beispiele nennen können, aber das ließ er, er sagte bloß: »Der Bodo hat meines Wissens immer noch einen KPÖ-Ausweis«, was nicht stimmte, denn er wusste natürlich nichts von irgendwelchen Partei-Mitgliedschaften seines Freundes Bodo, auf der anderen Seite hätte es aber stimmen können, Bodo war so einiges zuzutrauen, und vor allem waren damit seine beiden Gegenüber, was das soziale Umfeld in Bodos Hinterhofgarage anbelangte, ganz offensichtlich beruhigt.

Dies war eine Art Bewerbungsgespräch, das wurde Karl schnell klar, und so versuchte er, einen guten Eindruck zu machen. »Ich sitze gern im Kaffeehaus«, solche Dinge sagte er und dass Arbeit »im herkömmlichen Sinne« ihn nicht besonders interessiere, was in seinem Falle auf das Bekenntnis zu einer Existenz des »interessierten Müßiggangs« hinausliefe. Der Gesichtsausdruck der Gräfin war schwer zu deuten gewesen, Verachtung wäre zu viel gesagt, Belustigung auf der anderen Seite zu grob, sodass Karl sich für verhaltene Amüsiertheit entschied, sicher war er sich aber nicht. Der Vizeabt war noch schwerer einzuschätzen, ab und an wiegte er den Kopf, hob die Augenbrauen, senkte die Mundwinkel, was bei ihm eigenartigerweise wie ein Lächeln aussah. Unterbrach Karl jedenfalls nicht, ließ ihn reden, schwadronieren darüber, dass in unserer Gesellschaft der Output fatalerweise dem Input radikal vorgezogen werde, dass es aber, seiner Meinung nach, auch eine Produktivität der Aufnahme gebe, »das weibliche Prinzip, charmant«, vermerkte die Gräfin an dieser Stelle, wo also der Input die Oberhand gewänne, das jedenfalls schwebe ihm vor, eine aktive Passivität, eine beteiligte Zuschauerrolle. Und in diesen Zusammenhang des Aufnehmens gehöre natürlich jenes, zugegebenermaßen zweckgerichtete Interesse, das notwendigerweise und ausschließlich nur ein aufnehmendes sein könne, die exzessive und intensive Weinerforschung nämlich.

»Verstehen Sie mich richtig, mein junger Freund«, unterbrach ihn Maurus an dieser Stelle, »auch unser Herr Jesus Christus wurde als Trinker und Säufer bezeichnet, sogar in der Bibel. Sind Sie ein solcher?«

»Ich? Weiß nicht. Sie?« Karl wollte noch etwas Schlaues hinterherschieben, als er sah, dass Maurus sein Glas hob und ihm zuprostete. »Wein ist Leben. Ich bin der Weinstock, sagt der Herr, und ihr seid die Reben«, erklärte der Priester und erhob sich. Karl erhielt eine Zisterzienser-Visitenkarte. »Vielleicht sehen wir uns wieder«, meinte Maurus, und verabschiedet sich. Bei der Gräfin versuchte Karl zum Abschied eine Art Handkuss. Sie trug einen Ring mit einem kleinen rubinroten Stein, dessen Fassung wie ein knospendes Stück Ast an einem Rebstock aussah. Ihren schönen Kopf legte sie wohlwollend zur Seite. Karl ging zurück in die Kirche und probierte von der Nummer 176. Das Linoleum war allenfalls zu erahnen, wahrscheinlich war es nur eine Erinnerung an die näselnde Stimme eines Mönchs.

Jakob wartete. Die Frage, was Karl von ihm wolle, lag nun seit Längerem in der Luft. Karl sagte: »Darf ich rauchen?« Das war einerseits Zeitgewinn, auf der anderen Seite ein mittlerweile drängendes Bedürfnis. Jakob stand wortlos auf und brachte einen Aschenbecher.

Karl dachte an seine dritte Begegnung mit Jakob. Es war im Café Bräunerhof in Wien. In einem Antiquariat ein paar Ecken weiter hatte er ein Buch gekauft. Das Buch hieß »Die Situation des Weines in Europa«, war 1875 in Heidelberg erschienen und beschrieb eine Katastrophe. Karl saß in der Nische links neben dem Eingang des Cafés mit Blick auf die Straße, wo junge Pakistani die Abendzeitungen verkauften, in denen Viehfutter aus Rumänien Schlagzeilen machte. Große Teile des europäischen Schweinefleisches waren zu einer tödlichen Gefahr geworden. Europa erging sich in Ausrottungsphantasien.

1875 war Europas Wein kurz davor, vernichtet zu werden. Die Reblaus war drauf und dran, ihn aufzufressen. Das kleine Tier war aus Amerika gekommen. Die schneller gewordenen Schiffe sicherten ihm ein komfortables Überleben, und einmal angelangt, machte es es sich in den Rebstöcken gemütlich und veranlasste die schockierten Wurzeln der europäischen Reben zum Selbstmord. Die Bilanz war schauderhaft. Frankreich war bis auf Ausnahmen in der Champagne infiziert, in großen Teilen bereits ruiniert, in Italien und Spanien, in ganz Mitteleuropa inklusive Deutschland und Österreich begann das Tier sich auszubreiten und seinen Vernichtungsfeldzug voranzutreiben. Osteuropa, die Krim, Georgien, Bulgarien und Rumänien waren eher glimpflich davongekommen.

Karl, hin- und hergerissen zwischen Schweinewahnsinn da draußen und Reblauskatastrophe hier drinnen, war auf eine Landkarte gestoßen, die am Ende des Buches eingeklebt war. Die Karte war mehrfach und kunstvoll gefalzt, die Kanten brüchig und an einigen Stellen bereits gerissen. Vorsichtig faltete er sie auseinander, Europas Weinregionen erschienen, verschiedenfarbig gekennzeichnet nach dem Grad ihrer Zerstörung. Als er das letzte Blatt umschlug, Griechenland und das östliche Mittelmeer fehlten noch, lag da ein dünnes Stück Papier, nicht größer als eine Postkarte, einmal gefaltet. Ein halber Bogen Briefpapier, am Kopf mit dem aufgedruckten Namen des Besitzers. Jakob Jünger, stand da, daneben handschriftlich ein Datum: 27. 11. 1876.

Im Mai hatte Karl mit Salem Jakobs Wein getrunken, im Juni im Elsass den Zisterzienser kennengelernt. Jetzt war es ein warmer Septemberabend in einem Wiener Kaffeehaus. Drei Begegnungen mit Jakob Jünger oder besser: dem Namen Jakob Jünger in kurzer Zeit und Karl hatte feuchte Hände. Er schwitzte ein wenig und gleichzeitig fror er. Der Nebentisch war nicht besetzt, einen Tisch weiter saß ein Paar, beide lasen in angestrengter Haltung Zeitung. Er faltete die Karte zusammen, legte den Brief obenauf, klappte das Buch zu und schob es von sich. Er winkte dem Ober und bestellte ein Achtel Roten. Der Wein tat gut. Er nahm das Blatt wieder in die Hand und begann zu lesen. Es war eine ins Lateinisch geschwungene Kurrentschrift, zudem war die Schrift schön und deutlich: »Liebe Freundin, seien Sie unbesorgt. Zur Vorsicht habe ich meinen Sohn auf eine größere Reise geschickt. Franzl führt alles mit sich, was wir brauchen. Der 7/1875 kommt im Mai in die Flaschen. Er wird Sie freuen. Ergebenst, Jakob Jünger.«

Nach allem, was Maurus und Salem über Jakob Jünger erzählt hatten, stellte Karl sich ihn als rüstigen älteren Herrn jenseits der siebzig vor. Jahrgang 1935 in etwa. Der Jakob Jünger, der den Brief vor mehr als hundert Jahren geschrieben hatte, wäre dann der Groß- oder Urgroßvater seines heutigen Namensvetters, der Sohn Franzl, je nach dem, Vater oder Großvater. Adressatin des Briefes war offensichtlich eine besorgte Kundin, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach mittels dieses Buches über die Reblauskrise informiert und eine Nachricht zum Thema hier aufbewahrt und vergessen hatte. Was aber führte der Sohn mit sich? Und was war in der Vorstellung des damaligen Jakob Jünger eine große Reise? Nach Turin, nach Rom? Über die Alpen? Zu Fuß, per Kutsche oder per Bahn oder gar mit dem Schiff? Karl steckte den Brief zurück in das Buch.

Eine Dame betrat das Café. Karl bemerkte sie nicht, er rechnete Generationenabfolgen nach. Sie trug ein schlichtes graues Kostüm, ein dunkelblaues Kopftuch, das locker genug geschlungen war, um ein paar hellgraue Haarsträhnen hervortreten zu lassen, und eine große Sonnenbrille. Sie ging zum Zeitungstisch, nahm ein österreichisches und ein deutsches Blatt, sah sich um, stutzte und trat an Karls Tisch: »Was für ein schöner Zufall.«

Karl, aus dem Jahr 1848 gerissen, das er sich gerade behelfsmäßig als Geburtsjahr von Jakob Jünger dem Älteren imaginiert hatte, blickte erschrocken auf: »Bitte?« Die Dame nahm ihre Sonnenbrille ab: »Ich hoffe doch, Herr Breitenstein, wenigstens ein wenig Eindruck bei Ihnen hinterlassen zu haben. Darf ich mich setzen?«

Erfreut sprang Karl auf: »Gräfin! Ich bitte um … entschuldigen Sie. Die Sonnenbrille. Bitte, setzen Sie sich«, er bot ihr den Platz auf der Bank an, »das ist wirklich ein Zufall, das ist …, das ist ja fast eine Fügung.« Gräfin Marczinsky setzte sich, nahm das Tuch ab, sah Karl mit sehr hellen blauen Augen an, die ihm bei ihrer ersten Begegnung gar nicht aufgefallen waren und ihr etwas Mädchenhaftes verliehen, und sagte mit Nachdruck: »Bleiben wir beim Zufall. Eine Fügung setzt immer jemanden voraus, der etwas fügt.« Sie sah sich verschwörerisch um: »Ich sehe hier niemanden. Sie?«

»Dann eben Fatum. Oder Schicksal.« Karl war ein wenig aufgeregt: »Irgendetwas, das nach mehr klingt, als nach Zufall. Der ist bloß blind. Dass Sie gerade, jetzt, in diesem Augenblick hier auftauchen, das ist eine schicksalhafte Fügung, mindestens. Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Der Gräfin war die Unterbrechung durch den Ober nicht unwillkommen, sie bestellte ein Achtel Weißwein. »Nun sagen Sie mir doch zuerst, wie es Ihnen geht. Haben Sie Guebwiller gut überstanden?« – »Ja sicher, wie immer, kein Problem. Bitte sehen Sie sich das an.«

Mit einem milden Ausdruck der Verzweiflung entnahm Gräfin Marczinsky ihrer Handtasche ein Etui, öffnete es, setzte sich die Lesebrille auf, lehnte sich zurück und nahm von Karl den Brief Jakob Jüngers entgegen.

Was hatte Karl erwartet? Mit Sicherheit nicht das Folgende: Gräfin Gerda von Marczinsky erstarrte. Erstarrte erst und erzitterte dann. Das ging ganz schnell. Sie hatte noch nicht zu lesen begonnen, sondern das Blatt sozusagen als Ganzes wahrgenommen, als Schriftstück und Dokument, als Botschaft aus einer lange vergangenen Zeit, als Flaschenpost aus einer anderen Welt und dies allein reichte aus, um für einen Moment zur Statue zu versteinern – die im nächsten Moment Risse bekam. Keine heftigen, aber an den Händen, die das Blatt hielten, an den Mundwinkeln, den Augenlidern, den Schultern, überall war das vornehme Gleichgewicht aus den Fugen geraten. Um Nuancen nur, sodass Karl überlegte, ob das Wort Schauder angebracht sei. Sie sagte leise und sogar die Stimme zitterte: »Woher haben Sie das?« Karl antwortete nur: »So lesen Sie doch.«

Das tat sie, wie es schien flüchtig, nahm die Lesebrille ab und wiederholte: »Woher haben Sie das? Ich muss das wissen.« Karl schob ihr das Buch über den Tisch und bevor er erklären konnte, war da ein leises Lächeln im Gesicht der Gräfin zu sehen, sie strich fast zärtlich über den geprägten Deckel des Buches und sprach, mehr zu sich: »Die Reblaus-Katastrophe. Mein Gott, das hab ich … das hat meiner Großmutter gehört. Lang ist’s her.« Karl schlug die Seite mit der Karte auf: »Hier, hier hinten steckte der Brief. Dann war Ihre Großmutter, war sie die Adressatin?«

Frau von Marczinsky lehnte sich zurück und sah zum Fenster hinaus. Sie schwieg. Lange. Karl regte sich nicht, er nahm nicht einmal einen Schluck Wein. Er wartete. Draußen hielt ein Fiaker, der Kutscher beugte sich nach hinten zu seinen Gästen und deutete mit dem Finger auf das Fenster des Bräunerhofes, hinter dem Karl auf eine Antwort der Gräfin wartete. Sie drehte sich zu ihm, sah ihn ernst aus hellen blauen Augen an: »Wie war das noch mal mit Ihrer Unterscheidung von Zufall und Fügung? Der Zufall, der immer blind ist? Vielleicht ist Fügung nur das Wort für den seltsamen Zufall. Der Einäugige unter den Blinden. Interessant, was dann das Schicksal wäre.« Sie winkte dem Kellner und verlangte die Rechnung. »Wissen Sie was, lieber Karl, ich darf Sie doch so nennen, dieser Brief gehört Jakob. Schon allein wegen der Erinnerung an Franzl …« – »Ja genau«, unterbrach Karl, »ist dieser Franzl nun der Vater, der Großvater oder was auch immer von unserem Jakob Jünger? Das frag ich mich schon die ganze Zeit.« – »Sehen Sie, ich meine, das sollten Sie Jakob selber fragen. Schreiben Sie mir Ihre Mail-Adresse auf. Ich schicke Ihnen alles, was Sie für den Weg zu ihm brauchen.«

Sie hatte darauf bestanden, die ganze Rechnung zu bezahlen, Karl leistete Widerstand, doch gegen das »Schweigen Sie, Karl« war kein Kraut gewachsen. Dann war sie entschwunden mit kunstvoll geschwungenem Kopftuch und glamouröser Sonnenbrille und Karl war zurückgeblieben in einer Stimmung zwischen erwartungsfroher Erregung und tiefer Ratlosigkeit. Er trank drei Achtel, was jedoch wenig änderte. Am nächsten Tag fand er eine Wegbeschreibung in seinem E-Mail-Eingang, zwei Wochen später stand er schwer keuchend vor dem Haus von Jakob Jünger.

Karl zog tief an seiner Zigarette. Weshalb war er hier? Er war das gefragt worden und eine Antwort hatte er immer noch nicht gegeben. Er sagte: »Linoleum, Herr Jünger, vielleicht ist es das Linoleum. Aber ich hab Ihnen etwas mitgebracht.« Der alte Mann schien einen kleinen Augenblick lang durch Karl hindurch zu blicken, um ihn dann umso schärfer zu fixieren: »Wie kommen Sie auf Linoleum?«

Statt einer Antwort ging Karl zum Ofen, wo seine Jacke hing. Er holte aus der Brustasche die Karte des Zisterziensers und fühlte den Umschlag mit seiner zweiten Trumpfkarte. »Mit den besten Grüßen von Ihrem Freund Pater Maurus. Den lernte ich übrigens erst durch das Wort Linoleum kennen.« Jakob nahm die Karte entgegen wie eine diplomatische Depesche. Ob Kriegserklärung oder Friedensangebot ließ er offen. Karl erzählte von seiner Begegnung in Guebwiller und ihrer Voraussetzung, dem Abend mit Salem.

Jakob hatte sich, ohne zu fragen, während Karls Erzählung eine Zigarette genommen und rauchte sie wie einer, der seit Jahren auf einen solchen Genuss gewartet hat. Er hatte den Stuhl zurückgeschoben, die Beine übereinandergeschlagen und eine Hand in der Hosentasche. Er war zur Freundlichkeit verändert und Karl sagte: »Das war ja alles vorzüglich, Herr Jünger, was ich bis jetzt probiert habe. Aber den Wein, den ich mit Salem getrunken habe, den haben Sie mir bis jetzt vorenthalten, stimmt’s?« Jakob nahm die Flasche mit der Sechs und goss beiden nach. »Eins nach dem anderen. Ich hab Sie zu sechs Weinen eingeladen. Der Siebener ist, wie sollen Sie das verstehen, er ist ein Freundschaftswein, ein Wein, den ich für wenige gute Freunde mache, eine Auslese, wenn Sie so wollen. Der Salem hätte Ihnen eigentlich nicht davon geben dürfen. Das gehört zu den Spielregeln.« Karl erinnerte sich plötzlich daran, dass Salem das Etikett der Flasche immer verdeckt gehalten hatte. Einmal hatte er an einer Ecke eine kleine Zeichnung gesehen, wie ein Logo, eine Art Firmensignet des Winzers. Es war ein Stückchen Holz mit einer Knospe gewesen. »Gehört die Gräfin Marczinsky auch zu diesem – diesem Kreis?«

Noch einmal ging eine Veränderung mit Jakob Jünger vor. Die Augen blickten ganz weit in die Ferne, der Kopf nickte ganz leicht und bevor er antwortete, atmete er tief einmal ein und aus: »Ja, sehr lange sogar. Sehr, sehr lang.« Dann schwieg er eine Weile. »Das mit dem Linoleum ist übrigens einfach erklärt. Die Rotweine bleiben 15 Monate im Holzfass. Und das Holz ist mit Leinöl behandelt, was bekanntlich auch im Linoleum ist.« Er stand auf, verschwand hinter dem Vorhang und kam mit einer Flasche zurück. Eine verschnörkelte Sieben. Der Ast mit der Knospe. Die Jahreszahl 1997. »Wenn schon, denn schon«, lachte er. »Besser war nur der 49er. Und der 85er. Im letzten Jahrhundert.«

Fast andächtig entkorkte er die Flasche. Holte zwei frische Gläser und eine Karaffe. Goss behutsam den Wein in sein neues Gefäß. Er leuchtete. Ein dunkles kraftvolles Rot. »Lassen Sie uns noch zehn Minuten warten. Er hat lange geschlafen. Muss sich erst an die neue Luft gewöhnen.« Sie sprachen nichts in den zehn Minuten. Dann füllte der Alte die Gläser halb voll. Es schien, als ob er dabei die Lippen bewegte. Sie steckten die Nase hinein. Karl nahm einen Schluck, hieb seine Zähne in die kühle Flüssigkeit und eine Explosion an Aromen erschütterte seinen Gaumen. Das Feuerwerk schien nicht enden zu wollen. Zum Schluss detonierte das Linoleum. Fast eine Minute tobte der Wein, Karl sah Jakob an und sagte: »Wahnsinn.«

Er nahm den nächsten Schluck. Den übernächsten. Jeder brachte neue Überraschungen, Moosdüfte, Felsgerüche, Wiesenaromen. Jeder Schluck war wie ein Blitzlichtgewitter, wie ein Bombardement aus schweren Wasserschläuchen. Karl setze sein Glas ab. Er war erhitzt, euphorisiert, völlig überdreht. »Hieß eigentlich Ihr Vater oder Ihr Großvater Franz?«

Jakob hatte gerade sein Glas zum Mund geführt. Eine winzige Sekunde lang schien alle Bewegung in dem Mann wie erloschen. Dann fiel der Arm schlaff herab, Wein schwappte aus dem Glas auf den Tisch. Er blickte Karl an, die Augen weit aufgerissen, der Mund ganz schmal. Und er sprach leise, was die Sache für Karl furchterregend machte: »Was weißt du von Franz? Wer bist du? Wer hat dich hergeschickt?« Eine Hand wollte nach Karl greifen aber dann ließ er sich nach hinten fallen, schwer atmend, das Gesicht in den Händen verbergend. »Bitte erklären Sie mir das. Entschuldigen Sie.«

Karl holte den Umschlag und schob den Brief von 1876 über den Tisch. Jakob gab die Augen frei und sah vorsichtig auf das Blatt. Dann rückte er näher, nahm es und las. Legte es auf den Tisch zurück, lehnte sich zurück und fragte in diesem unnachahmlich gefärbten Deutsch: »Woher hast du das? Ich bleib jetzt beim Du.«

Karl erzählte. Rechnete auch seine Frage vor, indem er Jakob auf Mitte siebzig schätzte. Jakob hörte nur halb zu. »Es ist spät. Nimm den Rest der Flasche mit. Von Franz erzähle ich dir morgen.«

Hinter dem Vorhang führte eine Holztreppe ins Obergeschoss. Karl bekam eine kleine Kammer. Er saß auf dem Bett und trank weiter. Halbzeit. Halbzeit des Lebens, so fühlte er sich. Der da unten, wo war der angelangt? Schwer zu sagen. Du glaubst, es sei Halbzeit, und schon wird abgepfiffen. Du wirst geboren und schon bist du todgeweiht. Geburt ist eine Verheißung, deren Erfüllung der Tod ist. Von wem war das noch mal? Muss unbedingt wieder was machen, körperlich meine ich. Wegen der Blutkörperchen, der roten. Muss ja nicht ewig sein, das Leben, aber lange. So lange wie’s geht. Sollen die doch da mal was machen, gentechnisch oder so. Irgendeiner hat gesagt, es kostet ein ganzes Leben, um sich von der Geburt zu erholen. Erholung. Das ist das Leben.

Der Alte schien unten noch aufzuräumen. Als die Flasche leer war, zog Karl sich bis auf die Unterwäsche aus. Er löschte die Lampe. Der Fußboden bestand aus Dielen, zwischen zweien, ganz nahe am Bett, war eine Fuge. Licht schien hindurch. Karl musste sich nur aus dem Bett herausbeugen, um sein Auge ganz nah an die Spalte zu bringen. Er sah Jakob unten am Tisch sitzen, das Gesicht in die Hände gestützt, die Schultern heftig bewegt. Weinte der alte Mann? Auf dem Tisch stand eine neue Flasche. Karl konnte das Etikett genau erkennen. Es waren drei Astknospen drauf. Und eine Ziffer, diesmal die Acht. Aus Karls Blickwinkel schien sie zu liegen.

Als er aufwachte, stellte Karl fest, dass der Wein keine Folgen angerichtet hatte. Im Gegenteil, er fühlte sich frisch und ausgeschlafen. Für seine Verhältnisse geradezu schwungvoll trat er ans Fenster. Viele neue rote Blutkörperchen, dachte er zufrieden. Ganz unten in der Senke arbeitete Jakob im Weinberg. Das große Lesefass mit dem breiten abgeschrägten Rand stand neben ihm. Über den gegenüberliegenden Bergkamm schob sich herbstlich mild die Sonne. Das Wasser aus der Kanne auf der Kommode war weich und kalt. Er genoss alles, zog sich an und ging hinunter.

Kaffee stand auf dem Herd, Brot, Wurst und Marmelade auf dem Tisch, ein Zettel lag neben dem Teller: »Um 12 essen wir zu Mittag. Vertreib dir die Zeit. Ich muss noch einmal mit dir reden.« Geschrieben in einer ins Lateinisch geschwungenen Kurrentschrift.

Das erste Nebengebäude war keine Überraschung. Mostpresse, zwei Gärbehälter aus Holz, Kühlaggregate, Schläuche und in einer Ecke ein Zuber mit frischen Trauben. Im nächsten Raum sieben Barriques für den Ausbau. Karl zählte noch einmal. Im dritten Raum ein langes Regal mit leeren Flaschen, eine Verkorkungsmaschine und ein großer Korb mit frischen Korken. Ein Tisch mit unbeschrifteten Etiketten. Daneben ein kleinerer Stapel mit aufgedruckten Knospen. Einer Knospe, nicht drei. Ein Tuscheglas und ein Federkiel. Karl trat in den nächsten Raum.

Das Licht war diffuser, der Raum staubiger. Geräte hingen an der Wand, ein Leiterwagen und eine Schubkarre standen in der Ecke, unter den fast blinden Fenstern eine Werkbank. Karl nahm dies alles nur am Rande wahr, denn neben der Werkbank lehnte ein Bilderrahmen. Vielleicht anderthalb Meter hoch, nur wenig breiter. Graubraunes Leinen und eine Kreuzverstrebung. Vorsichtig nahm Karl das Gemälde in die Hand und drehte es um.

Eine Frau sitzend am Strand. Das rechte Bein angewinkelt, beide Hände umfassen das Knie. Das andere Bein liegt anmutig geschwungen auf dem Sand. Ein großer, entblößter Busen, langes Haar bis auf den Boden. Das Gesicht ist reduziert auf den Mund, Ober- und Unterkiefer mit ihren starken Zähnen sind um 90 Grad gedreht und bilden einen furchterregenden Ring wie die Scharniere einer bösartigen Tierfalle. Und dennoch lächelt diese Frau Karl an. Mehr noch: sie spricht, sie plappert geradezu los Weissdu ich liiebe diesen Strand und Pierre war heute Morgen wieder soo süß er hat die schönsten Rotbarben in Antibes und extra für mich eine draufgelegt und Max kommt auch heute Abend du weißt schon dieser Exzentriker aber achte mal auf seine Augen und Karl hätte sich am liebsten dazugesetzt und ihr endlos zugehört. Es war dieses Licht, drei flächige Farben für Himmel, Wasser und Strand. Zweimal Blau, einmal Ocker. Eine einzige Einladung, Shorts anzuziehen und mit ihr ein Glas Weißwein zu trinken. Sie selbst war auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt aus kantigen und weichen Elementen, erst zerstört und dann neu geformt.

Karl musste nicht auf die Signatur schauen, um zu wissen, was er da in den Händen hielt. Zusätzlich war es datiert auf den 27. Januar 1930. Hinter ihm stand plötzlich Jakob. Vor sich hatte er einen Picasso.

»Gefällt es dir? Pablito hatte es übrig. Er hatte immer was übrig von seinem Zeug. Da hinten stehen noch mehr.«

In der dunkelsten Ecke des Schuppens lehnten drei Bilder, auch sie mit dem Gesicht zur Wand. Nacheinander trug Karl sie ans fahle Licht. Ein Kuss, der nur aus Lippen und Augen zu bestehen schien, ein rebenumrankter Satyr mit zwei üppigen nackten Schönheiten im Arm und einem Weinpokal in der Hand sowie ein Mann mit Gewehr. »Das bist du, hat er gesagt. Na, ich weiß nicht. Komm wir essen was.«

Als sie hinausgingen aus der wertvollsten Privatsammlung, die er je gesehen hatte, blieb er noch einmal stehen. Neben der Tür lehnte ein zierliches Spazierstöckchen. Darüber hing eine schwarze Melone.

Das Mittagessen bestand aus Bratkartoffeln mit Speck und einer Flasche mit der Nummer Zwei.

»Herr Jünger …«

»Sag Jakob zu mir. Ich weiß, was du sagen willst. Ich versteck’s ja auch deswegen. Wirbelt einfach zu viel Staub auf.«

»Aber wissen Sie eigentlich …«

Jakob drehte sich mit der Pfanne in der Hand herum. Hielt sie wie ein Florett. Kam auf Karl zu. »Was soll ich wissen? Dass das Zeug was wert ist? Wolltest du das fragen? Du hältst mich ein bisschen für von gestern, stimmt’s? Du hast keine Ahnung. Iss lieber.«

Sie aßen und schwiegen. Tranken die Flasche leer. Jakob kam mit einer Nummer Drei zurück.

»Wer kriegt eigentlich den Siebener?«

Jakob beugte sich leicht nach vorne und hackte mit seinem Zeigefinger in Richtung Karl: »Indem ich dich aussuche, mein Lieber. Und sag endlich du zu mir.«

»Und wen oder wie suchen Sie …, suchst du aus?«

»Nach Gusto, Sympathie. Keine Ahnung. Der Heesters hat was bekommen und Charlie Chaplin. Der Jünger Ernstl und der Gadamer, weiß nicht, kennst du den? Der alte Cousteau, der Taucher. Die Katherine Hepburn, Frauen sind weniger dabei, die Rose Kennedy, mir waren die Söhne mal sympathisch. Das sind jetzt halt die Prominenten, viele andere, die kennst du gar nicht, muss man auch nicht kennen, soll man nicht kennen.«

»Alles Siebener-Kunden?«

»Alles Siebener-Kunden.«

»Alle sehr alt. Oder alt geworden.«

»Wie man’s nimmt.«

»Wegen des Siebeners?«

»Wegen des Siebeners? Vielleicht. Vielleicht Zufall. Vielleicht Vorliebe für meine Generation.«

»Picasso? Deine Generation?«

»Na ja, ungefähr schon.«

»Und Achter-Kunden?

Nach dieser Frage verging die Zeit sehr langsam. Antwort kam keine mehr. Eine unangenehme Stille lag im Raum. Jakob schaute irgendwohin, stand dann langsam auf und schaute aus dem Fenster, nirgendwohin.

»Wie alt bist du, Jakob? Ist Franzl dein Sohn?«

Diesmal drehte sich Jakob wie ein alter Mann müde zu Karl um: »Das ist privat. Du brauchst nicht alles zu wissen. Geh jetzt.«

Karl nahm den anderen Weg, der Kniegelenke wegen. Sein Rucksack war beschwert mit drei Flaschen Siebener.

2

»Dreist: Reben-Raub in Traiskirchen«, hackte Marion Drygalski in ihren Rechner und dachte: Das ist doch schon mal eine gute Überschrift.

Sie waren in der Nacht gekommen, unauffällig im späten Oktober zur Lesezeit, wenn die Weinbauern selbst nachts unterwegs sind, um die Trauben zu ernten. Mit einem Traubenvollernter waren sie durch die Rebstockreihen gefahren, eine Stunde vielleicht, mit zweieinhalb Tonnen reifer Weintrauben als Beute. Blaufränkischer vom Traiskirchener Schlossberg, beste Lage des Weingutes Dr. Belphart, aus deren Reben die berühmte »Cuvée Alte Trauben« erzeugt wird, die Flasche für 38 Euro. Die erste Reihe der Reben hatten sie stehen gelassen, gute Tarnung, so war von der Straße her der Diebstahl nur schwer zu erkennen. Der Gesamtschaden belief sich auf circa 100 000 Euro.