Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

Die französische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel L’ Automne à Pékin bei Les Éditions de Minuit in Paris. Die deutsche  Ausgabe erschien erstmals 1973 bei Zweitausendeins in Frankfurt am Main sowie 1983 als WAT 96 im Verlag Klaus Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2018

© Minuit, 1956; Librairie Arthème Fayard, 1999

© Pauvert, département de la Librairie Arthème Fayard, 2017

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 9783803142412

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2806 5

www.wagenbach.de

A

Die Personen, die sich mit der Frage nicht näher befaßt haben, unterliegen leicht einem Irrtum …

(Lord Raglan, »Das Inzesttabu«, Payot, 1935, Seite 145)

1

Ohne Überzeugung ging Amadis Dudu durch die enge Gasse, die die längste der Abkürzungen darstellte, über die man zur Haltestelle des Autobus 975 gelangte. Jeden Tag mußte er dreieinhalb Fahrscheine hingeben, denn er sprang vor seiner Haltestelle vom fahrenden Bus, und er tastete seine Westentasche ab, um nachzusehen, ob er noch welche hatte. Ja. Er sah einen Vogel, über einen Abfallhaufen gebeugt, der mit dem Schnabel in drei leere Konservendosen hackte und dem es dabei gelang, den Anfang der Wolgaschiffer zu spielen; und er blieb stehen, doch der Vogel erwischte eine falsche Note und flog wütend davon, wobei er zwischen seinen Schnabelhälften böse Wörter im Vogeljargon brummte. Amadis Dudu setzte seinen Weg fort und sang dabei die Fortsetzung; doch er erwischte ebenfalls eine falsche Note und begann zu fluchen.

Die Sonne schien, nicht sehr, aber genau vor ihm, und das Ende der Gasse glänzte sanft, denn das Pflaster war feucht; er konnte es nicht sehen, denn sie machte zweimal eine Biegung, nach rechts, dann nach links. Frauen mit großen, schlaffen Begierden erschienen auf der Schwelle ihrer Türen, den Morgenrock weit geöffnet über einem beachtlichen Tugendmangel, und leerten ihren Mülleimer vor sich aus; dann schlugen sie alle zusammen auf den Boden der Abfalleimer, was sich wie Trommelwirbel anhörte, und wie gewöhnlich begann Amadis im Gleichschritt zu marschieren. Aus diesem Grund ging er am liebsten durch die Gasse. Das erinnerte ihn an die Zeit seines Militärdienstes bei den Amis, als sie Pinatbatter spachtelten aus Weißblechdosen wie die des Vogels, aber größer. Die Abfälle fielen herab und bildeten Staubwolken; er mochte das, weil das die Sonne sichtbar machte. Dem Schatten der roten Laterne der großen Sechs zufolge, wo die getarnten Polizisten wohnten (in Wirklichkeit war es ein Kommissariat; und um jeden Verdacht abzulenken, hatte das Bordell nebenan eine blaue Laterne), ging es ungefähr auf acht Uhr neunundzwanzig zu. Es blieb ihm noch eine Minute, um die Haltestelle zu erreichen; das machte genau sechzig Schritte zu einer Sekunde, aber Amadis machte fünf alle vier Sekunden, und die allzu komplizierte Rechnung löste sich in seinem Kopf auf; normalerweise wurde sie später mit seinem Urin ausgeschieden, wobei sie tock auf dem Porzellan machte. Aber lange danach.

An der Haltestelle des 975 standen schon fünf Personen, und sie stiegen alle in den ersten 975, der gerade angekommen war, doch der Schaffner verweigerte Dudu den Einstieg. Obgleich der ihm ein Stück Papier hinhielt, dessen einfache Inaugenscheinnahme bewies, daß er tatsächlich der sechste war, vermochte der Autobus nur über fünf Plätze zu verfügen und ließ es ihn merken, indem er viermal furzte, um abzufahren. Er brauste sanft dahin, und sein Hinterteil schleifte über den Boden und schlug dabei Funkengarben aus den runden Höckern der Pflastersteine; manche Fahrer klebten Feuersteine drunter, damit es hübscher aussah (es waren immer die Fahrer des Autobusses, der hinterherkam).

Ein zweiter 975 hielt vor Amadis Nase. Er war stark besetzt und schnaufte grün. Eine dicke Frau stieg aus und eine Kuchenhacke, die von einem kleinen, fast toten Herrn getragen wurde. Amadis Dudu klammerte sich an den senkrechten Handlauf und hielt seinen Fahrschein hin, doch der Schaffner schlug ihm mit dem Fahrkartenknipser auf die Finger. »Lassen Sie das los!« sagte er zu ihm.

»Aber es sind doch drei Personen ausgestiegen!« protestierte Amadis.

»Der Bus war überbesetzt«, sagte der Beamte in vertraulichem Ton und flinkerte dabei mit einer abstoßenden Mimik.

»Das stimmt nicht!« protestierte Amadis.

»Doch«, sagte der Beamte, und er sprang sehr hoch, um den Klingelzug zu erreichen, an dem er sich festhielt, um einen halben Klimmzug zu machen und Amadis seinen Hintern zu zeigen. Der Fahrer fuhr ab, denn er hatte den Zug der rosa Schnur, die an seinem Ohr befestigt war, gespürt.

Amadis sah auf seine Uhr und machte »Puh!«, damit der Zeiger rückwärts gehen sollte, doch nur der Sekundenzeiger begann verkehrt herum zu laufen; die andern drehten sich weiterhin in der gleichen Richtung, und das änderte überhaupt nichts. Er stand mitten auf der Straße und sah zu, wie der 975 verschwand, als ein dritter ankam, und seine Stoßstange erwischte ihn direkt an den Hinterbacken. Er fiel hin, und der Fahrer fuhr ein Stück vor, um direkt über ihm zu stehen, und drehte den Warmwasserhahn auf, der Amadis’ Hals zu begießen begann. Unterdessen stiegen die beiden Personen, die die nächsten Nummern hatten, in den Bus, und als er wieder aufstand, fuhr der 975 vor ihm davon. Sein Hals war ganz rot, und er spürte einen großen Zorn; er würde mit Sicherheit zu spät kommen. Unterdessen kamen vier andere Personen an, die ihre Nummern nahmen, indem sie auf den Hebel drückten. Die fünfte Person, ein dicker junger Mann, bekam zusätzlich noch den kleinen Parfümstrahl ins Gesicht, den die Autobusgesellschaft jeder hundertsten Person als Zugabe schenkte; schreiend lief er weg, immer geradeaus, denn es war fast reiner Alkohol, und im Auge tut das sehr weh. Ein 975, der in der anderen Richtung vorüberkam, überfuhr ihn zuvorkommenderweise, um seinem Leiden ein Ende zu machen, und man sah, daß er gerade Erdbeeren gegessen hatte.

Ein vierter Bus mit einigen Plätzen kam an, und eine Frau, die bei weitem nicht so lange da war wie Amadis, hielt ihre Nummer hin. Der Schaffner rief laut:

»Eine Million fünfhundertundsechstausendneunhundertdrei!«

»Ich habe die neunhundert!«

»Gut«, sagte der Schaffner, »die eins und die zwei?«

»Ich habe die vier«, sagte ein Herr.

»Wir haben die fünf und die sechs«, sagten die beiden anderen Personen.

Amadis war schon eingestiegen, aber die Faust des Schaffners packte ihn am Kragen.

»Die haben Sie auf dem Boden aufgelesen, wie? Steigen Sie aus!«

»Wir haben ihn gesehen«, kreischten die andern. »Er war unter dem Autobus.«

Der Schaffner ließ seine Brust anschwellen und stieß Amadis von der Plattform herunter, wobei er ihm die linke Schulter mit einem Blick voller Verachtung durchbohrte. Amadis begann vor Schmerz auf der Stelle zu hüpfen. Die vier Personen stiegen ein, und der Autobus fuhr davon, einen Buckel machend, denn er schämte sich ein wenig.

Der fünfte fuhr voll vorbei, und alle Fahrgäste streckten Amadis und den andern, die dort warteten, die Zunge heraus. Selbst der Schaffner spuckte auf ihn, doch die schlecht gesicherte Geschwindigkeit nutzte dem Auswurf nichts, der nicht auf die Erde zu fallen vermochte. Amadis versuchte ihn mit einem Schnipser im Flug zu vernichten und verfehlte ihn. Er schwitzte, weil ihn das alles wirklich in einen Zustand fürchterlicher Wut versetzt hatte, und als er den sechsten und den siebten verpaßt hatte, beschloß er, zu Fuß weiterzugehen. Er würde versuchen, ihn an der nächsten Haltestelle zu nehmen, wo gewöhnlich mehr Leute ausstiegen.

Er brach auf, wobei er absichtlich schräg ging, damit man sehen konnte, daß er zornig war. Er mußte etwa vierhundert Meter zurücklegen, und während dieser Zeit fuhren andere 975, fast leer, an ihm vorbei. Als er endlich den grünen Laden, zehn Meter vor der Haltestelle, erreichte, kamen direkt vor ihm, aus einem Torweg, sieben junge Pfarrer und zwölf Schulkinder, die götzenhafte Lilienbanner und bunte Bänder trugen. Sie stellten sich um die Haltestelle herum auf, und die Pfarrer brachten zwei Hostienwerfer in Stellung, um den Passanten die Lust auszutreiben, auf den 975 zu warten. Amadis Dudu versuchte sich an das Losungswort zu erinnern, aber seit der Katechismusstunde waren so viele Jahre vergangen, daß er das Wort nicht wiederfinden konnte. Er versuchte, sich rückwärtsgehend zu nähern, und bekam eine zusammengerollte Hostie in den Rücken, die mit einer solchen Wucht geschleudert worden war, daß es ihm den Atem abschnitt und er zu husten begann. Die Pfarrer lachten und machten sich um die Hostienwerfer herum zu schaffen, die unaufhörlich Geschosse ausspuckten. Es kamen zwei 975 vorbei, und die Kinder nahmen fast alle leeren Plätze ein. Im zweiten waren noch welche frei, doch einer der Pfarrer blieb auf der Plattform stehen und hinderte ihn daran einzusteigen; und als er sich umdrehte, um seine Nummer zu nehmen, warteten schon sechs Personen und er verlor den Mut. Er lief darauf so schnell er nur konnte, um die nächste Haltestelle zu erreichen. Weit vor sich erblickte er das Hinterteil des 975 und die Funkengarben, und er warf sich zu Boden, denn der Pfarrer richtete den Hostienwerfer in seine Richtung. Er hörte die Hostie über sich hinwegfliegen, wobei sie ein Geräusch wie brennende Seide machte, dann rollte sie in die Gosse.

Ganz verdreckt stand Amadis wieder auf. Er zögerte fast, sich in diesem Schmutzzustand in sein Büro zu begeben, doch was würde die Stechuhr sagen? Der rechte Schneidermuskel tat ihm weh, und er versuchte, sich eine Nadel in die Backe zu stechen, um den Schmerz zu vertreiben; fast am liebsten vertrieb er sich mit dem Studium der Akupunktur in den Werken des Dr. Bottine de Mourant die Zeit; leider zielte er nicht gut und kurierte damit eine Nierenentzündung an der Wade, die er sich noch gar nicht zugezogen hatte, was ihn aufhielt. Als er an die Haltestelle danach gelangte, war dort wieder alles voller Leute, und sie bildeten eine feindselige Mauer um den Nummernkasten herum.

Amadis Dudu blieb in respektvoller Entfernung stehen und nutzte diesen Augenblick der Ruhe, um zu versuchen, bedächtig diese Überlegungen anzustellen:

»Einerseits, wenn er eine Haltestelle weiterginge, bräuchte er erst gar nicht mehr den Autobus zu nehmen, denn dann wäre er so spät dran, daß.«

»Andererseits, wenn er rückwärts ginge, würde er wieder auf Pfarrer stoßen.«

»Dritterseits wollte er den Autobus nehmen.«

Er lachte sehr laut, denn um nichts zu überstürzen, hatte er es absichtlich unterlassen, eine logische Überlegung anzustellen, und er setzte seinen Weg zur nächsten Haltestelle fort. Er ging noch schräger als vorher, und es war offenkundig, daß sein Zorn nur noch größer geworden war.

Der 975 brummte ihm in dem Augenblick ins Ohr, als er die Haltesäule, an der niemand wartete, fast erreicht hatte, und er hob den Arm, aber zu spät; der Fahrer sah ihn nicht und fuhr an dem Metallschild vorbei, wobei er fröhlich auf sein kleines Gaspedal trat.

»Oh! Scheiße!« sagte Amadis Dudu.

»Das stimmt«, bestärkte ihn ein Herr, der hinter ihm kam.

»Sie glauben, daß sie es nicht absichtlich tun!« fuhr Amadis empört fort.

»Ah! Ah!« sagte der Mann. »Sie sollten es absichtlich tun?«

»Ich bin davon überzeugt!« sagte Amadis.

»Aus tiefstem Herzen?« fragte der Herr.

»Nach bestem Wissen und Gewissen.«

»Und Sie würden es beschwören?«

»Donnerlittchen verflixt! Und ob!« sagte Amadis. »Der Teufel hols! Ja, ich würde es beschwören. Und, Scheiße, jetzt auf der Stelle!«

»Dann schwören Sie mal?« sagte der Herr.

»Ich schwöre!« sagte Amadis, und er spuckte dem Herrn in die Hand, die dieser gerade seinen Lippen entgegenstreckte.

»Schwein!« sagte der Herr zu ihm. »Sie haben etwas Schlechtes über den Fahrer des 975 gesagt. Dafür bekommen Sie ein Protokoll.«

»Ach ja?« sagte Amadis.

Sie wurde nicht alt, die Laus auf seiner Leber.

»Ich bin vereidigt«, sagte der Mann und schob den Schild seiner Mütze, die bis dahin herumgedreht war, nach vorn. Es war ein Inspektor des 975.

Amadis warf einen lebhaften Blick nach rechts, dann nach links, und als er das charakteristische Geräusch hörte, nahm er einen Anlauf, um in einen neuen 975 zu springen, der neben ihm dahinkroch. Als er wieder herunterfiel, tat er das mit solcher Wucht, daß er durch die hintere Plattform brach und mehrere Dezizentimeter in die Fahrbahn eindrang. Er konnte noch rechtzeitig den Kopf einziehen; das Hinterteil des Autobusses flog für den Bruchteil einer Sekunde über ihn hinweg. Der Inspektor zog ihn aus dem Loch und ließ ihn die Strafe bezahlen, und während dieser Zeit verpaßte er zwei andere Busse; als er das sah, stürzte er los, um an die Haltestelle danach zu kommen, dies erscheint zwar anormal, und doch ist es so.

Er erreichte sie ohne Zwischenfall, stellte aber fest, daß es zu seinem Büro nur noch dreihundert Meter waren; dazu in den Autobus steigen …

Darauf überquerte er die Straße und ging, auf dem Bürgersteig, den Weg in umgekehrter Richtung, um den Bus an einer Stelle zu nehmen, wo es sich lohnte.

2

Er gelangte ziemlich schnell an den Punkt, von dem er jeden Morgen abfuhr, und beschloß, weiterzugehen, denn er kannte diesen Teil der Strecke schlecht. Er hatte den Eindruck, daß es in dieser Gegend der Stadt Gelegenheit zu wesentlichen Beobachtungen gab. Er verlor zwar sein unmittelbares Ziel, den Autobus zu nehmen, nicht aus den Augen, doch wollte er die ärgerlichen Mißgeschicke, denen er sich seit Tagesanfang ausgesetzt sah, zu seinem Vorteil nutzen. Die Strecke des 975 zog sich über eine große Straßenlänge dahin, und überaus interessante Dinge tauchten eins nach dem andern vor den Augen Amadis’ auf. Doch sein Zorn legte sich nicht. Er zählte die Bäume, wobei er sich regelmäßig irrte, um seinen Blutdruck zu senken, der, wie er spürte, nahe am kritischen Punkt war, und hämmerte Militärmärsche, die gerade in Mode waren, auf seinen linken Schenkel, um seinen Spaziergang zu skandieren. Und er erblickte einen großen Platz, umgeben von Gebäuden, die aus dem Mittelalter stammten, seitdem aber alt geworden waren; es war die Endhaltestelle des 975. Er fühlte sich wieder heiter gestimmt, und mit der Leichtigkeit eines Uhrpendels schwang er sich auf das Trittbrett der Laderampe; ein Beamter schnitt den Strick durch, der das Fahrzeug noch zurückhielt; Amadis spürte, wie es sich in Gang setzte.

Als er sich umdrehte, sah er, wie der Beamte das Ende der Schnur mitten ins Gesicht bekam, und ein Fetzen seiner Nase flog in einem Milbenblätterwirbel davon.

Der Motor surrte gleichmäßig, denn man hatte ihm gerade einen vollen Teller mit Katzenfischgräten gegeben; Amadis, der in der hinteren rechten Ecke saß, hatte den Wagen für sich ganz allein. Auf der Plattform drehte der Schaffner mechanisch an seiner Maschine zum Verpfuschen der Fahrscheine, die er an die Musikbox im Innern angeschlossen hatte, und der monotone Singsang schläferte Amadis ein. Er spürte das Fahrgestell brummen, wenn das Hinterteil die Pflastersteine leicht berührte, und das Prasseln der Funken begleitete die kleine monotone Musik. Die Läden folgten aufeinander in einem Geschiller leuchtender Farben; es machte ihm Spaß, sein Spiegelbild in den großen Spiegeln der Schaufenster zu sehen, doch er wurde rot, als er sah, daß es seine bequeme Stellung ausnützte, um Dinge zu stehlen, die im Schaufenster waren, und drehte sich nach der anderen Seite.

Er wunderte sich nicht darüber, daß der Fahrer das Fahrzeug noch nicht angehalten hatte: Um diese Stunde am Vormittag begibt sich niemand mehr ins Büro. Der Schaffner schlief ein und rutschte auf die Plattform, wo er in seinem Schlaf eine bequemere Stellung suchte. Amadis fühlte sich übermannt von einer Art kühner Schläfrigkeit, die in ihn eindrang wie ein zerstörerisches Gift. Er klaubte seine Beine zusammen, die er vor sich ausgestreckt hatte und legte sie auf die Bank vor ihm. Die Bäume leuchteten in der Sonne wie die Läden; ihre frischen Blätter rieben am Dach des Autobusses und machten dabei das gleiche Geräusch wie die Meerespflanzen am Rumpf eines kleinen Schiffes. Das Schaukeln des Autobusses wiegte Amadis in den Schlaf; der Bus hielt immer noch nicht; genau in dem Augenblick, in dem er das Bewußtsein verlor, erkannte er, daß er an seinem Büro vorbeigefahren war, und diese Feststellung beunruhigte ihn kaum.

Als Amadis wieder wach wurde, fuhren sie immer noch. Draußen war es bei weitem nicht mehr so hell, und er schaute auf die Straße. An den beiden Rinnen grauen Wassers, die sie säumten, erkannte er die Hochseenationalstraße und betrachtete eine Weile dieses Schauspiel. Er fragte sich, ob die Zahl der Fahrscheine, die ihm noch blieben, ausreichen würde, um seinen Platz bezahlen zu können. Er drehte den Kopf um und sah nach dem Schaffner. Von einem erotischen Traum großen Kalibers durcheinandergebracht, bewegte sich der Mann zuckend nach allen Richtungen und rollte sich schließlich spiralenförmig um den leichten, vernickelten Pfeiler, der das Dach trug. Er unterbrach jedoch nicht seinen Schlaf. Amadis dachte, daß das Schaffnerleben sehr anstrengend sein müsse, und er stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Er nahm an, daß der Autobus unterwegs nicht gehalten hatte, da er keinen anderen Fahrgast sah. Er hatte Platz in Hülle und Fülle, um ungezwungen umherschlendern zu können. Er ging von hinten nach vorn, kehrte dann wieder nach hinten zurück, und der Lärm, den er machte, als er die Stufe hinunterstieg, weckte den Schaffner; dieser kniete sich plötzlich hin und drehte wie wild an der Kurbel seines Apparats, wobei er zielte und mit dem Mund pengpengpeng machte.

Amadis gab ihm einen Klaps auf die Schulter, und der Schaffner feuerte aus nächster Nähe auf ihn, dann gab er auf; zum Glück war es nur zum Spiel. Der Mann rieb sich die Augen und stand auf. »Wo fahren wir denn hin?« fragte Amadis.

Der Schaffner, der Denis hieß, machte eine Gebärde der Unwissenheit.

»Das kann man nicht wissen«, gab er zur Antwort. »Es ist der Fahrer 21 239, und der ist verrückt.«

»Und?« sagte Amadis.

»Und bei ihm weiß man nie, wie es ausgeht. Gewöhnlich steigt niemand in diesen Wagen. Wie sind Sie eigentlich eingestiegen?«

»Wie jedermann«, sagte Amadis.

»Ich weiß«, erklärte der Schaffner. »Ich war heute morgen ein bißchen eingeschlafen.«

»Haben Sie mich nicht gesehen?« sagte Amadis.

»Das Dumme bei diesem Fahrer«, fuhr der Schaffner fort, »ist, daß man nichts zu ihm sagen kann, er versteht es nicht. Er ist nämlich außerdem noch blöd, wie man zugeben muß.«

»Ich bedauere ihn«, sagte Amadis. »Es ist eine Katastrophe.«

»Sicherlich«, sagte der Schaffner. »Dieser Mann könnte nun angeln gehen, und was tut er?«

»Er fährt einen Autobus«, stellte Amadis fest.

»Genau!« sagte der Schaffner. »Sie sind auch nicht dumm.«

»Wovon ist er denn verrückt geworden?«

»Keine Ahnung. Ich gerate immer an verrückte Fahrer. Finden Sie das lustig?«

»Ganz gewiß nicht!«

»Es ist die Verkehrsgesellschaft«, sagte der Schaffner. »Übrigens sind sie bei der Verkehrsgesellschaft alle verrückt.«

»Sie halten aber allerhand aus«, sagte Amadis.

»Oh, bei mir«, erklärte der Schaffner, »ist es nicht das gleiche. Ich bin nämlich nicht verrückt, verstehen Sie.«

Er mußte so schallend lachen, daß er hinter den Atem kam.

Amadis war ein wenig beunruhigt, als er sah, wie er sich auf dem Boden wälzte, erst violett, dann weiß und schließlich ganz steif wurde, aber er beruhigte sich schnell, als er sah, daß es nur Mache war: Der andere zwinkerte mit den Augen; bei verdrehten Augen wirkt das sehr hübsch. Nach einigen Minuten stand der Schaffner wieder auf.

»Ich bin ein Spaßvogel«, sagte er.

»Das wundert mich nicht«, sagte Amadis.

»Manche sind traurig, aber ich nicht. Wie könnte man sonst mit einem Kerl zusammenbleiben wie diesem Busfahrer!«

»Was für eine Strecke ist denn das?«

Der Schaffner sah ihn argwöhnisch an.

»Sie haben sie doch genau erkannt, oder nicht? Es ist die Hochseenationalstraße. Er nimmt sie jedes dritte Mal.«

»Und wo kommen wir raus?«

»So ist es recht«, sagte der Schaffner, »ich erzähle, ich bin nett, ich spiele den Hanswurst, und dann nehmen Sie mich auf den Arm.«

»Aber ich nehme Sie doch gar nicht auf den Arm«, sagte Amadis.

»Erstens«, sagte der Schaffner, »wenn Sie die Strecke nicht erkannt hätten, hätten Sie mich sofort gefragt, wo wir sind. Ipso facto.«

Amadis sagte nichts, und der Schaffner fuhr fort.

»Zweitens wissen Sie, wo sie hinführt, weil Sie sie erkannt haben … und drittens haben Sie keinen Fahrschein.«

Er begann mit sichtlichem Fleiß zu lachen. Amadis fühlte sich unwohl in seiner Haut. Er hatte tatsächlich keinen Fahrschein.

»Sie verkaufen doch welche«, sagte er.

»Pardon«, sagte der Schaffner. »Ich verkaufe zwar welche, aber nur für die normale Strecke. Moment.«

»Was kann ich demnach tun?« sagte Amadis.

»Oh, nichts.«

»Aber ich muß einen Fahrschein haben.«

»Den werden Sie anschließend lösen«, sagte der Schaffner. »Vielleicht befördert er uns in den Kanal, nicht? Da können Sie Ihr Geld auch genauso gut behalten.«

Amadis drängte nicht weiter und bemühte sich, das Thema zu wechseln.

»Haben Sie eine Ahnung, weshalb man diese Strecke die Hochseenationalstraße nennt?«

Er zögerte, den Namen der Strecke zu nennen und wieder darauf zurückzukommen, denn er hatte Angst, der Schaffner würde von neuem zornig werden. Dieser betrachtete seine Füße mit sehr traurigem Gesicht, und seine beiden Arme hingen an seinem Körper herab. Er ließ sie dort.

»Wissen Sie es nicht?« fragte Amadis hartnäckig weiter.

»Es wird Sie ärgern, wenn ich antworte«, murmelte der Schaffner.

»Aber nein«, sagte Amadis aufmunternd.

»Na schön! Ich weiß darüber nicht das geringste. Aber wirklich nicht die Bohne. Denn niemand kann sagen, daß es eine Verschiffungsmöglichkeit gibt, wenn man auf dieser Straße fährt.«

»Wo führt sie denn entlang?«

»Sehen Sie selbst«, sagte der Schaffner.

Amadis sah einen großen Mast herankommen, an dem ein emailliertes Blechschild befestigt war. Weiße Buchstaben zeichneten deutlich sichtbar den Namen Exopotamien, mit einem Pfeil und einer Anzahl von Maßen.

»Fahren wir dorthin?« sagte er. »Kann man also auf dem Landwege dorthin gelangen?«

»Selbstverständlich«, sagte der Schaffner. »Man braucht nur weiterzufahren und darf keinen Schiß haben.«

»Warum nicht?«

»Weil wir ganz schön angeschissen werden, wenn wir zurückkommen. Sie bezahlen das Benzin ja nicht, oder?«

»Ihrer Meinung nach«, sagte Amadis, »was für ein Tempo haben wir denn drauf?«

»Oh«, sagte der Schaffner, »wir werden morgen früh dort sein.«

3

Gegen fünf Uhr morgens ungefähr kam Amadis Dudu auf die Idee, wach zu werden, und er tat gut daran; dies gab ihm die Möglichkeit zu der Feststellung, daß er entsetzlich schlecht saß und daß sein Rücken ihm große Schmerzen verursachte. Sein Mund fühlte sich pelzig an, wie wenn man sich nicht die Zähne geputzt hat. Er richtete sich auf, machte einige Bewegungen, um seine Glieder wieder an Ort und Stelle zu bringen, und verrichtete seine intime Toilette, wobei er sich bemühte, nicht in das Sehfeld des Schaffners zu geraten. Dieser lag zwischen zwei Bänken und träumte vor sich hin, wobei er an seiner Musikdose drehte. Es war heller Tag. Die gezackten Reifen sangen auf der Straßendecke wie ebenso viele Brummkreisel auf Empfangsgeräten der drahtlosen Telegraphie. Der Motor brummte bei einer unveränderlichen Drehzahl, sicher, daß er seinen Teller Fische bekäme, wenn er ihn bräuchte. Um sich zu beschäftigen, übte sich Amadis im Weitsprung, und sein letzter Anlauf ließ ihn geradewegs auf dem Bauch des Schaffners landen; er sprang mit einer solchen Kraft hoch, daß sein Kopf eine Beule in die Decke des Wagens schlug; schlaff fiel er rittlings auf eine der Lehnen der Bänke; diese letztere Bewegung zwang ihn dazu, das Bein auf der Bankseite sehr hochzuheben, während er das andere im Mittelgang ausstrecken konnte. Genau in diesem Augenblick sah er draußen ein neues Schild: Exopotamien, zwei Maße, und er stürzte sich auf den Klingelknopf und drückte einmal, aber lange drauf; der Autobus machte langsam und hielt am Straßenrand. Der Schaffner hatte sich aufgerichtet und hielt sich lässig auf dem für den Schaffner reservierten Platz, hinten links nahe der Klingelschnur, doch sein schmerzender Bauch ließ ihn die Würde verlieren. Amadis lief durch den Mittelgang, mit der größten Ungezwungenheit, und sprang leichtfüßig vom Autobus herab. Er fand sich Auge in Auge mit dem Busfahrer, der gerade seinen Sitz verlassen hatte und herankam, um nachzusehen, was los war. Er sprach Amadis an.

»Endlich hat sich jemand dazu entschlossen zu klingeln! Es war aber auch höchste Zeit!«

»Ja«, sagte Amadis. »Das ist ein ganz schönes Stück Weg.«

»Na, wie denn, Mann!« sagte der Fahrer. »Jedesmal, wenn ich einen 975 nehme, kann sich niemand dazu durchringen zu klingeln, und gewöhnlich komme ich zurück, ohne ein einziges Mal zu halten. Nennen Sie das vielleicht einen Beruf?« Der Schaffner zwinkerte hinter dem Rücken des Fahrers mit den Augen und schlug sich an die Stirn, um Amadis auf die Nutzlosigkeit einer Diskussion hinzuweisen.

»Die Fahrgäste vergessen es vielleicht«, sagte Amadis, denn der andere wartete auf eine Antwort.

Der Fahrer lachte höhnisch.

»Sie sehen doch, daß das nicht stimmt, denn Sie haben ja geklingelt. Das Dumme …«

Er neigte sich zu Amadis herüber. Der Schaffner begriff, daß er zuviel war und entfernte sich, ohne sich zu zieren.

»… es ist nur dieser Schaffner«, erklärte der Fahrer.

»Ach!« sagte Amadis.

»Er mag keine Fahrgäste. Daher richtet er es so ein, daß wir ohne Fahrgäste abfahren, und er klingelt nie. Ich weiß es ganz genau.«

»Das stimmt«, sagte Amadis.

»Er ist verrückt, verstehen Sie«, sagte der Busfahrer.

»Richtig …«, murmelte Amadis. »Ich fand ihn wunderlich.«

»Die sind alle verrückt bei der Verkehrsgesellschaft.«

»Das wundert mich nicht!«

»Ich«, sagte der Fahrer, »ich führe sie alle hinters Licht. Im Reich der Blinden ist der Einäugige König. Haben Sie ein Messer?«

»Ich habe ein Taschenmesser.«

»Leihen Sie.«

Amadis hielt es ihm hin, und der andere zog die große Klinge heraus, die er sich energisch ins Auge stieß. Dann drehte er sie um. Er hatte große Schmerzen und schrie sehr laut. Amadis bekam es mit der Angst zu tun und lief fort, die Arme eng an den Körper angewinkelt, wobei er die Knie so hoch hob, wie er nur konnte: Es war nicht der Augenblick, eine Gelegenheit zur Leibesübung zu versäumen. Er lief an einigen Büscheln Scrubus spinifex vorbei, drehte sich um und schaute. Der Fahrer klappte das Taschenmesser zusammen und steckte es in die Tasche. Von Amadis’ Stelle aus sah man, daß kein Blut mehr floß. Er hatte sehr sauber operiert und trug bereits eine schwarze Klappe über dem Auge. Der Schaffner lief im Wagen wagemutig in mittlerer Gangart im Mittelgang auf und ab, und durch die Scheiben sah Amadis, wie er auf seine Uhr schaute. Der Fahrer setzte sich wieder auf seinen Sitz. Der Schaffner wartete einige Augenblicke, schaute ein zweites Mal auf seine Uhr und zog mehrmals hintereinander an seiner Klingelschnur; sein Kollege begriff, daß der Bus besetzt war, und der schwere Wagen fuhr mit allmählich lauter werdendem Geknatter ab; Amadis sah die Funken, und das Geknatter nahm ab, wurde leiser, hörte auf; im gleichen Augenblick sah er auch den Autobus nicht mehr, und er war nach Exopotamien gekommen, ohne einen einzigen Fahrschein auszugeben.

Er ging zu Fuß weiter. Er wollte sich nicht aufhalten, denn vielleicht würde sich der Schaffner eines anderen besinnen, und er wünschte sein Geld zu behalten.

B

Ein Gendarmeriehauptmann schlich sich ins Zimmer, totenbleich (er befürchtete, eine Kugel verpaßt zu bekommen).

(Maurice Laporle, »Geschichte Okhranas«, Payot, 1935, Seite 105)

1

Claude Léon hörte linkerhand das Trompetensignal des Weckers, und er erwachte, um ihm aufmerksamer zu lauschen. Nachdem er dies getan hatte, schlief er unwillkürlich wieder ein und öffnete fünf Minuten später, ohne es absichtlich zu tun, wieder die Augen. Er schaute auf das Leuchtzifferblatt des Weckers, stellte fest, daß es Zeit war, und warf die Decke zurück; zärtlich rutschte sie sogleich an seinen Beinen hoch und wickelte sich um ihn. Es war dunkel, und man erkannte noch nicht das Lichtdreieck des Fensters. Claude liebkoste die Decke, die sich nun nicht mehr bewegte und ihn aufstehen ließ. Er setzte sich also auf den Bettrand, streckte den linken Arm aus, um die Nachttischlampe anzuzünden, merkte einmal mehr, daß sie zu seiner Rechten war, streckte den rechten Arm aus und stieß sich, wie jeden Morgen, am Bettgestell.

»Ich werde es noch zersägen«, murmelte er zwischen den Zähnen.

Diese gingen unversehens auseinander, und seine Stimme ertönte plötzlich im Raum.

»Verflixt!« dachte er. »Ich werde das ganze Haus wach machen.« Doch als er lauschte, vernahm er den gleichmäßigen Takt, den fügsamen und bedächtigen Atem der Dielen, und er beruhigte sich wieder. Man begann die grauen Linien des Tages um die Vorhänge herum zu sehen … Draußen war der blasse Schein des Wintermorgens. Claude Léon stieß einen Seufzer aus, und seine Füße suchten auf dem Bettvorleger nach den Pantoffeln. Mühsam stellte er sich. Der Schlaf wich nur widerwillig durch alle seine geöffneten Poren, wobei er ein ganz sanftes Geräusch von sich gab, wie eine Maus, die träumt. Er ging zur Tür, und bevor er den Lichtschalter betätigte, wandte er sich dem Schrank zu. Er hatte am Abend zuvor ganz plötzlich das Licht gelöscht, als er gerade vor dem Spiegel eine Grimasse schnitt, und er wollte sie wiedersehen, bevor er ins Büro ging. Er knipste das Licht schlagartig an. Sein Gesicht von gestern war noch da. Er lachte ganz laut, als er es sah, dann löste es sich im Licht auf, und der Spiegel spiegelte den Léon des neuen Morgens wider, der ihm den Rücken zuwandte, um sich rasieren zu gehen. Er beeilte sich, um vor seinem Chef ins Büro zu kommen.

2

Zum Glück wohnte er ganz nahe bei der Verkehrsgesellschaft. Im Winter, zum Glück. Im Sommer war es zu kurz. Er hatte genau dreihundert Meter zurückzulegen in der Avenue Jacques Lemarchand, Steuerprüfer von 1857 bis 1870, heldenhafter Alleinverteidiger einer Barrikade gegen die Preußen. Sie hatten ihn schließlich geschnappt, denn sie waren von der anderen Seite gekommen: Der Ärmste, vor der allzuhohen Barrikade, die zum Überklettern herausforderte, in die Enge getrieben, hatte sich mit seinem Chassepot zwei Kugeln in den Mund geschossen, und der Rückstoß hatte ihm darüber hinaus noch den rechten Arm abgerissen. Claude Léon interessierte sich wahnsinnig für diese kleine Geschichte, und in der Schublade seines Schreibtischs versteckte er die gesammelten Werke von Doktor Cabanès, in Form von Rechnungsbüchern in schwarzes Leinen gebunden.

Die Kälte ließ die roten Eisstücke auf dem Bordstein der Bürgersteige klirren, und die Frauen zogen ihre Beine unter ihren kurzen Barchentröcken ein. Claude sagte im Vorbeigehen »Guten Morgen« zum Hausmeister und trat schüchtern an den Aufzug Roux-Conciliabuzier heran, vor dessen Gitter bereits drei Stenotypistinnen und ein Buchhalter warteten, die er mit einer reservierten und kollektiven Gebärde grüßte.

3

»Guten Morgen, Léon«, sagte sein Chef, als er die Tür aufmachte. Claude zuckte zusammen und machte einen großen Fleck.

»Guten Morgen, Monsieur Saknussem«, stammelte er.

»Sie Tolpatsch!« schimpfte der andere. »Immer Tintenflecke!«

»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Saknussem«, sagte Claude, »… aber …«

»Entfernen Sie das!« sagte Saknussem.

Claude beugte sich über den Fleck und begann ihn eifrig abzulecken. Die Tinte war ranzig und schmeckte nach Seehund. Saknussem schien fröhlicher Laune zu sein.

»Na«, sagte er, »haben Sie die Zeitungen gesehen? Die Konformisten bereiten uns schöne Tage, wie?«

»Hm … ja …, Monsieur«, murmelte Claude.

»Diese Halunken«, sagte sein Chef. »Ach, es ist Zeit, daß wir achtgeben … Und sie sind alle bewaffnet, wissen Sie.«

»Ach …«, sagte Claude.

»Wir haben es ja bei der Befreierei gesehen«, sagte Saknussem. »Sie schafften die Waffen lastwagenweise herbei. Und natürlich haben anständige Menschen wie Sie und ich keine Waffen.«

»Gewiß nicht …«, sagte Claude.

»Sie haben doch keine, oder?«

»Nein, Monsieur Saknussem«, sagte Claude.

»Könnten Sie mir einen Revolver besorgen?« fragte Saknussem geradeheraus.

»Das heißt …«, sagte Claude, »vielleicht durch den Schwager meiner Vermieterin … Ich weiß nicht … hm …«

»Wunderbar«, sagte sein Chef »Ich zähle auf Sie, ja? Auch nicht zu teuer, und Patronen, ja? Diese Halunken von Konformisten … Man muß eben auf der Hut sein, ja?«

»Sicher«, sagte Claude.

»Danke, Léon, Ich zähle auf Sie. Wann können Sie ihn mir bringen?«

»Ich muß erst mal fragen«, sagte Claude.

»Natürlich … Lassen Sie sich Zeit … Wenn Sie etwas früher weggehen wollen …«

»Oh nein …«, sagte Claude. »Das ist nicht nötig.«

»Gut«, sagte Saknussem. »Und dann passen Sie auf die Flecken auf, ja? Machen Sie Ihre Arbeit sorgfältig, zum Teufel, Sie werden nicht bezahlt, um nichts zu tun …«

»Ich werde achtgeben, Monsieur Saknussem«, versprach Claude.

»Und seien Sie pünktlich«, schloß sein Chef. »Gestern kamen Sie sechs Minuten später.«

»Aber ich war trotzdem neun Minuten früher dran …«, sagte Claude.

»Ja«, sagte Saknussem, »aber gewöhnlich kommen Sie eine Viertelstunde zu früh. Strengen Sie sich etwas an, Herrgottnochmal.«

Er verließ das Zimmer und schloß die Tür. Claude, sehr aufgeregt, nahm wieder seine Feder zur Hand. Da seine Hände zitterten, machte er einen zweiten Fleck. Er war riesengroß. Er hatte die Form eines höhnisch lachenden Gesichts und einen Geschmack nach kriechendem Petroleum.

4

Er war fertig mit dem Abendessen. Der Käse, von dem nur noch ein großes Stück übrigblieb, bewegte sich träge in dem malvenfarbenen Teller mit malvenfarbenen Löchern. Er goß sich zum Abschluß ein volles Glas Lithiumoxyd mit Karamel aus und hörte zu, wie es seine Speiseröhre hinunterlief. Die kleinen Luftblasen, die wieder hochstiegen, machten ein metallisches Geräusch, als sie in seinem Rachen platzten. Er stand auf, um auf das Klingelzeichen zu antworten, das man gerade an die Tür geklopft hatte. Es war der Schwager seiner Vermieterin, der hereinkam.

»Guten Tag, Monsieur«, sagte dieser Mann, dessen ehrliches Lächeln und rotes Haar seine karthagische Herkunft verrieten.

»Guten Tag, Monsieur« antwortete Claude.

»Ich bringe Ihnen das Ding«, sagte der Mann. Er hieß Gean.

»Ach ja …«, sagte Claude. »Den …«

»Richtig …«, sagte Gean.

Und er zog ihn aus der Tasche.

Es war ein hübscher zehnschüssiger Gleichmacher von der Marke Walter, Modell ppk, mit einem Magazin, dessen mit Hartgummi ausgelegter Boden genau in die beiden geriffelten Platten paßte, wenn man die Hand drauflegt.

»Gutes Fabrikat«, sagte Claude.

»Feststehender Lauf«, sagte der andere. »Hohe Präzision.«

»Ja«, sagte Claude. »Bequemes Zielen.«

»Liegt gut in der Hand« fügte Gean hinzu.

»Eine gut konzipierte Waffe«, sagte Claude und zielte auf einen Blumentopf, der sich aus der Schußlinie entfernte.

»Eine ausgezeichnete Waffe«, sagte Gean. »Dreitausendfünf.«

»Das ist etwas viel«, sagte Claude. »Es ist nicht für mich. Ich bin natürlich der Meinung, daß er das wert ist, aber die Person will nicht mehr als dreitausend ausgeben.«

»Für weniger kann ich Ihnen den Revolver nicht überlassen«, sagte Gean. »Es ist das, was er mich kostet.«

»Ich weiß schon«, sagte Claude. »Es ist sehr teuer.«

»Es ist nicht teuer«, sagte Gean.

»Ich will sagen, die Waffen sind teuer«, sagte Claude.

»Das ja«, sagte Gean, »eine Pistole wie diese ist nicht leicht zu finden.«

»Sicherlich nicht«, sagte Claude.

»Dreitausendfünf, letzter Preis«, sagte Gean.

Saknussem würde nicht mehr als dreitausend ausgeben. Wenn Claude sich das Neubesohlen seiner Schuhe sparen würde, könnte er fünfhundert Francs aus der eigenen Tasche drauflegen.

»Vielleicht wird es nicht mehr schneien«, sagte Claude.

»Vielleicht«, sagte Gean.

»Auf ein paar neue Sohlen«, sagte Claude, »kann man wohl verzichten.«

»Und wie«, sagte Gean. »Wir sind mitten im Winter.«

»Ich werde Ihnen das Geld geben«, sagte Claude.

»Ich lasse Ihnen das zweite Magazin zum gleichen Preis«, sagte Gean.

»Das ist liebenswürdig von Ihnen«, sagte Claude. Er würde fünf oder sechs Jahre lang etwas weniger essen, und damit hätte er die fünfhundert Francs wieder eingespart, Saknussem würde es vielleicht zufällig erfahren.

»Ich danke Ihnen«, sagte Gean.

»Ich habe zu danken«, sagte Claude und begleitete ihn an die Tür.

»Sie haben hier eine gute Waffe«, schloß Gean, und er ging weg.

»Sie ist nicht für mich«, erinnerte ihn Claude, und der andere ging die Treppe hinunter.

Claude schloß die Tür und ging zum Tisch zurück. Der schwarze, kalte Gleichmacher hatte immer noch nichts gesagt; er lag schwerfällig neben dem Käse, der sich, erschreckt, in aller Eile davonmachte, ohne es jedoch zu wagen, seinen Pflegeteller zu verlassen. Claudes Herz schlug etwas mehr als üblich. Er nahm den unfreundlichen Gegenstand und drehte ihn in seinen Händen hin und her. Hinter seiner geschlossenen Tür fühlte er sich stark bis zu den Fingernägeln. Doch er würde aus dem Haus gehen und ihn Saknussem bringen müssen.

Und es war verboten, auf der Straße einen Revolver bei sich zu tragen. Er legte ihn auf den Tisch zurück, und in der Stille lauschte er, wobei er sich fragte, ob die Nachbarn nichts von seiner Unterhaltung mit Gean gehört hätten.

5

Er spürte ihn an seinem Schenkel schwer und eiskalt wie ein totes Tier. Das Gewicht zog an seiner Tasche und seinem Gürtel, sein Hemd bauschte sich rechts über seiner Hose. Sein Mantel verhinderte zwar, daß man was sah, doch bei jedem Vorschnellen des Schenkels zeichnete sich auf dem Stoff eine große Falte ab, und jedermann würde es bemerken. Es schien klug, einen anderen Weg zu nehmen. Entschlossen wandte er sich also nach links, sobald er aus dem Eingang des Gebäudes war. Er ging in Richtung Bahnhof und beschloß, sich nur in kleine Straßen zu wagen. Der Tag war trist, es war genauso kalt wie am Tag zuvor; er kannte dieses Viertel schlecht, er nahm die erste zur Rechten, doch weil er meinte, er käme zu schnell wieder auf seinen üblichen Weg, lief er dann zehn Schritte weiter in die erste zur Linken. Sie bildete mit der vorhergehenden einen Winkel, der etwas unter neunzig Grad lag, verlief schräg und war voller Läden, die ganz anders waren als die, an denen er gewöhnlich vorüberkam, unauffällige Läden ohne jegliche Besonderheit.

Er ging schnell, und das Ding drückte schwer auf seinen Schenkel. Er begegnete einem Mann, der die Augen auf seine Tasche zu richten schien; Claude erschauderte; zwei Meter weiter drehte er sich um, der Mann sah ebenfalls nach ihm. Den Kopf senkend, setzte er seinen Marsch fort und stürzte bei der ersten Kreuzung nach links. Er stieß so heftig gegen ein kleines Mädchen, daß es ausrutschte und sich in den schmutzigen Schnee setzte, den man am Bordstein aufgeschichtet hatte. Er wagte nicht, die Kleine aufzuheben, und ging schneller, die Hände in den Taschen vergraben, wobei er verstohlene Blicke nach hinten warf. Er flitzte ganz dicht an der Nase einer Matrone vorbei, die mit einem Besen bewaffnet aus einem Nachbargebäude kam und ihn mit einem schallenden Fluch grüßte. Er drehte sich um. Sie folgte ihm mit den Augen. Er beschleunigte seinen Marsch und wäre beinahe gegen ein viereckiges Gitter gerannt, das Arbeiter des Straßenbauamts gerade über einen Kanalschacht gestellt hatten. Er machte eine heftige innere Bewegung, um dem Gitter auszuweichen, erwischte es jedoch noch mit der Tasche seines Mantels, die einriß. Die Arbeiter schimpften ihn Arschloch und Hinterlader. Rot vor Scham ging er immer schneller, wobei er über vereiste Pfützen rutschte. Er begann zu schwitzen, er stieß mit einem Radfahrer zusammen, der abbog, ohne es anzuzeigen. Das Pedal zerriß ihm den Aufschlag seiner Hose und zerfetzte ihm die Wade. Mit einem Entsetzensschrei streckte er die Hände nach vorn, um nicht hinzufallen, und schon sank die Gruppe auf die schmutzige Fahrbahn. Ganz in der Nähe stand ein Bulle. Claude Léon hatte sich von dem Fahrrad freigemacht. Seine Wade tat ihm entsetzlich weh. Der Radfahrer hatte sich das Handgelenk verstaucht, und das Blut schoß ihm aus der Nase, er beschimpfte Claude, und Claude packte langsam der Zorn, sein Herz schlug, und Wärme lief ihm durch die Hände, sein Blut zirkulierte sehr gut, es schlug auch in seiner Wade, und auf seinem Schenkel hob sich der Gleichmacher bei jedem Pulsschlag. Plötzlich wuchtete ihm der Radfahrer seine linke Faust ins Gesicht, und Claude wurde noch fahler. Er steckte die Hand in die Tasche und zog den Gleichmacher heraus, und er begann zu lachen, weil der Radfahrer stammelte und zurückwich, dann spürte er einen furchtbaren Schlag auf seiner Hand, und der Stock des Bullen fiel herab. Der Bulle hob den Gleichmacher auf und packte Claude am Kragen. Claude spürte nichts mehr in der Hand. Er drehte sich plötzlich um, und sein rechtes Bein entspannte sich auf einen Schlag, er hatte den Unterleib des Bullen angezielt, der sich krümmte und den Gleichmacher losließ. Mit einem Grunzen des Behagens stürzte Claude vor, um ihn aufzuheben, und schoß ihn völlig leer, sorgfältig auf den Radfahrer gerichtet, der beide Hände an seine Gürtellinie hielt und sich sachte hinsetzte, wobei er ganz hinten in der Kehle aaah … machte. Der Rauch der Patronen roch gut, und Claude blies in den Lauf, wie er es im Kino gesehen hatte; er steckte den Gleichmacher wieder in die Tasche und sackte über dem Bullen zusammen, er wollte schlafen.

6

»Schön und gut«, sagte der Rechtsanwalt, als er aufstand, um wegzugehen, »aber warum hatten Sie nun wirklich den Revolver bei sich?«

»Ich habe es Ihnen gesagt …«, sagte Claude. Und er sagte es noch einmal.

»Er war für meinen Direktor, Monsieur Saknussem, Arne Saknussem …«

»Er behauptet aber, daß das nicht stimmt«, sagte der Rechtsanwalt, »Sie wissen es doch.«

»Aber es ist wahr«, sagte Claude Léon.

»Ich weiß schon«, sagte der Rechtsanwalt, »aber Sie müssen was anderes finden; Sie haben schließlich Zeit genug gehabt!«

Gereizt ging er zur Tür.

»Ich verlasse Sie jetzt«, sagte er. »Wir müssen halt abwarten. Ich werde versuchen, mein Bestes zu tun; Sie helfen mir ja kaum dabei!«

»Das ist nicht mein Gewerbe«, sagte Claude Léon.

Er haßte ihn fast ebenso wie den Radfahrer und den Polizeibeamten, der ihm auf dem Kommissariat einen Finger gebrochen hatte. Von neuem wurde ihm warm in den Händen und den Beinen.

»Auf Wiedersehen«, sagte der Rechtsanwalt, und er ging hinaus.

Claude antwortete nicht und setzte sich auf sein Bett. Der Wärter schloß die Tür.

Der Wärter legte den Brief auf das Bett. Claude schlief halb. Er erkannte die Mütze und richtete sich auf.

»Ich möchte …«, sagte er.

»Was?« antwortete der Wärter.

»Schnur. Ein Knäuel.« Claude rieb sich am Kopf.

»Das ist verboten«, sagte der Wärter.

»Nicht um mich aufzuhängen«, sagte Claude. »Ich habe noch meine Hosenträger, es wäre schon geschehen.«

Der Wärter überdachte dieses Argument.

»Für zweihundert Francs«, sagte er, »kann ich Ihnen zehn oder zwölf Meter besorgen. Mehr nicht. Und ich riskiere!«

»Ja«, sagte Claude. »Fordern Sie sie von meinem Rechtsanwalt. Bringen Sie.«

Der Wärter wühlte in seiner Tasche.

»Ich habe sie hier«, sagte er.

Er hielt ihm eine kleine Rolle ziemlich starker Schnur hin.

»Danke«, sagte Claude.

»Was wollen Sie denn damit machen?« fragte der Wärter. »Hoffentlich keine Dummheiten?«

»Mich aufhängen«, sagte Claude und lachte.

»Ah! Ah!« sagte der Wärter und lachte dabei aus vollem Hals, wiewohl er ihn nie voll bekam, »das ist glatter Blödsinn. Sie hatten doch Ihre Hosenträger.«

»Sie sind noch zu neu«, sagte Claude. »Sie würden davon kaputtgehen.«

Der Wärter sah ihn bewundernd an.

»Sie machen mir Spaß, Sie«, sagte er. »Sie sind bestimmt Journalist.«

»Nein«, sagte Claude. »Danke.« Der Wärter begab sich zur Tür.

»Und wegen des Geldes wenden Sie sich an den Rechtsanwalt«, sagte Claude.

»Ja«, sagte der Wärter. »Aber das ist sicher, ja?«

Claude nickte mit dem Kopf, um ja zu sagen, und das Schloß schnappte sachte ein.

7

Doppelt gelegt und zusammengeflochten war sie etwa zwei Meter lang. Das war gerade richtig. Wenn er aufs Bett stieg, würde es ihm gelingen, sie um den Gitterstab zu knoten. Um die Länge zu regulieren, würde er einige Schwierigkeiten haben, denn die Füße durften den Boden nicht berühren.