cover

Tomas Sjödin

Es gibt so viel, was man nicht muss

Von der Einfachheit des Lebens,
des Glaubens und der Liebe

image

Aus dem Schwedischen von Hanna Schott

image

ISBN 978-3-417-22917-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

Originally published in swedish under the title:

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Weiter wurden verwendet:

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

image

Das Jetzt braucht einen Zusammenhang

Es gibt so viel, was man nicht muss!

Das Schaffen-Müssen sein lassen

Wird das Jetzt überschätzt?

Sagen, wie es ist

Ein gutes Wort

Mit weit geöffneten Augen leben

So, wie wir gerade leben

Doggerbank

Der Wald ist leer

Danke fürs Leihen!

Nimm’s passiv!

Von »jetzt« zu »hier«

Männer wollen Geld verdienen

Die Straßenbahn fährt ab

Nachwärme

Es ist schön, eine Mutter zu haben

Wie ein ziehender Schmerz der Seele

Ein neues Muss

Alles gut?

Die dumpfen Tage

Ich war’s nicht!

Das regelt sich ganz von allein

Raum gewinnen im eigenen Leben

Der Wald macht keine Termine

Vom Image der Rastlosigkeit

»Ich spüre wieder das Leben«

Lieben, was man hat

Die Not-to-do-Liste

Haben Sie ein paar Minuten Zeit für die Ewigkeit?

image

Die Welt des Glaubens unterscheidet sich nicht von anderen Welten

Springer und Fänger

Für uns, die wir versagen

Hand aufs Herz

Es kann geschehen!

Um Antwort wird gebeten

Das wird lustig!

So wie es ist, ist es gut

Das Wettergebet

Das Atmen der Seele

Wer fragt nach deiner Seele?

Neun italienische Mütterchen

Traumhaus und Trauerhaus

Thomas Mertons Auge

Das Wichtige flüstern

Gegen alle Wahrscheinlichkeit

Im geistlichen Fitnessraum

An einer besseren Stelle

Etwas Weites in mir

Weinen tut man, wenn man nach Hause kommt

Freuet euch, freuet euch!

Gottes Angst

Der Tag des Rauchmelders

Der Zwilling aller Zweifler

Sehnst du dich nach Kokkola?

Eine Fliege auf dem Lobgesang

image

Die Liebe ist größer als diese Welt

Immer auf dem Weg nach Hause

Berühr mich, solange ich lebe

Bestätigung und Widerstand

Das eigentliche Ziel der Reise

Gebrauchsfertig

Die Welt verändern!

Wenn es nur nicht vergebens ist!

Einer am Tag

Der Altenheim-Entdeckungsreisende

Nur eine verwirrte Omi?

Die Welt in 20 Minuten

Das kleine Extra

Worte sind wie Tattoos

Ernst und Freundlichkeit

Blühender Alltagsmut

Wenn Freunde Freunde werden

Lass sein!

Die Selbstverständlichkeit der Woche

Danke, dass es dich gibt!

Großer Tag des Vermissens

Liebe ist Warten

Eine doppelte Lage Butterbrotpapier

Lass die Tür einen Spaltbreit offen

Über den Autor

image

Tomas Sjödin, geboren 1959, ist ein schwedischer Schriftsteller und Pastor und in seiner Heimat durch viele Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Seine Bücher und Kolumnen sind oft autobiografi sch geprägt und geben tiefe Einblicke in sein Herz. Insbesondere der Tod seiner Söhne hat sein Leben geprägt. »Es gibt so viel, was man nicht muss« ist das dritte Buch des Erfolgsautors, das in deutscher Sprache vorliegt.

Vorwort

Ein Leser der Göteborgs Posten schrieb der Tageszeitung, um für einen Text zu danken, den ich geschrieben hatte. Der Text sprach davon, wie es ist, eine Mutter zu haben. Auch davon, dass nicht jeder eine Mutter hat und dass es gut ist, sich um die Mutter zu kümmern, solange sie noch da ist. Der Leserbriefschreiber hatte viel Gutes dazu zu sagen, aber am meisten freute mich sein letzter Satz: »Eine gute Kolumne beschreibt etwas, was man schon wusste, worüber man aber nicht nachgedacht hatte.«

Dieser Satz trifft es genau. Genau darum geht es in den kurzen Texten, die wir Kolumnen oder Glossen nennen. Es geht nicht darum, etwas Neues zu sagen, sondern eine Sprache zu finden für das, was wir alle bisweilen denken oder empfinden. Hier wird das Wort wichtig, oder besser gesagt: Hier müssen die bekannten Wörter so gesetzt sein, dass die Gedanken plötzlich sichtbar werden.

Genau das verstehe ich als meinen Auftrag: Ich will unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was uns alltäglich und selbstverständlich erscheint, und ihm den richtigen Wert beimessen. Ich möchte, dass wir all das sehen, was wir haben und woran wir kaum einen Gedanken verschwenden – ob wir es gleich um die Ecke finden oder im unendlichen Kosmos des Glaubens.

Seit dem Herbst 1985 schreibe ich Kolumnen für mehrere schwedische Zeitungen. Damals studierte ich in England und machte meine ersten Schritte als gelegentlicher Kolumnenschreiber der Zeitung Dagen in Form von einigen ziemlich salbungsvollen Betrachtungen zu Vorgängen in der christlichen Welt. Aus dem Gelegenheitsjob wurde eine feste Verpflichtung, die zu immer mehr Aufträgen führte. Die Jahre gingen ins Land – und es war keins dabei, in dem ich nicht Kolumnen geschrieben hätte.

Das Regelmäßige dieser Tätigkeit gibt ihr eine Funktion, die der des Pulsmessers gleicht, den ich beim Joggen trage. In festen Abständen verbinde ich ihn mit dem Computer, und schon kann ich meine »Laufgeschichte« betrachten mit ihren Höhen, Tiefen und Mittelwerten. Das Erstaunliche ist, dass praktisch kein Lauf nennenswert vom Mittelwert abweicht. Mal ein bisschen höher, mal ein bisschen niedriger, aber im Grunde immer nah an einem Grundwert, der wohl in meinem Körper verankert ist, und das, obwohl sich die Laufrunden völlig unterschiedlich anfühlen. An manchen Tagen schwebe ich fast, an anderen Tagen quäle ich mich so, dass ich kaum meine Runde schaffe. Aber über Wochen und Monate betrachtet, sind die Veränderungen gering.

Ganz ähnlich ist es mit den kurzen Texten, die ich mir alle drei Wochen abringe. Als ich in den letzten Wochen die Kolumnen der vergangenen Jahre durchging, bis zurück zu Texten, die ich geschrieben hatte, bevor ich bei Göteborgs Posten anfing, fiel mir auf, dass vieles sich ähnelt. Wofür ich damals brannte, dafür brenne ich auch heute noch. Es gibt einen Grundakkord, Linien und einen inneren Zusammenhalt. Etwas, das erst deutlich wird, wenn man wie mit einem Stift die Zeitachse zieht.

Drei Themen tauchen immer wieder auf. Das erste war titelgebend für dieses Buch: der Kampf mit all dem, was wir »müssen«, besser gesagt: mit all dem, was übertriebene Forderungen an uns stellt. Solange ich schreibe, verfechte ich schon den Gedanken, dass das Leben ohne Anforderungen ein Mythos ist. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Anforderung und Anforderung, zwischen Muss und Muss. Ein notwendiges Muss nenne ich ein Liebes-Muss, denn ich habe die Beobachtung gemacht, dass sich ein Muss, wenn es um Liebe geht, unmerklich in eine »Sehnsucht nach« oder »Lust auf« verwandelt. In der Beziehung zu einem Menschen, den man liebt, muss man vieles, aber diese Anforderung ist alles andere als eine Last. »Ich muss deine Stimme hören.« »Ich muss dich treffen.«

Ja, es gibt vieles, was man nicht muss. Doch wenn ich das so behaupte, heißt das nicht, dass ich alle Anforderungen auf die leichte Schulter nehme. Vielmehr geht es mir darum, die Wichtigkeit des Sortierens zu zeigen, das eine Grundfertigkeit unseres Lebens sein sollte. Das Leben ernst zu nehmen und unsere Verantwortung wahrzunehmen, bedeutet, dass wir jedes unnötige Muss aussortieren, weil es unser Leben belastet, statt Platz, Kraft und Licht für das Liebes-Muss zu lassen.

Unser Zuhause muss nicht immer picobello aussehen, wir müssen nicht alle Bücher gelesen haben, über die man gerade spricht, man muss nicht immer gut drauf sein. Man muss im Beruf nicht immer Ja sagen, um als loyaler Arbeitnehmer zu gelten. Man muss nicht mehr Sport treiben, als dem Körper angenehm ist. Verantwortlich zu leben bedeutet hier, auszusortieren, denn es gibt vieles, was man nicht muss. Und jedes Mal, wenn man einer unnötigen Anforderung nicht nachkommt, macht ein Seufzer der Erleichterung unser Leben angenehmer.

Das Muss der Liebe ist dagegen keine Option. Es ist tatsächlich ein Muss oder, um es mit der Bibel zu sagen: »Die Liebe drängt uns« (2. Korinther 5, 14).

Das zweite Thema, das alle meine Kolumnen durchzieht, ist der Glaube als tragende Kraft. Ein Mann sprach mich auf der Straße an und erzählte, dass er eins meiner Bücher gelesen habe. Es habe ihm gut gefallen, mit Ausnahme von einer Sache: dass es dauernd um Gott ginge, um den Glauben und manchmal sogar um Bibelverse. Der Mann gab mir auch gleich einen Tipp: »Falls Sie weitere Bücher schreiben sollten« – es klang, als sei das nicht unbedingt notwendig –, »dann sammeln Sie alles, was mit Religion zu tun hat, und packen es in ein letztes Kapitel. Dann können wir, die dafür kein Interesse aufbringen, die ersten zwanzig Kapitel lesen und das Buch zur Seite legen, wenn Sie mit dem Thema Religion loslegen. Dann wäre es auch für uns ein gutes Buch – und wer will, kann ja weiterlesen.« Ein Buch mit zwei verschiedenen Schlüssen also. (Wer sich theologisch mit dem Weltgericht befasst hat, wird schon einmal vom doppelten Ausgang gehört haben.)

Meine Antwort kam spontan: »Eine super Idee! Aber völlig undurchführbar.« Dann erklärte ich ihm, dass der Glaube in meinem Leben nicht etwas ist, das man sozusagen ausbeinen kann, wie man die Gräten aus dem Fisch entfernt. Denn der Glaube findet sich in jedem Kapitel unseres Lebens. Er ist wie ein Farbbad, in das aller Stoff getaucht wurde, aus dem unser Leben gewoben ist. Diese Farbe durchfärbt alles, das ganze Leben.

Während ich mich in den letzten Wochen durch einen großen grauen Pappkarton voller angegilbter Zeitungsausschnitte mit Texten aus meiner ersten Zeit als Schreiberling arbeitete, stellte ich fest, dass der Glaube auch dort nicht nur irgendwo vorkam. Er war der Grund, warum ich schrieb. Und ist es immer noch.

Ich habe nebenbei festgestellt, dass ich auch einen Glauben ohne Anforderungen immer schon für einen Mythos hielt. Der Kampf – und den gibt es tatsächlich – besteht unter anderem darin, sich allen Kräften entgegenzustemmen, die den Glauben auf Fragen des Lebensstils oder der Moral begrenzen wollen, statt dem Befreienden und der Kraft des Glaubens Raum zu geben. Auch im Umfeld des Glaubens gibt es vieles, was man nicht muss.

Das dritte Thema ist die Liebe. Das lieben, was ist. So, wie es ist. Das Staunen darüber, dass solch eine Liebe niemals stillsteht. Sie treibt unser Leben voran – und in der Rückschau betrachtet, ist sie die Voraussetzung für alles Wachstum und jede Veränderung, die wir auf unserem Weg erlebt haben.

Was der Leserbriefschreiber sagt, stimmt auch für das Schreiben über Glaube und Liebe. Es geht um den Versuch, Worte für das zu finden, was wir schon wissen, worüber wir aber nicht nachgedacht haben. Dieses Buch enthält 77 solcher Versuche.

Tomas Sjödin

image

Das Jetzt braucht einen
Zusammenhang

Es gibt so viel, was man nicht muss!

Seit einer Reihe von Jahren erscheinen ständig neue Bücher mit Titeln, die alle so ähnlich heißen wie »101 Sachen, die du tun musst, bevor du stirbst«. Bei den Online-Buchhändlern fand ich über zwanzig Titel, die ganz ähnlich klangen und deren Umsetzung natürlich unmöglich ist: »1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist«, »101 Horrorfilme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist«, »101 Biersorten, die Sie trinken sollten …« und – wohl das am schwersten umzusetzende Projekt – »1001 Naturwunder, die Sie sehen sollten …«. Sicher ein ganz besonderes Buch, nur dass es einen Titel hat, der einen ein bisschen stresst.

Als ich ein Kind war, gab es genau sieben Weltwunder. Schon damals wusste ich, dass ich es vermutlich nicht schaffen würde, sie zu sehen, und wenn doch, dann höchstens eins oder zwei davon. Jetzt soll ich mir über 1000 Naturwunder ansehen. Und ich soll sie alle anschauen, bevor das Leben vorbei ist. Der Gedanke dahinter: Wenn man eines Tages auf sein Leben zurückschaut und sagen kann, dass man wirklich gelebt hat, dann war man auf jeden Fall sehr fleißig unterwegs.

Da hat sich offenbar etwas verschoben: von der Dankbarkeit für alles, was man erleben durfte, hin zum Bedauern all dessen, was man verpasst hat. Eine Art Trauer wegen all des Ungetanen. Als sei das Leben an sich nicht bedeutungsvoll genug, fühlt man sich gezwungen, all die Bücher zu betrauern, die man nicht gelesen hat, die Filme, zu denen man es nicht ins Kino geschafft hat. Man fühlt sich gezwungen zu bedauern, dass man vermutlich nie den Machu Picchu in Peru sehen wird oder die merkwürdigen Steinfiguren, die auf den Osterinseln stehen.

»Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen«, sagte schon Epikur, ein griechischer Philosoph, der etwa 300 Jahre vor Christus lebte. Er stützte sich auf Schriften, in denen die Begrenzung als Befreiung gefeiert wurde. Sich enthalten, Nein sagen, die Begierden lenken, das alles bedeutet, etwas Größerem Raum zu geben und einen Platz zu schaffen, an dem es wachsen kann. Die Begierden sind gut, aber wenn sie als wilde Horde auftauchen, ist es klug, ein bisschen streng zu sein. Nicht selten strömt eine überraschende Freude in unser Leben, wenn eine Begierde auf ein freundliches Nein trifft. Es gibt so viel, was man nicht muss und noch nicht einmal braucht.

Ich denke an einen gestressten Geschäftsmann, der sich ein paar Tage frei nehmen wollte, um wegzufahren und sich auszuruhen. Er hatte gehört, man könne in einem nahegelegenen Kloster zu einem günstigen Preis unterkommen. Das Angebot fand er zwar etwas seltsam, wollte es aber testen. Gesagt, getan. Er rief an, erkundigte sich bei den Klosterbrüdern und wurde bald herzlich willkommen geheißen.

Im Kloster angekommen, zeigte man ihm das Gästehaus und den kahlen Raum, der ihm zugewiesen worden war. Der freundliche Mönch, der ihn begleitete, nannte die Essenszeiten und die Gebetszeiten und betonte, dass alles freiwillig sei. Dann wandte er sich zur Tür, um zu gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Übrigens: Wenn Sie noch irgendetwas brauchen, sagen Sie es uns! Dann zeigen wir Ihnen, wie man darauf verzichtet.«

Das Schaffen-Müssen sein lassen

Ich treffe immer mehr Menschen, die von sich behaupten, dass sie den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht genügen. Nicht als Eltern, nicht als Partner, weder zu Hause noch im Beruf. Und vor allem nicht gleichzeitig zu Hause und im Beruf. Wenn es an der einen Stelle funktioniert, dann ist an der anderen Not am Mann, und beim tiefen Ausatmen kommt der Seufzer: »Ich schaff’s einfach nicht.« Die Frage muss also heißen: Wer hat uns den Gedanken eingepflanzt, dass wir »es schaffen« müssen? Und wer hat überhaupt festgelegt und normiert, was »schaffen« und »genügen« heißt?

Neulich begegnete mir ein Text, der mir klargemacht hat, dass das Problem keineswegs neu ist, sondern sich bereits in einer Quelle beschrieben findet, die fast 3000 Jahre alt ist – im Buch des Propheten Jesaja. Der Prophet beschreibt das Gefühl, nicht zu genügen, so: »Das Bett ist zu kurz, um sich darin auszustrecken, die Decke zu knapp, um sich damit zuzudecken« (Jesaja 28, 19). Ein sehr sprechender Beweis dafür, dass der Mensch sich über die Jahrtausende wenig verändert und schon immer mit den eigenen Ansprüchen und denen der anderen herumgeschlagen hat.

Wer schon einmal versucht hat, trotz einer zu kurzen Bettdecke einzuschlafen, weiß, was der fröstelnde Prophet meinte. Wenn man es sich gemütlich macht und die Decke über die Schultern zieht, ragen die Zehen unbedeckt in die kalte Luft des Schlafzimmers. Wenn man sie bedeckt, friert man bis zur Brust.

Kann es sein, dass das eine menschliche Grundbefindlichkeit ist: Immer fehlt etwas? Und dass eine Idee dahintersteckt: dass wir uns nämlich zusammentun sollen, uns nicht mit den eigenen Ressourcen zufriedengeben und uns weigern, das Dasein auf die innerweltlichen Dinge zu begrenzen?

Wenn man erkennt, dass man es alleine nicht schafft, öffnet man sein Leben für die helfenden Kräfte, die verfügbar sind. Die Situationen, in denen mein Leben eine neue und unerwartete Wendung genommen hat, waren selten die, in denen ich mich zusammengerissen und es noch einmal versucht habe, sondern solche, in denen ich aufgehört habe, mich zusammenzureißen, die Zügel aus der Hand gegeben und Hilfe angenommen habe. Hilfe von Gott und von Menschen.

Es gibt ein Wort mit nur fünf Buchstaben, das diese Erfahrung beschreibt: Gnade. Gnade ist das, was die Decke verlängert, sodass man sich in seiner vollen Länge ausstrecken kann, ohne kalte Füße zu bekommen.

In der letzten Woche las ich über den Mathematiker und Physiker Blaise Pascal und wie er seine zentrale geistliche Erkenntnis in dem zusammenfasste, was seitdem Pascals »Mémorial« heißt: in einer Sammlung von Glaubenssätzen. Ich will mich nicht mit Pascal vergleichen, aber noch am selben Tag habe ich mich hingesetzt und »Sjödins Glaubenssätze« formuliert. Falls sie außer mir selbst auch jemand anderem von Nutzen sein sollten, würde mich das sehr freuen. Sie lauten wie folgt – und gelernt habe ich sie von meinen kranken Söhnen: Man muss nicht genügen. Es genügt, dass man da ist. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Bonus.

Wird das Jetzt überschätzt?

Man kann sich schon ein bisschen gestresst fühlen bei dem Gedanken, dass das Einzige, was zählt, unser Leben im Hier und Jetzt sein soll. »Man muss im Jetzt leben«, heißt es, und: »Carpe diem!«, oder: »Begegne dem Augenblick mit Achtsamkeit!«

Ist das nicht zu eindimensional? Wäre es nicht auch mal schön, im Dort und Damals zu leben? In den guten Erinnerungen und schönen Träumen? Das Jetzt hat seinen Wert, aber auch seine Grenzen. Warum findet sich niemand, der uns ermahnt, den morgigen Tag zu genießen?

Diese Gedanken kamen mir, als ich mich von meinem Navi nach Bor in Småland leiten ließ, um einen Vortrag zu halten. Ich landete in Bor, aber im falschen. Es gibt offenbar mindestens zwei. Jetzt wurde es knapp – keine gute Voraussetzung für einen Vortrag zum Thema Ruhe. Andererseits ist das Leben nun mal so, wie es ist: selten ideal. Ich kramte schnell unseren alten Autoatlas hervor, dummerweise ein völlig überholtes Exemplar. Bei jeder größeren Reise haben wir uns schon geschworen, einen neuen zu kaufen. Leider vergisst man so etwas natürlich – bis man wieder im Auto sitzt und zu einem Ort will, den man partout nicht findet.

Das Problem mit dem Autoatlas ist natürlich nicht, dass die Städte am falschen Ort lägen oder Wege fehlten, das Problem ist die Einteilung der Karten. Wenn man von A nach B will, muss man oft mehrfach umblättern, und während man noch die Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten hält, hat man sich schon verirrt. Am rechten Rand der einen Karte zeigt ein Pfeil, dass es auf einer anderen Karte, acht Seiten weiter hinten, sagen wir auf Seite 34, weitergeht, dort finden wir aber am oberen Ende einen neuen Pfeil, und so weiter. Zur Verteidigung unseres Autoatlasses muss ich allerdings sagen, dass er ein sehr handliches Format hat und wenig Platz wegnimmt. Das Problem ist nur, dass der Überblick fehlt.

Es fühlte sich deshalb wie eine Befreiung an, als ich neulich in der Rumpelkammer eine große, billige Karte fand, so eine, wie man sie früher an Tankstellen bekam. Wenn man sie öffnet, bedeckt sie Armatur, Lenkrad und Knie. Sie ist etwas monströs, aber sie bietet einen sehr guten Überblick.

Manchmal frage ich mich, ob der Grund für mein eigenes Irregehen und das unserer Zeit vielleicht darin liegt, dass wir immer nur einen Kartenausschnitt vor uns sehen. Dass wir das große Bild gegen das im Hosentaschenformat getauscht haben. Es hat seinen Preis: Sich zu orientieren, ist schwer bis unmöglich geworden. Schon immer hat der Mensch das Bedürfnis gehabt, nach dem Woher und dem Wohin zu fragen. Wer nur im Jetzt lebt, riskiert, sich in ihm zu verlieren. Und statt den Moment zu genießen, ist man an ihn gefesselt.

Ich glaube, dass wir die langen Linien brauchen, die unhandlichen Karten, die uns eine Perspektive ermöglichen. Solche »Karten« können natürlich ganz unterschiedlich aussehen. Für mich ist der Glaube dieses »größere Bild« geworden. Der Glaube, dass hinter unserem Leben ein Gedanke steht und dass es ein Ziel hat. Der Glaube, dass unser Gastspiel auf der Erde nicht das einer Eintagsfliege ist. Dass das Leben nicht nur vorübergehend, sondern auch ewig ist.

Nein, das Jetzt kann kaum überschätzt werden, aber ich glaube immer mehr, dass wir einen Zusammenhang brauchen. Es reicht nicht, den Tag zu nutzen und zu genießen. Es geht um das Leben. Und das ist eine Geschichte, die ein bisschen mehr Platz braucht.

Sagen, wie es ist

Je mehr Menschen ich kennenlerne, desto öfter denke ich: Wenn alle Leute ihre Probleme in durchsichtigen Plastikbehältern bei sich tragen würden, würde keiner tauschen wollen. Jeder hat seine eigene Kiste, und nur wenn man sehr großen Abstand hält, kann man sich der Illusion hingeben, es gäbe Menschen, die es einfach immer nur gut haben.

Die meisten Probleme tauchen in so gut wie jeder Lebensgeschichte auf. Jedenfalls sieht es mir ganz danach aus.

Wie viel wärmer und menschlicher könnte das Leben sein, wenn wir einander ein bisschen öfter wenigstens einen kurzen Blick in unsere Kiste gewähren würden, sie für einen Moment durchsichtig machen würden.

Auf die Gefahr hin, wie jemand dazustehen, der auch einfache Dinge gern verkompliziert: Ich behaupte, dass eine aufrichtige Antwort auf die Frage »Wie geht’s?« zu den schwierigsten Dingen gehört, die man sich vorstellen kann. Wir haben ein Dutzend Antworten auf Lager, Antworten, die nur dazu da sind, nicht zu sagen, wie es uns geht: »Danke, gut.« – »Man schlägt sich durch.« – »Alles in Butter.« – »Ich kann nicht klagen.« Und so weiter.

Warum sagen wir das?

Vielleicht ist es einfach unsere Art auszudrücken, dass wir die Frage jetzt nicht beantworten wollen, dass wir, um wirklich zu sagen, wie es uns geht, eine bestimmte Atmosphäre, genügend Zeit und einen sicheren Raum bräuchten; dass wir als Antwort auf diese Frage eine längere Geschichte erzählen müssten. Jetzt aufrichtig zu antworten, wäre einfach unpassend. Da sagen wir lieber, dass alles in Ordnung ist, wir gesund sind und keine Sorgen haben. Fertig. Es macht die Sache nun mal einfacher.

Der polnisch-amerikanische Rabbiner und Philosoph Abraham Joshua Heschel (1907–1972) hatte eine andere Art, seine Mitmenschen zu betrachten: »Ich beurteile Menschen danach, wie tief die Probleme sind, auf die sie sich einlassen«, sagte er und betonte gleichzeitig, dass nicht nur der Mensch Probleme hat, sondern dass auch Gott sich ständig mit Problemen herumschlägt. Dieser gemeinsame Kampf gehöre zum Leben und sei ein Punkt, an dem Mensch und Gott sich berühren. Ich finde diesen Gedanken unendlich tröstlich. Und hoffnungsvoll.

Die Grundlage aller Weltanschauungen ist ja die richtige Beschreibung des aktuellen Zustands. Erst wenn diese Beschreibung steht, kann man skizzieren, wohin man will und wie man dieses Ziel zu erreichen denkt. Aber man beginnt immer dort, wo man gerade steht. Und dieses Jetzt ist selten ideal. Wenn etwas die Chance bekommen soll, anders zu werden, beginnt man, auch wenn es paradox erscheint, also mit der Einsicht in den Ist-Zustand. Es wird schon dadurch ein bisschen besser, dass man sagen darf, dass die Dinge nicht gut sind. Das klingt verdreht, aber ich glaube, es ist wahr.

Wenn alle Leute ihre Probleme in durchsichtigen Plastikbehältern bei sich tragen würden, würde keiner tauschen wollen. Dennoch glaube ich allen Ernstes, dass all unsere Behältnisse dann ein klein bisschen leichter zu tragen wären. Dass ein Kilo, um mit dem Literaturnobelpreisträger Tranströmer zu sprechen, plötzlich nur noch 700 Gramm schwer wäre. Mehr nicht.

PS: Lange nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, habe ich erfahren, dass die Schriftstellerin und Kolumnistin Hillevi Wahl die Urheberin des Gedankens ist, dass jeder Mensch sein Leben in einer Plastiktüte mit sich trägt. Ich möchte ihr an dieser Stelle danken, nachträglich und von ganzem Herzen.

Ein gutes Wort

Fast jede Woche schreibe ich eine Traueransprache. Traueransprachen sind die heikelsten Texte, die man in meinem Beruf schreibt. Und ein Begräbnis gut zu gestalten, ist eine Aufgabe, die zu lernen man sein ganzes Leben braucht. Trauerreden gehören außerdem zu den Texten, die man nicht wiederverwenden kann. Einen Vortrag kann ich wiederholen, eine Predigt auch, eine Trauerrede nicht. Sie ist einmal gültig, danach nie mehr. Der Lebensweg jedes Menschen ist einzigartig, und es ist mir wichtig, dass diese Tatsache in allem, was ich sage, deutlich wird.

Andere mögen da anderer Auffassung sein, ich halte mich an dies: In den wenigen Minuten, die ich habe, will ich das zusammentragen, was für den Menschen, dessen irdisches Leben zu Ende gegangen ist, charakteristisch war. Das Bild, das ich zeichne, soll wahr und aufrichtig sein, dennoch konzentriere ich mich auf die guten Seiten und guten Erinnerungen: die Liebe und Fürsorge, die Eigenschaften des Verstorbenen, die seine Umgebung positiv geprägt haben, kurz: das, woran man sich erinnern möchte.