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Deutsche Erstausgabe (ePub) Mai 2018

Digitale Neuauflage (ePub) Mai 2021

 

Für die Originalausgabe:

© 2015 by Heidi Cullinan

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Carry the Ocean«

 

Published by Arrangement with Dreamspinner Press, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Lektorat: Susanne Scholze

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN-13 (Print): 978-3-95823-694-3

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

 


 

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Aus dem Englischen von Anne Sommerfeld


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Jeremy Samson hat seinen Schulabschluss in der Tasche und will jetzt nur noch eins: sich unter seiner Bettdecke verstecken, schlafen und nie wieder aufstehen. Und dann taucht plötzlich Emmet Washington in seinem Leben auf. Emmet ist hochintelligent, grundehrlich, sieht gut aus, hat Interesse an Jeremy – und ist Autist. Als sie sich näherkommen, droht Jeremy die Situation über den Kopf zu wachsen, denn Emmet scheut sich nicht, Probleme beim Namen zu nennen – und davon hat Jeremy mehr als genug. Seine Gefühle für Emmet gehen so tief wie nie etwas zuvor, doch kann Jeremy ihnen vertrauen?


 

 

Widmung

 

 

 

Für alle, die durch die Gewässer der

Superkräfte des Lebens navigieren,

möget ihr euch immer über Wasser halten

 


 

Danksagungen

 

 

Danke an Dan Cullinan, Saritza Hernandez und Maura Peglar fürs Beta-Lesen. Eure Hinweise, Kommentare und Vorschläge haben dieses Buch besser und authentischer gemacht. Danke auch an den Mad Spaz Club, vor allem Graham, für eure Ehrlichkeit, euren Humor und mehr Informationen, als ich mir je erträumt hätte.

Danke dir, Damien, wo immer du jetzt auch bist. Ich hoffe, dass du glücklich und voller Liebe bist und im Auto noch immer in den Rückspiegel singst. Mögest du noch immer mit Joe Jackson ausgehen und immer noch überrascht sein, dass du nicht gedacht hättest, einmal solche Liebe zu erfahren.

 


 

 

 

 

 

Wir alle hoffen, dass Ihnen die Show gefallen wird und immer dran denken, Freunde, egal wer ihr seid, was ihr tut, um zu leben, vorwärtszukommen und zu überleben, es gibt immer einige Dinge, die uns alle gleich machen.

 

—Elwood Blues, The Blues Brothers

 


 

Kapitel 1

 

 

Emmet

 

Ich brauchte zehn Monate, um Jeremey Samson kennenzulernen.

Ich sah Jeremey an dem Tag, an dem wir in unser Haus in Ames, Iowa, einzogen. Wir waren dorthin umgezogen, bevor ich mein Studium an der Iowa State University begann. Jeremeys Haus befand sich gegenüber, auf der Rückseite unseres Hauses hinter den Bahngleisen, wo eigentlich eine Gasse hätte sein müssen. Wenn ich mit meiner Tante Althea zu dem Bioladen am Ende der Straße ging, bat ich sie, den langen Weg zu gehen, damit ich mir die Hausnummer und das Kennzeichen des Autos in der Einfahrt einprägen konnte. Ich musste eine Weile im Internet suchen, bis ich seinen Nachnamen und schließlich auch seinen Vornamen herausfand. Jeremey Samson.

Allerdings sprach ich ihn nicht an. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Ich musterte ihn über den Garten hinweg. Ich entdeckte seinen Instagram-Account. Sein Internetauftritt war dezent. Einerseits war es eine kluge Entscheidung, andererseits erschwerte es jedoch, jemanden kennenzulernen, den man aus Schüchternheit nicht persönlich ansprechen konnte. Ich hätte mich ihm über die sozialen Medien vorgestellt, eine Nachricht geschickt und ihn erst einmal durch das Schreiben näher kennengelernt, doch er postete vielleicht ein Bild pro Monat und schrieb nie Kommentare.

Damals war er in der Oberstufe. Er hatte einen Freund namens Bart, was wahrscheinlich die Kurzform von Bartholomew war. Bart postete gern Selfies auf Instagram, auf denen er die Zunge herausstreckte. Ich folgte Barts Account, weil er manchmal auch Bilder von Jeremey machte.

Jeremey streckte seine Zunge allerdings nie heraus und sein Lächeln war immer schmal, wobei er die Lippen geschlossen hielt. Manchmal versuchte ich, eine logische Erklärung dafür zu finden, warum ich Jeremey so sehr mochte, aber romantische Gefühle hatten nichts mit Logik zu tun. Manchmal war es die Art, wie er seinen Namen schrieb, die ich an ihm am meisten mochte. Jeremey, mit einem zusätzlichen E. Ich hatte ein Computerprogramm geschrieben, um seinen Namen in einer hübschen Schriftart zu schreiben, und musste immer über das dritte E lächeln. Es machte ihn zu etwas Besonderem – gewöhnliche Jeremys waren nicht gut genug, um alle Es zu haben.

Manchmal mochte ich ihn wegen seines Lächelns. Manchmal mochte ich ihn, weil er nicht lächelte. Manchmal bekam ich eine Erektion wegen der Art, wie er sich die Haare aus dem Gesicht strich. Mein Gehirn interessierte es nicht, dass das seltsame Gründe waren, sich für jemanden zu interessieren. Mein Gehirn, mein Körper, alles an mir wollte mit Jeremey zusammen sein.

Ich wollte mich vorstellen, doch ich war zu nervös. Mein erstes Jahr auf dem College war eine Herausforderung und ich hatte nicht genug Kraft, um mit so vielen neuen Dingen umzugehen und zusätzlich eine Freundschaft zu schließen. Ich hoffte immer darauf, Jeremey auf der Straße oder in der Bibliothek zu begegnen, aber es passierte nie. Während das Schuljahr voranschritt, kam Jeremey immer seltener nach draußen und er postete immer weniger Bilder, sodass manchmal ein ganzer Monat ohne eine Aktivität verging. Im Mai feierte er eine Abschlussparty, aber es kamen nicht viele Leute, um mit ihm auf der Veranda zu sitzen. Als ich Jeremey sah, wirkte er traurig.

Ich wollte ihn kennenlernen und herausfinden, warum er traurig war und ihn vielleicht glücklich machen. Aber ich konnte nicht. Um ehrlich zu sein, war ich in Jeremey Samson verknallt. Ich wollte nicht einfach nur sein Freund sein. Ich wollte sein fester Freund sein.

Die meisten Menschen würden sagen: Gute Arbeit. Schnapp dir deinen Freund. Wenn ich in ein Online-Forum gehen würde, könnte ich jeden dazu bringen, mir die Daumen zu drücken. Die Leute störte es kaum noch, dass ich schwul war und in Ames interessierte es ohnehin niemanden.

Es gibt jedoch ein kleines Problem, etwas, das die Meinung der Leute über mich ändern würde. Es ist der Grund, warum ich so lange warten musste, um mich Jeremey vorzustellen, der Grund, warum ich meiner Familie nichts von meiner Schwärmerei erzählt habe. Dieses winzige Problem ist der Grund, warum mich ein Umzug nervös und das College zu einer Herausforderung gemacht hat. Obwohl ich haufenweise Freunde im Internet habe, gibt es eine Sache, die die Meinung der Leute über mich ändert, wenn sie mich persönlich treffen. Denn obwohl das Ich, das so schreibt, dasselbe Ich ist, das läuft und redet und mit dem Bus zum College fährt, würde es niemand glauben, der mich von Angesicht zu Angesicht sieht.

Mein Name ist Emmet David Washington. Ich bin neunzehn Jahre alt und Student im zweiten Studienjahr an der Iowa State University. Ich studiere Informatik und angewandte Physik. Ich hatte die Höchstpunktzahl in meinem Collegetest. Ich bin einen Meter und neunundsiebzig Zentimeter groß, habe dunkle Haare und blaugraue Augen. Ich mag Puzzles und die Blues Brothers. Ich kenne mich mit Computern aus und bin gut in Mathe. Ich kann mich an beinahe alles erinnern, was ich lese und sehe. Ich bin schwul. Ich mag Züge, Pizza und das Geräusch von Regen.

Außerdem habe ich eine Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS. Das ist nicht einmal annähernd die wichtigste Information über mich, aber sobald die Leute mich sehen, beobachten, wie ich gehe und mich reden hören, scheint es das Einzige zu sein, das zählt. Die Menschen behandeln mich anders. Sie tun so, als wäre ich dumm oder gefährlich. Sie sagen Spasti zu mir oder meinen, dass ich in ein Heim gehöre und damit meinen sie die Einrichtung, nicht das Haus, in dem ich wohne.

Wenn die Menschen herausfinden, dass ich Autist bin, sind sie der Meinung, dass ich mich nicht verlieben darf, nicht in Jeremey, nicht in sonst jemanden.

Was natürlich Mist ist. Es ist, wie Elwood Blues sagt: Everybody needs somebody to love. Ich bin ein Jeder. Ich bekomme einen Jemand.

Das Problem ist, dass es komplizierter ist, einen Jemand zu bekommen, wenn man Autismus hat. Wenn ich mich Jeremey vorstellen möchte, um herauszufinden, ob er mein Freund ‒ oder vielleicht mehr ‒ sein möchte, dürfte ich ihn nicht ignorieren oder zulassen, dass mein Autismus ein beunruhigendes Gefühl über eine mögliche Zurückweisung heraufbeschwört. Ich habe versucht mir einzureden, dass jemand mit einem so ruhigen Gesicht und schönen Lächeln keine gemeinen Dinge sagen oder mich beschimpfen würde. Ich nahm mir vor, mutig zu sein.

Ich brauchte zehn Monate, um mich Jeremey Samson vorzustellen. Zehn Monate, um die Anstandsregeln auswendig zu lernen und die richtigen Worte zu finden, um Jeremey mich zu zeigen, nicht meinen Autismus. Es brauchte viel Zeit und viel Arbeit, aber ich tat es.

Ich hätte mir nicht so viele Sorgen machen müssen. Offen gesagt, bin ich großartig und jeder, der dem nicht zustimmt, soll verschwinden.

 

Bevor ich erzähle, wie ich Jeremey kennenlernte und sein Freund wurde, muss ich erklären, wie mein Autismus funktioniert. Das Erste, was man über Autismus wissen muss, ist, dass es bei jedem Menschen anders ist und dass die Ärzte nicht alles über diese Erkrankung wissen. Manche Leute diskutieren sogar darüber, ob es überhaupt eine Erkrankung ist oder ob Erkrankung das richtige Wort ist. Meine Mom sagt, dass sich Erkrankung anhört, als würde etwas mit mir nicht stimmen, was allerdings nicht der Fall ist. Ich bin anders verkabelt, aber sie sagt, dass es bei jedem Menschen so ist, wenn man genau hinsieht.

Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass das Wort richtig ist. Das Wort Erkrankung bedeutet: Störung der normalen physischen und mentalen Funktionen. Ich verstehe, dass niemand wirklich normal ist, aber wie ich meiner Mom schon erklärt habe, weiche ich großzügig vom Mittelwert ab. Ich bin nicht nur ein wenig falsch verkabelt. Ich bin ziemlich falsch verkabelt.

Es ist schwer zu beschreiben, wie sich Gehirnaktivitäten eines Autisten von den Menschen mit einem Durchschnittsgehirn unterscheiden, da ich nicht weiß, wie sich ein Durchschnittsgehirn anfühlt. Die beste Zusammenfassung ist, dass ich sensibler bin als die meisten Menschen und ich meine damit nicht, dass meine Gefühle verletzt werden können. Meine Art von Sensibilität bedeutet, dass es sich anfühlt, als würde ein Spachtel über mein Gehirn kratzen, wenn ich die Naht meiner Strümpfe an meinem Zeh spüre. Die Luft eines Ventilators kann sich anfühlen, als würden zehn Millionen Ameisen über meine Haut krabbeln. Lärm stört mich nicht, aber von blinkenden Lichtern wird mir schlecht. Bei starken Gerüchen passiert dasselbe und die Konsistenz bestimmter Lebensmittel verursacht, dass ich mich übergeben muss.

Wenn ich Dinge betrachte, sehe ich sie besonders hell und jedes kleine Detail lenkt mich ab. Alle Geräusche sind lauter, sogar die Atmung. Oft überfordert es mich, zu lange unter Menschen zu sein, da Menschen eine ziemliche Reizüberflutung darstellen können. Das ist mein Problem in der Schule. Ich verstehe nicht, warum es nur mich ärgert, wenn die anderen Studenten in den Fluren schubsen oder zu laut mit durchdringenden Stimmen sprechen. Warum sollte das irgendjemand genießen? Wen würde es nicht ärgern?

Meine Tante Althea hat etwas, das man früher in ihrer Kindheit als schwaches Asperger bezeichnet hat, aber heute heißt Asperger auch Autismus. Wenn man über Autismus spricht, sagt man, dass sich jemand im Spektrum bewegt, als ob wir alle auf dieser Linie seien und verschiedene Arten von Autismus hätten. Größtenteils bin ich mit dieser Metapher einverstanden, soweit ich das Konzept einer Metapher verstehe. Althea kommt ziemlich gut zurecht. Die meisten Menschen wissen nicht, dass sie überhaupt autistisch ist. Sie kann Auto fahren, worauf ich sehr neidisch bin. Sie sagen, dass ich niemals fahren werde, egal wie oft ich das Iowa Driver’s Manual aus dem Gedächtnis aufschreibe.

Trotzdem wohnt Althea bei uns, weil sie schlecht in Mathe und organisatorischen Dingen ist und ich gut darin bin. Sie kann ihr Zimmer überhaupt nicht sauber halten. Mom und ich helfen ihr jeden Samstag, aber während der ersten Stunde kann ich nicht reingehen. Erst wenn Mom es weniger eklig gemacht hat, kann ich mitmachen. Althea kann sich viel einfacher mit jemandem unterhalten als ich, aber in Prüfungen schneidet sie schlecht ab und kann sich in den meisten Jobs nur schwer konzentrieren, was auch der Grund dafür ist, dass sie ständig die Arbeit wechselt. Derweil konzentriere ich mich zu sehr. Sie sehen also, dass man nicht einfach Autismus sagen kann und sofort weiß, was jemand ist. Genauso wenig, wie man Junge oder Mann sagen und dann denken kann, dass man jeden Typ kennt.

Althea sagt, dass ASS unsere Filter dünner macht als die anderer Menschen. Sie sagt, dass laute Stimmen und starke Gerüchte jedem zu schaffen machen, aber stärkere Filter bedeuten, dass Durchschnittsmenschen sie besser ignorieren können. Sie und ich können schlechte Reize auch ignorieren, aber es kostet viel Mühe.

Sie hat mir eine Website über eine Frau mit Lupus gezeigt, die über Löffel spricht, dass jeder eine bestimmte Anzahl von Löffeln für jeden Tag bekommt, aber dass Menschen mit einer starken körperlichen oder mentalen Behinderung mehr Löffel brauchen, um durch den Tag zu kommen. Ich verstehe nicht, was Löffel damit zu tun haben, aber ich weiß, dass mich Stimuli schneller erschöpfen als andere Menschen.

Ich hab die Website Aber du siehst nicht krank aus sieben Mal gelesen, aber ich verstehe immer noch nicht, warum der Freund über Besteck weint. Althea sagt, dass es daran liegt, dass mein Gehirn Metaphern nicht versteht. Metaphern sind stellvertretende Geschichten, um etwas zu erklären, anstatt eine wortwörtliche Antwort zu geben. Mein Gehirn ist so wortwörtlich, wie ein Gehirn nur sein kann.

Es gibt jedoch auch einige lustige Aspekte meiner Erkrankung. Zum Beispiel erinnere ich mich an alles, was ich sehe. Mein Gehirn ist wie eine Kamera und wenn ich etwas sehe, vor allem eine Zahl, kann ich sie niemals wieder vergessen. Meine Mom bittet mich immer, Dinge für sie wiederzufinden und es gelingt mir, nicht weil ich ein Zauberer bin, sondern weil mein Gehirn erstaunlich ist. Wenn ich sehe, wie sie etwas hinlegt, weiß ich genau, wo es ist, es sei denn, jemand bewegt es, ohne dass ich es sehe. Ich kann mir Rezepte, Telefonnummern, Kennzeichen und mathematische Formeln merken. Ich kann mir fünfzig Zeilen eines Computercodes nach einmaligem Lesen einprägen. Ich verstehe Mathe sehr gut und was ich nicht weiß, lerne ich schnell.

Meine Augen sehen auch anders. Neben der Tatsache, dass ich alles auf einmal sehe, sagt meine Mom, dass ich Einzelheiten wie Struktur und Farbe deutlicher wahrnehme. Das bedeutet, dass ich manchmal Dinge oder Kunst wunderschön finde, die andere für hässlich halten, und manchmal ist das Schöne für Durchschnittsmenschen für mich hässlich.

Menschen sind allerdings kniffliger als Zahlen oder mich daran zu erinnern, wo Moms Schlüssel sind. Ich kann Menschen überhaupt nicht verstehen. Nicht ihre Gefühle, nicht, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten, oder was sie möglicherweise als Nächstes tun werden. Manchmal macht es mich traurig, weil ich mich in meinem Kopf mit jedem unterhalten kann und sie mich jedes Mal verstehen. Es ist in Ordnung, Autismussuperkräfte zu haben, aber die meiste Zeit bedeutet es, dass ich einsam bin.

Ich gebe mir Mühe, mit Menschen in Kontakt zu treten, und für mich ist es in Ordnung, wenn es online oder über Nachrichten ist, aber wenn ich meinen Mund benutzen muss, geht alles den Bach runter. Es sind nicht nur die Wörter allein. Ich berühre zur falschen Zeit und berühre auf der anderen Seite nicht, wenn jemand es möchte. Ich sage und tue Dinge, die die Menschen wütend machen. Sehr wütend. Das Schlimmste ist allerdings, dass zwar niemand so gut mit Mathe und Computern umgehen kann wie ich, dafür aber jeder mit Menschen klarkommt – außer mir. Es ist egal, wie groß das mathematische Problem ist, das ich löse, oder wie viele Zeilen eines Codes ich repariere. Wenn ich das Falsche zu einer Person sage, hassen sie mich für gewöhnlich für immer. Menschen sind wichtiger als Zahlen oder die Tatsache, dass ich Farben schärfer sehe oder dass ich mich an jede Zutat unserer Thanksgiving-Essen der letzten zehn Jahre erinnern kann. Und Menschen sind für mich das Schwerste auf der Welt.

Ich wollte nicht, dass Jeremey Samson mich hasst, aber die Statistik stand nicht zu meinen Gunsten. Erst einmal musste er überhaupt schwul sein, um mein fester Freund zu werden. Die Daten waren nicht eindeutig, aber schätzungsweise sind zwei bis fünf Prozent der amerikanischen Männer homosexuell. Unter normalen Umständen ist gegenseitige Anziehung nicht als möglicher Prozentsatz zu messen, aber ich brauchte keine Feldstudie, um zu wissen, dass mein Autismus nicht hilfreich war, selbst wenn ich den Rest entgegen aller Wahrscheinlichkeit schaffte.

Ich wollte Jeremey ansprechen, aber zuerst musste ich meine Aussichten auf eine positive Interaktion verbessern. Es war nicht so, dass ich einfach aufhören konnte, autistisch zu sein – aber ich konnte darüber bestimmen, mich in einer vorteilhaften Umgebung vorzustellen. Ich hatte eine tiefgründige Recherche bezüglich Dating-Tipps betrieben, was nicht so einfach war, da ich diese Art der Berichte nicht immer gut beurteilen konnte. Ich hatte Glück und fand ein paar Foren, in denen andere autistische Menschen von ihren gelungenen Dates berichteten, und sie boten mir Hilfe an. Ich maß ihren Beitrag an den Ratschlägen des gesamten Internets. Ich widmete mich dem Projekt, Jeremey Samson um ein Date zu bitten, mit demselben Fleiß, den ich auch bei meinen Physikhausaufgaben oder meinen Programmierprojekten an den Tag legte.

Das Problem war, dass ich jedes Mal meine Recherche vergaß, wenn ich ihn ansah. Ich konnte nur noch daran denken, wie sehr ich ihn mochte und wie sehr ich wollte, dass er mich auch mochte.

Das Angenehme an meinem Autismus war, dass ich Jeremey ansehen konnte, ohne dass er etwas davon wusste. Eine Sache, die Durchschnittsmenschen an autistischen Menschen stört, ist, dass wir den Leuten oft nicht in die Augen sehen, wenn wir mit ihnen sprechen. Ich kann nicht für jeden Autisten sprechen, aber die Sache ist, dass ich jemanden nicht direkt ansehen muss, um ihn zu sehen. Direkter Augenkontakt ist viel zu laut und intensiv und es fühlt sich falsch an, auch wenn Mom und Dad und meine Tante sagen, dass es unhöflich ist, jemandem nicht in die Augen zu sehen.

Wenn ich Jeremey beobachtete, war mein Autismus eine Superkraft. Ich konnte stundenlang auf der Veranda sitzen und verfolgen, wie er sich in seinem Garten bewegte. Niemand wusste, was ich tat.

Meine Familie wusste nicht, dass ich Jeremey beobachtete, weil sie dachten, dass ich auf einen Zug wartete. Ich liebte es, dass wir Bahngleise in unserem Garten hatten, und ich konnte am besten entspannen, wenn ich die vorbeiziehenden Waggons zählte. Wenn es regnete und ein Zug vorbeifuhr, war ich praktisch im Himmel. Ich zählte nicht nur die Züge. Ich schrieb die Nummern der Waggons und Maschinen auf, versuchte Muster in der Anordnung zu finden und überprüfte, wie viele Waggons wann und in welche Richtung vorbeifuhren.

Ich beobachtete die Züge. Aber ich beobachtete auch Jeremey.

Ich sah ihn nicht oft draußen, aber ich war immer sehr aufmerksam, wenn er auftauchte. Er bewegte sich behutsam und vorsichtig, sodass ich glaubte, dass er ebenfalls empfindlich war. Er lächelte nicht viel, aber sein Gesicht war ruhig und entspannt, wie bei meinem Dad. Manchmal wirkte er traurig, aber das konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, weil ich zu weit weg war. Er erledigte Dinge für seinen Dad – kümmerte sich um den Garten, mähte den Rasen, düngte die Pflanzen. Manchmal saß er mit seiner Mutter draußen und einmal sogar mit seiner Schwester, als sie zu Besuch war. Bart kam hin und wieder vorbei, aber nicht häufig. Meistens saß er allein draußen.

Ich habe Jeremey nirgendwo anders als in seinem Garten gesehen und er war noch immer nirgendwo online, wo ich eine Unterhaltung in Gang bringen konnte. Wenn ich ihn treffen wollte, würde ich den ersten Schritt machen müssen – und zwar persönlich. Ich würde mutig sein und auf meine Chance warten müssen.

Sie kam Anfang Juni, bei einem Straßenfest.

Ich wollte nicht zu dieser Party gehen. Es würden viele Menschen und schreiende Kinder dort sein, aber Mom sagte, dass es gut wäre, mit unseren Nachbarn zusammen zu sein. Normalerweise hätte ich mit ihr diskutiert und ihr gesagt, wo sie sich ihr Straßenfest hinstecken konnte, doch dann las ich den Flyer und stellte fest, dass der Name irreführend war. Mehr als eine Straße würde an dieser Feier teilnehmen. Eine Straßenparty.

Auch Jeremeys Straße.

Natürlich würde er teilnehmen müssen, damit ich ihn kennenlernen konnte, aber dieses Risiko war er mir wert. Am Abend vorher übte ich alle Gesichtsausdrücke auf meinen Schaubildern und arbeitete mich durch meine Karteikarten mit der angemessenen Wie man einen Freund kennenlernt-Unterhaltung. Als ich mich am nächsten Morgen anzog, gab ich mir besondere Mühe, damit mein Shirt auch hübsch aussah und meine Haare gekämmt waren. Ich bin nicht immer gut darin, aber als ich nach unten kam, lächelte Althea mich an und sagte mir, dass ich gut aussah.

Ich saß auf der vorderen Veranda im Schaukelstuhl und wartete eine Stunde darauf, dass die Party begann. Als meine Familie die Gartenstühle und vorbereiteten Speisen zusammenpackte, trug ich eine Tüte Kartoffelchips und lief summend hinter ihnen her.

Mom beobachtete mich. »Bist du wegen irgendetwas aufgeregt, Emmet?«

Ich war aufgeregt, aber ich wollte ihr nichts von Jeremey erzählen. »Ich will nicht mit dir reden.«

Sie sah mich weiter an und ihr Gesichtsausdruck bedeutete, dass sie weitere Fragen stellen würde, also bedeckte ich das Ohr, dass ihr am nächsten war, mit meiner Hand.

Seufzend drehte sie sich um und fragte nicht. Was gut war. Wir hatten den Picknickplatz fast erreicht und ich wollte sehen, ob Jeremey gekommen war.

Als ich seine Eltern sah, schlug mein Herz seltsam. Mrs. Samson lachte über etwas, was jemand gesagt hatte, trat an den Tisch heran und griff nach einer Schüssel. Mein Puls beschleunigte sich und ich fühlte mich schwindlig. Das war Adrenalin und die Hormone meines Körpers wirbelten in einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf, was sehr nervig war. Ich brauchte jetzt Konzentration, kein chemisches Durcheinander.

Aber ich wusste, warum sich mein Körper unlogisch verhielt, warum er all meine Pläne missachtete und mein Supherhelden-Gehirn in Super-Wackelpudding verwandelte. An der Stelle, an der seine Mutter verschwunden war, unter einem Baum, den blonden Schopf gesenkt, während er auf den Boden sah, stand Jeremey.


 

Kapitel 2

 

 

Jeremey

 

Wenn du ein unsichtbares Leiden hast, ist die Krankheit nicht dein größtes Problem. Das, wogegen du jeden Tag kämpfst, mehr als alles andere, sind andere Menschen.

Es dauerte sehr lange, bis ich das verstanden hatte, denn um ehrlich zu sein, wusste ich jahrelang nicht, dass ich krank war. Wenn ich zurückblicke, litt ich seit der Mittelschule an Depressionen und die Angst hatte in der Highschool angefangen. Oder vielleicht waren sie die ganze Zeit miteinander vermischt gewesen und ich hatte diese Gefühle erst damals im Einzelnen bemerkt. Das ist das Problem mit Depressionen und Angstzuständen. Sie finden vollständig in deinem Kopf statt. Menschen, die weder Depressionen noch Angstzustände haben, glauben deshalb, dass man negative Gefühle einfach ausradieren kann, sobald man sie bemerkt. Für diejenigen, die mit Problemen ihrer geistigen Gesundheit leben müssen, bedeutet es jedoch, dass sich deine Dämonen keinen Tag freinehmen.

In den ersten Monaten nach meinem Abschluss war ich nicht in der Lage, so deutlich darüber nachzudenken, was mit meinem Gehirn passierte und was es möglicherweise schlimmer machen konnte. Lange Zeit konnte ich meinen Zustand nicht benennen und als ich es schließlich konnte, fühlte es sich falsch an und ich schämte mich. Zu diesem Zeitpunkt überlebte ich größtenteils einfach nur, und das nicht gut. Menschen haben mich immer in Angst versetzt, selbst wenn sie mich nicht wahrnahmen.

In der siebten Klasse hat es einige Hänseleien gegeben, die ihren Höhepunkt erreichten, als mich einige der Jungs in der Umkleide ausgelacht und gedroht haben, mich nackt in den Gang zu schubsen, damit die Mädchen ebenfalls über mich lachen konnten. Seitdem hatte ich vor dem Sportunterricht immer Bauchschmerzen bekommen. Die Schulkrankenschwester dachte, dass ich es nur vortäusche, also hatte ich mich auch übergeben, als ich mich beschwert hatte. Letztendlich habe ich zurückgehen müssen, aber ich wurde gut darin, mich auf der Toilette zu verstecken, bis alle anderen rausgegangen waren. Ich glaube, dass der Lehrer bemerkt hat, was vor sich ging, da er mich nie zur Rede stellte, wenn ich zu spät kam.

Auf diese Weise wurde ich mit der Schule fertig. Menschen waren gefährlich und normalerweise gemein, also mied ich sie. Ich hatte einen Freund, irgendwie, aber ich glaube, dass ich für Bart eher eine Art Zubehör als ein wirklicher Kumpel war. Er ließ mich immerhin recht schnell fallen, als mich die Depression immer mehr vereinnahmte, was während meines gesamten Abschlussjahres der Fall war. Er war der Einzige, der davon wusste, bis ich im Mai während eines Vortrags im Sozialkundeunterricht zusammenbrach.

Das brachte mir einen Besuch beim Familienarzt ein, der bei mir eine depressive Erkrankung diagnostizierte. Irgendwie spuckte er die Diagnose aus, als hätte ich nur eine Erkältung, und ich hatte das Gefühl, dass er mir einen Stempel aufdrückte und mir nur ein paar Pillen verschrieb, anstatt wirklich Hilfe anzubieten. Die Tabletten wirkten nicht gegen die Angstzustände, aber ich wollte nicht noch einen Stempel aufgedrückt bekommen. Ich genierte und schämte mich, und als meine Mom wütend wurde und ihm sagte, dass er keine Ahnung hatte, wovon er redete, widersprach ich nicht. Größtenteils war ich einfach nur dankbar, dass mir erlaubt wurde, den Rest des Schuljahres von zu Hause aus zu beenden. Ich musste nicht einmal zur Abschlussfeier gehen.

Zu dieser Zeit hörte sich das alles super an, als hätte ich eine Freikarte aus dem Gefängnis bekommen, aber die Wahrheit war, dass ich nun ständig gegen meine Mutter kämpfte.

Sie hasste es, dass ich mich von der Welt zurückzog und machte es sich zur Aufgabe, mich mit dem Gesicht voran wieder hineinzustoßen. Obwohl ich seit meiner Konfirmation die Kirche schwänzen durfte, zerrte sie mich jeden Sonntag an den Haaren wieder hinein. Wenn ich schon davon spreche, gegen andere Menschen zu kämpfen – nach jeder Messe kam ein ganzer Schwall von Moms Freunden auf mich zu, lächelte mich übereifrig an und fragte mich, wo ich im Herbst studieren und ob ich mit jemandem ausgehen würde. Wenn ich schlecht auf diese Überfälle reagierte und eine Panikattacke bekam, schimpfte Mom mit mir und Dad sah mich finster an. Hätte ich gewusst, dass mein Zusammenbruch im Unterricht dazu führen würde, hätte ich mich stärker darum bemüht, wie immer erst in der Pause in der Toilettenkabine den Verstand zu verlieren.

Das Straßenfest war eine weitere Gelegenheit für meine Mutter, mich dazu zu zwingen, normal zu sein – und eine Gelegenheit für mich, um zu versagen.

Drei Tage vorher hatte sie mir den Flyer gezeigt und gesagt: »Wir sollten hingehen. Es wäre gut, wenn wir ein paar unserer Nachbarn kennenlernen. So viele junge Paare sind hergezogen.« Ich hatte nicht nein gesagt, was als Zustimmung hätte zählen müssen. Ich ließ zu, dass sie mich zum Einkaufen schleppte, obwohl ich im Supermarkt immer eine Panikattacke bekam. Am Tag der Feier stellte ich mich nicht krank, aber ich weinte in der Dusche, als ich von den rechtsorientierten Programmen, die mein Vater in Radio und Fernseher gleichzeitig verfolgte, überwältigt wurde.

Aber einfach nur anwesend zu sein, reichte meiner Mom nicht. »Hilf mir, den Salat zu machen, Jeremey«, »Geh für mich zum Laden, Jeremey«, »Hilf den Gastgeberinnen beim Aufbauen, Jeremey«. Natürlich versaute ich alles – ich konnte beim Supermarkt nicht aus dem Auto steigen, sodass Dad an meiner Stelle hatte gehen müssen.

Sie ging mit mir zum Picknickplatz, um beim Aufbauen zu helfen, wobei sie mich mit dem Ellbogen anstieß und mir zuflüsterte, dass ich nicht so nervös sein sollte. Als die unzähligen Befehle und die Geräusche der lauten Frauen drei Häuser weiter zu viel wurden, bemerkte eine der Gastgeberinnen, dass ich mich nicht gut fühlte, und bat mich, mich auszuruhen. »Wir schaffen den Rest auch ohne dich, mach dir keine Sorgen.«

Mom machte sich keine Sorgen, aber sie war wütend. Ihrem Empfinden nach hatte ich sie durch mein Verhalten in der Öffentlichkeit blamiert.

Mom wollte einen klugen, lächelnden, charmanten Sohn. Sie wollte, dass ich eine andere Antwort auf die Frage hatte, die alle immer wieder stellten – Wo wirst du diesen Herbst studieren? Sie wollte, dass ich log, der Frage auswich oder besser noch, auf magische Weise nicht mehr so depressiv und erschöpft war. Und normalerweise wollte ich nur zurück in mein Bett, anstatt ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Zu sagen, Ich habe mir noch kein College ausgesucht, war meiner Meinung nach ein Kompromiss, denn wir alle wussten, dass ich es nirgendwo schaffen würde, aber das war nicht der Sohn, den meine Mutter wollte.

Ich war nicht der Sohn, den meine Mutter wollte.

Ich lächelte nicht, ich flirtete nicht und ich konnte auch nicht voraussehen, was die Gastgeberinnen brauchten. Ich hockte mich hin, wandte den Blick ab und ließ die Auflaufformen fallen. Jedes Mal, wenn jemand zu laut lachte, zuckte ich zusammen. All die Unterhaltungen aus so vielen Richtungen lösten Panik in mir aus, also tat ich mein Bestes, um alles um mich herum auszublenden – was bedeutete, dass ich nicht antwortete, wenn mir jemand eine Frage stellte.

Die Gastgeberinnen und die anderen Partygäste klopften mir auf die Schultern und neckten mich damit, dass ich nur zu gestresst vom wilden Teenagerleben sei, aber mein Dad zog die Brauen zusammen und meine Mom presste die Lippen aufeinander, sodass ich wusste, dass ich später in Schwierigkeiten stecken würde. Ich hatte kein wildes Teenagerleben. Ich war am Abend zuvor nicht zu lange weg gewesen. Das war ich nie. Ich war nicht schüchtern, weil auf der Party auch Mädchen in meinem Alter waren. Das war ein ganz anderes Problem, eins, von dem meine Eltern noch nichts wussten.

Es war nicht so, dass ich es nicht versuchte. Ich ging zu diesem schrecklichen Straßenfest und gab mich so normal, wie ich nur konnte. Natürlich war es nicht genug. Meine Eltern würden mir niemals zuhören. Ich konnte die Zukunft schon vor mir sehen und es war beängstigend und dunkel und lähmend, mir vorzustellen, in einem fremden Studentenwohnheim in einer unbekannten Stadt zu sein, wo mich alle nur auslachen oder unbehaglich das Gesicht verziehen würden, wenn sie mich fragten, was mein Problem sei. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es nicht für alle das Beste wäre, wenn ich nicht mehr da war.

Ich versuchte gerade, mich zu beruhigen, indem ich mir einen Plan zurechtlegte, wie ich dafür sorgen konnte, dass alles aufhörte, als der Junge zu mir kam.

Ich hatte gesehen, wie er mit seinen Eltern gekommen war, aber ich hatte ihm gerade genug Aufmerksamkeit geschenkt, um festzustellen, dass er mich weder hänseln noch für Unbehagen sorgen würde, ehe ich ihn schon wieder abgeschrieben hatte. Mir war undeutlich bewusst, dass er anders war, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte, aber sonst hatte ich nicht viele Gedanken an ihn verschwendet, sondern ihn in den Nebel meiner Wahrnehmung mit allen anderen Gästen geschoben. Außer dass er plötzlich auf mich zukam, mit der deutlichen Absicht, eine Unterhaltung anzuregen.

Das Seltsame war, dass er mich nicht ansah. Er sah in meine Nähe, aber er sah mich nicht an und lächelte. Er blieb vor mir stehen und drückte seine Füße fest auf den Boden. Während er sich leicht zur Seite neigte, ballte er die Hände in einem seltsamen Winkel vor sich zur Faust, starrte die Luft neben mir an und begann zu sprechen.

»Hallo. Ich möchte mich gern vorstellen. Mein Name ist Emmet Washington. Wie geht es dir?«

Ich blinzelte ihn an und verstand nicht wirklich. Ich meine, ich verstand schon, was er sagte, aber die Art, wie er es gesagt hatte, war so seltsam. Er klang leicht roboterhaft, die Worte ohne Punkt und Komma und seine Betonungen lagen immer auf der falschen Stelle. Selbst die Frage war komisch – er hob am Ende die Stimme, als wäre ihm bewusst, dass er das bei einer Frage tun musste, aber irgendwie war es die falsche Art von Hebung.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, flüsterte die panische Stimme in meinem Kopf. Ich zog mich zurück, hob die Schultern und sackte in mich zusammen.

Emmet sprach weiter und ich begann mich zu fragen, ob neben mir ein Teleprompter stand, von dem er ablas, denn seine Worte klangen wie auswendig gelernt. »Es ist ein wunderschöner Tag für ein Picknick, nicht wahr? Nicht zu heiß und nicht zu windig.«

Ich musste etwas sagen. Es war offensichtlich, dass ich nun an der Reihe war, aber ich war so verwirrt. Warum redete er mit mir? Was sollte ich sagen?

Er ist einfach nur höflich. Vielleicht hat ihn seine Mom auch gezwungen, zum Picknick zu gehen und ihm gesagt, dass er sich unter die Leute mischen soll. Der Gedanke ließ mich ein wenig entspannen. Offensichtlich hatte Emmet eine Behinderung. Würde es mir schaden, nett zu ihm zu sein?

»H-hi.« Ich errötete, beschämt über meine eigene Ungeschicklichkeit. Wer ist jetzt behindert, Idiot?

Falls Emmet mich für einen Trottel halten sollte, ließ er sich nichts anmerken. Er wartete geduldig, wippte sanft auf seinen Fersen und starrte auf die Stelle neben meinem Kopf. Seine Haltung war so merkwürdig. Seine Schultern waren zu hoch und seine Hände waren vor seinem Körper verdreht. Manchmal bewegte er sie, aber nur ganz kurz, dann erstarrten sie wieder.

Er war süß. Seine Haare waren hellbraun und etwas zu lang, sodass sie sein Gesicht umspielten, als wäre er in einer Boyband. Seine Augen waren blassblau mit unzähligen, feinen Linien darin, als hätte man einen zerbrochenen Kristall wieder zusammengesetzt.

»Du musst dich jetzt auch vorstellen«, sagte Emmet schließlich.

»'tsch-'tschuldigung.« Ich wollte meine Hand ausstrecken, zog sie aber zurück, weil ich nicht mutig genug war. Stattdessen schob ich die Hände unter meine Arme. »Ich… ich bin Jeremey.«

»Es ist eine Freude, dich kennenzulernen, Jeremey.« Er wartete einen Herzschlag lang und ich fragte mich, ob er die Sekunden zählte, als wüsste er, dass er innehalten muss. »Ich bin Student im zweiten Studienjahr an der Iowa State University. Ich studiere angewandte Physik und Informatik. Was ich gerne mache, sind Puzzles, Spiele und Spaziergänge.« Eine weitere Pause folgte, die ebenso wohlüberlegt war wie die erste. »Was ist mit dir?«

Ich war durcheinander, hin- und hergerissen zwischen Unbehagen angesichts seines Unwillens, einfach zu gehen, und Erstaunen darüber, was er mir gerade erzählt hatte. »Du… du gehst aufs College?« Und er studierte angewandte Physik?

Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mit meiner Vermutung, dass er eine Behinderung hatte, richtiglag. Wodurch ich mich schuldig und beschämt fühlte und die Panik am Rande meines Bewusstseins immer näher kroch.

Emmet fuhr fort, als würde ich innerlich nicht gerade den Verstand verlieren. »Ich gehe aufs College. Wir sind letzten Herbst hierhergezogen, damit ich zur Schule gehen kann. Für mich ist es keine gute Idee, in einem Studentenwohnheim oder allein zu wohnen, und Mom sagt, dass es sowieso Zeit für eine Veränderung war. Mein Dad arbeitet als Forschungsspezialist bei ConAgra. Meine Mom ist Allgemeinärztin und arbeitet Teilzeit in der Ames Medical Clinic. Meine Tante Althea arbeitet im West Street Deli und ist Aktivistin. Ich möchte entweder Programmierer oder Physiker werden. Ich hab mich noch nicht entschieden.« Pause. »Was machst du, Jeremey? Gehst du aufs College?«

Physiker. Ich schluckte schwer und war verwirrt und verloren und fühlte mich unzulänglich. »N-nein. Ich… hab im Mai meinen Abschluss gemacht. H-highschool.«

»Planst du, aufs College zu gehen?«

Es war nett, dass er nicht davon ausging, ich würde aufs College gehen, aber die Beschämung über ein Nein, dass ich vor einem College so weit wie möglich davonlaufen würde, war noch immer zu viel. »Ich… will nicht. Aber meine Eltern…« Ich sah mich kurz um, um sicherzugehen, dass Mom und Dad nicht zuhörten. »Sie zwingen mich, auf die University of Iowa zu gehen.«

Emmet runzelte die Stirn und sein Wippen wurde stärker. »Das ist schade. Sie sollten dich auf die Iowa State gehen lassen. Das ist eine gute Schule und sie ist genau hier in Ames.«

Es war lustig – ich hatte mich sofort in einer Abwärtsspirale aus Schuld befunden, weil ich schlecht über meine Eltern gesprochen hatte, aber Emmet hatte einfach darüber hinweggesehen. Es regte mich an, noch mehr zuzugeben. »Ich möchte überhaupt nicht aufs College gehen.«

Sein Blick wandte sie nie von der Stelle neben meinem Ohr ab. »Was möchtest du tun?«

»Ich weiß es nicht.« Es war zu viel, ihn weiter anzusehen – es überforderte mich –, also starrte ich auf den Boden vor mich. »Ich möchte mich ausruhen. Das letzte Jahr war schwierig, vor allem der letzte Monat. Aber ich schätze, das richtige Leben funktioniert so nicht.«

»Was war schwierig?«

Für eine kurze Weile war es in Ordnung gewesen, mit Emmet zu reden, fast schon angenehm, aber jetzt wollte ich aufhören. Ich suchte nach einem Weg, aus dieser Unterhaltung verschwinden zu können.

Emmet hörte auf zu wippen. »Es tut mir leid. Ich glaube, meinetwegen fühlst du dich unwohl. War das eine schlechte Frage?«

Überrascht sah ich zu ihm auf. Jetzt wippte er offenkundig. Er war bestürzt. Ich musste dafür sorgen, dass er sich nicht schlecht fühlte. »Es war keine schlechte Frage. Ich bin… ein ziemliches Fiasko.«

»Du hast in letzter Zeit traurig gewirkt, wenn ich dich in deinem Garten gesehen habe.«

Whoa. »Du… hast mich im Garten gesehen?«

»Ja. Du wohnst hinter den Bahngleisen, gegenüber von mir. Ich hab gesehen, wie du auf der Veranda gesessen oder im Garten gearbeitet hast. Manchmal hast du traurig gewirkt.«

Wahrscheinlich erschien ich ziemlich häufig traurig im Garten – es war der Ort, an den ich ging, wenn ich vor meinen Eltern flüchten musste. Der Gedanke, dass die Nachbarn mich beobachtet hatten, machte mich wahnsinnig und schon wieder schämte ich mich. »Es… es tut mir leid.«

»Warum tut es dir leid, traurig zu sein?«

Diese Unterhaltung musste aufhören. »Ich… weiß es nicht.«

»Jetzt fühlst du dich wieder unwohl.«

Ja, das tat ich. Außerdem fing ich an, zu schnell zu atmen und ich spürte, wie mein Herz so schnell schlug, als wollte es aus meinem Brustkorb springen. Ich schloss die Augen. Oh Gott, ich würde hier auf dem Picknick eine Panikattacke bekommen. Meine Mutter würde mir niemals verzeihen. »Ich… ich muss… gehen.« Ich sah mich um und stellte fest, wie viele Menschen gekommen waren und wie nah sie mir waren. Meine Atmung wurde flacher und flacher und ich wollte in Tränen ausbrechen. »Ich kann hier nicht weg. Ich bin gefangen. Sie werden so wütend sein.«

»Erlaubst du, dass ich dir helfe?«

Ich blinzelte Emmet an, da ich zuerst nicht verstand, was er gesagt hatte. Noch immer sah er mich nicht an, aber er hatte die Hand ausgestreckt und aufgehört, auf den Fersen zu wippen. Er wartete.

Ich legte meine Hand in seine. Ich wusste nicht warum, aber ich ließ mich von ihm wegführen, weg vom Baum, weg vom Picknick. Er führte mich um einige Mülltonnen am Haus herum, platzierte mich auf einer Bank und setzte sich neben mich. Anschließend ließ er meine Hand los und genügend Platz zwischen uns. Er sagte nichts, sondern saß einfach nur bei mir, während ich tief durchatmete und mich wieder beruhigte.

»Da-danke«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte.

Er setzte sich aufrecht hin und richtete seinen Blick auf meine Knie. »Es tut mir leid, falls ich etwas Falsches gesagt habe. Ich hab geübt, aber es ist schwer, jemanden kennenzulernen.«

»Du… hast geübt?«

»Ja. Ich wollte dich schon sehr lange kennenlernen.«

»Du… wolltest mich kennenlernen?« Schon sehr lange?

»Ja.« Er wippte auf seinem Platz und sein Blick wanderte zu einem der Bäume. »Ich wollte einen guten ersten Eindruck machen, aber ich habe eine Panikattacke ausgelöst. Es tut mir leid.«

Scham überfiel mich, heftig und unangenehm. »Das hast du nicht. Ich bin… ein Fiasko. Ich hab mich geschämt zuzugeben, dass ich nicht aufs College will.«

»Es ist eine große Veränderung. Du solltest deinen Eltern sagen, dass du dich etwas langsamer bewegen musst.«

Mein bitteres Lachen blieb mir beinahe im Halse stecken. »Meine Eltern sagen, dass ich darüber hinwegkommen muss.«

»Es tut mir leid. So etwas zu sagen, ist gemein.«

Ich weiß nicht, warum ich es tat. Selbst als sich die Worte auf meinen Lippen formten, versuchte ein Teil meines Gehirns, mir den Mund zu verbieten, aber Emmet vermischte all meine Erwartungen und Mutmaßungen und offensichtlich sorgte das für einen Kurzschluss in meinen Synapsen. Anstatt eine Entschuldigung für meine Eltern zu finden, anstatt zu murmeln Ja, wem sagst du das, oder irgendetwas in der Art, sagte ich: »Ich habe Depressionen.«

»Oh. Meinst du SDS, eine schwere depressive Störung? Also eine klinische Depression?«

Ich nickte zutiefst beschämt. »Ich… hatte in der Schule einen Zusammenbruch. Während der letzten zwei Wochen hab ich nicht mehr am Unterricht teilgenommen. Ich hab meinen Abschluss, aber da ich nicht bei der Abschlussfeier war, bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es wirklich passiert ist. Ich stecke noch immer vor der ganzen Klasse fest und werde ohnmächtig, weil ich nicht genug Luft bekomme.« Die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag lag wie Nebel auf mir. »Mein Arzt will, dass ich Tabletten nehme, aber meine Eltern erlauben es nicht.«

»Moderne Antidepressiva erhöhen die Monoamine im synaptischen Spalt und es ist klinisch bewiesen, dass sie die Stimmung heben und depressive Symptome in vielen Fällen verringern. Manchmal dauert es eine Weile, bis das richtige Medikament gefunden ist, und bei manchen Menschen wirken sie überhaupt nicht, vor allem nicht ohne die zusätzliche Gesprächstherapie, aber bei einer großen Anzahl von Patienten sind sie sehr effektiv.«

Genau dasselbe hatte der Arzt zu mir gesagt, dessen war ich mir sicher, aber ich verstand es jetzt genauso wenig wie im Mai. Für mich war es befremdlich, wie klug Emmet war – er wirkte wie jemand, bei dem ich kurze Sätze benutzen sollte, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Ich wollte ihn so gern darüber ausfragen, aber alles, was mir einfiel, war: Was stimmt nicht mit dir? Und das war schrecklich.

»Wieso weißt du so viel über Depressionen?«, fragte ich stattdessen.

»Ich hab darüber gelesen. Als ich dreizehn war, hatte ich eine depressive Phase, also hab ich meinen Zustand recherchiert. Medikamente sind bei Teenagern nicht ratsam, es sei denn, die Umstände sind kritisch, also habe ich aufmerksam über Meditation nachgelesen und sie praktiziert. Außerdem hab ich angefangen, von zu Hause aus zu lernen, was geholfen hat. Manchmal hab ich jetzt auch Angstzustände, aber meistens kann ich mit bestimmten Maßnahmen stressige Situationen in meinem täglichen Leben vermeiden.«

Wieso war es für ihn kein Problem, all diese Dinge herunterzurattern? Sowohl die fachlichen Mechanismen von Depressionen und wie es ihn aus der Schule herausgerissen hatte. »Maßnahmen?«

»Ja. Ich habe viele Maßnahmen. Ich habe einen strikten Zeitplan und Zeichen, die ich nutze, um meiner Familie zu zeigen, dass ich verunsichert bin. In der Uni ist es schwieriger, aber meistens bleib ich für mich und spreche nicht mit anderen Leuten und sie lassen mich in Ruhe. Da ich ein Genie bin, mögen mich die Professoren und helfen mir, wenn die anderen Studenten gemein sind. Gleichaltrige beschimpfen mich manchmal, aber dann mach ich einfach meine Ohrstöpsel rein, damit ich sie nicht hören kann, und es ist in Ordnung.«

»Warum… beschimpfen sie dich?«

»Weil ich Autismus habe.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das war es definitiv nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn anstarrte, wahrscheinlich sogar mit offenem Mund. »Du… bist Autist?« Das kann nicht sein, wollte ich hinzufügen, biss mir jedoch rechtzeitig auf die Zunge. Irgendetwas an ihm war merkwürdig, ja, aber… Autismus? Waren Autisten nicht unfähig, mit anderen Leuten zu sprechen und sie zu berühren?

Emmet sah weiter den Baum an. »Ja. Ich habe eine Autismus-Spektrum-Störung. Mein Gehirn ist anders verkabelt als das anderer Menschen. Aber ist es nicht wie bei Depressionen, bei der sie denken, dass es an den Monoaminen liegt. Sie manifestiert sich als Sozialstörung und in der Art, wie mein Körper reagiert, meinem Verhalten. Ich bin intelligent, intelligenter als die meisten Menschen, aber es fällt mir schwer, mit anderen zu interagieren. Also tun die meisten Leute so, als würde mit mir etwas nicht stimmen, als wäre ich dumm.«

Was im Grunde genau das ist, was ich getan hatte. Ich fühlte mich schrecklich. »Es tut mir leid.«

»Es ist in Ordnung. Sie sind die, die etwas verpassen.« Er hielt erneut inne, aber dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass er sich seine nächsten Worte zurechtlegte und nicht wartete, weil er glaubte, es tun zu müssen. »Ich hatte gehofft, dass du mein Freund sein möchtest.«

Ich erinnerte mich daran, dass er gesagt hatte, mich schon sehr lange kennenlernen zu wollen. Ich erkannte, dass er den Mut aufgebracht hatte, sich mir vorzustellen, als wäre ich jemand, um den sich die Menschen reißen würden. Der Gedanke löste ein wunderbares Gefühl in mir aus und im selben Moment fühlte ich mich unsicher. »Ich bin nicht interessant. Ich… habe nicht viele Freunde.«

»Ich auch nicht.« Er drehte den Kopf, sodass er mich beinahe ansah, und streckte die Hand aus. »Was meinst du? Sollen wir eine Freundschaft ausprobieren?«

Ich starrte auf seine Hand und wusste nicht, was ich tun sollte. Verwirrt, geschmeichelt, verängstigt und in erster Linie hypnotisiert legte ich meine Hand in seine. Als er meine Finger drückte, jagte ein Schauer durch meinen Körper.

Zum ersten Mal seit meinem Zusammenbruch dachte ich nicht darüber nach, wie ich die Welt zum Stillstand bringen konnte, wie ich dem Versagen, das mein Leben war, entkommen konnte. Ich dachte an Emmet Washington und Physiker und Autismus und Monoamine.

Ich dachte daran, wie es sein würde, Emmets Freund zu sein.