Sommerfrauen Winterfrauen

und alle Farben

(bis auf Braun natürlich)

da ich sie von A–Z erfunden habe.

Boris Vian,
Die Gischt der Tage

Mein Vater hat im Gegensatz zu mir die Erfahrung gemacht, dass »Gottes Stolpersteine«, wie er sie nannte, ständig im Weg liegen, da sie ihm ständig im Weg lagen.

Das, was er erlebte, erlebte und erlebe ich nicht einmal in Andeutungen.

In der gleichen Kaufhausfiliale, in der ich eine Sonnenbrille erstand, wurde mein Vater ein Stockwerk höher mindestens Zeuge, höchstwahrscheinlich jedoch Opfer eines Raubüberfalls (er wurde in seinem Leben mehr als ein Dutzend Mal überfallen, wem passiert das schon).

Während ich im Adriatischen Meer einem malerischen Sonnenuntergang entgegenschwamm, wurde er von einem Hai angegriffen.

Oder ein Öltanker ging direkt vor ihm unter.

So war es immer.

Und ob Sie es glauben oder nicht: Tatsächlich zerschellte im Januar 2012 vor seinen Augen die Costa Concordia, kein Öltanker, sondern ein italienischer Kreuzfahrtriese, der Papas winziger Segeljolle zuvor ausgewichen war (zehn Meter fehlten zur Kollision), nur um stattdessen einen Felsen zu rammen.

Aber wer segelt schon im Winter nach Einbruch der Dunkelheit aus dem sicheren Hafen von Giglio aufs Meer

Sein katastrophisches Talent auf der einen Seite und meine Begabung zu Lebenssorgsamkeit auf der anderen Seite führten in sehr unterschiedliche Territorien des Kummers.

Vielleicht ist es das, was mich und andere an Papa immer angezogen hat: die Verheißung eines ungeheuren Fiaskos, das dereinst in unser Mittelmaß hineinzuplatzen und es auf zauberische Weise zu zerstäuben vermöge.

Natürlich haben viele Menschen versucht, Papa zu schützen (sofern sie ihn liebten, was immerhin einige mehr waren, als er gedacht hatte). Sie schützten ihn allerdings auch, um sich selbst zu schützen. Aber unser Schutz war bei ihm kaum wirksamer als eine Wolke, die in einen ausbrechenden Vulkan hineinregnet. Vielleicht hätte er mehr erreichen können bei seinem Talent. Aber er sagte immer, das gelte eigentlich für alle Menschen.

 

In dem Moment, als er stürzte, fast ein Jahr ist es nun schon her, war ich nur einen Meter hinter ihm. Papa ließ keinen Laut vernehmen, weil er immer stumm stolperte, über eine Türschwelle, einen Treppenabsatz oder sich selbst. Gottes Stolpersteine ertrug er klaglos, leider auch dieses hochalpine, am Rande des Gemmipasses gelegene Exemplar, das sein letztes sein sollte. Hätte er einen klitzekleinen Seufzer hören lassen, oder gar eines seiner vielen Achs (bei seinen Lektüren geschah dies des Öfteren), wäre ich gewarnt gewesen. Vielleicht hätte ich ihn mit einem Sprung erreichen, ihn noch halten können an der etwas zu großen Jacke oder

Bis heute höre ich in meinen Träumen den leisen Schrei eines Bergvogels, der am Horizont kreiste und dessen Anblick mein ins Nichts fallender Vater freigab, höre danach einen tobenden Windstoß in meinen Haaren, höre schließlich, durch den Wind hindurch, den dumpfen Aufprall, der die Gemmischlucht heraufschallte und den Vogel zum Verstummen brachte.

 

Papa wusste schon seit vielen Jahren, dass er nicht sehr alt werden würde. Aber die Art, auf die er dann nicht alt wurde, ihre unbegreif‌liche Plötzlichkeit, muss ihn überrascht haben. Vermutlich war er auch überrascht, dass ich, selber überrascht, nicht zur Stelle war, denn er war ja Rettung gewohnt, zumindest vergebliche. Vielleicht vertraute er auf meine Hand, die der seinen in der anatomischen Gestalt, aber auch im Temperament so ähnelt. Vielleicht wartete er auch während jeder einzelnen Millisekunde, die sein Leib dem Talgrund entgegenraste, auf meine Superkräfte.

Von diesem furchtbaren Tag ist mir ein ständiges Zittern meiner Lider geblieben, das mal stärker, mal schwächer wird, schwächer aber nur nach körperlicher Anstrengung oder wenn ich morgens erwache. Ich kann auch bis heute das Entkorken von Weinflaschen nicht ertragen, des fatalen, an die Gemmischlucht erinnernden Geräuschs wegen. Und natürlich steige ich nicht mehr auf Berge.

Immerhin ist Papa ein langsames Sterben erspart geblieben. Ein schwacher Trost. Aber der einzige.

 

Einmal spielte ich in einem seiner Kurzfilme ein süßes, achtjähriges Mädchen, das an einem dreischläfrigen Galgen in Beerfelden im Odenwald aufgehängt wird.

In den Zeiten meiner Pubertät kam es zu gelegentlichen Konflikten, auch weil ihm töchterlicher Drogenkonsum verhasst war (im Gegensatz zu väterlichem, so nannte ich seine Vorliebe für gelegentliche Schnäpschen).

Erst nach meinem achtzehnten Geburtstag hatten wir mehr Kontakt. Und als seine Schmerzen immer stärker wurden, war ich sogar häufig bei ihm. Deshalb begleitete ich ihn auch auf jene Klettertour in die Walliser Alpen, die ihm die Ärzte verboten hatten und die ihn das äußere, mich das innere Gleichgewicht kosten sollte.

 

In seinem Nachlass, der niemanden interessierte, keine Sommerfrau, keine Winterfrau und meine Mutter schon gar nicht, fand ich drei alte, vergilbte Tagebücher. Ihr Inhalt ließ mich vermuten, dass jener Ablenkwinkel des Lebens, den Papa für Realität hielt, bei ihm selbst wesentlich steiler war, als wir alle bisher angenommen hatten. Die unerheblichen, ja banalen, in mancher Hinsicht aber merkwürdigen und für mich im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Ereignisse jenes Spätsommers 1996, die ich niedergeschrieben fand und die mir bis dahin vollkommen unbekannt geblieben waren, mündeten schließlich in meine Geburt. Die näheren Umstände, wie es zu mir selbst gekommen ist, wurden mir nur durch Papas Tod offenbar.

 

Ansonsten jedoch entspricht der Abdruck dem authentischen Text (der in jenen weit zurückliegenden Zeiten, ich kann es mir kaum vorstellen, nicht elektronisch respektive digital verfasst, sondern – wie heutzutage eigentlich nur noch von Kinderhand – auf echtes Papier geschrieben wurde, mit Hilfe eines Bleistiftes der Stärke 2B, Papas absolutem Favoriten).

 

Manch ein Leser, von manch einer Leserin ganz zu schweigen, mag einige der Dinge, die auf den nächsten Seiten geschildert werden, für hysterisch oder gar erfunden halten.

Ich glaube aber, dass diese Wirkung damit zu tun hat, wie hier dem zur Neige gehenden 20. Jahrhundert gehuldigt wird, seinen so fernen, so berauschenden und von sich selbst berauschten Menschen, die Sehnsüchte hatten und Dinge taten, die uns fremd vorkommen, fremd und auf eine Weise jung, die sich von unserer Weise, jung zu sein, unterscheidet, jedenfalls von meiner.

 

New York, den 13. Januar 2018
Puma Rosen

I 17. September–23. September 1996

  1. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  2. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  3. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  4. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  5. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  6. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  7. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  8. Ich drehe keinen Nazischeiß!

  9. Ich drehe keinen Nazischeiß!

Dienstag, 17.9.1996, 16 Uhr, London Heathrow

Mein rotes Hemd flattert unregelmäßig. Vom Herzen geschüttelt. Die Ohren brennen lichterloh. Ich bin auf dem Flughafen London Heathrow und warte auf den Anschlussflug.

Endlich nach New York.

17. September. Vier Uhr.

Heiß.

Ich hasse Fliegenmüssen.

 

Gestern, während des Abschlusstreffens.

Ich fand in Lilas Wohnung ein Fax nach Amiland. Er schrieb jemandem, den er »darling« nannte, dass er sich fühle »like three pink rats running through«. Das trifft es. Wenn Lila nervös ist, hat man das Gefühl, seine Lücke zwischen den Schneidezähnen werde größer, wie ein Kanonenschlitz. Sein schöner Humor verschwindet dann auf ganz ähnliche Weise wie bei mir hinter penibler Schulmeisterei, die subtil sein will. Aber subtil ist gar nichts an ihm. Er ist ein typischer Schütze, würde Mah sagen. Besteht ganz aus Triebkraft, die er in Idealismus umdekoriert.

 

Ich kauf‌te alles beim Lieblings-Karstadt, innerhalb von zwanzig Minuten, wie ein Scheich. Einen Anzug konnte ich mir natürlich nicht leisten.

Lila hat mir eines seiner schwulen Jacketts geliehen, eine Art napoleonischen Militärrock, elfenbeinweiß, mit doppelter Knopf‌leiste. Man denkt an Kavallerieattacken bei Austerlitz.

Ich soll schön aussehen.

 

In mein Portemonnaie habe ich ein paar Kondome gepackt, eher mechanisch. Mah stand neben mir und hat gelacht, aber nicht vor Freude.

»Du guckst drauf, als wär’s Munition«, sagte sie.

Dabei weiß sie, dass sie sich keine Sorgen machen muss.

Sie macht sich aber trotzdem ein paar Sorgen. Um die Liebe und auch um mich. Wir sind jetzt seit drei Jahren zusammen. Seit über drei Jahren. Wir sehen keine Risse, fangen aber an zu lauschen. Hin und wieder knackt da was.

Gestern beim Sex hielt sie mir die ganze Zeit die Hände fest. Ich fragte, ob sie weint. Aber es war nichts.

Ich glaube, Europäer und Asiaten gehen mit ihren Gesichtsausdrücken völlig unterschiedlich um. Mahs Stirnfalte zum Beispiel. Wieso tritt die nicht wie bei mir hervor, wenn es Grund zum Ärgern gibt? Sondern immer nur vorm Orgasmus? Die fundamentalen Emotionen – Freude,

Vorhin in Tegel schüttelten wir uns. Sie küsst jetzt viel weicher als am Anfang (also ganz egal ist ihr mein Mund auch wieder nicht). Seit Michis Tod ist sie mein einziger wirklicher Freund und meine halbe Familie.

Sie hat mir das Leben gerettet.

 

Jetzt warte ich hier in London im Terminal 4. Gerade geht eine Alarmanlage los. Ein schriller Sirenenton, kilometerweit zu hören. Ich schaue in das Gesicht eines vollendet gelassenen Inders neben mir, der sein Ticket studiert. Die Engländer (selbst die indischen Engländer) haben alle diese Ich-mache-mir-aus-Prinzip-keine-Sorgen-Gesichter.

Ist eine Maschine explodiert? Ein Feuer ausgebrochen?

Jetzt geht es schon vier Minuten.

Ich muss in den Flieger.

Am meisten hasse ich das Einsteigen. Es ist wie Abstürzen, ein unabdingbarer Teil davon.

Ganz hinten im Flugzeug sitze ich, sitze leicht schwitzend in einem Sessel, der zurückzuschwitzen scheint. Das Essen, das sie einem bringen, riecht nach schlechtem Atem. Es schmeckt auch so. Die Birne-aus-Porzellan, wie Mah meinen Kopf nennt, liegt, wie es sich gehört, in der Mitte der Sessellehne. Sie bewegt sich wenig. Ich muss immer schön aufpassen, dass da niemand draufhaut. Als Kind habe ich mich oft geschlagen. Jetzt könnte mich diese Vierjährige da vorne umbringen, indem sie einfach auf den Sprung haut in meiner Schüssel. Und 10000 Meter über dem Meer tun dem kaputten Schädel auch nicht gut.

Ich sitze in der vorletzten Reihe. Alle fünf Minuten kommt der Steward, bittet einen aufzustehen, kniet sich zu Boden, kriecht unter den Sitz und fängt dort an zu arbeiten. Er ist so geschmeidig wie ein abgebranntes Streichholz und versucht, die Kabel für den TV-Empfang zu reparieren. Sein Rücken könnte zu Asche zerbröseln, sobald jemand draufklopft. Wenn der Fernseher nicht anspringt, wird es eine Meuterei unter den Passagieren geben.

 

Neben mir ein netter, unglaublich gutaussehender Fotograf, dreißig Jahre alt, ein Robert-Redford-Klon. Ist tatsächlich blond. Hat tatsächlich Charme. Heißt tatsächlich Robert. Robert Polanski. Er bestellt mit rollendem bayerischem Akzent »cof‌fee please«.

Ich habe diese Mutfurcht, die mich vorantreibt, gebe mir ein gelassenes Gebaren und beginne das Gespräch, indem ich ihn auf die Robert-Redford-Ähnlichkeit anspreche.

Ich mag ihn. Er liebt den Film Sundance Kid.

Wir reden, um uns abzutasten, über die Statistiken von Toilettennutzung auf Transatlantikflügen. Neben uns staut sich eine Menschenschlange. Die Leute setzen sich uns fast auf den Schoß vor Ungeduld.

Statistik 1: Jeder zwanzigste männliche Flugzeugpassagier mit gefüllter Harnblase uriniert in die Waschschüssel statt in die Toilette. Behauptet Redford.

Statistik 2: Nur Frauen REDEN beim Warten auf die Toilettenschüssel. Männer hingegen SCHWEIGEN grimmig, selbst wenn man ihnen, so wie Redford eben, aus Versehen heißen Kaffee auf die Hose schüttet.

Statistik 3: Je länger die Schlange ist, desto länger wird sie. Ist aber gar keine Statistik.

 

Interessant an Redford ist, dass er sofort im Verhalten der Menschen, selbst wenn es weder paradox noch sonstwie auf‌fällig ist, nach einer psychologischen Erklärung sucht. Das macht sicher sein Job als Fotograf. Er behauptet, schon nach drei Sekunden in einem Gesicht lesen zu können, wie tot der Mensch ist, dem es gehört.

Als Redford erfährt, dass ich Filmstudent bin und vier Wochen in New York bleiben werde, ist er ganz begeistert. Er kann es nicht glauben, als ich ihm von dem Projekt erzähle.

»Du machst einen Sexfilm?«, fragt er.

»Nein. Keinen Sexfilm. Einen Film über Sex.«

»Ich muss noch überlegen.«

»Ich meine, so in etwa.«

»Wirklich, ich muss noch überlegen.«

»Wird man zum Beispiel eine Möse sehen?«

Ich erzähle ihm von Lila.

»Lila von Dornbusch?«

Er setzt gleich dieses wissende Lächeln auf. Der prominente Name ist wie ein Knopfdruck ins kollektive Unterbewusste. Er kann nicht glauben, was ich ihm sage. Es klingt zu verrückt. Ein Dokumentarfilm über Sex. Ohne Drehbuch, ohne Konzept, ohne Geld und ohne Möse, wenn es sein muss.

 

Vor ein paar Tagen noch saßen wir alle bei Lila in der Regensburger, umstellt von seinen mit allerlei tropischem Getier gefüllten Terrarien. Wir hatten eine dieser typischen Krisensitzungen, die vor allem der sensiblen Python immer zu laut sind.

Das Wohnzimmer wird vom Regieruhm illuminiert, der von Lilas siebziger und achtziger Jahren noch nachglüht: Überall Preisskulpturen, Pastellgemälde, Plakate mit Filmstars wie Hildegard Knef drauf. Ein Schwarz-Weiß-Foto von Charles Bronson, der sich einen riesigen erigierten Penis in den Mund schiebt. Und ein goldener Thron aus Plastiktitten, der neben dem Anakondaterrarium steht und irgendein Relikt der Trashfilme ist, mit denen Lila von Dornbusch Jahr für Jahr ein immer winzigeres Publikum belästigt.

Seit zwei Jahren ist er Professor an der Berliner

Ein Professor braucht keinen Schulabschluss, sagt er, nur ein Student. Er findet es auch wichtig.

 

Eigentlich hat sich durch das Seminar nicht wirklich was verändert. Vielleicht eine andere Art der Fremdheit zwischen uns allen, aber keine schönere.

Dabei haben wir uns alle entblößt voreinander, seelisch, körperlich.

Sechs Monate Intensivstation. Und dann Reset.

Rücksturz zur Erde.

Es stellt sich schließlich nur der Teil des Familiären ein, der einem an jeder Familie auf den Keks geht.

Dabei fing alles so revolutionär an. Also was man eben revolutionär finden kann an einer Hochschule. Das vermutlich abstruseste Seminar, das die Filmakademie je gesehen hat. Ich war ganz elektrisiert, als mich im of‌fiziellen Vorlesungsverzeichnis ein Kursangebot angrinste, das ausnahmsweise mal nicht »Somatische Empathie bei Hitchcock« oder »Modalitäten aktueller Diskursivität im Archivkunstfilm« hieß, sondern: »WAS IST SCHÖNER – FICKEN ODER FILMEMACHEN

Natürlich, typisch Lila, in Großbuchstaben.

Das sorgte für Aufmerksamkeit, nicht nur bei mir.

Zumal unter »Seminarbeschreibung« auch noch das folgende sogenannte »Lehrgedicht« von Seminarleiter Professor von Dornbusch abgedruckt wurde:


(Kleines Lehrgedicht)

DU MEIN GEILER STUDENTENSEE

LUMPI PLATSCH

LOCH LUSTIGES LOCH

TÜTELÜ

BABY SPIELEN PO EINCREMEN

WINDEL WIEDER EINGESCHISSEN

SO BIST DU

MEIN RAT

ER KOMMT VON HERZEN

ERKENNE DICH SELBST

VERSCHLAF DIE ZEIT

UND SCHREIB DIE TRÄUME AUF

UND REDE VIEL

UND FILME DAS SCHWEIGEN

UND SUCH DIR FREUNDE

DIE DICH HASSEN

DA LÄSST SICH VIEL DRAUS MACHEN

UND WENN DU LIEBST

DANN LIEB DEN FALSCHEN

DENN GLÜCK IST DER TOD

EINES JEDEN FILMREGISSEURS

UND BITTE BITTE

KEINE FILME SCHAUEN

KEIN FERNSEHEN

KEINE KUNST

UND KEIN GEDICHT

NUR DEIN LACHEN DEIN WEINEN

UND DEINE GROSSEN ZEHEN

UND BITTE AUCH KEIN FAX KEIN TELEFON

SONDERN NUR EIN MENSCH AUS HOLZ

DEM DU GESTEHST

DASS DU AUCH STÄRKEN HAST

UND BITTE SCHLAF IM FREIEN

UND FANG DEN GRÖSSTEN VOGEL

UND FAHR ZUR SEE

UND GEH INS KLOSTER

ODER NACH NEW YORK

UND IN KEINE TALKSHOW

UND BITTE UM VERGEBUNG

FÜR ALL DIE SCHLECHTEN FILME

DEINER FREUNDE

DAMIT DU NICHT SO WIRST

WIE DER NÄCHSTE

DENN HÄSSLICHKEIT UND SCHLECHTER GESCHMACK

SIND ANSTECKEND

DRUM SUCH DIR EINEN PLATZ

IN MEINEM SEMINAR

UND FILM DICH SELBST

MIT WONNE

IN DER SONNE

BEIM SEX

UND SEI PÜNKTLICH

IMMER

DEIN

LILA VON DORNBUSCH

(Leiter Fachbereich III, Raum 421)

Aber nein, schief gewickelt: Wir sollten uns tatsächlich beim Sex filmen, wie im Lehrgedicht angedroht. Und zwar gleich zu Anfang. Als Hausaufgabe für die allererste Unterrichtsstunde.

 

Als ich Mah davon berichtete, hatte sie kein Problem damit.

Nach außen wirkt sie so körperlos manchmal. Aber sie hat mehr Selbstverständnis, mehr Spielerisches als ich, was Sex anbelangt. Vielleicht, weil sie mit dem Tod vertrauter ist.

Ich kam mir albern vor, als ich die Kamera aufstellte. Genierte mich. Aber sie kicherte nur, zog sich gutgelaunt die Hose aus, legte sie zusammen, zog die Unterhose aus, legte sie zusammen, und zog danach auch meine Hose und meine Unterhose aus und legte alles zusammen (wie immer, irgendwas Zwanghaftes).

Allerdings behielt sie das blaue T-Shirt an, wollte nicht, dass man ihre Brüste sieht, weil sie die zu klein findet.

»Was ist an kleinen Brüsten falsch?«, fragte ich.

»Also findest du sie auch zu klein?«

»Nein, ich finde sie super.«

»So groß ist dein Schwanz nämlich auch wieder nicht.«

»Wer hat das behauptet?«

»Wollen wir anfangen?«

»Nimmt das Ding eigentlich auch auf, was wir sagen?«

Als es vorbei war, musste ich ihr mitteilen, dass ich die Kamera nicht angestellt hatte. Ich schaffe das nicht. Traue mich nicht. Brachte zerknirscht ein leeres Videoband mit zu Lila, der uns alle mit Gebäck und Teechen empfing, um unser Ficken zu beurteilen.

Er saß auf seinem Tittenthron wie ein honoriger Kannibalenhäuptling mit gutem Appetit.

 

So wurde es aber gar nicht. Denn Lila wollte den Kram nicht sehen. Guckte sich nichts an, sondern sagte mit seiner glucksenden Oberlehrer-Stimme, dass er sich nichts Langweiligeres vorstellen könne als Anfängersex von Akademikerkindern aus der Mittelschicht, die auch noch heterosexuell sein wollen.

Stattdessen machte er ein paar Psychospielchen mit uns, bei denen ich gut abschnitt. Das Vögeln war nur eine Mutprobe gewesen, und dieses infantile Mutproben (dem ich nicht wirklich standgehalten hatte, aber das weiß ja niemand) hat die Gruppe zusammengeschweißt. Sechs öde, alloiophile Filmstudenten aus der von Lila so gehassten bürgerlichen Klasse. Für ein paar Wochen. Für ein paar großartige Übungswochen, in denen Besessenheit und solidarischer Eifer wie Milch und Honig flossen.

Und dann zerbröckelt alles am Ego des Einzelnen, am

 

»Wo sind die anderen fünf?«, fragt Redford.

Er fragt es nicht nur, er will es wirklich wissen und blickt sich im Flieger um. Dann hängt er an meinen Lippen, während ich sage, dass Dieanderenfünf nicht dabei sind, dass Dieanderenfünf nachkommen, dass ich in Manhattan Sachen für Dieanderenfünf organisieren muss. Kameras, Unterkünfte, so was in der Art. Quartiermeisterei.

Ein Sender (3sat) hat Lila ein bisschen Geld gegeben, damit wir in New York aufregende Filme über Eros und Verlangen drehen können.

»Die Studenten sind so verwöhnt. Die müssen was erleben, was Existentielles, um später gute Regisseure zu werden. In New York kenne ich phantastische Sexclubs. Da können die sich vor laufender Kamera in den Arsch ficken lassen«, schwärmte er der Redakteurin vor, einem blassen, blasenkranken Mauerblümchen. Sie war sofort Feuer und Flamme und rückte 50000 Mark für das Experiment raus.

Dieses Experiment macht mich interessant, das sehe ich in den schönen blauen Redfordaugen, und ich mache mich gerne interessant, versuche das mit übertriebener Bescheidenheit in eine verlogene Balance zu bringen, hasse an mir die Eitelkeit, wie ich sie auch an anderen hasse. Meine zähe falsche Haut unter der ehrlichen.

»Kennst du New York?«, will ich wissen.

Wie seine Westentasche, sagt Redford. Hängt jetzt neben mir, ist eingeschlafen, wirkt gesättigt, hat etwas von einem

Redford wohnt bei einer deutschen Bekannten downtown. Sie mache einen vierwöchigen Workshop am American Film Institute, erklärte er. Und sie könne mich vielleicht brauchen.

Ganz sicher kann ich sie brauchen. Ich kann jeden brauchen. Alle. Für Wohnungen. Für Orgakram. Für Dieanderenfünf.

Ich bin allein.

Ich muss zu Tante Paula.

Ich drehe keinen Nazischeiß.

Muss es mir immer wieder sagen.

Du drehst keinen Nazischeiß.

Denn du machst einen Film über Sex.

Nichts über den Tod.

Wie wird nur alles werden?

 

Mach dir nicht zu viele Gedanken um die Zukunft, sagt Mah immer. Glaub mir, Schatz, die Zukunft wird furchtbar überschätzt. Deine depressiven Schübe, deine apokalyptischen Visionen, dein Menschenhass sind Teil deiner Kraft, wie Ängste überhaupt etwas ganz Tolles sind, wenn man sie in den Griff kriegt. Ich bin stolz, dass ich so einen bindungsfähigen, leicht neurotischen, zum Hyperkarma neigenden Freund hab, der glaubt, dass die Strafe irgendwie immer weitaus größer ausfällt als das Vergehen. Obwohl

 

Und dann sehe ich, wie Mah auf ihre elegante Art die Beine übereinanderschlägt und die Lippen spitzt in dieser ernsten, fast schmerzlichen Weise, die mich an Paris erinnert. Weißt du, Limaleh, sagt sie. Ich bin nicht wie du. Ich muss mir keine Sorgen machen, ob ich berühmt werde. Ich muss mir Sorgen machen, ob ich Frau Meierlein in der Acht zu viel Flunitrazepam ins Fläschchen geträufelt habe. Das führt zu Herzstillstand. Aber wirkliche Sorgen mache ich mir deshalb auch nicht, denn Frau Meierlein ist nicht nett,

Sie seufzt. Ihre Lippen glätten sich, ordnen sich zu einem verzeihenden Lächeln. Und ihre Stimme wechselt die Tonlage, wird fest und zuversichtlich: »Auch Sorgen werden natürlich überschätzt, Schatz. Sie sind die Zukunft, die hoffentlich nie passiert. Sorgen sind die düstere Variante der Hoffnung.«

Ja, so redet Mah.

21 Uhr (Ortszeit) Newark International Airport

Wir kommen an. Dämmerung. New York. Es regnet. Der Flughafen sieht aus wie Schönefeld. Gras wächst aus den kindskopfgroßen Löchern in der Landepiste. Alles ist grau und dunkel und heruntergekommen. Ich hatte mir Amerika anders vorgestellt. Nicht so ostig.

Wir warten hier draußen auf den Bus, weil sich Redford in New York auskennt und ihm die vierzig Dollar fürs Taxi zu viel sind.

Die vielen Schwarzen machen mir Angst. Ich habe noch nie so viele Schwarze auf einem Haufen gesehen. Der Satz von Benny fällt mir ein, der als südafrikanischer Scharfschütze gegen die Swapo gekämpft hat: Wenn du in der Nacht gegen Neger kämpfst, sagte er, musst du sie zum Lachen bringen, damit du ein helles Ziel hast.

»Und zu mir sagt er bestimmt ›Schlitzauge‹, und du beschützt mich nicht mal.«

»Er sagt nicht Schlitzauge.«

»Oder ›Frühlingsrolle‹ oder so was.«

»Das Einzige, was er mal losgelassen hat, war die Frage nach deiner Schuhgröße, und da warst du dabei. Du weißt, wie es ausgegangen ist.«

»Er war selbst schuld.«

»Hallo? Weil er nach deiner Schuhgröße fragt?«

»Er hat gefragt, ob man mir als Kind die Zehen gebrochen hat, um so hübsche kleine Lotusfüße zu kriegen. Er kann froh sein, dass ich nicht richtig zugeschlagen habe.«

»Meine Güte, er hat Small Talk gemacht.«

»Diese Art Small Talk kann er auf seiner Farm in Namibia versuchen. Fuck, Jonas, dein Freund hat Menschen erschossen. Er hat im Krieg Menschen erschossen. Und trotzdem redest du mit ihm immer nur über Fußball.«

Und jetzt kommt der Bus.

Mittwoch, 18.9.1996, 19 Uhr, New York

Gestern kam ich also in New York an.

Schon zwei Stunden später wurde ich Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls.

Lila hatte mir ja schon gesagt, dass dieser Professor von der NYU, der mich aufnimmt, im Ghetto lebt: Alphabet City, ganz am Ostrand vom East Village gelegen, eine wilde, abgerissene Gegend. Ich war schon scheißnervös, weil der Professor mir am Telefon erklärt hatte, ich solle nicht nach Einbruch der Dunkelheit kommen.

Was passiert? Mein Flieger hat Verspätung. Ich sitze mit Redford eine geschlagene Stunde am Busbahnhof in New Jersey rum. Es regnet in langen dünnen Fäden in die steingraue Dämmerung hinein. Der Bus zuckelt schließlich gemütvoll auf Manhattan zu, als wär’s ein Andenpass. Hier heißen die Autobahnen tatsächlich Highways. Hab’ mich noch nicht gewöhnt dran.

Wir kamen erst um 23.00 Uhr vor dem World Trade Center an. Da ist der Busbahnhof.

Ich stieg aus. Der Sturm schlug mir ins Gesicht. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas so Großes gesehen. So mächtig und herausfordernd. Es endet nicht. Man legt den

Redford wollte mir unbedingt was von innen zeigen. Wir gingen also rein. Es sah aus wie das Tadsch Mahal, also so, wie ich mir das Tadsch Mahal vorstelle. Ich kann mich nur an viel Marmor erinnern und an wenig Menschen, alles Frauen, die wie Stewardessen gekleidet waren und aus Indien kamen oder Pakistan. Sie starrten auf die Pfützen, die wir hinterließen.

Ich war schon recht panisch, wollte es aber natürlich nicht zeigen, tat so, als würde ich entspannt Redfords Worten lauschen, während ich mich fragte, was um Gottes willen ich um Mitternacht im Hispanic-Ghetto mit meiner im Silberkoffer schlummernden 20000-Mark-Kamera wohl für einen Eindruck machen würde. Redford zeigte mir die Aufzüge und deutete schließlich auf eine Fledermaus, die durch die Halle des World Trade Center flog.

Vielleicht ein Vampir, sagte er.

 

Wir nahmen ein Taxi. Redford stieg downtown in der Bleecker Street aus, gab mir seine Telefonnummer und verschwand hinter einer Regenwand.

Der Taxifahrer, ein Schwarzer in rotem Wollpulli, blickte mich düster an, als er erfuhr, wo ich hinwollte.

Es hörte zu regnen auf, als wir ankamen. Tröpfelte nur noch. Avenue C. Ich stieg aus. Der Fahrer grunzte, kassierte und blieb sitzen. Das Heck öffnete sich automatisch. Ich nahm meinen Seesack und den Silberkoffer aus dem

Ich wandte mich ab, watete durch gurgelnde Pfützen und stand schließlich vor einem Hochhaus, das auch in Marzahn hätte stehen können. Links und rechts daneben Ruinen, vernagelte Backsteinruinen aus dem letzten Jahrhundert. Keine Menschenseele zu sehen. Nicht mal ein Auto. Vollkommene Ödnis.

Ich ging fünf Schritte auf den Eingang zu. Drei Jungs standen plötzlich neben mir. Triefende Gestalten, durchnässt bis auf die Knochen. Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Scheinbar teilnahmslos. Ich spürte gleich die Gefahr. So still waren sie.

Ich ging durch die erste Glastür, die sich Gott sei Dank öffnen ließ. Aber dann stand ich in einer Art Schleuse. Vor mir eine zweite Glastür. Verschlossen. Daneben ein gigantisches Klingelbrett. Überall Graffitis.

Die drei Kids schlüpf‌ten mit mir rein. Bauten sich neben mir auf. Sonst kein Mensch zu sehen. Ich spitzte die Lippen und fand die Scheißklingel von dem Professor nicht. Fulton heißt er, Jeremiah Fulton.

»Fulton« stand aber auf keinem Klingelschild. Auch nicht »F« oder »J.F.« oder irgendwas.

Ich überlegte, was der Grund sein könnte, und die drei Kids sahen mir beim Überlegen zu. Was ich wusste, war, dass ich im richtigen Haus stand und dass der Professor im zwanzigsten Stock wohnt. Also drückte ich die einzigen drei Klingeln dieser Etage, die keinen Namen hatten. Nur Nummern dort.

 

Die Sprechanlage bleibt stumm.

Der Summer ertönt.

Ich atme auf, trete durch die brummende zweite Glastür ins Innere.

Dann geht es los. Sehr schnell.

Die Typen sind mir gefolgt. Einer bleibt an der Tür stehen, hält sie auf.

Die anderen beiden springen auf mich zu, schreien wild. Hispanics. Ich verstehe kein Wort, sehe nur das Messer, das mir entgegengestreckt wird. Das Einzige, was sich an dem Typen nicht bewegt. Ich hatte diese Situation schon ein paarmal. Was wurde ich nicht alles los. In Bangkok die Uhr von Apapa, die er aus Riga gerettet hatte. In Kreuzberg meine Schuhe. Man darf nie auf die Klinge sehen. Immer in die Augen.

Jemand greift nach dem Silberkoffer. Ich stoße ihn weg. Die Ärzte haben gesagt: Keine Konfrontation, Herr Rosen, never ever. Wenn Sie eine Ohrfeige bekommen, kann das neurologische Bewusstseinsstörungen zur Folge haben. Synkopen.

Angst habe ich keine, dazu ist überhaupt keine Zeit.

Ich gehe langsam weiter.

Das scheint sie unglaublich aufzuregen.

Einer spuckt mir hasserfüllt ins Gesicht.

Aber sie stechen nicht zu.

Ein Wimpernschlag. Dann ist der Spuk vorüber. Sie sind fort, braune Gestalten im Regen, wie Durchfall, den man die Toilette runterspült.

 

Ich stehe in der Stille des Foyers. Neonlichter surren. Irgendwo röhrt eine Waschmaschine. Ich habe immer noch den Silberkoffer in der Hand. Dann erst sehe ich, dass ich kurz vor einem Korridor haltgemacht habe. An der Decke hängen zwei Videokameras.

Aha. Offensichtlich wussten die Jungs das. Wäre ich stehen geblieben, hätten sie mich im toten Winkel gemütlich ausgeraubt.

Ich brauche ein paar Minuten. Lehne mich an die Mauer.

Erst dann wische ich die Spucke aus meinem Haar.

 

Ich stieg – noch leicht zitternd und schweißgetränkt – aus dem Fahrstuhl und trat in einen dunklen, hässlichen Flur im zwanzigsten Stock. Nichts als Beton. Eine flackernde Neonröhre unter der Decke. Die bleigrauen Türen allesamt Stahltüren, auf denen in weißer Farbe groß aufgemalte Nummern prangten.

Am Ende des Flurs, vor der 23, sah ich eine riesige, massige Gestalt stehen. Ich dachte gleich: Was für eine unglaubliche Traurigkeit!

Die Traurigkeit schlurf‌te in aufgeknöpf‌tem, orangerotem Hawaiihemd, Pantoffeln und kurzen Safari-Hosen auf mich zu und bot mir eine schlaffe Hand an.

»Hi, I’m Jeremiah. Did you take the stairs?«

Jedes Wort der Traurigkeit machte sich über mich lustig. Diese Karikatur eines Sumoringers war also Professor

Vor mir stand hingegen eher ein riesiger Mops und begrüßte mich freudlos. Er ist schätzungsweise Ende fünfzig, wiegt mindestens drei Zentner, ist über zwei Meter groß, also noch größer als ich, hat kurzgeschnittenes weißes Haar und eine winzige Wohnung, in die wir uns regelrecht hineinpressten. Hier also soll ich jetzt wohnen.

 

Noch nie zuvor, nicht einmal in den von Pennern und Anarchisten gestürmten Abrisshäusern Berlins, in denen ich vor Jahren überwintern musste, habe ich solch unüberwindbare Müllstapel, Wäscheberge, zu Minaretten aufgestapelte Altpapiertürme gesehen. Ich erkannte das Chaos nur schemenhaft, da die Traurigkeit kein elektrisches Licht machte, sondern mir schnaufend einen Weg durch den dunklen Miniflur seiner Wohnung bahnte.

Im sogenannten Wohnzimmer glommen kleine Kerzchen, wie in einem von Bomben getroffenen, notdürf‌tig erleuchteten Bunker, den man von Leichenteilen freiräumen muss. Es gab eine winzige, leergeschaufelte Ecke, auf der ein paar Tiere saßen, von denen man nur die Augen sah. Als Jeremiah sie wegjagte, wurde der Blick auf ein Sofa frei, auf das er sich plumpsen ließ. Mir blieb genau das Eckchen, auf das sich zuvor die Katze gequetscht hatte. Ich hätte mich genauso gut auf seinen Schoß setzen können.

 

»Oh really?«, grunzte er völlig desinteressiert. Auf meine Frage, ob man die Polizei rufen, Anzeige erstatten und die Videobänder prüfen lassen solle, die alles aufgezeichnet hatten, schüttelte er nur den Kopf und seufzte »Ts…ts…ts«.

Dann sagte er, ihm sei so was noch nie passiert. Ich müsse offensichtlich schwach und dumm (»weak and stupid«) gewirkt haben.

Er erklärte mir herablassend, dass man immer sehr selbstbewusst auf‌treten müsse in New York, dann würde einem auch nichts geschehen. Er gehe mit seinen Hunden sogar immer eine Straße weiter, in die Avenue D, da würden sich noch nicht einmal die Streifenwagen hintrauen. Deshalb könnten die Hunde da auch hinscheißen, wohin sie wollten, sogar unter die Bänke.

Er hatte eine muntere Art des Monologisierens, die sich mit einem an Ekel grenzenden Tonfall paarte. Das Traurige machte einem weniger komplexen Ausdruck ledriger Gehässigkeit Platz.

Plötzlich stockte sein Sprachfluss, er blickte auf und fragte übergangslos: »Du kennst hier jemanden, der in Auschwitz war?«

»Nein.«

»Sagt Lila.«

»Eine Freundin meines Großvaters. Aber sie war nicht in Auschwitz. Sie war in Riga. Und ich kenne sie nicht. Ich habe sie nie gesehen. Nur telefoniert.«

»Ich muss bei ihr was abholen.«

»Ist sie reich?«

»Das meine ich nicht. Ich muss was Persönliches bei ihr abholen.«

»Was?«

»Es ist wirklich persönlich.«

»Die reichen Juden wohnen in Midtown. Die armen Juden wohnen in Queens. Da muss man weit rausfahren.«

»Sie lebt im National Arts Club.«

»Oh, wow, eine Künstlerin«, sagte er und pfiff durch die Zähne, wie jemand, der es selbst gerne in den National Arts Club geschaff‌t hätte.

Mir fiel nichts ein, was ich noch sagen sollte, und gab Jeremiah Fulton daher mein Geschenk, ein blaues T-Shirt mit dem Brandenburger Tor drauf, das ich noch mit Mah am Flughafen Tegel gekauft hatte. Ich wusste nicht, dass Jeremiah so fett ist, hatte dennoch »extra-large« gekauft. Aber als er es sich vor den Leib hielt, sah es aus wie ein kleines Lätzchen.

 

Erst heute merke ich, dass es stinkt in der Wohnung. Gestern war hier alles überdeckt von dem penetranten Geruch indischer Räucherstäbchen.

Ich liege auf der Couch in Jeremiahs Wohnzimmer, auf der ich auch geschlafen habe. Sie steht direkt vor dem großen Balkonfenster, das nach Brooklyn hinüberweist und das auf keinen Fall geöffnet werden darf, damit ja keine frische Luft hereinkommt.

Wenn man aufsteht, überblickt man eine Industrielandschaft aus alten Wasserspeichern, Schornsteinen, Getreidesilos und Hafenmolen. Ein paar Fetzen East River. Man denkt unwillkürlich an Rotterdam. In der Ferne die Williamsburg Bridge, die sich über den öligen Hafen spannt.

Zwanzig Stockwerke sind hoch, wenn man aus Deutschland kommt.

 

Wenn ich aufstehe, um aufs Klo zu gehen, muss ich aufpassen, wo ich hintrete. Überall ein Chaos aus Trödel, Scherben, herumfliegenden Zeitungen und alten Handgranaten. Die ganze Wohnung wirkt wie ein Siebziger-Jahre-Volksfront-Museum. Der Zustand der Toilette ist nicht zu schildern. Die Tür kann man nicht schließen, weil eine Tonne Altpapier auf der Schwelle liegt. Alle Wände sind mit frischer Himbeerlutscherfarbe gestrichen, die wohl rosa sein soll, in den Augen aber quälend weh tut.

Ich betrachte die kommenden Tage, die wie ein leeres Buch vor mir liegen. Mah mag recht haben, dass die Zukunft überschätzt wird, vor allem aber gibt es sie ja nie. Sie ist eine Infektion, die man sich in der Vergangenheit holt und in der Gegenwart ausbrütet. Sie ist wie Aids. Man wird daran zugrunde gehen, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann sicher.

 

Keine Ahnung, was werden soll.

Ich kenne niemanden.

Wie ich hier irgendwas für Lila und Dieanderenfünf organisieren soll, ist mir ein Rätsel. Einen Film kann ich mir

Jeremiah findet das Vorhaben sowieso schwachsinnig: »Warum dreht ihr nicht was über die Präsidentschaftswahl? Interessiert euch nicht, was aus Bill Clinton wird?«

»Es geht darum, was Spezifisches zu finden.«

»Dann nimm diese Holocaustüberlebende. Da hast du was Spezifisches.«

»Sie ist meine Tante.«

»Was könnte spezifischer sein?«

»Sie passt nicht zum Thema Sex.«

»Jesus! Sie hatte ein beschissenes Leben. Also interview sie so, wie Gott sie in ihrem ganzen Elend erschuf, Mister Rosen. Holocaustüberlebende sind nie langweilig. Hat Lila euch das nicht beigebracht?«

»Ich drehe keinen Nazischeiß.«

 

Diese Einstellung hatte auch zu wochenlangen Diskussionen mit Mah geführt. Sie fragte mich, ob es schon ein Film über Nazischeiß sei, wenn ich mit der Kamera IRGENDWAS BEGREIFEN wolle.

Mah ist immer so VERSTÄNDNISVOLL jedem gegenüber. VERSTÄNDNISVOLL mit Versalien. Sie redet auch so verdammt VERSTÄNDNISVOLL, einfach weil sie möchte, dass auch so VERSTÄNDNISVOLL über sie geredet wird. Sie findet zum Beispiel Nazischeiß KEIN GUTES WORT.

Sie weiß, dass damit Apapa gemeint ist.

Aber da Apapa tot ist, müsste man bei Tante Paula und ihren Angelegenheiten eigentlich von Judenscheiß

Das hätte eine andere Konnotation.

Und ein Film mit Tante Paula wäre ein Film über Tante Paula, vielleicht mit ein bisschen Apapa drin. Aber solch ein Film hätte doch viel mehr mit mir zu tun als zum Beispiel einer über meinen PENIS.

Mah schaff‌t manchmal eigenartige Kausalitäten, denn mein Penis hat schon was mit mir zu tun.

Aber ich weiß, was sie meint: Wieso soll ich in New York einen albernen, nichtigen Film über Sex machen, wenn es in dieser Stadt auch um die großen Dinge des Daseins gehen könnte: um Schuld und Sühne, um Schmerz und Vergebung und um Apapa.

Du hast in den letzten Monaten nachts kaum geschlafen, sondern lagst wach im Bett oder hast geheult oder hattest Atemstillstand, rechnete mir Mah vor.

Das eben ist die Gefahr, erwiderte ich: Wer sich in den Nazischeiß begibt, kommt darin um. Und ich will das nicht. Ich will nicht im Nazischeiß umkommen. Apapa war ein Täter. Tanta Paula mag ihn trotzdem. Ist das mein Problem?

Es ist deine Familie, sagt Mah.

Ist das mein Problem?, wiederhole ich.

Ist deine Familie nicht dein Problem?

Mah hat gut reden. So ein Adoptivkind hat ja gar keine Familie. Jedenfalls keine richtige. Vielleicht hat ihr Vater für die südvietnamesischen Streitkräfte Folterungen durchgeführt, und sie wird es nie erfahren. Sie war acht,

Ich mache keinen Film über Nazischeiß.

Ich mache einen Film über Sex.

Ich werde mir bei Tante Paula das ominöse Dokument abholen.

Das ist alles.

Keine Ahnung, ob ich es jemals lesen werde.

 

Immerhin will mich Jeremiah mit an die NYU mitnehmen, seine Supereliteuni mitten in Manhattan, und mir ein paar Leute vermitteln. Er sagt es in einem mitleidigen Tonfall, so wie jemand, der ein geistig behindertes Kind tröstet. Er behandelt mich wie einen Trottel, mit fahl lächelnder Verachtung.

Als ich die Videokamera und das Stativ auspacke, um mit ihm ein Begrüßungsinterview zu machen, so wie Lila es mir aufgetragen hat, zischt der Filmprofessor nur: »Do you want me to kill you, Mr. Rosen?«

In seiner Wohnung, so erfahre ich, herrscht absolutes Film- und Fotografierverbot. Seine Tiere sollen auch nicht aufs Bild. Seine Bücher schon gar nicht.

Er fragt mich, ob ich Stalinist sei.

Er nennt mich ausschließlich Mr. Rosen.

Ich fange schon an, ihn zu hassen.

 

Jeremiah hat dann auch gleich schlecht über Lila gesprochen, zumindest stichelnd. Er war wohl überzeugt, von seinem Kollegen einen jungen, knackigen Deutschen zum Amüsieren zu kriegen dafür, dass der hier in diesem Loch wohnen darf. Vermutlich hat er sich unter dem Sexprojekt auch was anderes vorgestellt. Und jetzt ist Professor Fulton enttäuscht.

Anders kann ich mir das alles nicht erklären.

Er lässt mich Einkäufe erledigen und Privatbesorgungen machen, als wäre ich das Au-pair-Mädchen. Ich mag ein Nobody sein, noch dazu einer, der auf Frauen steht und deshalb ausgelöscht werden sollte. In solchen Momenten der Gefahr finde ich mich aber liebenswert. Im kosmischen Sinne halte ich mich für nicht schuldig. Ich habe einfach nicht mit dieser schwulen Strafkolonie gerechnet.

Bisher hielt ich den Schulabbrecher Lila von Dornbusch für die wundersamste akademische Lehrkraft des Universums. Aber Ihro hochkönigliche Traurigkeit hat ebenfalls Anspruch auf diesen Titel.

Trotz ihres extrem unterschiedlichen Temperaments strahlen beide Männer stoische Gier, Schüchternheit und nur im Sitzen so etwas wie Würde aus.

Doch gegen Lilas barocken Tittenthron wirkt Jeremiahs

Mir wird als Sitzgelegenheit ein leerer Bierkasten angeboten.

Auf den Sesseln schlafen wertvolle Tiere.