Für alle weiblichen Teenager, die für die gute Sache kämpfen.

 

Und für meinen Lehrer im Fach »Aktuelle Themen« in der Zwölften, der mich vor versammelter Klasse einen »Feminazi« nannte. Sie haben mich beleidigt, aber Sie haben auch mein Interesse am Feminismus geweckt, insofern war das ein Eigentor.

Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt, Sie Volltrottel.

Kapitel

Eins

Mein Englischlehrer Mr Davies fährt sich über seinen militärisch kurzen Bürstenschnitt. Am Haaransatz glitzern Schweißperlen, und seine aufgeblasenen Wangen sind gerötet. Er sieht aus wie ein betrunkenes Stachelschwein.

Betrunken könnte sogar stimmen. Auch wenn es Dienstagvormittag ist.

»Sprechen wir über die Symbolik in Zeile zwölf des Gedichts«, verkündet er, und ich greife zum Stift, um mir genau aufzuschreiben, was er sagt, als er uns erklärt, was das goldene Licht hinter den blauen Vorhängen in Wirklichkeit zu bedeuten hat. Mr Davies sagt zwar, wir sollen über die Symbolik sprechen, aber wenn wir später einen Test darüber schreiben, erwartet er von uns, dass wir wortwörtlich das wiedergeben, was er uns erzählt hat.

Ich blinzele und versuche, wach zu bleiben. Die Hälfte der Klasse ist mit ihren Handys beschäftigt und grinst verhalten in den eigenen Schoß. Ich kann regelrecht spüren, wie mein Hirn sich zersetzt.

»Vivian, was meinen Sie?«, fragt Mr Davies mich. War ja klar.

»Na ja«, sage ich, sacke in mir zusammen und starre auf die Kopie mit dem Gedicht vor mir auf dem Tisch. »Ähm …« Ich werde rot. Warum muss Mr Davies ausgerechnet mich aufrufen? Warum knöpft er sich nicht einen von den Schoßgrinsern vor? Ich tue wenigstens so, als würde ich aufpassen.

Eine gefühlte Ewigkeit lang sagt keiner von uns etwas. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl herum. Mr Davies sieht mich an. Ich kaue verzagt auf der Unterlippe. Mr Davies sieht mich an. Ich zermartere mir das Hirn nach einer Antwort, aber inzwischen sind alle Blicke auf mich gerichtet, und da kann ich nicht klar denken. Irgendwann gibt Mr Davies auf.

»Lucy?«, ruft er die Neue auf, die sich schon meldet, seit er die Frage gestellt hat. Ausdruckslos sieht er sie an und wartet.

»Na ja«, setzt Lucy an, und man sieht genau, dass sie es kaum erwarten kann, loszulegen. Sie setzt sich sogar aufrechter hin. »Wenn man an das denkt, was das lyrische Ich in Zeile acht sagt, dann frage ich mich, ob das Licht nicht einen, ähm, wie nennt man das … irgendwie einen Wechsel im Verständnis des lyrischen Ichs anzeigt …«

Ein Husten hinten im Klassenraum unterbricht sie, gefolgt von einem gemurmelten: »Mach mir ein Sandwich.«

Und dann wird überall gekichert und gelacht.

Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Mitchell Wilson ist, der da das Arschloch gibt, angefeuert von seinen Kotzbrocken von Footballkumpels.

Lucy schnappt nach Luft. »Was hast du da gerade gesagt?«, fragt sie und dreht sich um, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen.

Mitchell grinst sie hämisch an, die blauen Augen halb unter seinem kastanienbraunen Haar verborgen. Er könnte sogar ganz niedlich sein, wenn er nie den Mund aufmachen, nicht hier rumlaufen, nicht atmen oder sonst irgendwas tun würde.

»Ich habe gesagt«, setzt Mitchell an und amüsiert sich köstlich, »mach … mir … ein … Sandwich.« Seine Speichellecker lachen, als wäre das die originellste Comedy-Zeile ever, obwohl sie diesen Spruch seit dem Frühjahr alle rauf- und runterleiern.

Lucy wendet sich wieder nach vorn. Von der Brust an aufwärts bekommt sie lauter rote Flecken. »Das ist nicht witzig«, bringt sie leise hervor. Sie lässt ihr langes schwarzes Haar nach vorn gleiten, als wollte sie sich dahinter verstecken.

Mr Davies schüttelt den Kopf und runzelt die Stirn.

»Wenn es hier nicht möglich ist, eine vernünftige Diskussion zu führen, müssen wir das eben anders machen«, sagt er zu uns. »Holen Sie alle Ihre Grammatikbücher heraus und fangen Sie mit den Übungen auf Seite 25 und 26 an. Sie haben Zeit bis morgen.« Ich könnte schwören, dass er diese Seiten vollkommen willkürlich ausgesucht hat. Wer weiß, ob wir den Stoff dazu überhaupt schon hatten.

Während meine Klassenkameraden kollektiv stöhnen und ich in meinem Rucksack nach dem Buch suche, fasst Lucy wieder ein bisschen Mut und meldet sich zu Wort: »Mr Davies, das ist nicht gerecht. Wir hatten eine vernünftige Diskussion. Aber die da« – sie nickt nach hinten – »sind doch die, die sie ruiniert haben. Ich verstehe nicht, warum Sie uns alle dafür bestrafen.«

Innerlich krümme ich mich. Lucy ist neu auf der East Rockport High. Sie weiß noch nicht, was jetzt kommt.

»Lucy, habe ich nicht gerade gesagt, dass alle mit den Übungen auf Seite 25 und 26 des Grammatikbuchs anfangen sollen?«, stößt Mr Davies hervor, und Lucy runterzuputzen, scheint ihm wesentlich mehr Spaß zu machen als die Erörterung des goldenen Lichts hinter den blauen Vorhängen.

»Doch, aber …«, setzt Lucy an.

»Nein, Schluss jetzt«, unterbricht Mr Davies sie. »Schluss damit. Sie dürfen zusätzlich auch die Übungen auf Seite 27 bearbeiten.«

Mitchell und seine Freunde lachen sich schlapp, während Lucy wie betäubt dasitzt und Mr Davies mit großen Augen anstarrt. Als hätte in ihrem ganzen Leben noch kein Lehrer so mit ihr geredet.

Ein paar Augenblicke später wird es Mitchell und seinen Freunden zu langweilig, und sie kriegen sich wieder ein. Nach und nach machen sich alle resigniert an die Aufgaben. Meine Stirn ist auf das Wort Nebensätze gerichtet, aber mein Blick wandert verstohlen zu Lucy. Sie starrt ihr ungeöffnetes Grammatikbuch an, als hätte jemand sie damit geohrfeigt und sie hätte sich noch nicht davon erholt. Ich zucke innerlich zusammen. Es ist nicht zu übersehen, dass sie sich bemüht, nicht zu weinen.

Als es endlich klingelt, schnappe ich mir meine Sachen und verlasse den Klassenraum so schnell wie möglich. Lucy sitzt noch an ihrem Platz und packt mit gesenktem Kopf ihre Sachen in ihren Rucksack.

Auf dem Flur sehe ich Claudia auf mich zukommen.

»Hey«, sage ich und setze den Rucksack auf.

»Hey«, antwortet sie und grinst mich genauso an wie damals, als wir in der Vorschule beste Freundinnen wurden, vereint durch unsere gemeinsamen Vorlieben für Sticker und Schokoladeneis. »Was geht ab?«

Ich vergewissere mich unauffällig, dass weder Mitchell noch seine Freunde in Hörweite sind. »Wir haben gerade krass viele Grammatikhausaufgaben bekommen. Mitchell hat dieses neue Mädchen, Lucy Hernandez, gemobbt, und anstatt ihn sich vorzuknöpfen, hat Mr Davies der ganzen Klasse zusätzliche Hausaufgaben aufgedrückt.«

»Lass mich raten«, sagt Claudia, während wir über den Flur gehen. »Mach mir ein Sandwich?«

»O mein Gott, wie bist du darauf nur gekommen?«, frage ich gespielt überrascht.

»Ach, nur so.« Claudia verdreht die Augen. Sie geht mir nur bis zur Schulter, und ich muss mich zu ihr hinabbeugen, um sie hören zu können. Ich bin eins achtundsiebzig und im vorletzten Highschooljahr, aber ich fürchte, ich wachse immer noch. Claudia dagegen ist schon seit der Sechsten so ein Winzling.

»Das ist so ein Bullshit«, murmele ich, als wir an meinem Spind stehen bleiben. »Und dabei ist es nicht mal originell. Mach mir ein Sandwich. Ich meine, Alter, man könnte sich doch wenigstens mal was ausdenken, was nicht schon seit der Middle School durchs Internet schwirrt.«

»Allerdings«, stimmt Claudia mir zu und wartet, während ich in den höhlenartigen Tiefen meines unaufgeräumten Spinds nach meinem Lunchpaket suche. »Aber hey. Was kann man von dem schon erwarten.« Ich sehe Claudia an, und sie zuckt die Schultern. Auf der Middle School war Mitchell nur ein Junge unter vielen, und sein Dad war bloß ein langweiliger Geschichtslehrer, der die Unterrichtszeit gern damit totschlug, uns auf YouTube Videos von berüchtigten Footballverletzungen zu zeigen, am liebsten solche, bei denen die Knochen aus der Haut ragten. Damals war Mitchell eher wie ein Mückenstich. Nervig, aber leicht zu vergessen, wenn man ihn einfach ignorierte.

Fünf Jahre später ist Mr Wilson in der undurchschaubaren Schulhierarchie der Stadt East Rockport unverhofft aufgestiegen und hat es zum Direktor der Highschool gebracht, während Mitchell fünfzehn Kilo zugelegt und East Rockport entdeckt hat, dass er eine perfekte Spirale werfen kann. Also ist es total okay, wenn Mitchell Wilson und seine Freunde im Unterricht Mädchen ins Wort fallen und ihnen sagen, sie sollen ihnen ein Sandwich machen.

In der Cafeteria schlängeln Claudia und ich uns zwischen den Tischen hindurch und setzen uns zu den Mädchen, mit denen wir immer zusammen essen: Kaitlyn Price, Sara Gomez und Meg McCrone. Wie wir zwei sind sie nette, ziemlich normale Mädchen, und wir kennen uns schon ewig. Sie sind Mädchen, die noch nie woanders gelebt haben als in dem 6000-Einwohner-Nest East Rockport in Texas. Mädchen, die versuchen, nicht aufzufallen. Mädchen, die heimlich für Jungen schwärmen, die sie nie ansprechen werden. Mädchen, die im Unterricht still sind, ganz anständige Noten bekommen und hoffen, dass nicht ausgerechnet sie aufgerufen werden, um die Symbolik in Zeile zwölf eines Gedichts zu erklären.

Nette Mädchen halt.

Wir sitzen da, hecheln die letzten Unterrichtsstunden und den neuesten Tratsch durch, und während ich von meinem Apfel abbeiße, sehe ich Lucy Hernandez an einem Tisch mit ein paar anderen Einzelgängerinnen sitzen, die sich regelmäßig zusammentun, um nicht so einsam zu wirken. Ihr Tisch ist umgeben von dem Tisch der Sportskanonen, dem Tisch der Beliebten, dem Tisch der Kiffer und dem Tisch mit den anderen Leuten, die in keine Schublade passen. Lucys Tisch ist der deprimierendste. Sie redet mit niemandem, sondern rammt bloß eine Plastikgabel in eine abgestoßene Tupperdose mit einem unendlich traurig wirkenden Nudelgericht.

Ich überlege, ob ich zu ihr gehen und sie an unseren Tisch einladen soll, aber dann muss ich an Mitchell und seine Dumpfbackenfreunde denken, die mitten in der Cafeteria sitzen, herumalbern und nur auf eine Gelegenheit warten, einer von uns noch mehr Frauenhasserscheiß an den Kopf zu werfen. Und nach dem, was gerade in Englisch passiert ist, ist Lucy Hernandez wahrscheinlich gerade eine erstklassige Zielscheibe dafür.

Also lade ich sie nicht an unseren Tisch ein.

Vielleicht bin ich doch nicht so ein nettes Mädchen.

Kapitel

Zwei

Als ich von der Schule nach Hause komme, wartet Joan Jett, unsere uralte getigerte Katze, schon hinter der Tür auf mich. Sie begrüßt uns gern an der Haustür – in diesem Punkt ist sie mehr Hund als Katze – und sie miaut und maunzt für ihr Leben gern und will auf Teufel komm raus Aufmerksamkeit erregen, was sie meiner Mutter zufolge zur perfekten Namensvetterin für die menschliche Joan Jett macht, für diese Frau, die in den 1970ern in einer reinen Frauenband namens The Runaways spielte, bevor sie ihre eigene Band gründete. Als Claudia und ich noch jünger waren, haben wir immer Videos von Joan Jett, der Katze, gedreht, wie sie zu Songs von Joan Jett, der Sängerin, tanzte.

Ich streichele Joan Jett kurz und entdecke dann auf der Küchentheke eine Nachricht von meiner Mutter. Sie könnte mir einfach eine SMS schreiben, aber ihr gefällt das »Haptische am Papier«, wie sie es nennt.

 

Hab heute Spätschicht. Meemaw und Grandpa haben gesagt, Du kannst zum Abendessen rübergehen, wenn Du magst. Falte bitte die Wäsche auf meinem Bett zusammen und räum sie weg. Hab Dich lieb. xoxoxo Mom

 

Mittlerweile bin ich alt genug, um allein zu Hause zu bleiben, wenn Mom Spätschicht in der Notfallpraxis hat, aber als ich klein war, holte Meemaw, meine Oma, mich immer von der Schule ab, wenn Mom Spät- oder Nachtschicht hatte. Dann aß ich mit ihr und Grandpa ein Tiefkühlgericht von Stouffer’s, und hinterher rieten wir alle bei Glücksrad mit, bevor die beiden mich im ehemaligen Kinderzimmer meiner Mutter ins Bett brachten. Meemaw hatte es in pastelligen Rosa- und Grüntönen gestrichen, und von den alten Punkrockpostern und -stickern meiner Mutter war keine Spur mehr zu sehen, aber ich spähte immer heimlich aus dem Fenster und stellte mir Mom als Teenager vor, wild und finster entschlossen, East Rockport eines Tages zu verlassen und nie zurückzukommen. Auch wenn sie nur die erste Hälfte ihres Plans hinbekommen hat, fasziniert mich die Jugend meiner Mutter noch immer.

Irgendwann bin ich dann immer eingedöst und je nachdem, wie müde Mom nach der Arbeit war, wachte ich entweder wieder auf, wenn Grandpa die Today-Show im Frühstücksfernsehen sah, oder ich wurde mitten in der Nacht wach gerüttelt, um an der Hand meiner Mutter den zehn Sekunden langen Fußweg zu unserem Haus anzutreten, in der Nase einen Hauch der Geruchsmischung aus Minze und Antiseptika, die Mom immer von der Arbeit nach Hause folgt. Mittlerweile gehe ich nur noch zum Abendessen rüber zu meinen Großeltern, wobei sie jedes Mal versuchen, mich zum Bleiben zu überreden, wie in der guten alten Zeit.

Mein Telefon summt. Meemaw.

»Hallo, Schätzchen, ich mache gerade Hühnchen-Enchiladas warm«, erzählt sie mir. »Magst du rüberkommen?«

Meemaw und Grandpa frühstücken um fünf, essen um elf zu Mittag und um Viertel vor fünf zu Abend. Früher dachte ich, das läge daran, dass sie schon alt sind, aber Mom sagt, so seien sie schon immer gewesen, und als sie mit achtzehn zu Hause auszog, habe sie sich wie eine Rebellin gefühlt, weil sie erst nach Einbruch der Dunkelheit zu Abend aß.

»Okay«, sage ich, »aber ich muss zuerst die Wäsche zusammenlegen.«

»Na, dann komm rüber, wenn du fertig bist.«

Als kleinen Imbiss hole ich mir ein Stück Käse aus dem Kühlschrank, und dann beantworte ich erst einmal ein paar Nachrichten von Claudia, die sich über ihren nervigen kleinen Bruder beklagt, bis ich mich aufraffe, endlich das mit der Wäsche hinter mich zu bringen. Gefolgt von der maunzenden Joan Jett gehe ich in Moms Zimmer, wo ich auf dem ungemachten Bett einen ganzen Berg Wäsche finde. Ich beginne damit, pastellfarbene Unterhosen zu ordentlichen Quadraten zu falten und BHs zusammenzulegen. Es sind alles Frauenklamotten. Mein Vater starb, als ich noch ein Baby war, bei einem Motorradunfall auf einer Spritztour über die Straßen von Portland, Oregon, wo er, Mom und ich damals lebten. Er hieß Sam, und ich weiß, es ist komisch, so etwas über den eigenen Vater zu sagen, obwohl man sich gar nicht an ihn erinnern kann, aber von Fotos weiß ich, dass er voll süß war – dunkelblond, grünäugig und schön muskulös, aber nicht so muskelbepackt, dass es gruselig oder eklig gewesen wäre.

Mom vermisst ihn noch immer, und eines Abends vor etwa einem Jahr, als sie zu viel Wein getrunken hatte, erzählte sie mir, es sei unheimlich, dass sie immer älter werde, aber Sam immer gleich alt bleiben würde. So nannte sie ihn mir gegenüber, »Sam«. Nicht »dein Vater«, sondern Sam, und das war er wohl vor allem für sie. Ihr Sam. Danach ging sie in ihr Zimmer, und ich hörte, wie sie sich in den Schlaf weinte, was meiner unsentimentalen Mutter gar nicht ähnlichsah. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Vater nicht vermisse, aber ich habe einfach überhaupt keine eigenen Erinnerungen an ihn. Ich war erst acht Monate alt, als er starb, und danach zogen Mom und ich zurück nach East Rockport, damit meine Großeltern sich um mich kümmern konnten, während meine Mutter ihre Ausbildung zur Krankenschwester fertig machte. Und jetzt, sechzehn Jahre später, sind wir noch immer hier.

Als ich einige der schlichten Sommerkleider meiner Mutter aufhänge, fällt mein Blick auf einen vollgestopften, abgewetzten Schuhkarton, den sie auf dem obersten Regal ihres Kleiderschranks aufbewahrt. Er ist mit schwarzem Edding mit MEINE VERGEUDETE JUGEND beschriftet. Ich hänge das letzte Kleid in den Schrank, ziehe den Schuhkarton von seinem Ruheplatz und nehme ihn mit in mein Zimmer. Diesen Karton habe mir schon oft angesehen. Damals, als Claudia und ich unsere Joan-Jett-Katzentanzvideo-Phase hatten, holte ich ihn gern herunter, um darin zu stöbern, aber mittlerweile habe ich ihn seit Jahren nicht mehr angefasst.

Nun nehme ich den Deckel ab und breite behutsam die alten Musikkassetten und Fotos, die neonfarbenen Flugblätter und die Dutzenden von fotokopierten Heftchen mit Titeln wie Girl Germs, Jigsaw und Gunk auf meinem Bett aus. Ich betrachte ein Polaroidfoto meiner Mutter, auf dem sie nur wenige Jahre älter aussieht als ich jetzt, vielleicht neunzehn oder zwanzig. In ihrem langen dunklen Haar ist eine platinblonde Strähne, und sie trägt ein abgerissenes Babydoll-Kleid und Soldatenstiefel. Sie streckt der Kamera die Zunge heraus und hat einer anderen Frau mit dunklen Augen und einem Piercing in der Augenbraue die Arme um den Hals geschlungen. Auf einen Arm hat meine Mutter sich mit schwarzem Stift RIOT STATT DIET geschrieben.

Sie redet nicht viel über die Zeit, bevor sie meinen Vater in Portland kennenlernte, aber wenn doch, dann grinst sie immer ein bisschen stolz, vielleicht weil sie sich daran erinnert, wie sie nach der Highschool in einem uralten Toyota, den sie sich von ihrem eigenen Geld gekauft hatte, nach Washington fuhr, einfach, weil dort ihre Lieblingsbands lebten und spielten. Bands mit Namen wie Heavens to Betsy und Excuse 17. Bands, die fast vollständig aus Frauen bestanden, die Punkrock spielten, von Gleichberechtigung sangen und selbstgemachte Heftchen herausgaben, die sie nicht Magazines, sondern Zines nannten.

Sich selbst nannten sie Riot Grrrls.

Damals war meine Mutter ziemlich wild. Wild im Sinne von: eine Kopfseite kahl geschoren, schwarze Doc Martens und Lippenstift in der Farbe eines üblen Blutergusses. Im Vergleich zu vielen anderen Müttern ist Mom ziemlich entspannt – zum Beispiel hat sie immer offen mit mir über Sex geredet, und es macht ihr nichts aus, wenn ich in ihrer Gegenwart hin und wieder fluche –, aber es fällt mir trotzdem schwer, die Frau auf dem Polaroid mit der Mom, die ich kenne, in Einklang zu bringen. Mit der Frau in fliederfarbener, mit Schmetterlingen bedruckter Krankenschwesternkleidung, die einmal im Monat am Küchentisch die Zahlungsein- und -ausgänge auf ihrem Bankkonto kontrolliert.

Ich mache es mir auf meinem Bett bequem und betrachte eine Seite in einem der Riot-Grrrl-Zines, auf der ein Cartoon abgebildet ist: Wonder Woman mit grimmigem Blick, die Hände in die Hüften gestemmt, und aus ihrem Mund kommen Worte, die die Männer warnen, sich mit ihr anzulegen, wenn sie durch die Stadt geht, es sei denn, sie wollten einen Schlag ins Gesicht. Grinsend betrachte ich dieses Bild, dann blättere ich weiter und wünsche mir plötzlich, dass Wonder Woman auf die East Rockport High ginge und in sämtlichen Kursen säße, die ich mit Mitchell Wilson zusammen habe. Als Joan Jett maunzend ihr Abendessen einfordert, muss ich mich zwingen, alles zurück in den Schuhkarton zu packen und ihn wieder in Moms Schrank zu verstauen. Ich kann es nicht genau erklären, aber die Sachen in diesem Karton haben etwas an sich, was mich aufmuntert. Ich fühle mich irgendwie verstanden. Was schon komisch ist, denn Riot Grrrl, das war vor einer Million Jahren, und keine dieser Frauen kennt mich. Aber ich wünschte plötzlich, ich würde sie kennen.

 

Meemaw hat einen Gockel-Tick. Gockel auf Geschirrtüchern, Gockel auf Tellern, Gockel aus Keramik, die wie bei einer Parade auf der Fensterbank marschieren. Sie hat sogar Salz- und Pfefferstreuer in Form von Gockeln.

Ich nehme ihren Salzstreuer in die Hand und betrachte das immerwährende freundliche Lächeln des Gockels.

»Lächeln Hähne eigentlich wirklich?«, frage ich und streue Salz auf meine Portion Dosengemüse.

»Sicher«, sagt Meemaw. »Sie sind sehr gesellig.«

Mein Großvater grunzt nur und spießt mit der Gabel ein Stück der Hühnchen-Enchiladas von Stouffer’s auf seinem Teller auf. »Wie viele Hähne hast du persönlich kennengelernt, Maureen?«, fragt er.

»Diverse«, antwortet Meemaw, ohne mit der Wimper zu zucken, und Grandpa seufzt bloß, aber ich weiß, er liebt es, dass Meemaw immer das letzte Wort hat.

Dass meine Großeltern so durch und durch großelterlich sind, gefällt mir. Ich höre gern zu, wenn sie sich kabbeln, sich milde necken, sich so unterhalten, wie es wahrscheinlich nur zwei Menschen tun, die schon ewig zusammen sind. Mir gefallen die lustigen Redewendungen, die Grandpa immer wieder hervorkramt und im Brustton der Überzeugung von sich gibt (»Denk dran, Vivian, wer sich auf dem Schulweg verirrt, findet sich im Leben nicht zurecht«). Und ich mag es, dass Meemaw unbeirrt jeden Abend Glücksrad schaut und einfach in den Raum posaunt, was ihr in den Sinn kommt (»Charlie Naseweis! Grüne Tomaten! Sour-Cream-and-Onion-Kartoffelchips!«), obwohl sie noch nie irgendetwas richtig geraten hat.

Bei Meemaw und Grandpa ist es einfach gemütlich. Aber wie die meisten Großeltern blicken sie es überhaupt nicht, was es bedeutet, ein Mädchen und sechzehn und in der elften Klasse zu sein.

»Ist heute irgendwas Aufregendes in der Schule passiert?«, fragt Meemaw und tupft sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel ab. Ich schiebe mit der Gabel meine grünen Bohnen über den Teller und denke an die Englischstunde und die Hausaufgaben, die noch in meinem Rucksack warten.

»Nichts besonders Aufregendes«, sage ich. »Ich habe einen Haufen Zusatzaufgaben an der Backe, bloß weil Mitchell Wilson und seine Freunde solche Vollidioten sind.«

Grandpa runzelt die Stirn, und Meemaw fragt, was ich damit meine, also erzähle ich ihnen von Mitchells blödem Spruch.

»Ich verstehe nicht einmal, was das heißen soll«, sagt Meemaw. »Warum will er denn, dass ihm jemand ein Sandwich macht?«

Ich atme tief durch. »Er wollte gar nicht, dass ihm jemand ein Sandwich macht, Meemaw«, erkläre ich. »Das ist einfach dieser bescheuerte Witz, mit dem die Jungs uns Mädchen sagen wollen, dass wir in die Küche gehören und keine Meinung haben sollten.« Meine Stimme ist immer lauter geworden.

»Oh. Tja, das war jedenfalls nicht sehr nett von Mitchell«, sagt Meemaw und reicht Grandpa den Salzgockel.

Ich zucke die Achseln und versuche kurz, mir vorzustellen, wie es sein muss, wenn man im Ruhestand ist und sich den ganzen Tag mit seiner Keramikgockelsammlung beschäftigen kann, ohne etwas von den Verhältnissen auf der Highschool von East Rockport zu ahnen.

»Was er gesagt hat …« Ich halte inne und sehe wieder die leuchtend roten Flecken vor mir, die Lucy Hernandez vor Verlegenheit bekam. Dabei wird auch mir kurz heiß, aber nicht vor Verlegenheit. »Na ja, ich finde, das ist voll sexistisch.« Es fühlt sich gut an, das auszusprechen.

»Ich schätze, vom Sohn eines Schuldirektors hätte ich bessere Manieren erwartet«, sagt Meemaw und übergeht meine Bemerkung.

»Kannst du dir vorstellen, was Lisa bei so etwas getan hätte?«, fragt mein Großvater plötzlich und blickt meine Großmutter an.

Neugierig sehe ich Grandpa an. »Was denn? Was hätte Mom getan?«

»Ich mag gar nicht daran denken«, sagt Meemaw und hält die Hand vor sich wie ein Verkehrshelfer, der einen auffordert, stehen zu bleiben.

»Deine Mutter hätte sich richtig ins Zeug gelegt«, fährt Grandpa fort und kratzt die letzte Gabel voll auf seinem Teller zusammen. »Sie hätte … eine Unterschriftenkampagne gestartet. Hätte ein großes Schild gemalt und wäre damit durch die Schule marschiert. Zuallererst hätte sie einen richtigen Wutanfall bekommen.«

Ich muss lachen. Die Geschichten über ihre rebellische Jugend setzen ein, lange bevor sie in den Pazifischen Nordwesten zog und sich den Riot Grrrls anschloss. Zum Beispiel ist sie einmal mit knallblau gefärbten Haaren an der East Rockport High aufgetaucht, nachdem der Direktor am Tag zuvor verkündet hatte, von nun an gestatte die Kleiderordnung keine unnatürlichen Haarfarben mehr. Sie wurde für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen, und meine Großeltern mussten ein Vermögen dafür ausgeben, das Blau überfärben zu lassen, ohne dass Mom die Haare ausfielen. Kurz stelle ich mir vor, was es für ein Gefühl gewesen sein muss, durch den Hauptflur der Schule zu laufen, während einen alle anstarren, weil man Haare hat, die wie blaues Wassereis aussehen. Allein beim Gedanken daran krümme ich mich innerlich.

»Das Problem war, dass deine Mutter immer Streit gesucht hat«, fährt Meemaw fort und trinkt ihren Eistee aus. »Sie hatte mehr Courage, als gut für sie war. Damit hat sie es sich unnötig schwer gemacht. Und uns auch, sosehr wir sie auch lieben.«

»Ja, ich weiß«, sage ich. Diese Ansprache kenne ich schon. Und vielleicht hat sie es Meemaw und Grandpa wirklich schwer gemacht, aber die Frau auf dem Polaroid in dem MEINE VERGEUDETE JUGEND-Schuhkarton schien das Leben gar nicht so furchtbar zu finden. Sie schien Spaß zu haben. Sie schien es zu genießen, für etwas zu kämpfen, auch wenn sie nicht immer gewann.

»Die gute Nachricht ist«, verkündet Meemaw kategorisch, »dass das Rebellionsgen eine seltsame Mutation gewesen zu sein scheint.« Sie lächelt mich an und stapelt das schmutzige Geschirr aufeinander.

»Unsere brave Vivian«, stimmt Grandpa zu. Er greift sogar über den Tisch und zerstrubbelt mir mit seiner großen schwieligen Großvaterhand die Haare, als wäre ich erst zehn.

Ich lächele zurück, aber mit einem Mal bin ich genervt. Es gefällt mir nicht, genervt von Grandpa zu sein. Oder von Meemaw. Aber es gefällt mir auch nicht, brav genannt zu werden. Selbst wenn es wahrscheinlich – nein, garantiert – stimmt. Also sage ich nichts dazu. Ich lächle bloß und versuche, meine Genervtheit zu verdrängen.

Nach dem Abendessen mache ich meine Hausaufgaben (natürlich). Dann setze ich mich zu meinen Großeltern ins Wohnzimmer (von Meemaw und Grandpa »Fernsehzimmer« genannt), um mit ihnen Glücksrad anzuschauen, lache über Meemaws abstruse Antworten (»›Luck Be A Lady Tonight‹!«, »Susi und Strolch!«, »My Fair Lady!«) und lasse mir von Grandpa einen koffeinfreien Kaffee mit Milch und Zucker machen. Aber ich muss immer wieder daran denken, wie verletzt Lucy ausgesehen hat und wie schadenfroh Mitchell und seine bescheuerten Freunde gegrinst haben. Diese Hitze, die beim Abendessen urplötzlich in mir aufstieg, regt sich erneut und lässt meinen Magen zusammenkrampfen. Ich fühle mich ganz rastlos.

Als Glücksrad zu Ende ist, verabschiede ich mich von meinen Großeltern. Wie üblich protestieren sie und versuchen, mich noch zum Bleiben zu überreden, wenigstens bis nach der Castingshow Dancing With The Stars. Aber ich lehne ab, küsse die beiden auf die Wange und bedanke mich – brav – dafür, dass sie mich zum Essen eingeladen haben.

»Jederzeit, mein Schatz«, sagt Grandpa, bringt mich zur Tür und nimmt mich fest in die Arme, und da bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich vorhin so genervt von ihm war.

 

Zu Hause sehe ich mir noch irgendeinen Quatsch im Fernsehen an und spiele ein bisschen mit meinem Handy herum. Dann beschließe ich, mich bettfertig zu machen, und ziehe meinen Schlafanzug an – Boxershorts und ein altes Runaways-T-Shirt mit einer sehr jungen Joan Jett (der menschlichen) darauf, das meine Mutter mir irgendwann mal zu Weihnachten geschenkt hat. Während ich mir die Zähne putze, höre ich, dass die Haustür geöffnet wird.

»Mom?« Ich gehe in den Flur, der in die Küche führt.

»Hallo, junge Dame«, antwortet sie und wirft die Autoschlüssel auf die Arbeitsplatte, wo sie am Standmixer liegen bleiben. Dann bleibt sie mitten in unserer briefmarkengroßen Küche stehen und starrt an die Decke, ehe ihr ein lauter Seufzer entfährt. »O Mann, was für ein Abend.« Mom löst ihren Haarknoten, und ihr dickes schwarzes Haar gleitet ihren Rücken hinab wie der Vorhang nach einer Theateraufführung. Sie geht zum Kühlschrank und späht hinein, und ich putze mir die Zähne zu Ende und gehe zurück zu ihr.

»Wo ist der Rest vom Chinaimbiss?«, fragt sie, während sie Schachteln und Coladosen hin und her schiebt.

»Habe ich neulich aufgegessen«, sage ich und mache ein bedauerndes Gesicht, als sie mich gespielt verärgert über die Kühlschranktür hinweg ansieht.

»Mist«, murmelt sie. »Na ja, ein Eis um zehn Uhr abends hat noch niemanden umgebracht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.« Sie holt eine Packung Pfefferminzeis mit Schokostückchen aus dem Gefrierschrank und geht damit in unser kleines Wohnzimmer gleich neben der Küche, wo wir den Großteil unserer gemeinsamen Zeit verbringen. Ich folge ihr. Sie setzt sich auf ihren üblichen Platz auf dem abgewetzten Sofa und klopft neben sich aufs Polster. Ich setze mich zu ihr.

»Alles in Ordnung?«, frage ich, während sie einen Löffel Eis isst und sich endlich ein bisschen entspannt.

»Ja, bin nur müde.« Sie runzelt die Stirn und schaufelt sich einen weiteren großen Löffel Eis aus der Packung. »Sobald ich zur Tür reinkam, hatten wir bis Schichtende alle Hände voll zu tun.«

»Irgendwas Ekliges oder Gruseliges?«, frage ich.

Sie schluckt herunter, lehnt den Kopf an und schließt kurz die Augen. Mom ist noch immer schön, selbst in dieser rosa Schwesternkleidung mit den winzigen weißen Gänseblümchen darauf. Ihr dunkles Haar kontrastiert mit ihrer hellen Haut, und sie bewegt sich trotz ihrer Größe total anmutig. Meemaw sagt, wir sehen uns sehr ähnlich, auch wenn wir uns im Verhalten nicht ähneln, und ich hoffe, sie hat recht, obwohl ich das selbst jetzt nicht unbedingt finde.

»Nein, zum Glück nichts allzu Gruseliges. Bloß Harnleiterinfektionen und entzündete Ohren.« Manchmal kommt Mom mit bizarren Geschichten nach Hause, über die wir beide lachen müssen, wie an dem Tag, als ein Kind sich einen ganzen Haufen Vitamintabletten in die Nase gesteckt hatte.

Eine Weile sitzen wir schweigend da, und ich streichele einen ihrer langen blassen Arme. Sie sieht mich an und lächelt.

»Wie wars in der Schule?«, fragt sie.

»Wie immer. Schule eben.«

»Was für eine ausführliche Schilderung.«

»Es gibt einfach nichts zu erzählen«, beteuere ich. Was natürlich nicht stimmt. An einem anderen Abend hätte ich ihr wahrscheinlich erzählt, was für einen beknackten Spruch Mitchell Wilson abgesondert hat, wie leid mir Lucy tat und wie wütend ich auf Mr Davies war, weil er uns alle bestraft hat, anstatt sich mit dem eigentlichen Problem zu befassen. Vielleicht hätte ich sogar zugeben können, dass ich mich über Meemaw und Grandpa geärgert habe, weil sie mich brav genannt haben. Aber daran, wie Mom die Stirn runzelt, um die Augen offen zu halten, merke ich, dass sie völlig erledigt ist.

»Na ja, es ist sowieso schon spät«, sagt sie, »und du solltest ins Bett gehen. Ich rieche wie eine Notfallpraxis, aber gib mir trotzdem einen Gutenachtkuss, ja?«

Ich beuge mich zu ihr, umarme sie und gebe ihr ein Küsschen auf die Wange, und als ich in mein Zimmer gehe, höre ich, dass Mom den Fernseher anstellt, um abzuschalten. Dann schließe ich meine Zimmertür, schlüpfe unter die Decke und schalte die Nachttischlampe aus. Die phosphoreszierenden Sterne an der Decke leuchten, als wollten sie Hallo sagen. Ich setze die Kopfhörer auf und muss wieder an Moms MEINE VERGEUDETE JUGEND-Karton denken. Dann durchsuche ich mein Handy nach Riot-Grrrl-Musik und spiele einen Song namens »Rebel Girl« von einer Band namens Bikini Kill ab.

Er beginnt mit hämmernden Drums, die so stark und wütend klingen, dass ich fürchte, wenn ich das nur laut genug hörte, könnte ich vom Bett abheben. Dann kommt die Gitarre dazu.

Aber der beste Teil ist der, wo die Leadsängerin einsetzt und ihre Stimme wie eine Rakete aus ihrem Bauch heraufschießt.

 

That girl thinks she’s the queen of the neighborhood

She’s got the hottest trike in town

That girl she holds her head up so high

I think I wanna be her best friend, yeah

Rebel girl, rebel girl

Rebel girl, you are the queen of my world

 

Die Musik hämmert und knurrt und spuckt, und während ich zuhöre, kann ich die müde, Eis essende, Schwesternkleidung tragende Mom auf der Couch kaum mit der Frau in dem MEINE VERGEUDETE JUGEND-Schuhkarton in Einklang bringen. Der Frau mit der platinblonden Strähne im Haar, die die Zunge herausgestreckt hat und deren Blick besagt, dass sie keine Angst hat, sich zu wehren.

Ich weiß, dass sie jetzt oft müde und erschöpft ist und sich Sorgen macht, wie sie all die Rechnungen bezahlen soll. Aber es gab eine Zeit, in der sie diese Musik gehört hat. In der sie gewütet und getobt und rebelliert hat. In der sie nicht brav war. Es gab eine Zeit, in der sie in vollen Zügen und laut gelebt hat. Und das kann ihr niemand mehr nehmen.

Als der Song zu Ende ist, liege ich einen Moment lang in der Stille da. Dann drücke ich noch einmal auf Play und warte darauf, dass die Drums ihre Attacke von vorne beginnen.

Kapitel

Drei