Über Gianna Molinari

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den »Tagen der deutschen Literatur« 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt »Von hier aus gut sichtbar« mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

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Eine junge Frau wird als Nachtwächterin in einer Verpackungsfabrik eingestellt. Abend für Abend macht sie ihren Rundgang, kontrolliert die Zäune. Ein Wolf soll in das Gelände eingedrungen sein. Mit jeder Nachtschicht wird die Suche nach dem Wolf mehr zu einer Suche nach sich selbst und zur Frage nach den Grenzen, die wir ziehen, um das zu schützen, woran wir glauben.

»Gianna Molinari nimmt uns an Bord einer literarischen Forschungsreise zu den Terrae Incognitae der Gegenwart, nimmt uns vom vermeintlich sicheren Ufer mit ins offene Meer.« Ruth Schweikert

»Manche Bücher sind wie Inseln. Leser betreten sie nur kurz, aber lang genug, dass sie ihre rätselhafte Schönheit, ihren sprachlichen Bewuchs, ihre Bewohner nicht mehr missen möchten. Hier ist noch alles möglich ist genau so ein Buch.« Saša Stanišić

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Gianna Molinari

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Roman

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Eins

Zwei

Drei

Großen Dank

Impressum

Der Wolf kam aus den Bergen, und mit ihm kamen andere Wölfe, kamen ins Flachland. Drangen in Gebiete vor, in denen man sie nie zuvor gesehen hatte.

Sie trieb der Hunger, das Wissen um Welpen, das Wissen um den Hunger der Welpen.

Der Wolf und die Wölfe haben keine Namen. Man nennt sie Wolf und Wölfe. Sie haben Verstecke. Sie bewegen sich nachts.

Auch ich bewege mich nachts, auch ich schaue viel in die Dunkelheit.

Auch ich drang in Gebiete vor.

Eins

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Es gibt eine Insel, auf der ein noch nie gesehenes Tierchen lebt. Forscher fuhren hin und entdeckten die Sensation. Sie fingen das Tierchen mit einem Netz und legten es in ein Glas mit Luftlöchern im Deckel. Sie tranken am Abend viel Champagner auf die Außergewöhnlichkeit ihres Fundes, ihr erfolgreiches Einfangen des Tierchens und darauf, dass kein Mensch vor ihnen je das Tierchen gesehen hatte. Sie waren außer sich vor Freude und Stolz und berauscht vom Gefühl, im Spiel der Weltwichtigkeiten mitzuwirken. Am nächsten Morgen wachten sie mit Kopfschmerzen auf und setzten sich zusammen, um über die Namensgebung zu diskutieren. Dabei dachte jeder der Anwesenden an seinen eigenen Namen. Davon hatten sie schon lange und oft geträumt, einem solchen Tierchen, mit so feinen Beinchen, mit so filigranen und eleganten Flügelchen, ihren Namen zu geben. Und davon, ihren Namen unter dem Bild dieses Tierchens in Publikationen zu lesen. Die Forscherinnen und Forscher beschlossen, dass sie das Tierchen sehen mussten, um den passendsten aller passenden Namen zu finden. Und da, an diesem Morgen, auf dieser Insel, platzten viele Träume: Die Luftlöcher im Deckel waren wohl zu groß oder das Tierchen fähig gewesen, auf irgendeine Art und Weise zu entwischen.

Mein Einstellungsgespräch fand in der Fabrikkantine statt. Der Chef saß an einem der quadratischen Tische, vor ihm stand eine Tasse Tee. Der Tee dampfte. Ich gab ihm die Hand und stellte mich vor. Er stellte auch sich vor und fragte mich, ob ich schon einmal als Nachtwächterin gearbeitet hätte. Ich nickte und sagte, dass ich oft in der Nacht wach sei, dass das kein Problem sei für mich, dass ich sehr aufmerksam sei und zuverlässig, dass ich den Job gerne machen wolle.

Wohnen Sie in der Stadt, fragte er, nahm einen Schluck Tee und schaute mich über den Tassenrand hinweg an.

Gibt es nicht die Möglichkeit, auf dem Fabrikgelände zu wohnen, eine Arbeiterwohnung vielleicht, ich bin nicht anspruchsvoll, etwas Kleines reicht.

Ob ich mir denn nicht in der Stadt eine Wohnung suchen wolle, der Weg sei nicht besonders weit, sagte der Chef. Was genau ich mir unter einer Arbeiterwohnung vorstellen würde und ob ich mich nicht umgeschaut hätte, hier gebe es nicht mehr viele Arbeiter, und Wohnungen habe es hier noch nie gegeben. Ich könne aber, wenn ich wolle, einen leer stehenden Raum beziehen, Strom und Wasser seien vorhanden, auf dem Stockwerk gebe es auch Dusche und Klo, es könne halt kalt werden, kein Luxus, Luxus ganz und gar nicht, aber ich könne es mir mal anschauen, über Miete und Weiteres werde man sich schon einig.

Ich ziehe in einen großen Raum, der sich im ersten Stock eines L-förmigen Gebäudes befindet. Daneben und darunter befinden sich weitere Räume. Das Gebäude steht auf dem Fabrikgelände und ist Teil der Fabrik. Gegenüber vom Gebäude befindet sich die Produktionshalle; weit größer, weit höher. Hinter der Produktionshalle sind zwei weitere Hallen, noch eine für die Produktion und eine Lagerhalle.

Die Fabrik liegt außerhalb einer kleinen Stadt. Dort wohnen die wenigen Mitarbeiter, die noch in der Fabrik arbeiten. Rund um die Fabrik liegen Felder, weiter hinten ist der Flughafen. Von meinem Fenster aus kann ich die Flugzeuge landen und starten sehen.

Vielleicht ist der Raum zu klein, um ihn als Halle zu bezeichnen. Ich nenne ihn dennoch Halle. Hier hat noch niemand zuvor gewohnt. Ich bin die erste Hallenbewohnerin.

Wenn ich nachts im Bett liege und an die Decke blicke, meine ich manchmal im Bauch eines Wals zu sein.

Ich versuche, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. Ist der Schatten des Vogels, der über den Hallenboden streift, das Wichtige oder ist es der Vogel selbst, den ich vom Stuhl aus nicht sehen kann?

Wichtig sind meine Hände, ebenso die Arme und Schultern, der Kopf, die Augen, der Mund. Auch meine Beine sind wichtig. Sie bringen mich vom Tisch zum Bett, von den Ecken in die Hallenmitte, an die Fensterfront.

Ich frage mich, wie die Oberfläche meiner Lunge beschaffen, wie dicht das Netz meiner Blutgefäße ist, was das Wohnen in der Halle mit mir machen wird.

Hier ist ein neues Umfeld zu erkunden. Hier ist noch alles möglich.

Die Menschen auf dem Fabrikgelände fürchten sich vor dem Wolf. Ich finde einen Zettel an meiner Hallentür: Es wurde ein Wolf auf dem Fabrikgelände gesichtet. Die Tiere suchen nach Nahrung und scheuen die Nähe der Menschen nicht. Falls Sie einen Wolf sichten, bitten wir Sie, uns dies umgehend zu melden.

Ich habe bis jetzt noch keinen Wolf gesehen.

Das Gelände zu betreten, ist für Unbefugte verboten. Das steht auf Schildern. Darauf steht auch: videoüberwacht. Das Gelände hat einen quadratischen Grundriss und ist umzäunt. An vielen Stellen wächst Unkraut am Drahtgitter hoch. Auch ist der Zaun hier und da verbogen. Ich gehe den Zaun entlang und entdecke drei Stellen, an denen er so große Öffnungen frei gibt, dass ich hindurchschlüpfen könnte.

Ich frage den Chef nach dem Wolf.

Der Koch habe den Wolf bei den Containern gesehen, wie er in den Essensresten gewühlt habe, er müsse sich etwas einfallen lassen, sagt er, das sei nicht zu verantworten, dass ein Wolf sich auf dem Gelände herumtreibe.

Ich frage den Chef, warum er das Gelände nicht neu einzäunen, die Löcher ausbessern lasse.

Das ist mir zu teuer, die Fabrik ist keine Investition mehr wert.

Warum haben Sie mich dann eingestellt?

Sie sind keine Investition, sondern eine Notwendigkeit. Ich will, dass alles mit rechten Dingen abläuft, ich will mir zum Ende hin keine Fehler erlauben.

Ich bin erstaunt, in welchem Ton er mir das sagt, als ob er sich selbst nicht recht glaube, als ob er schon längst woanders sei.

Ich werde den Koch fragen, wie der Wolf aussah, wie groß er war, was er tat, wie er schaute oder nicht schaute, wie er sich bewegte.

Ich werde in die Kantine gehen, vielleicht eine Suppe essen und den Koch fragen, wie er reagiert habe, ob der Wolf ihn erschreckt habe, ob er Angst gehabt habe, ob er sich nicht habe bewegen können, wer von beiden sich zuerst bewegt habe, der Koch oder der Wolf, in welche Richtung der Wolf verschwunden sei, ob er zurückgeschaut habe, ob der Koch das habe sehen können. All das werde ich ihn fragen und die Suppe bis zum Tellerboden aufessen.

Zu den sichtbaren Grenzen gehören die Waldgrenze, die Grenze zwischen Land und Wasser, zwischen Licht und Schatten, die Wände meiner Halle und die Umzäunung der Fabrik. Diese Grenzen sind leicht zu erkennen. Andere sind es nicht.

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Ein Stockwerk unter meiner Halle befindet sich der Überwachungsraum. Oft sitze ich in diesem Raum und schaue abwechselnd auf die vier Monitore. Ich sehe selten einen der Angestellten das Gelände verlassen oder betreten; zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Ich sehe selten Lastwagen ein- oder ausfahren.

Seit ich weiß, dass sich ein Wolf auf dem Gelände herumtreibt, sehe ich oft Katzen über den Bildschirm huschen. Manchmal wird das bewegte Bild zu einem Standbild, weil sich nichts darauf bewegt, weil die Einfahrt, die Ausfahrt, das Zentralgelände und der Haupteingang unverändert daliegen. Die einzig auszumachenden Veränderungen sind das Licht, das heller oder dunkler wird, und die Schatten, die langsam über den Betonboden wandern.

Häufig sitze ich im Überwachungsraum und lese in einem Buch. Dann linse ich nur aus den Augenwinkeln auf die Monitore.

Manchmal meine ich mitten in einem Satz eine Bewegung zu sehen. Der Wolf, denke ich, aber bis ich meinen Blick vollständig von den Zeilen löse und auf den Bildschirm richte, ist der Schatten weg.

Die Nachtwache ist in zwei Schichten aufgeteilt, von 17:00 bis 24:00 Uhr und von 00:00 bis 07:00 Uhr. Die zweite Nachtwache heißt Clemens. Sechs Tage die Woche lösen wir uns ab. Am Sonntag arbeitet niemand. Am Sonntag ist Sonntag, sagt der Chef. Das gilt auch für Einbrecher, es gibt Statistiken.

Und wie ist es bei den Wölfen mit Sonntag, frage ich den Chef.

Das ist ein ungelöstes Problem.

Wie wir uns die Schichten aufteilen, überlässt der Chef uns. Also haben wir beschlossen, dass wir im Wochenrhythmus die frühere und die spätere Schicht tauschen, so wie Clemens und meine Vorgängerin das auch gemacht haben.

Clemens wohnt in der Stadt. Er kommt mit dem Fahrrad zur Fabrik.

Das Wohlergehen der Fabrik ist mir egal. Ich interessiere mich für den Wolf. Es wird nicht mehr lange dauern, wenige Monate noch, dann werden die Maschinen abgestellt, die Produktion eingestellt. Einst wurden hier Stulpschachteln, Tragpackungen, Versandkuverts, Geschenkschachteln, Kartonboxen, Archivschachteln, Transport-, Verkaufs-, und Präsentationsverpackungen jeder Form und Größe hergestellt, aus Well-, Voll-, Hartkarton, Kompakt- oder Graupappe. Jetzt beschränkt sich die Produktion auf Faltschachteln.

Clemens kommt auf dem Monitor mit dem Fahrrad näher. Seine Mütze hat er tief in die Stirn gezogen. Mitten im Bild hebt er kurz die Hand zum Gruß, biegt dann rechts ab und verschwindet aus dem Sichtfeld.

Er öffnet die Tür zum Überwachungsraum so schwungvoll, dass sie von der Wand zurückprallt.

Hast du den Wolf gesehen? Er zieht seine Mütze vom Kopf und setzt sich neben mich vor die Monitore.

Kein Wolf, sage ich und erkenne vereinzelte graue Strähnen in seinen schwarzen Haaren.

Sonst etwas?

Das fragt er mich jede Nacht, und jede Nacht sage ich: Nein, nichts.

Oder soll ich ihm erzählen, dass ich eine Maus sah, die unter einem Gabelstapler verschwand, dass eine Eule schrie oder sonst ein Vogel, dass der Mond nicht zu sehen war, dass die Luft frisch war und nach Sumpf roch, obwohl gar kein Sumpf in der Nähe ist, dass ich mit meinen Händen Schattentiere an die Fabrikwand warf, auch den Schatten eines Wolfes?

Na dann. Gute Nacht.

Ich stehe auf und klopfe mit meiner Handfläche zwei Mal auf den Tisch. Die Monitorbilder zittern leicht.

Ich sehe noch, wie er sich die Augen reibt, dann gehe ich an ihm vorbei, zur Tür hinaus, die Treppe in den oberen Stock hoch und betrete meine Halle. An einem kleinen Waschbecken putze ich mir die Zähne und wasche mir das Gesicht, dann lege ich mich ins Bett. Das Bett ist direkt über der Stelle, an der Clemens jetzt sitzt.

Den Tisch und den Stuhl, die in der Halle stehen, habe ich vor der Lagerhalle gefunden; das Bett hat mir Clemens gebracht. In die Halle habe ich nur wenige Kleider, meine Kamera und mein Universal-General-Lexikon mitgebracht, das von großer Wichtigkeit ist. Ich schreibe fortlaufend neue Einträge hinein oder ergänze das Geschriebene. Gestern fügte ich in kleinster Schrift neben dem Wort GRENZE an:

Wände meiner Halle, Umzäunung der Fabrik.

FABRIK: Ich bin nicht wegen der Fabrik hier. Ich bin hier, weil hier ein neues Umfeld zu entdecken ist.

Ich habe mich an das Leben in einem Rechteck gewöhnt. Wenn einer mir sagen würde, dass die Welt ein Rechteck sei, dann würde ich das gerne glauben. Aber ich denke eher, dass die Welt die Welt und mein Rechteck mein Rechteck ist.

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Ich möchte die Halle nicht tauschen. Nicht gegen die Einzimmerwohnung gegenüber dem großen Einkaufszentrum, dessen Neonleuchtschrift mein Zimmer nachts in blaues Licht tauchte. Nicht gegen die Parterrewohnung mit Zugang zum Garten, in dem eine Mauer stand, auf der sich im Sommer Eidechsen sonnten, und ich mich fragte, ob das alles ist, das Huschen und Starren, ob die Eidechsen zu anderem fähig sind, ob sie sich verfärben oder meterhoch springen, wenn ich nicht hinschaue. Ich möchte die Arbeit als Nachtwächterin nicht gegen meine frühere Arbeit in der Bibliothek eintauschen. Zwar haben die beiden Arbeitsstellen einige Gemeinsamkeiten. In der Bibliothek suchte ich nach bestellten Büchern und trug sie zusammen. In der Fabrik suche ich nach einem Wolf. In der Bibliothek wie auch bei der Arbeit als Nachtwächterin ist das Tageslicht rar. Oft fehlten die gewünschten Bücher, und auch in der Fabrik fehlt einiges: angefangen bei den Mitarbeitern, die ich so selten sehe, bis hin zum Wolf, der gänzlich fehlt.

Und doch denke ich, dass das Warten auf einen Wolf insgesamt interessanter sein könnte als das Suchen und Zusammentragen von bestellten Büchern.

Ich sehe den Chef häufig mit hängenden Schultern über das Gelände gehen. Ich frage mich, ob er an der Fabrik hängt, ob es ihn schmerzt, dass die Fabrik schließt, ob er versucht hat oder immer noch versucht, die Schließung zu verhindern.

Auf die Fabrik wird nicht mehr groß geachtet. Unkraut dringt durch Ritzen im Beton und wird nicht entfernt. Die Witterung lässt Moos an den Außenwänden wachsen, lässt den Putz im Innern der Hallen bröckeln. Die Zeit zeichnet feine Risse in die Wand, die Fensterkreuze sind verrostet und rosten bestimmt noch weiter.

Es braucht hier keine Nachtwache. Ich weiß nicht, wer was von diesem Gelände entfernen sollte. Hier gibt es nichts zu holen. Mehr als Karton kann ein Einbrecher hier nicht finden.

Ich frage mich, warum der Chef mich eingestellt hat, ob es ihm dabei wirklich um die Fabrik geht oder ob er mich aus anderen Gründen auf dem Gelände wohnen lässt. Wahrscheinlich sind Clemens und ich so etwas wie Trostmittel des Chefs; solange Nachtwachen hier ihre Runden drehen, ist seine Fabrik noch als Fabrik zu bezeichnen.

Ich bin froh um den Wolf. Vielleicht verleiht der Wolf meiner Tätigkeit eine Wichtigkeit.

WOLF: Ein Wolf ist möglich.

ZAUN: Es gibt weit höhere, es gibt lückenlose Zäune.

Zwei Lastwagenfahrer sitzen drei Tische von mir entfernt. Ich habe gehofft, allein in der Kantine zu sein, dann hätte ich den Koch ungestört ausfragen können. Die Lastwagenfahrer essen Kartoffelpüree und ein Stück Fleisch; wahrscheinlich Schwein, vielleicht auch Lamm oder Rind. Der Wolf wird sich über die Essensreste freuen, denke ich und winke dem Koch. Er winkt zurück. Ich gehe zur Theke und der Koch schöpft aus Chromstahlbehältern einen Löffel Kartoffelpüree und ein Stück Fleisch auf meinen Teller.

Vielleicht ist mir ein bisschen viel Salz in das Püree geraten, sagt er.

Wird schon gehen, sage ich.

Heute ist nicht mein Tag. Er zeigt auf ein Pflaster an seinem Finger.

Ein Lastwagenfahrer holt zwei Kaffee aus dem Automaten. Zurück am Tisch, verrühren beide mit ihren Löffeln Zuckerwürfel. Die Löffel sind sehr klein in den großen Lastwagenfahrerhänden.

Ich schaue auf meinen Teller. Der Abdruck vom Schöpflöffel ist im Püree zu sehen. Ich zersteche den Abdruck mit meiner Gabel.

Die Lastwagenfahrer stellen ihr leeres Geschirr auf die Theke, legen das Geld daneben und verlassen die Kantine. Der Koch kommt mit einem Lappen und beginnt die Tische abzuwischen.

Nicht viel los, sage ich und zeige mit der Gabel in den Raum.

Der Koch schaut mich an. Hast du bisher schon erlebt, dass hier viel los ist? Früher war das anders, früher kochte ich jeden Tag vier Menüs und machte Salate und Desserts. Früher waren diese Tische voll.

Früher gab es hier auch keine Wölfe, sage ich und stelle ihm all die Fragen, die ich mir vorgenommen habe, ihm zu stellen.

Der Koch antwortet, dass der Wolf wie ein Wolf ausgesehen, dass er bei den Containern gestanden und er ihn zuerst nicht bemerkt habe und dass er erschrocken sei. Er habe sich nicht bewegen können, aber man dürfe sich in solch einer Situation auch nicht bewegen, man müsse ruhig bleiben und die Fassung bewahren. Der Koch sagt, dass auch der Wolf sich nicht bewegt habe und er den Eimer mit Essensresten langsam auf den Boden gestellt habe, dass er ihn nicht aus den Augen gelassen habe – er den Wolf nicht und der Wolf ihn nicht –, dass der Wolf sich dann plötzlich doch bewegt habe. Wohin genau er verschwunden sei, das wisse er nicht, halt in die Dunkelheit.

Clemens steht im Türrahmen. Sein Mantel ist nass. Einige Tropfen sammeln sich am Mantelsaum und fallen zu Boden.

Immer noch nichts vom Wolf, sage ich und setze Wasser auf.

Clemens zieht ein Buch aus der Innentasche seines Mantels und hält es mir hin. Der Einband ist feucht.

Canis Lupus, lese ich laut.

Stamm: Chordata (Chordatiere), Unterstamm: Wirbeltiere, Klasse: Säugetiere, Ordnung: Raubtiere, Familie: Hundeartige, Art: Lupus (Wolf).

Vielleicht interessiert es dich. Clemens hängt seinen nassen Mantel über den Radiator. Das Wasser tropft weiter und die Tropfen bilden eine kleine Insel aus Wasser.

Warum bist du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist du hier, fragt er.

Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich.

Sogar Wölfe, sagt Clemens.

Sogar die.

Kurz nach meinem Einstellungsgespräch zeigte mir der Chef die Wellkartonanlage.

WKA, sagte er, das Herzstück. Ohne Herzstück keine Fabrik. Der Maschinenlärm in der Produktionshalle war so laut, dass ich den Chef nur schwer verstand. Ich musste nahe an ihn herantreten. Der Chef zeigte auf die Maschine, ein über fünfzig Meter langes Stahlkonstrukt, das sich durch die ganze Produktionshalle zog.

Ich folgte dem Chef durch die Halle. Ich roch Leim und feuchtes Papier. Die Luft war warm. Ein Mitarbeiter in blauen Hosen und schwarzem T-Shirt stand an einem Computer und drückte Knöpfe. Er schaute dabei immer wieder zwischen dem Computer und der Maschine hin und her.

Als er den Chef und mich sah, weil wir im Blickfeld zwischen Computer und Maschine aufgetaucht waren, nickte er uns zu. Der Chef nickte und ich nickte. Dann formte der Mund des Chefs Worte. Sie klangen nach: Karl-Heinz. Vielleicht sagt er aber auch: sehr heiß oder alles meins.

Eine Alarmglocke war plötzlich zu hören und viele rote Lichter blinkten auf. Der Chef schaute zu Karl-Heinz, der beschwichtigend die Hand hob. Der Produktionsdurchlauf schien abgeschlossen, die Maschine ratterte nur noch leise und verstummte dann ganz.

Der Chef atmete auf. Am Computer werden die Abläufe eingestellt und kontrolliert, sagte er. Alles Technik, alles sehr genau.

Er zeigte auf eine riesige Papierrolle. Hier befestigt man die Papierrollen. Das Papier läuft durch die Riffelwalzen, wird gewellt und mittels der Klebstoffauftragswalze sowohl an den oben liegenden als auch an den unten liegenden Wellenkronen jeweils mit einem weiteren Papier verklebt.

Er trat an die Maschine heran und versuchte einen Aufkleber, der sich an einer Ecke gelöst hatte, wieder an die Maschinenwand zu drücken. Auf dem Aufkleber stand: Bei jeder neuen Rolle muss die Feuchtigkeit gemessen werden. Er ließ vom Aufkleber ab und ging weiter. Die Maschine begann erneut zu rattern. Ich beeilte mich, um mit dem Chef Schritt zu halten.

Die Überführungsbrücke, schrie er, dann die Heizpartie, der Längs- und Querschneider und zum Schluss die Ablage, hier werden die zugeschnittenen Wellkartonbogen gestapelt.