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Wie verhalten sich Menschen in Zeiten, in denen humanitäre Werte auf dem Spiel stehen? Wilfried Wils diente als Hilfspolizist im besetzten Belgien der SS. Mit über neunzig blickt er auf sein Leben zurück.

Die Kriegsjahre – eine Zeit, in der sämtliche moralischen Regeln außer Kraft gesetzt sind, eine Zeit, in der auch Wilfried Wils versucht, sich mit allen gut zu stellen, mit seinen antideutschen Landsleuten wie mit den Besatzern. Er wirkt mit bei der Deportation von Juden und bewegt sich doch in den Widerstandszirkeln, in die ihn sein bester Freund Lode einführt. Tatsächlich gelingt es ihm so zu überleben – als Opfer und Täter zugleich, mit schmutzigen Händen und einer ordentlichen Portion Pragmatismus.

Jeroen Olyslaegers lässt in ›Weil der Mensch erbärmlich ist‹ mit ungeheurer literarischer Wucht eine Figur sprechen, die in ihrer Ambivalenz der Komplexität von Geschichte gerecht wird.

Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg und ist doch hochaktuell – weil er sich ohne je den Zeigefinger zu erheben einem drängenden Thema unserer Zeit stellt: der Frage nach Zivilcourage und Haltung.

 

»Ein majestätischer Roman, dringlich und sprachlich atemberaubend, spannend und monumental.

Ich ziehe meinen Hut!« Stefan Hertmans

Autor

Credit: © Koen Broos

Jeroen Olyslaegers wurde 1967 in Mortsel/Flandern geboren. Er ist Dramatiker und Prosaautor. ›Weil der Mensch erbärmlich ist‹ ist sein fünfter Roman. Er wurde mit Preisen von Kritiker-, Buchhandels- und Publikumsseite ausgezeichnet und wird aktuell in zahlreiche Sprachen übersetzt.

 

 

Isabel Hessel lebt in Antwerpen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Diane Broeckhoven, Saskia De Coster und Griet Op de Beeck. Für ihre erste Übersetzung erhielt sie das Stipendium des Literarischen Colloquium Berlin.

 

Gregor Seferens übersetzte u. a. die Werke von Harry Mulisch, Geert Mak, Maarten ’t Hart, Anna Enquist, Yves Petry, Joost Zwagerman. Seine Arbeit wurde mit dem Else-Otten-Preis und dem James-Brockway-Preis ausgezeichnet.

Jeroen Olyslaegers

WEIL DER
MENSCH
ERBÄRMLICH
IST

Roman

Aus dem Niederländischen
von Isabel Hessel
und Gregor Seferens

Flanders Literature
Kunst Stiftung NRW

FÜR DIE NYMPHE & MEINEN SOHN QUINTEN

AUF EINMAL SCHNEIT ES.

 

AUF EINMAL SCHNEIT ES. Das erinnert mich an den Krieg. Nicht wegen der Kälte oder anderer Unannehmlichkeiten, sondern wegen der Stille, die die Stadt dann für eine Weile in ihren Klauen hält. Jetzt fallen dicke Flocken vom Himmel. Es ist Nacht. Ich höre die Geräusche zu einem dumpfen Nichts gerinnen. Und dann muss einer wie ich hinaus, mein Junge, selbst in meinem Alter. Mir ist klar, dass alle denken: Gleich stürzt er noch und bricht sich die Hüfte. Gleich liegt er, alle viere von sich gestreckt, im Sint-Vincentius-Krankenhaus. Und dann ist es aus und vorbei mit ihm, zur Strecke gebracht von einer Bakterie, wie sie vorzugsweise in Krankenhäusern gezüchtet wird. Schon komisch, wie schnell alte Leute von der Angst anderer angesteckt werden. Wegen dieser Angst lassen sie sich in Heime sperren, wo man sie mit irgendeinem Quatsch mit Soße samt beschissenen Bingo-Abenden abspeist und ihnen eine Marokkanerin mit einem Blatt Klopapier den Arsch abwischt. Sollen sie ruhig Angst haben! Ich habe nie welche gehabt, jedenfalls nicht wirklich, und diesen alten Sack ändert man nicht mehr. Der Schnee knirscht unter meinen Sohlen. Nein, nicht die guten Schuhe, sondern nur meine uralten Stiefel, denen ich jahrelang die Treue gehalten habe, die ich mindestens zehnmal habe flicken lassen und fast jede Woche eingefettet habe, ganz gewöhnliche Nullachtfünfzehn-Treter, die mir jetzt erlauben, rückwärts in die Welt der Zeit zu schreiten. Es fallen immer noch Flocken. Unlängst habe ich eine vergrößert in einer dieser Zeitungen gesehen, die im Lesesaal der Bibliothek ausliegen. Lauter Unikate, jede für sich eine perfekt ausgeklügelte Welt, diese Schneeflocken, die mir jetzt einfach auf Jacke und Mütze rieseln. Nein, darüber schreib ich kein Gedicht. Das würde eh keiner mehr lesen, der Zug ist abgefahren. Schnee verändert die Stadt, er zwingt sie nicht nur innezuhalten, sondern vielleicht auch nachzudenken, sich zu erinnern; auf mich hat er jedenfalls diese Wirkung. Wenn es schneit, sehe ich klarer. Wenn in der Stadt Schnee fällt, weiß man, was sie wirklich darstellt, was sie verloren hat, was sie vergessen will. Sie gibt sich nicht mehr der Illusion vergangener Zeiten hin.

Vor mir liegt der weiß glitzernde Stadtpark. Ich bleibe stehen, schließe kurz die Augen. Das gelbe Licht auf den Straßen wird blau, so blau wie das getönte Glas der Gaslaternen früher. Man stelle sich eine spärlich beleuchtete Stadt vor. Blassblaues Licht überall, aus Angst vor dem Feuer, das vom Himmel fallen könnte. Wer von uns das Glück hatte, während der Nachtschicht eine Taschenlampe bei sich zu tragen, für den war Licht ein Privileg, das keinen Deutschen etwas anging, Krieg hin oder her. Schließlich war es ohnehin dunkel genug. Ich kann mich erinnern, dass es die Deutschen regelrecht wahnsinnig machte, dass sie das einfach nicht unter Kontrolle bekamen. Sie mussten mit horrenden Geldbußen und am Ende sogar mit der Todesstrafe drohen, bis die Einwohner endlich nicht mehr so lax mit ihrem Licht umgingen. Ich habe Feldgendarmen ausrasten sehen, weil wir unsere Taschenlampen ohne blauen Filter verwendeten. Sabotage! Blablabla … Auf der Wache sah uns dann unser Vorgesetzter an: »Mensch Leute … macht keinen Scheiß!« Es gab keinen Anpfiff, wir sollten keinen Scheiß machen, das war alles. Egal, der Stadtpark in blassblauem Licht, da waren wir. Aber ich biege langsam nach rechts in die Quellinstraat ein. Dein Urgroßvater nimmt keine Schaufenster mehr wahr. Ich sehe die Stadt, wie sie wirklich ist: ein nacktes Weibsbild mit weißer Pelzstola um die Schultern, eine, von der die Chirurgen nicht die Pfoten lassen konnten; hier ein neuer Busen, da ein anderes Gesicht. Wunderschöne Gebäude sind hier dem Erdboden gleichgemacht worden, Bürogebäude sind an ihre Stelle getreten. Wusstest du übrigens, dass auf der Ecke zur Keyserlei einmal ein Grand Hotel gestanden hat, gleich bei der Oper? Von einem Deutschen gebaut, noch vor dem Krieg von vierzehn/achtzehn. In der Schule mal was von Peter Benoit gehört? Wahrscheinlich nicht. Ist auch nicht nötig, wenn du mich fragst. Früher brachten sie einem Namen und Jahreszahlen bei, heute tun sie, als sei das falsch gewesen. Aber kein Schwein, weder damals noch heute, verpasst dir die schallende Ohrfeige, die Geschichte im Grunde ist. Die Sauerei besteht darin, dass es nie aufhört, nie wirklich. Es geht immer weiter. Peter Benoit ist ein Straßenname geworden. Als ich die Schulbank drückte, mussten wir vor ihm fast auf die Knie gehen. »Er lehrte unser Volk das Singen.« Ein echter Held also. Direkt gegenüber der Oper hat früher mal ein Denkmal des einst so verehrten Tondichters gestanden, umrahmt von dem, was die Leute früher »Camilles’ Schwimmbad« nannten, nach einem Bürgermeister, von dem du bestimmt noch nie gehört hast und an den ich mich eigentlich selbst nur noch vage erinnere. Der gefeierte Künstler, der Mann, der seinem Volk einst Gesangsunterricht erteilt hatte und dort in Bronze verewigt worden war, blickte also über ein Bassin hinweg, in das vor allem Trunkenbolde pissten. Die Statue steht jetzt woanders, das sogenannte Schwimmbad wurde abgerissen und das Grand Hotel, in dem auch noch während des Zweiten Weltkriegs schmucke deutsche Offiziere mit ihrer Geliebten einen Aperitif tranken … da türmt sich heute ein Beton-Ungetüm auf und überragt nichts Spezielles. War es früher also besser, Großpapa? Das denkst du doch, oder? Und übrigens, sollten wir einander noch begegnen, sollte die Familie, die ich mitgezeugt habe und die nichts mehr mit mir zu tun haben will, das zulassen, bin ich mir ziemlich sicher, dass du mich »Opa« nennen würdest. Das Wort Großpapa stirbt ja schließlich aus. Natürlich war es früher auch nicht besser. Es war einfach nur genauso schlimm. Vorstellungskraft ist alles. Am Anfang war nicht das Wort, erst recht nicht das von Gott. Am Anfang war die Vorstellung von Finsternis, vergiss das nicht. Mitten auf der Straße bleibe ich kurz stehen. An einem Gebäude, das es nicht mehr gibt, hängen zwei große schwarze Banner. Auf beiden sind zwei blitzförmige Runen. Ich befinde mich vor dem Hauptquartier der Flämischen SS-Legion. Diese Uniformen, die waren für uns einfache Polizisten ein rotes Tuch. Ein Kamerad bekam einen vor den Bug, als er mal vor so einem Fatzke in Schwarz nicht strammstand. Der Kerl war nicht einmal ein Deutscher, auch wenn er ganz offensichtlich lieber das Licht der Welt in, sagen wir, Bimbambayern erblickt hätte. Alles Wichtigtuer. Bei den vielen verschiedenen Uniformen … wer soll sich da noch auskennen? Wann hat man zu salutieren, wann nicht? Ich schwöre dir, ich musste mir oft auf die Lippen beißen. Manche dieser Gockel hatten keinen Funken Anstand im Leib, vor denen hätte ich genauso gut im Adamskostüm dastehen können. Am Ende der Straße biege ich rechts ab. Es wird so gegen vier Uhr nachts sein. Es herrscht immer noch vollkommene Stille, immer noch fällt Schnee und kein Schwein unterwegs, wenn man von einem Drogenabhängigen einmal absieht, der mich um einen Euro anhaut. Leck mich, sage ich. Hey Alter, faselt er. Ich schaue ihm tief in die rot umrandeten Augen und sage, dass ich gerade seine Seele fresse wie ein vor Bandwürmern strotzender Höllenhund und er zusehen soll, dass er Land gewinnt, bevor ich ihn ganz verschlinge. Solche Typen verzehrt dein Stammvater zum Frühstück, weißt du? Glaubst du mir etwa nicht? Das kommt noch, vielleicht sogar: bedauerlicherweise. Tour d’Horizon. Zu meiner Rechten, am Ende der Keyserlei, steht die Eisenbahnkathedrale, die Bahnhof Mitte heißt, die aber keiner mehr so nennt. Zu meiner Linken, an der Ecke von Keyserlei und Frankrijklei, liegt das »Atlantic«, darüber befindet sich das Hotel Weber, das Hauptquartier der Feldkommandantur. Dort gingen die zunächst noch triumphierenden Männer in Feldgrau ein und aus, die sich von einem schicken Diner zum nächsten schleppten, wo sie stets mit den nötigen Ehrenbezeugungen empfangen wurden und ihr Chef sich vielleicht einmal über eine Mappe mit lauter alten Zeichnungen von unserer Stadt beugte, die ihm von unserem Bürgermeister, augenzwinkernd wie eine mit Beruhigungsmitteln vollgestopfte Eule, als Geschenk überreicht wurde … dieses ganze Tamtam, um dann, nur etwa drei Jahre später, einfach ihren einstigen Triumph nachzuahmen, obwohl ihnen natürlich klar war, dass ihr sogenanntes Tausendjähriges Reich damals schon in der Nachspielzeit war. Ich wende ich mich nach rechts, Richtung Bahnhof, und nach ein paar Dutzend Metern biege ich erneut rechts ab, in die Vestingstraat. Es ist kalt, ich bin um die zwanzig. Fünfzig Meter vor mir liegt das Hauptamt des sechsten Stadtbezirks, mein Viertel. Hinter mir ruft einer: »Wilfried!« So heiße ich nicht wirklich, aber das erzähl ich dir ein andermal. Besagter Kamerad Metdepenningen, Lode holt mich ein, gibt mir einen Klaps auf die Schulter. Sagt dir der Name was? Das könnte sein. Aber ich will nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen. Beim Weiterlesen wird schon alles deutlich werden. »Ich frier mir gleich den Arsch ab, Kumpel.« Lode rutscht aus, verstaucht sich fast den Knöchel – ich kann ihn gerade noch am Ellenbogen fassen – und flucht. Wir haben gerade zusammen unsere Ausbildung gemacht. Haben uns drei Monate lang Schwachsinn angehört und sind jetzt Hilfspolizisten. Das bedeutete schlicht und ergreifend, dass wir jedem mit einem Streifen mehr gehorchen und unsere Uniform in Schuss halten mussten. Lode kaute während des Unterrichts ständig auf seinem Bleistift herum, während er aufmerksam zur Tafel schaute. Wurde eine Frage gestellt, hob er die Hand. Ein eifriger Schüler, gewiss, und ein gut aussehender Kerl außerdem. Pechschwarzes Haar, schelmisches Lachen, Sohn eines hinter dem Astridplein ansässigen Metzgers. Er wollte, dass wir Freunde werden. Er ist so einer, der schon nach einer Woche ruft, wir seien Freunde fürs Leben. »Du bringst mir jeden Tag was bei …« Ich habe es heute noch im Ohr. Gerade, als wir die wenigen Stufen zur Wache hinaufgehen wollen, treten zwei Feldgendarme aus der Tür. Sie schauen uns an und einer brüllt: »Sofort mitkommen!« Manche Klischees stimmen einfach. Deutsche in Uniform redeten tatsächlich so. Wir also mit, denn wir wussten da bereits, dass uns nichts anderes übrig blieb. Eigentlich mussten wir uns erst melden, bevor wir unsere Anweisungen entgegennahmen, doch wenn so ein Feldheini brüllt, dann hat man zu gehorchen. Wir gingen die Pelikaanstraat entlang Richtung Süden. Lode und ich folgen den beiden uniformierten Herrenmenschen wortlos, wie zwei abgestrafte Kinder. Die Deutschen sind gerade mal seit sieben Monaten hier, und es hat den Anschein, als gehöre ihnen schon der ganze Laden. Die Stadt ist vor den Kerlen niedergesunken und hat die Beine gespreizt. Für alles gibt es Regeln. Fußgänger, die vom Bahnhof Mitte Richtung Meir-Boulevard unterwegs sind, müssen den rechten Gehweg nehmen, wer in die umgekehrte Richtung will, hat den linken Gehweg zu benutzen. Und wehe, wenn man versehentlich gegen den Strom schwimmt. Hätte jemand das in den Jahren vor dem Krieg vorhergesagt, wir hätten alle vor Lachen auf dem Boden gelegen und in unser schäumendes Bier gejapst. Aber das Herrenvolk muss nur einmal Piep sagen und alle tun, was ihnen befohlen wird. Schlimmer noch: Sie freuen sich sogar. Endlich herrscht Ordnung. Wir überqueren die Straße und gehen unter der Eisenbahn durch ins Kievits-Viertel. Zwei Straßen weiter bleiben wir vor einem Haus stehen, von dem die Farbe abgeblättert ist. Einer der Feldgendarmen schüttelt den Pulverschnee von sich ab und klopft kraftvoll an die Tür. Der andere sieht uns dabei an, mit einem Blick, der sagt: Gleich werdet ihr was erleben. Doch nichts geschieht. Das Klopfen scheint das Haus eher noch stiller gemacht zu haben. Die Faust hämmert noch einmal gegen die Tür. Jetzt hören wir verhaltene Geräusche. Jemand kommt, in einer Sprache jammernd, die ich nicht verstehe, die Treppe hinunter. Die Tür geht knarrend auf. Durch den Spalt sehen wir ein düsteres Gesicht mit weit aufgerissenen Augen. Der Mann kriegt direkt die Haustür an den Schädel, die von den beiden Feldgendarmen grob aufgedrückt wird. »Chaim Lizke?«, brüllt der eine. Leises Gemurmel. Die Deutschen gehen sofort rein, einer der beiden bedeutet uns, draußen zu warten, und schließt die Tür. »Bestimmt wieder so ein Arbeitsverweigerer?«, flüstere ich. Lode sagt nichts. Er stampft mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Pech für ihn, dass er sich keine ordentlichen Stiefel leisten kann, wie ich sie gerade trage. Das musst du wissen: Die Uniformierung war zu der Zeit eine Frage von Haben oder Nicht-Haben. Wer mehr Geld für Textilmarken hatte, war besser angezogen als andere. Auch das machte die Deutschen rasend. Ein paar Jahre später mussten wir alle neuen Uniformen kaufen, die sie entworfen hatten. Aber diese Maßnahme machte alles nur noch schlimmer. Zu dem Zeitpunkt hatten bloß noch ein paar höhere Chargen die Möglichkeit, sich eine zuzulegen. Jeder versuchte etwas zu tragen, das wenigstens von Weitem gut aussah, in der Hoffnung, nicht von irgendwem angepflaumt zu werden. Inzwischen herrscht Aufruhr im Haus. Wir hören lautes Rufen und Wehklagen. Kinder kreischen. Ein Schrank fällt um. Jemand stürzt die Treppe runter. Noch mehr Kreischen. Aber die auf Deutsch gebrüllten Befehle übertönen alles. Die Tür fliegt wieder auf, und da steht sie: die Familie Lizke. Fünf halb angezogene Kinder zwischen vier und zwölf Jahren, eine weinende Frau, das Kopftuch unordentlich über die Haare drapiert, und der Familienvater, der den Blick zu Boden gerichtet hat, während Blut aus seinem anschwellenden Ohr sickert. Israeliten, wie sie im Buche stehen, würde Miesebart spöttisch anmerken. Ihm wirst du im Verlauf dieser Geschichte noch begegnen. Ich sag’s, wie es ist: Keine Ahnung, was diese Leute so alles in ihren Kochtopf tun, aber es wirkte sich nicht besonders vorteilhaft aus. Sie müffelten.

Jetzt muss aber auch gesagt werden: Manchmal haute es mich aus den Pantinen, wenn ich Lode sah. Der Bursche stank manchmal nach Blut und Innereien, dass es eine Art hatte. Was Gerüche angeht, bin ich empfindlich, immer schon gewesen. Mein Vater hat mal behauptet, ich hätte den Geruchssinn eines trächtigen Weibes. Natürlich bloß zum Spaß, aber ich hätte ihm jedes Mal den Schädel einschlagen können, wenn er das hinter vorgehaltener Hand zum Besten gab, vorzugsweise auf einer Feier, mit genügend Betrunkenen, die es mitbekamen.

Einer der Feldgendarmen winkt uns heran, deutet mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf ein Blatt Papier und unterstreicht so eine Adresse: Van Diepenbeeckstraat. Da müssen wir hin und die Deutschen wissen nicht wie. Lode weicht meinem Blick aus, tut so, als sei er gar nicht da. Die Straße ist nicht allzu weit von meiner Wohnung entfernt. Den Gleisen folgen, an der Van den Nestlei unter der Brücke hindurch und dann zurück? Ich nicke den beiden zu. Die Adresse ist im siebten Bezirk, nicht unser Zuständigkeitsbereich, aber so blöd bin ich nun auch wieder nicht, das zu erwähnen. Und auf geht’s. Wir vorweg mit einem der Deutschen an unserer Seite, dahinter die Fremden und der andere Feldheini. Die Frau hört nicht auf zu weinen, ihr Mann spricht ihr leise Mut zu, ich vermute auf Polnisch, aber es kann auch Hebräisch oder sonst was sein. Der Feldgendarm zischt etwas, wir hören, wie er dem Mann eine Ohrfeige gibt. Zack, die Kinder fangen wieder an zu schluchzen. Ich hätte das anders gemacht, Lode vermutlich auch, aber wer sind wir schon? Stadtführer bei Nacht und Nebel. Es ist sehr glatt geworden, der Schnee knirscht nicht mehr unter unseren Füßen und hat aus den Straßen eine einzige Schlitterbahn gemacht. Die Deutschen legen ein Tempo vor, bei dem eine Familie mit einem Haufen Kinder nicht mithalten kann. Eins nach dem anderen fällt auf die Nase. Wieder anhalten, wieder brüllen, wieder treten, mehr heulen. Lode sagt immer noch kein Wort. Aber sein Gesichtsausdruck verhärtet sich. Wenn ich mich an diese Szenen erinnere, muss ich ans Meer denken. Zu der Zeit war ich da noch nie gewesen, aber als ich später hinfuhr und mir am Strand eine Zuckerwaffel genehmigte und so tat, als müsse man das alles unbedingt machen, sah ich einmal eine kinderreiche Familie den Abmarsch antreten, mit ihrem ganzen Krempel und Gartenstühlen und Sonnenschirmen und all ihren überdrehten Kindern, die Gesichter rot wie Tomaten. Der Vater rastete aus, zerrte eins seiner jüngsten Kinder grob über den Sand, während er eine seiner Töchter auf dem anderen Arm trug und seine Frau, die ebenfalls an jeder Hand ein Kind hatte, die wütenden Blicke der Umstehenden voller Scham ertrug. Ich schwöre, dass ich es in dem Augenblick schneien sah, bei einer Temperatur von dreißig Grad. Und ich versichere dir ebenso, dass ich jemanden auf Deutsch habe brüllen hören. »We sint bald daar«, sage ich zu einem der Feldgendarmen. Möchtegerndeutsch, ich weiß, aber diese ganze absurde Aktion geht mir inzwischen so auf die Nerven, dass ich mich zum allerersten Mal dieser Sprache bediene, vielleicht auch bloß, um meine aufkommende Wut zu unterdrücken, denn davon hat ja schließlich keiner was, das wird die Israeliten nicht vor lauter Angst zu Eiskunstläufern machen. Ist doch wahr! Wir sind fast angekommen, sind gerade in die Van Diepenbeeckstraat eingebogen. »Die Frau und die Kinder sind also auch Arbeitsverweigerer, oder was?«, flüstert Lode mit zitternder Stimme. »Man, ich fass es nicht! Geht man so mit Menschen um?« Ich sage nichts. Was soll man da schon sagen? Was Lode ausspricht, weiß ich selbst. Aber wir machen mit, wir gehen mit, wir begleiten die müffelnde Bande einfach artig zu einer Adresse, die auf einem Zettel steht. Der Mond kommt raus, lässt die vereisten Straßen wie Silberzeug schimmern. Und dann passiert’s: Eins der Kinder, ein etwa zwölfjähriger Junge, lässt die Hand seines Vaters los und rennt davon. Er schnellt an uns vorbei, ich weiß nicht, warum. Der Vater brüllt ihm hinterher. Der Feldgendarm, der zusammen mit uns vorweggeht, unternimmt ein paar Sekunden lang nichts. Er ist ebenso erstaunt wie wir über den kleinen Racker, der auf seinen dünnen Beinchen übers Eis stakst wie ein frischgeborenes Fohlen, das kaum stehen kann. Schon nach fünf Sekunden schlägt er der Länge nach hin. Bevor er sich wieder aufrappeln kann, holt der Feldgendarm ihn ein und verpasst dem Kerlchen einen Tritt in den Hintern … kaum zu glauben, oder? Wir sehen ihn buchstäblich wie einen Schlitten übers Eis rutschen, bis er mit dem Kopf gegen einen Laternenmast knallt und liegenbleibt. Die Deutschen lachen sich krumm, und das Ganze wäre ja tatsächlich komisch, wenn die Mutter nicht einen Schrei ausstieße, als drehe ihr jemand ein gezacktes Messer im Bauch herum. Sie sinkt zu Boden. Ihr Mann ringt weinend die Hände, hebt sie zum Himmel empor, als könne auf seine flehentliche Bitte hin der Allmächtige mit seinem flammenden Schwert die Ordnung wiederherstellen oder zumindest durch diese Geste aus seinem Dämmerzustand geweckt werden, auf dass er sehe, was hier geschieht. »Aufstehen!«, ruft einer, das gilt sowohl der Mutter als auch dem Jungen dahinten. Der Deutsche neben uns will zu ihm hinstiefeln, doch Lode kommt ihm zuvor. Man könnte meinen, er hätte Kufen unter den Sohlen, so schnell ist er. Bei dem Jungen angekommen, kniet er sich hin und umschließt ihn mit seinem ganzen Körper, wie ein Kokon, wie ein Schneckenhaus aus Muskeln. Er lässt ihn nicht los, auch nicht, als er von dem immer noch lächelnden Feldgendarm angerempelt wird, der jetzt etwas leiser »Schon gut« sagt. Der Deutsche stößt Lode erneut an, verpasst ihm dann einen nicht ganz ernst gemeinten Tritt in den Hintern. Lode brüllt: »Hau ab, Saukerl!« Man merkt seiner Stimme an, dass auch er jetzt weint. Ich sehe einen Teil seines rot angelaufenen Gesichts, sein schönes schwarzes Haar voll Pomade, das in Strähnen über das Gesicht des Jungen fällt, sein weißer Helm, der einen Meter entfernt falsch herum im Schnee liegt wie eine Mitternachtsvase, die den Schlund aufsperrt. Der Deutsche verliert seinen Sinn für Humor und greift fluchend an seinen Gummiknüppel. Ohne mir dessen bewusst zu sein, schießt meine Hand nach vorn, umfasst das Handgelenk des Feldgendarms wie ein Schraubstock. Wir schauen uns an, der Deutsche und ich. Was mich in dem Moment gerettet hat, mein Junge, sind die Sekunden der Fassungslosigkeit, ich sehe sie im Gesicht dieses Feldheinis, der einfach nicht glauben kann, dass ihm das tatsächlich passiert, in diesem lächerlichen Land, welches sie fast mühelos besetzt haben. Einen Augenblick lang steht er verdutzt da, in dieser Stadt, auf die sie sich mit ihrem fetten Arsch gesetzt haben. Dass ihn so ein dämlicher Grünschnabel wie ich in dieser lächerlichen Uniform einfach beim Handgelenk packt und ihm mitten in die arrogante Visage schaut, ist schlichtweg eine Szene, die in seinem Universum nicht vorkommen kann. Bon, ich lasse ihn los, und er tut gar nichts. Er starrt mich weiter an, während sein Kompagnon die Mutter unsanft wieder hochzieht und sich die Kinder vom Leibe hält. Auch der Vater schaut zu Lode und mir, wie ich dessen Helm aus dem Schnee hebe, meine Hand auf seine Schulter lege und ihm behutsam helfe, sich mit dem Jungen im Arm wiederaufzurichten. Er sieht zu, wie ich den Schnee vom weinenden Lode klopfe und wie dessen Finger das Blut von der Stirn des Sohnes wischt. Lode spitzt anschließend mit Daumen und Zeigefinger die halb offenen Lippen des Knaben, als wollte er ihn wie einen Ertrinkenden durch Mund-zu-Mund-Beatmung retten. Dann schlägt der Junge die Augen halb auf, Lode stößt einen tiefen Seufzer aus und presst den mageren Körper noch fester an sich. Seinen Helm will er nicht. Wortlos und ohne uns anzusehen, geht er mit dem Jungen im Arm erhobenen Hauptes weiter und wir folgen ihm schweigend, auch die Deutschen, wie nach einem Familienstreit, bei dem der besoffene Vater aus seinem gewalttätigen Rausch wieder erwacht und plötzlich, mit Stummheit geschlagen, die ganze Verheerung überblickt. Auch die beiden Kollegen, die vor dem Eingang zum alten Bettenlager des Heeres Wache halten, dem Endziel dieses ungeordneten Marsches, sagen nichts bei unserer Ankunft. Nichts von alledem haben sie gesehen, obwohl sie das Gebrüll natürlich gehört haben. Sie stehen bleich und stramm da beim Anblick des barhäuptigen Lodes, der das Kind in den Armen hält, wie der zum Leben erweckte und heute vermutlich kaum noch bekannte Hollywoodstar Errol Flynn; angesichts dieser Szene vergessen sie sogar, vor den Deutschen zu salutieren. Bevor er samt seiner Familie nach drinnen gezerrt wird, übernimmt der Vater behutsam den Jungen von Lode, schaut meinem Kameraden in die Augen und murmelt etwas. Und dann sind sie weg, verschluckt von der hohlen Finsternis, die im Gebäude herrscht, als hätte es sie nie gegeben. Wir bleiben draußen stehen, Lode und ich. Besser wäre es, sich einfach aus dem Staub zu machen, aber dazu hat mein Kamerad noch keine Lust. Er muss schlucken, ordnet sein Haar, nimmt den Helm von mir entgegen und fragt gefasst die Wachposten, ob sie Zigaretten haben. Wir rauchen, während es zaghaft zu schneien beginnt. Einer der Wächter, ein etwa dreißigjähriger Schupo mit stattlichem Schnurrbart, den alle nur den Scheelen August nennen, weil seine Augen nach fünf Gläsern Stout in sämtliche Richtungen schauen, sagt, dass die ganze Horde, die hier eingesperrt ist, morgen in den Zug in Richtung Limburg gesetzt wird, nach Sint-Truiden, um genau zu sein. Keiner fragt, was man dort mit ihnen vorhat. »Und ich muss mitfahren«, fügt der Scheele August hinzu. »Das wird was werden. Tja, für mich springt eine Zulage dabei raus, also beklag ich mich nicht.« Lode saugt den Rauch tief ein und fragt, wie viel. »Fünfundvierzig Franken«, antwortet August. »Das ist ein sauberes Sümmchen«, erwidert Lode und schnippt seine Kippe in den Schnee.

Unser Vorgesetzter sitzt hinter seinem Schalter und blickt uns seufzend an. Er holt das Berichtsbuch hervor, ein dickes gebundenes Heft mit blauen horizontalen Linien und einer roten vertikalen Linie am Rand, und taucht seinen Füller ins Tintenfass. Wir hören uns beide Lodes Schilderung der Ereignisse an, er wird immer wütender, je länger er diktiert, was mich wiederum nervös macht. Schließlich legt unser Vorgesetzter den Füllfederhalter beiseite, setzt seine Nickelbrille ab und sieht mich müde an.

»Kannst du das bestätigen, was dein Kamerad hier erzählt?« Ich sage ihm, dass die Deutschen tatsächlich zu keinem Zeitpunkt gesagt haben, was der Familie Lizke eigentlich zur Last gelegt wird.

»Dein Kamerad hier behauptet, die Lizkes seien zu Unrecht beschuldigt worden. Das ist etwas vollkommen anderes. Haben die Männer irgendein Schreiben vorgelegt?«

»Nur eins, auf dem die Adresse dieses Bettenlagers stand.« Lode schlägt mit der Hand auf den Holztresen. »Das ist doch nicht normal, Chef! Alle Kinder waren unter fünfzehn. Eine Frau und ein Haufen junges Gemüse? Und wissen wir überhaupt, ob der Vater ein Arbeitsverweigerer ist? Sind denn jetzt alle verrückt geworden?«

Abgang. Was soll man auch machen? Die meisten Menschen sind kopflose Hühner. Übrigens musste ich Lode auf dem Rückweg erst davon überzeugen, Bericht zu erstatten. Das hat mich ganz schön viel Mühe gekostet. Er wiederholte ständig, wir sollten besser nicht in der Scheiße herumrühren. Es war vor allem Abscheu, die aus ihm sprach. Aber er lag falsch. Genau das mussten wir tun. Der Grund dafür lag auf der Hand. Wir konnten davon ausgehen, dass die beiden Feldheinis genau das Gleiche tun würden, sobald sie zur Kommandantur kamen. Wir mussten also damit rechnen, dass wir zu der Angelegenheit noch einmal befragt werden würden. Die Männer waren gründlich und hatten sich natürlich unsere Dienstnummern notiert. Wenn wir unsere Version der Fakten nicht zu Protokoll gaben, befänden wir uns in einer noch schlechteren Position. In einem ganz bestimmten Punkt – hatte ich Lode gegenüber ausdrücklich betont – durfte es keinerlei Zweifel geben: Ich hatte den Feldgendarmen zurückgehalten, weil ich fürchtete, er würde meinem Kollegen an den Kragen gehen. Nur das zählte. Der Rest ging uns nichts an. Wir mussten uns absichern. Schließlich stimmte Lode mir zu. Aber ich hatte ihn falsch eingeschätzt und vor allem: Ich hätte als Erster das Wort ergreifen sollen. Anstatt sich in seinem Bericht auf diesen einen Punkt zu konzentrieren, ließ er sich doch von seiner Wut mitreißen und konnte es nicht lassen, die große Ungerechtigkeit, deren Zeuge er meinte geworden zu sein, anklagend herauszustellen. Und da war noch eine Sache, etwas, was ich erst später begriffen habe. Wenn Lode mir das damals erzählt hätte, ich hätte ihm nicht geglaubt, auch wenn er es bei allem, was ihm heilig war, geschworen hätte. Lode kannte den Mann. Er kannte den Juden Chaim Lizke, den wir samt seiner Familie geholfen hatten abzuführen.

»Dir ist doch klar, Metdepenningen, dass das hier an die Kommandantur weitergeleitet wird?«

»Und an den Bürgermeister doch auch?«

Unser Vorgesetzter kratzt sich hinterm Ohr, setzt die Brille wieder auf. »Mann! Willst du mir etwa beibringen, wie ich meine Arbeit zu machen habe? Wie lange arbeitest du hier schon, du Grünschnabel? Fünf Wochen? Was hat der Bürgermeister hiermit zu schaffen?«

Unser Vorgesetzter ist mit seiner Geduld am Ende, und das merkt jetzt auch Lode. Er zögert, er zweifelt.

Vorhin habe ich ihn noch als Hollywood-Helden beschrieben, und davon nehme ich kein Wort zurück. Er machte Eindruck, er war von einer Kraft erfüllt und umgeben, der man nur selten begegnet und die man vielleicht völlig zu Recht mit lang vergessenen Helden verbindet oder einem Gott in seiner furchteinflößenden Schönheit. Aber der Mensch ist vor allem erbärmlich, er ist nicht konsequent und gibt sich Illusionen hin. Keiner ist sein Leben lang ein Held.

»Und, kommt da noch was?«

Lode schluckt laut. »Das fällt doch unter Wahrung der öffentlichen Ordnung, wodurch es in den Zustä…«

Daumen und Zeigefinger des Vorgesetzten berühren sich fast. Sein Arm zittert, als er sagt: »Noch so viel und du schiebst den Rest des Winters Nachtschicht. Willst du das?«

Er schaut Lode noch einmal an und dann mich, den Vernünftigen. »Das Wort ›widerrechtlich‹ schreiben wir da nicht rein. Und jetzt zieht Leine.«

Sobald wir draußen sind, behauptet Lode, der Vorgesetzte sei ein Linientreuer, ein Maulwurf also. Schon vor dem Krieg sei er Mitglied eines Geheimbundes gewesen, der zum Ziel gehabt habe, Stadt und Staat zu zersetzen, sie sich gefügig zu machen – mit oder ohne Gewalt –, je nach Gutdünken der Besatzer. So wie er mir das in dieser späten Januarnacht des Jahres 1941 erzählt, sehe ich einen Haufen maskierter Männer vor mir, die bei flackerndem Fackelschein sich und ihrem neuen Vaterland ewige Treue schwören. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich schon, dass es Verrat gibt, jenseits der Kitschbilder, die mir spontan in den Sinn kommen. Doch Letzteres kann ich seit frühester Kindheit nicht lassen.

Ich war so um die sieben, als mein Vater mir erzählte, meine Verwandtschaft mütterlicherseits habe einst in einem kleinen Schloss gewohnt. In jener Nacht hatte ich einen Traum: Ich, irgendwo im Schloss, und das Erste, was ich spüre, ist der grausig-kalte Marmorboden unter meinen nackten Füßen. Meine Mutter steht oben an der Treppe und winkt mich zu sich. Eine riesige Tür geht auf. Ich folge ihr, kann sie aber nicht einholen. Eine Tür nach der anderen öffnet sich, alle üppig mit geschnitzten Ornamenten verziert: Engel, die durcheinanderschwirren, Adler, die einander die Brust zerfleischen, sich windende Schlangen. Die letzte Tür geht auf. Meine verräterische Mutter ist verschwunden. Ich sehe eine Gräfin, die sich in den Nacken klaubt, nach einer fauligen Stelle suchend. Danach kommt ein Dienstmädchen mit weißer Haube, das auf dem stillen Örtchen Blut kotzt. Ich sehe einen Grafen in Rüstung, das Schwert im Thronsaal erhebend, mit vor Wahnsinn schäumendem Mund. Ein in Lumpen gehüllter Greis reckt warnend den Finger, während ihm ein Hund die unbeschuhten Zehen leckt. Da liegt ein Banner, achtlos ans Fußende der Treppe geschmissen und nach Schimmel stinkend. Draußen unter der prallen Sonne schnappen Fische in einem ausgetrockneten Teich nach Luft. Um den Pfuhl herum ein Haufen zu Mus gehackter Männer, Frauen und Kinder, um die Millionen grüner Schmeißfliegen schwirren oder in sie hineinkriechen und Eier legen. Und ja: Männer mit Fackeln, das auch. An jenem Morgen erwachte ich mit Grippe.

»Wir können niemandem vertrauen, Wilfried.«

»Und wer sagt, dass du mir vertrauen kannst?«

Lode bekommt sichtlich einen Schreck, schaut mich an, sucht nach Anzeichen von Ironie oder Spott in meinem Gesicht und beschließt dann, lieber laut loszulachen.

»Willst du mich veräppeln, oder was?«

»Nein, ich mein’s ernst. Wer sagt, dass es ein ›Wir‹ gibt? Wer sagt, man könne irgendjemandem einfach so vertrauen?«

»Dir aber schon!«, ruft Lode und verpasst mir einen ordentlichen Knuff. »Dir schon.«

Mir schon? Das möchte ich mal bezweifeln, mein Junge, und das meine ich ernst. Nicht, dass einer wie ich imstande gewesen wäre, Lode zu verraten, aus welchem Grund auch immer, und ihn dadurch der Verfolgung, der Deportation möglicherweise oder gar dem Tod auszusetzen. Das scheint an den Haaren herbeigezogen, ist aber alles andere als das. Zwei Jahre nachdem mich Lode damals so angerempelt hat, als sich die Deutschen langsam richtig in die Hosen machen, stecken sie Leute für viel weniger ins Konzentrationslager. Doch: Ist einer allein schon deshalb vertrauenswürdig, nur weil er nichts tun würde, was seinem Kumpel schaden könnte? In einem alten französischen Krimi aus den Siebzigern sagt die Filmfigur, die von Alain Delon gespielt wird, die einzig richtige Einstellung einem Bullen gegenüber sei eine Mischung aus tiefstem Misstrauen und Verachtung. Was mich bei dieser eiskalt dahergesagten Bemerkung lauthals auflachen ließ, war, dass Alain Delon in dem Film selbst einen Bullen spielt. Bulle ist sowieso ein seltsamer Beruf. Ich erzähl dir später mal, wie dein Urgroßvater da hineingeraten ist. Aber halt, wieso eigentlich nicht jetzt? Dann haben wir das hinter uns. Ich habe die damals für mich organisierte Stelle angenommen, um mich vor dem von den Deutschen auferlegten Arbeitsdienst zu drücken. Na, juckt dir schon der Hintern vor lauter Widerspruch und Ambiguität? Junger Kerl wird Polizist, um nicht als Fremdarbeiter nach Deutschland abtransportiert zu werden, und hilft als Bulle dabei, Leute festzunehmen, die versuchen, ebendiesem Arbeitsdienst zu entgehen. Aber natürlich ging es bei Familie Lizke und ihresgleichen nicht ums Arbeiten. Im Winter 40/41 wussten die Deutschen übrigens selbst nicht, was sie mit den Leuten anfangen sollten. Sie mussten weg, das war alles. Außerdem: Damals lebten in der Stadt genug Leute, die sich darüber aufregten, dass es hier immer noch Juden gab. Denen ging das alles viel zu langsam. Ei oder Küken, so sagte man. Entweder oder. Denn wenn man diese Leute für so gefährlich und verwerflich hält, wieso spazieren diese Schmarotzer dann hier nach wie vor frei herum? Wie kann es sein, dass das Herrenvolk diesen Volksfeind trotz allem auf den Straßen toleriert? Will man einfach abwarten, bis dieses Pack sich vor lauter Todesangst an unsere Sitten und Gebräuche anpasst? Da kann man lange warten. Nie und nimmer wird das geschehen. Ein Blutsauger kann nur eins, der passt sich nicht an. Die Deutschen waren schon seit Mai hier, hatten ein ganzes Land in nur zwei Wochen erobert, als sei’s ein Pappenstiel. Schämten die sich denn gar nicht, dass sie es nicht schafften, hier mal richtig aufzuräumen? Und dann machte natürlich noch das Gerücht die Runde, dass es schlicht um die Steine ging, dass man die Juden duldete, weil man sie brauchte, um den Stolz und den Wohlstand dieser Stadt zu sichern, oder anders ausgedrückt: Es ging um den Diamantenhandel. Alle gleich, wurde gesagt, selbst die Deutschen sind dem schäbigen Profit erlegen. Erst einen Monat zuvor, wie mir ein Kumpel meines Vaters erzählte, der im Rathaus arbeitet, hatten sich die Juden in der Gildekamersstraat hinterm Rathaus als Juden registrieren lassen. Die Leute kamen in Strömen. Alle auf dem Amt mussten Überstunden schieben, sagte Vaters Kumpel. Sie standen bis nach draußen, unter großen schwarzen Schirmen, weil es regnete. Sie wurden »aufgefordert«, sich mit ihren Personalpapieren zu melden, was natürlich Behördensprech für »vorgeladen« ist. »Mannomann, da war was los … Unglaublich! Wie die Leute reinkamen, und dann die Berge Papiere, die sie dabeihatten. Das war kaum zu schaffen. Wie sollte das gehen: Polen, Deutsche … Verwandte hier, Verwandte dort, und dazu noch diese Namen … Manche von ihnen lebten schon seit Jahren hier, konnten aber kein Wort Niederländisch oder wenigstens Französisch. Aber täusch dich nicht: Es kamen nicht nur Bärte und schwarze Mäntel. Unter den Leuten waren auch Frauen … richtige Sexbomben! Die hauten einen glatt vom Hocker. Kaum zu glauben, dass auch solche Prachtexemplare zum Stamme Abrahams gehörten.« Der Kumpel meines Vaters ließ sich das Glas noch einmal füllen. Nur wenige Wochen vor den Massenregistrierungen mussten Kneipen und Restaurants gleich am Eingang darauf hinweisen, wenn der Laden in jüdischen Händen war. Aber den alten Weibern und Schwätzern, Nörglern und Querulanten gingen diesen Maßnahmen nicht weit genug. Schließlich fanden sie Gehör: Man setzte mitten im Winter einen Haufen Juden in einen Zug in die Obststadt Sint-Truiden, was zur Folge hatte, dass dort das Chaos ausbrach. Ein großes Klagen und Jammern begann. »Was gehen uns diese Ausländer an? Was uns das alles kostet! Und was sollen die hier tun? Etwa bei der Apfelernte helfen? Dann kommen sie ja genau zur richtigen Jahreszeit!« Die Deutschen haben die Leute nach etwa drei Monaten still und heimlich wieder in die Stadt zurückgebracht. Das hat man inzwischen vollkommen vergessen, weil sie zwei Jahre nach diesem Debakel auf einmal doch wussten, wie mit den Juden zu verfahren sei, und man sie viel weiter ostwärts als in die Provinz Limburg abtransportieren ließ, an Orte, wo Tag und Nacht Leiche um Leiche ins Feuer ging und die Schornsteine rauchten. Nein, diese Einzelheiten waren uns damals nicht bekannt, aber dass man die Israeliten und andere zu Orten brachte, wo sie die Gelegenheit bekamen, sich im Schweiße ihres Angesichts einen Platz im Reich zu erarbeiten, das glaubte keiner von uns. Wer nach dem Krieg etwas anderes behauptete, ist eine vermaledeite Filzlaus, und unter ihnen waren etliche, die weiter an ihrer feigen Sklavenmoral festhielten, indem sie abwägten, was sie nun gesehen und was sie nicht gesehen hatten – die Betonung lag auf dem »nicht« –, und deren spontane Kurzsichtigkeit von den anderen aus dem einfachen Grund für glaubwürdig erachtet wurde, weil nämlich alle, die da oben und die da unten, vom Generalsekretär bis zum Gouverneur, vom Bürgermeister bis zum Grünschnabel in Uniform wie mir, Dreck am Stecken hatten. Schwere Zeiten, wirst du heute immer noch Leute sagen hören, und dass man natürlich alles in seinem Kontext betrachten muss. Ich halte es mit Alain Delon und sage, dass die Sache mit den Bullen für alle galt: Es waren Zeiten des Misstrauens und der Verachtung, und was das angeht, unterscheiden sie sich nicht von anderen Zeiten. Man könnte auch sagen, sie sind nie vergangen, sie treiben immer noch ihr Unwesen.

Ein paar Jahre vor deiner Geburt hatte ich schon einmal erwogen, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Ich werde dir erzählen, wie es dazu kam: Wir befinden uns im Jahr 1993. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer, mit Blick auf den Stadtpark, und ordne gerade meinen Papierkram. Nein, ich tue nur so, als ob. Im Nebenzimmer liegt deine Urgroßmutter auf unserem Bett und weint. Das geht mir tierisch auf die Nerven. Ohnmacht macht unendlich müde. Sie schließt jemanden wie mich von allem aus. Natürlich weiß ich, warum sie weint. Ich will es nur nicht fühlen. Will nicht darüber nachdenken. Und ihr Weinen weckt in mir vor allem den Wunsch, nicht mehr da zu sein. Nun denn, es ist fast Mittag. Nichts zu essen im Haus, mein Magen knurrt, und meine Frau hat gewiss nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen, und ich werde sie schon gar nicht darum bitten. Mir ist nach Konservenfleisch, Entenrillettes, genauer gesagt, und ich weiß einen guten Metzger in der Carnotstraat. Hauptsache weg von hier, ich halte dieses Geflenne keine Sekunde länger aus. Das Wetter ist recht gut, die ersten Frühlingstage. Die Stadt hat sich selbst zur Kulturhauptstadt Europas küren lassen, überall hängen Werbeplakate mit einem Foto. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dafür das Gemälde von der Tollen Grete gewählt. Es ist ein Wunder, dass man dieses außergewöhnliche Gemälde von Bruegel dem Älteren einfach so in einem Raum in einem kleinen Museum besichtigen kann. Das alleine zeigt doch schon, was wir sind in dieser Stadt, und das Bild selbst spricht Bände. Da hängt der unverhohlene Horror, das Rauben vor dem Höllenschlund. Nur weil es einem direkt ins Auge springt, heißt das noch lange nicht, dass eine Enthüllung keine Enthüllung ist. Die Tolle Grete tobt und rast durch eine wahnwitzige Landschaft aus Krieg und Erinnerung in Grellrot, Braun und Schwarz. Ihre weit aufgerissenen Augen sehen alles und nichts. Hat sie diese Schrecken verursacht oder ist sie lediglich ein Teil dieser Abscheulichkeiten und spielt das Spiel einfach nur mit? Du solltest doch einmal an einem schönen Samstag in das Museum gehen und dir das alles zu Gemüte führen. Stimmt natürlich, man kann sich auch einfach alles im Internet ansehen, und ein Junge deiner Generation findet mehr, als er sucht. Doch schau dir das Gemälde mal in echt an und finde heraus, wieso diese Enthüllung ausgerechnet hier hängt. Vielleicht kommst du dann ja, durch eigenes Nachdenken, dahinter, warum das Bild so viel über diese Stadt aussagt. Aber gut, wieder zurück ins Jahr 1993 und zu einem Foto von Stan Laurel und Oliver Hardy, beide in Gefängniskluft und mit einer Schaufel neben dem Kopf, genügt vielleicht, um für ein Kulturjahr zu werben. Sie schauen blöd aus der Wäsche, wie nur sie das können. Offenbar haben sie gerade versucht, einen Tunnel zu graben, um am Ende dummerweise wieder in ihrer eigenen Zelle zu landen. Ich erkenne mich selbst in diesem Foto wieder. Über ihren dämlichen Visagen prangt die Frage: »Kann Kunst die Welt retten?« Gequirlte Kacke, denke ich. Ich will Toast mit Entenrillettes! Am Ende der Quellinstraat biege ich dann doch nicht rechts ab, um Richtung Carnotstraat zu gehen, da ich inzwischen mehr Durst als Hunger habe. Ich gehe also weiter zu den Geuzenhofkes, dem Platz, der heute nur noch von Alteingesessene wie mir so genannt wird und wo sich damals vier Grünanlagen befanden, in der Mitte jeweils ein hübsches Standbild eines berühmten Malers oder altbekannten Bürgermeisters, von Bäumen umgeben, in deren Schatten einst verliebte Paare Händchen hielten. Heutzutage röcheln dort permanent Busse, um all die Leute von außerhalb schnellstmöglich wieder aus der Stadt hinauszubefördern. Dort auf der Ecke, neben dem Opernhaus, ist ein Grand Café mit Säulen, das ein wenig mit der Eleganz vergangener Zeiten prahlt und wo ich mich manchmal mit alten Freunden treffe. Es ist gegen elf Uhr vormittags. Kaum habe ich das Café betreten, da ruft schon jemand: »Wen haben wir denn da?« Mitten im Raum spielen ein paar meiner Kumpel Karten. Ich bin froh, sie zu sehen, jetzt muss ich nicht wie eine traurige Zimmerpflanze allein an einem Tisch sitzen und etwas trinken, während ich gleichzeitig vor lauter Langeweile aus zerrissenen Bierdeckeln Maulwurfshügel mache. Richard, ein Baum von einem Mann und guter Freund, der knapp ein Jahr später das Krankenhaus ohne Magen, dafür aber mit einem Plastikbeutel am Körper verlassen und weitere sechs Monate danach wie ein wandelndes Skelett ins Grab sinken wird, winkt mir zu. Ein anderer Kartenspieler heißt Leo. Seit er gehört hat, dass ich ein Dichter bin, spricht mich dieser Affe mit Meister an, halb ernst gemeint, halb spöttisch. Das weiß er übrigens erst seit zwei Jahren, obwohl ich Herrgott noch mal schon seit vierzig Jahren publiziere, aber diese Haltung ist typisch für diese Stadt, typischer geht’s fast nicht. Die beiden anderen Kartenspieler kenne ich vom Sehen. Ich geselle mich zu ihnen und bestelle mir ein Bier. Sie spielen Whist, was ich nie so richtig kapiert habe. Ich nippe am Bier, schaue mich um. »Karo ist Trumpf!«, ruft Richard, der mir zuzwinkert und sich den Schaum aus dem Bart wischt, der ihn zum Ehrenmitglied des örtlichen Schnurrbartclubs gemacht hat, eine Quelle des Stolzes für ihn. Ich habe zu dem Zeitpunkt die siebzig schon überschritten, aber das wohltuende Umfeld dieser Kartenspieler lässt mich wieder zum Kind werden. Das Gefühl hält nicht lange an. Zwischen zwei Zügen hindurch erkundigt Richard sich, ob ich Lode mal wiedergesehen hätte. Ebenso gut hätte er mir einen Tritt in die Eier verpassen können. »Nein«, sage ich und wende den Blick ab. In dem Augenblick bemerke ich, dass ein Mann an einem Tisch uns gegenüber meinen Blick durch dicke Brillengläsern hindurch sucht, ganz ungeniert. Er schaut mich an, als sei ich eine exotische Ratte in einem Nachttierhaus. Er hat eine Halbglatze und ist schlecht rasiert. Ich habe das Gefühl, ihn wiederzuerkennen, aber das ist unmöglich. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war ich ein etwa zweiundzwanzigjähriger Polizist und er – jetzt stellen sich mir die Haare zu Berge – genau wie jetzt so um die fünfundvierzig. Ich sitze in einem der Flure der Büros des Sicherheitsdienstes – der sich damals noch in einer riesigen Villa in der Della Faillelaan befand